Essay

auf diesen felsen

Jesus verkündigte das Reich Gottes und gekommen ist die Kirche“, bemerkte Alfred Loisy einmal. Ein Essay über die Anfänge des Christentums …

Den Texten des Neuen Testaments müssen wir uns in einer Art stratigraphischen Herangehensweise nähern, uns Schicht um Schicht vornehmen. (…) Auch wenn es die narrative Anlage einer Geschichte ist, so blicken wir doch auf etwas zurück, was einem Blick durch Wasser ähnelt: je tiefer es ist, desto undeutlicher der Grund.“

Paula Frederiksen in „Die Geburt des Christentums“ (von Gérard Mordillat und Jérôme Prieur 2003)

In dem traditionellen jüdisch-orthodoxen Umfeld, in dem er aufwuchs, war Jesus ein Tabu, über das nicht gesprochen wurde, erklärt der israelische Schriftsteller Amos Oz in einem Essay zu „Jesus und Judas“. Umso schockierter war er, schreibt Oz, als ihm sein Großonkel, der bekannte jüdische Historiker Joseph Klausner (1874-1958), dann erklärte, dass dieser Mensch, wie Jesus damals im neu gegründeten Israel nur genannt wurde, einer von uns sei – ein Jude: „Nach Klausners Ansicht“, bemerkt Oz in seinem Essay, „lebte Jesus von Nazareth als Jude und starb als Jude. Es kam ihm nicht im Traum in den Sinn, eine neue Religion begründen zu wollen. Nein, er war Jude – ein aufrührerischer Jude, ein nonkonformistischer Jude, ein leidenschaftlicher Kritiker des jüdischen religiösen Establishments seiner Zeit“, einer unserer größten Visionäre, wie Klausner ihm erklärte.

Oz wurde neugierig – und begann verbotenerweise das Neue Testament zu lesen. Dann allerdings stieß er auf die Geschichte über den Verrat des Judas – und wurde skeptisch: Warum sollte Judas einen Mann verraten, der in ganz Jerusalem wohlbekannt war? „Um ihn festzunehmen, brauchten sie nicht Judas zu bezahlen“, bemerkt Oz, „(i)n meinen Augen ergab das einfach keinen Sinn. Außerdem merkte ich sehr schnell, dass diesem Bericht nicht zu trauen war. Es war einfach eine jämmerlich schlecht geschriebene Story … mit einem typischen Schurken … hässlich, unsympathisch, gierig, verräterisch, betrügerisch – all diese negativen Attribute wurden dem armen Judas angehängt. Dann dachte ich: Kein verantwortungsvoller Herausgeber hätte diese Geschichte in den Evangelien stehen lassen: Es ist eine üble Geschichte (…) eine hässliche Geschichte, alles andere als harmlos. In meinen Augen hat keine andere jemals von Menschen erzählte Geschichte ein solches Ausmaß an Hass, Verfolgung und Mord entfesselt wie diese Geschichte über den Verrat …“

Für Oz ist klar, dass diese Geschichte vom Verrat am Anfang des christlichen Antisemitismus steht und das Verhältnis zwischen Juden und Christen verseuchte: „Um so etwas zu tun, muss man sehr, sehr böse, geradezu teuflisch sein, aber zugleich auch sehr, sehr mächtig. Und genau diese Kombination von Eigenschaften – niederträchtig, sündig, böse, teuflisch und dabei insgeheim sehr mächtig – war das gängigste antisemitische Klischee überhaupt in den vergangenen zweitausend Jahren.“ Aber warum überhaupt diese Geschichte, fragt sich Oz: „Was wäre schlimm daran gewesen, wenn Jesus nach seiner Taufe von Galiläa über Samaria nach Jerusalem gegangen wäre, den Weg zur Kreuzigung und Auferstehung – ohne einen Judas … Ich meine – hätte das der Geschichte geschadet, wäre sie damit weniger überzeugend gewesen? Nein.“

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Anders als im Christentum, für das Jesus natürlich von zentraler theologischer Bedeutung ist, spielt Jesus für jüdische Historiker wie Joseph Klausner nur insofern eine Rolle, als es ihm insbesondere auch darum ging, „den politischen oder gesellschaftlichen Status der Juden im christlichen Kontext der jeweiligen Zeit zu reflektieren“, wie Walter Homolka im Nachwort zu Oz` Essay schreibt.

Denn zu der Zeit, als Jesus stirbt, gibt es noch gar kein Christentum. Ein solches entsteht erst allmählich und insbesondere in der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem infolge der Niederschlagung eines jüdischen Aufstands durch die Römer im Jahr 70. Der Fall des Tempels – nicht der Tod Jesu, sondern er markiert den eigentlichen Wendepunkt in der Geschichte des Christentums und spaltet es in ein Vorher und Nacher: Ein Vorher, in dem Petrus lebt und vor allem Paulus, der zwischen den Jahren 50 und 60 seine Briefe schreibt, die damit als die ältesten von einem Christen geschriebenen Dokumente gelten. Ein Nachher, in dem die Evangelien geschrieben und später, zwischen 80 und 90 die Apostelgeschichte, die über die ersten Jahre der christlichen Bewegung berichtet, sowie schließlich um das Jahr 95 die Apokalypse des Johannes von Patmos über das Ende der Welt und das kommende Reich Gottes.

Damals bildete sich auch ein „normatives Judentum“, wie Homolka erklärt, und es „zeichnete sich immer stärker ab, dass Juden, deren Auslegung der Halacha von der Auffassung der Autoritäten abwich, zu Häretikern erklärt wurden. Frühe jüdisch-christliche Sekten, Gruppierungen, die allmählich immer mehr christologische Elemente in ihr Glaubensspektrum aufnahmen, gerieten zunehmend ins Visier dieser normativen Reaktion.“

Man muss sich die Entstehung des Christentums insofern als einen durchaus wechselseitigen Abspaltungsprozess vom Judentum vorstellen: Aus den eigenartigen Glaubensformen und Texten einer jüdischen Sekte, die die Römer für abscheulichen Aberglauben hielten, wird so das Christentum hervorgehen, eine neue Religion. Jesus stirbt, gekreuzigt durch die Römer unter Kaiser Tiberius (14-37), um das Jahr 30 noch als „König der Juden“ – dreihundert Jahre später aber wird sich Kaiser Konstantin (306-337) dann zum Christentum bekehren, das bald darauf sogar zur offiziellen Religion des Römisches Reiches werden und sich im gesamten Reich ausbreiten sollte. Rom hatte Jerusalem damit als Zentrum des Glaubens abgelöst – nun verstummte auch die jüdische Auseinandersetzung mit Jesus.

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Kaiser Konstantin (306-337), geboren im heutigen Niš in Serbien, ist der erste Kaiser, der sich zum Christen bekehren ließ. Konstantin regierte zunächst in Trier an der Mosel, damals noch Augusta Treverorum genannt. Als unter Kaiser Trajan (98-117) das Imperium seine größte Ausdehnung erreichte und die Legionen scheinbar unaufhaltsam vorwärts drangen, war Augusta Treverorum bereits eine bedeutende Stadt im Römischen Reich und stieg bis zum Ende des 3. Jahrhunderts sogar zu einer der Hauptstädte der von Diokletian (284-305) errichteten römischen Tetrarchie auf: Bis Anfang des 4. Jahrhunderts war das Römische Reich durch die zahlreichen Eroberungen zu einem Weltreich geworden, das inzwischen nicht mehr nur von Rom aus und auch nicht mehr von einem Menschen alleine regiert werden konnte, weshalb die Macht nun zwischen vier Kaisern aufgeteilt wurde. Und einer von ihnen residierte auch in der Stadt der Treverer.

Augusta Treverorum wurde als „zweites Rom“ bekannt – und Konstantins Vater regierte hier als einer der vier römischen Kaiser der Tetrarchie. Konstantin gelang es nach dem Tod seines Vaters und der Auflösung der Tetrarchie im Jahr 306 die Macht in einem eigentlich usurpatorischen Akt an sich zu nehmen und so die Kontrolle über Britannien und Gallien (später auch noch Hispanien) zu erlangen.

Nach der Machtübernahme läßt Konstantin die Stadt umgestalten: Von den zahlreichen Bauten, die die Römer in Trier bauen ließen – die berühmte Porta Nigra wurde bereits im 2. Jahrhundert errichtet, genauso wie das Amphitheater – überragt die von Konstantin errichtete kaiserliche Palasthalle, die erst später zur heutigen Basilika wurde, mit ihren dreißig Metern Höhe alle. Sie wurde im Jahr 310 vollendet und ist zu der Zeit der größte Hallenbau nördlich der Alpen – eine architektonische Machtdemonstration des Imperium Romanum. Unter dem Triumphbogen im Inneren stand der Thron des Imperators, hier hielt Konstantin Empfang – ein Mann, der nach noch mehr Macht strebte. Deshalb beschließt er im Jahr 312 aufzubrechen, um die Alleinherrschaft im Römischen Reich zu erringen. In Trier läßt er seine Frau und seinen Stiefsohn als Statthalter zurück.

Konstantin wurde zum alleinigen Herrscher im Römischen Reich, als er sich gegen seinen Rivalen Maxentius durchsetzen konnte. Maxentius regierte seit der Auflösung der Tetrarchie im Jahr 306 durch einen nie anerkannten Staatsstreich von Rom aus Italien und – wegen der Getreidelieferungen wichtig – die besetzten afrikanischen Gebiete (Africa).

Maxentius versuchte seine fehlende Legitimation durch die Unterstützung des Volkes auszugleichen, das heißt er bemühte sich darum, seine Macht durch eine tolerante Religionspolitik abzusichern. Aber auch Konstantin war darum bemüht, seinen Status religiös zu klären und berief sich dazu auf Apollo und auf den mit ihm verbundenen Kult des unbesiegten Sonnengottes („sol invicto comiti“) – noch bis in die 310er Jahre hinein ersetzt in der Ikonographie konstantinischer Münzen die Sonne seinen Kopf oder reicht ihm den Globus. Und auch eine so genannte Kongregationsmünze von Konstantin zeigt, wie er dem Sonnengott Apoll gleich in einer Quadriga gen Himmel fährt, von wo aus ihm eine Hand – die Hand Gottes – entgegen gehalten wird.

Schließlich kommt es im Jahr 312 zur Konfrontation zwischen den beiden Rivalen an der Milvischen Brücke nördlich von Rom. Zweifelsohne drohte Konstantin zu unterliegen – wäre Maxentius nur in der befestigten Stadt Rom geblieben. So aber wurde die Entscheidungsschlacht durch Ereignisse für Konstantin entschieden, die an sich unerklärlich sind: zum einen folgte Maxentius angeblich einer günstigen Prophezeiung, die ihn zum Angriff im offenen Gelände ermutigte – während Konstantin in einer Vision ein untrügliches göttliches Siegeszeichen erschien, das signum crucis. Das Kreuzzeichen enthielt das Christusmonogram (Chrismon) und besteht entsprechend aus den griechischen Anfangsbuchstaben von Christus: einem „X“ für „Chi“ über einem „P“ für „Ro“. Es steht für Gottes Anwesenheit, wird zum schützenden Feldzeichen – und so zieht Konstantin also im Namen Gottes, im Zeichen des Kreuzes, in den Kampf.

Das göttliche Zeichen erschien Konstantin angeblich als Vision – die aber erst von Eusebius von Caesarea (264-340) und Lactantius (250-325) nach dem Geschehen beschrieben wird. Die beiden Kirchenväter bestätigen, dass es wirklich ein signum crucis gewesen sei. Lactantius – Lehrer von Konstantins Kinder – schreibt von einem Traum, während Eusebius sehr viel später erst von einer Vision berichtet, dabei allerdings nur wieder gibt, was Konstantin ihm erzählt hat. Es bleiben also berechtigte Zweifel – und der Verdacht liegt nahe, dass diese Legende weniger Konstantins persönliche Überzeugung widerspiegelt, sondern aus politischem Opportunismus heraus entwickelt wurde, um die Christen hinter sich zu wissen. Die waren in Rom zwar deutlich in der Minderheit und stellten wohl nur etwa fünf Prozent der damaligen Bevölkerung, waren im Römischen Reich aber bestens miteinander vernetzt und organisiert.

Konstantin erhoffte sich von den im gesamten Vielvölkerstaat verteilten Christen eine stabilisierende Wirkung: Die innerchristliche Organisation erfolgte von Beginn an im Untergrund und insofern parallel zur staatlichen, die im Grunde auch eher eine Herrschaftsordnung darstellte. Einem eher schwach organisierten Staat steht so ein starkes christliches System gegenüber mit Synoden, der hierarchischen Struktur der Bischöfe innerhalb, aber auch zwischen den Gemeinden, und mit metropolitanen Strukturen bis hin zu christlichen Vororten, den späteren Patriarchaten. Das ist ein System, das in sich wesentlich stabiler ist als das römische Herrschaftssystem, das – abgesehen von den Angriffen auf seine äußeren Grenzen zu der Zeit – immer wieder auch von usurpatorischen Umsturzversuchen bedroht war.

Vor dem Hintergund einer ständigen politischen Unruhe ist es von Konstantin nicht unklug, seine Religionspolitik auf die Christen zu stützen: Eine Kommunikation ist mit ihrer Infrastruktur einfach – und so förderte er auch den Bau von Kirchen und Basilika, ließ sich doch über die Bischöfe auch die Bevölkerung gut kontrollieren.

Eine christliche Bekehrung bei Konstantin selbst erfolgte allerdings wohl nur allmählich: Auch im Jahr 320 lässt sich noch keine typische christliche Thematik in seiner Ikonographie ausmachen – langsam jedoch verschwinden die Verweise auf den Sonnenkult. „Christ“ aber wurde er erst am Totenbett – was damals jedoch auch üblich war, denn mit der Taufe (im Büsserhemd) wurden einem alle Sünden vergeben. Als Ungetaufter war er der Kaiser aller, als getaufter nur weniger. Außerdem konnte sich Konstantin, zum Christ getauft, von dem von ihm aus unbekanntem Grund befohlenen Mord an seiner Frau und seinem Stiefsohn reinwaschen, da er annahm, dass im Christentum alle Sünden getilgt werden könnten: Angeblich standen seine Frau und ihr Sohn in einem Liebesverhältnis zueinander. Der jung verheiratete Stiefsohn wird des Ehebruchs mit seiner Mutter, der Frau Konstantins, beschuldigt – ein Staatsverbrechen. So wird Konstantin der erste christliche Kaiser, der Sohn und Frau hinrichten läßt.

Eine klare Hinwendung zur christlichen Bildsprache in Zusammenhang mit Konstantin ist erst nach dessen Tod im Jahr 337 auszumachen. Das finstere Kapitel am Ende seine Lebens bleibt in christlichen Quellen hingegen unerwähnt.

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Für Joseph Klausner hat Jesus die Kirche nicht gegründet – und auch sonst nichts geschaffen, was konstitutionell die Grundlage dessen wäre, was dann zur Kirche wird. Er steht noch nicht einmal am Ursprung des Christentums, das heißt Jesus ist nicht der Begründer eines Schismas – also einer Glaubensspaltung innerhalb des Judentums –, sondern er hat sein Gottesbild innerhalb und für Israel gedacht: Jesus ist Jude und steht ganz innerhalb des Judentums, auch wenn er, wie vor ihm auch schon Johannes der Täufer, zur Erneuerung Israels und zur Neuinterpretation der jüdischen Überlieferung anregte – und auch zu einem neuen Gottesbild, das dem zornigen und strafenden Gott des Alten Testaments die Vergebung und Nächstenliebe gegenüberstellt.

Als Jesus stirbt, ist das für seine Gemeinde ein Schock – sie wissen nicht „Wohin?“, wie sie in Johann Sebastian Bachs Johannespassion verzweifelt rufen. Jesus` Hinrichtung am Kreuz, sein elendes Ende, bedeutete für seine Jünger den Zusammenbruch all ihrer Hoffnungen. Denn Jesus steht ursprünglich in einer prophetischen jüdischen Tradition, das heißt anfangs wurde in Jesus der Sohn Davids gesehen, der Messias Israels, mit dem man die Hoffnung verband, das Land von der römischen Besatzung zu befreien und das Königtum Israels wieder herzustellen. (In der Antike gibt es keine Trennung zwischen Religion und Politik.)

Das hebräische „Messias“ bezeichnet den „Gesalbten“ und wird später von den Evangelisten ins griechische „Christos“ („Gesalbter“) übersetzt, aus dem schließlich das latinisierte „Christus“ wurde. So erklärt zum Beispiel Johannes (1,41): „Wir haben den Messias gefunden! Messias heißt ‚der Gesalbte‘.“ „Christos“ bedeutet „derjenige, der geheiligt wurde“, aber auch einfach nur „der mit Öl benetzt wurde“, der „Pomadisierte“. Von ihm jedenfalls erhielten die nach der Zerstörung des Zweiten Tempels exilierten Juden, die „Christen“, ihren Namen. Zum ersten Mal so genannt wurden sie den Jüngern zufolge von römischen Behörden in Antiochia um das Jahr 35 – und da wurde die Bezeichnung „Christen“ wohl als Spottname benutzt: „Die Anhänger des Pomadisierten.“ Die Christen selbst bezeichneten sich bis ins 2. Jahrhundert jedoch nicht so.

Als Messias, Gesalbter, wird im Alten Testament (zum Beispiel in Jesaja 45,1) der von Gott eingesetzte „König der Juden“ als Nachfolger Davids bezeichnet (die Salbung mit Öl gilt schon lange als Ritus bei der Thronbesteigung eines Königs und wird noch heute bei Krönungen praktiziert – demnächst sicher auch wieder bei der Inthronisation von King Charles III.). Insbesondere seit dem historischen Propheten Jesaja, der um 740 vor Christus lebte, und der Zerstörung des Ersten Tempels 586 vor Christus durch die Babylonier sowie dem anschließenden Exil entstand die Erwartung eines Messias, eines zukünftigen Königs, der die Juden einen und von der Fremdherrschaft befreien werde und so das Reich David wieder herstellen werde.

Der Messias wurde lange nicht mit einer lebenden Person in Verbindung gebracht, sondern als Heilsbringer verstanden (zum Beispiel in den Psalmen 17 und 18). Erst mit der Besetzung Palästinas durch die Römer im Jahr 63 vor Christus taucht die Figur des Messias wieder auf – unmittelbar vor Jesus also und in Auseinandersetzung mit der römischen Besatzungsmacht. Nun wächst im jüdischen Volk die Hoffnung auf einen Befreier vom Römischen Reich.

Zu Lebzeiten jedoch wurde Jesus nie „Messias“ genannt. Es sind erst die Evangelisten, die die Messiasfigur mit Jesus neu besetzen – ohne ihn jedoch mit dem Messias im alttestamentlichen Sinn zu identifizieren. In den Evangelien erscheint Jesus vielmehr als ein endzeitlicher Prophet, losgelöst von nationalistischen, jüdischen Hoffnungen. Deutlich wird das am sogenannten Messiasbekenntnis des Petrus im Evangelium nach Matthäus (16,13-20): Hier antwortet Petrus Jesus auf die Frage: „Für wen haltet ihr mich?“ mit: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“, worauf ihn Jesus als „Felsen“ bezeichnet, auf den er seine Kirche bauen wird. „Dann befahl er den Jüngern, niemand zu sagen, dass er der Messias sei“, bemerkt Matthäus.

Der Messias-Begriff wird hier in einem christlichen Sinn umgedeutet: Jesus geht es, den Evangelien zufolge, nicht um die Wiederrichtung des alten Reich Davids oder eines irdischen Königreich Israel – er will nicht als Befreier von der römischen Besatzungsmacht auftreten, in diesem Zusammenhang verhängt er quasi eine Schweigepflicht –, sondern er will nach seinem Tod und seiner Auferstehung ein neues, göttliches Reich errichten, eben das Reich Gottes.

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Der jüdische Prophet, der die Errichtung des Reich Gottes erhofft und von den Römern gekreuzigt wird, hat mit dem späteren Christus der römisch-katholischen Kirche nur wenig gemein. Seine Anhänger haben unmittelbar nach der Kreuzigung auch gar nicht die Absicht, eine neue Religion zu gründen. Sie sind vielmehr Juden, die das Ende der Zeit, die Apokalypse, erwarten und die Wiederkunft ihres Messias: In jüdischen Kreisen bestand zu dieser Zeit die Hoffnung, dass Gott die bestehende Welt verwandeln werde – in eine Welt, in der Gott herrschen werde und in der sein treues Volk Israel eine zentrale Position haben wird, als wichtigstes Volk der Welt. Sie gehen dabei davon aus, dass die Welt voller Sünde sei und deshalb erst untergehen müsse, um von Gott neu geschaffen zu werden. Und das glaubt auch Johannes von Patmos, der das Buch der Apokalypse, auch Offenbarung genannt, geschrieben hat – das letzte Buch des Neuen Testaments.

Wohl kein Text hat die Vorstellungen vom Weltende so geprägt wie die Apokalypse des Johannes. Eigentlich heißt Apokalypse „Entschleierung“ oder eben „Offenbarung“ und kommt von „apo“ für „fern ab“ und „kalypto“ für „entschleiert“ („kalpyso“ heißt „Schleier“). Doch das erste Wort des griechischen Originals, „Apokalypse“, wurde zum Gattungsbegriff für alle Untergangsszenarien: Im Grunde bis in die Gegenwart hinein werden die rätselhaften Sprachbilder vom „Buch mit sieben Siegeln“, einem „Tausendjährigen Reich“ und von „Armaggedon“ aus der Apokalypse benutzt, um in Krisenzeiten Spekulationen vom angeblich nahen Weltende Geltung zu verschaffen – obwohl Jesus selbst noch davon ausging, dass auch die bestehende Welt in das Reich Gottes verwandelt werden kann.

In der Offenbarung des Johannes wird die Erde jedenfalls zum Schauplatz einer Endzeit-Schlacht zwischen Gut und Böse, bei der der Erzengel Michael mit den himmlischen Heerscharen gegen den „roten Drachen“, den Vertreter der kosmischen Kräfte des Satans, kämpft. Ein Kampf, der auch über das Schicksal der Menschen entscheiden soll – und an dessen Ende die Wiederkunft des Messias und der Beginn der himmlischen Stadt Jerusalem steht. In ihr wird Gott Gestalt annehmen und mit ihm kommt dann auch das Ende einer Zeit des Schreckens und „(k)eine Nacht wird mehr sein …“ Darüber hat Johannes eine Vision, das heißt in der Offenbarung selbst heißt es, dass Jesus sie empfangen habe und seinen Engel sandte, um sie ihm mitzuteilen. Johannes wird so auch zu einem Propheten, der Hoffnung macht darauf, dass am Ende doch Gott der Sieger der Geschichte sein wird.

Wesentlich ist die zeitliche Nähe dieses Endes: Es liegt nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer in der Vorsehung der Gläubigen, dass das Weltende bald eintrifft und sie nur in der letzten Phase leben. Es ist gleichsam der Glaube an das Ende der Geschichte – und diese Endzeitstimmung ist auch der Grund, weshalb die Evangelien überhaupt aufgeschrieben werden. Erst ab dem Ende des 1. Jahrhunderts geht diese Vorstellung dann langsam zu Ende, als der Weltuntergang trotz aller Prophezeiung noch immer nicht stattgefunden hat. Bis dahin allerdings glaubte man, dass die Offenbarung des Johannes bald eintreten werde.

Über den Verfasser der Apokalypse, Johannes, weiß man nicht viel. Man ist sich sicher, dass er Jesus nicht selbst gekannt hat, keiner der Apostel war, und auch nicht der Autor des Evangeliums nach Johannes. Identität und Herkunft des Johannes bleiben aber ungeklärt – ebenso, warum Patmos Schauplatz seiner Vision geworden ist. Zumindest weiß man, dass er in den Jahren 93 bis 95 von Ephesos aus auf die fünfzig Kilometer entfernte, fast menschenleere Insel in der östlichen Ägäis verbannt wurde. Von dem Tempel, der hier im ersten Jahrhundert gestanden hat, sind nur noch Bruchstücke übrig, die in ein im 11. Jahrhundert gebautes griechisch-orthodoxes Kloster verbaut wurden. Hier soll Johannes seine himmlische Vision gehabt haben.

Von dieser Vision ist Johannes überwältigt und er sucht jetzt nach Quellen und Begriffen um sie überhaupt ausdrücken zu können, das heißt er kann sich nur Ausdrücken mit Hilfe der Sprache der Propheten des Alten Testaments – im Rückgriff auf die Propheten Ezechiel und Daniel, wenn beispielsweise von den „vier apokalyptischen Reitern“, den Boten des Unheils, oder dem „Thronsaal mit 24 Thronen“ die Rede ist. Jedenfalls ist er mit jüdischer und apokalyptischer Literatur vertraut, wo Gott in der Geschichte handelt und auch alle Zukunft beherrscht – und genau darum geht es schließlich auch in der Apokalypse.

Johannes benutzt zwar die Sprache des Alten Testaments, bezieht diese Motive nun aber durchaus auf reale Ereignisse seiner Zeit – und so haben das wohl auch seine Zeitgenossen verstanden. Denn zur Zeit des Johannes wird Jerusalem, wo er mit ziemlicher Sicherheit ursprünglich lebte, zum Ausgangspunkt eines Aufstandes: Das Schicksal der Tempelstadt scheint eng mit dem Leben von Johannes verbunden gewesen zu sein, jedenfalls erhoben sich die Juden im Jahr 66 gegen die römischen Besatzer. Vier Jahre später fällt das Zentrum des jüdischen Glaubens – und mit der Plünderung und Zerstörung des Tempels und ihrer Vertreibung aus der Stadt wird dem Judentum nun auch seine zentrale Kultstätte geraubt. Die Rache der Römer zielt hier zweifelsohne auf die Vernichtung der jüdischen Identität.

Möglicherweise ist Johannes Augenzeuge dieser Ereignisse, auf jeden Fall aber steht er in der Tradition der Apokalypse Jerusalems und betrachtet sich als jüdischen Anhänger von Christus, der diese Geschehnisse prophezeit hat – ebenso wie das nahe Ende der Welt. Das Erlebnis könnte jedenfalls der Grund dafür sein, dass er sich nun als Prediger für das Christentum betätigt und an der Nordküste des Mittelmeers entlang nach Westen wandert. Er folgt dabei den Spuren von Paulus, der bei seinen Missionsreisen die römische Provinz Kleinasien mit der Hauptstadt Ephesus zu einem Zentrum des frühen Christentums gemacht hat, auch wenn die Christen noch eine unbedeutende Minderheit in der griechischen Stadt bilden.

Ephesus ist zu der Zeit eine reiche Handelsstadt – und erlebt gerade, wie das römische Reich nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstands in Jerusalem, ihren Höhepunkt. Hier muss die Erinnerung an den Untergang Jerusalems für die exilierten Juden verblassen – kein Ort eigentlich für den Prediger des Weltendes. Seine Vorstellungen werden hier auch keineswegs von allen geteilt. Überhaupt ist das Christentum in Ephesos nur marginal vertreten und ohne echte Bedeutung innerhalb der zahlreichen religiösen Strömungen dieser Zeit. Die Archäologie jedenfalls hat bislang keine Hinweise auf das Christentum in Ephesos zu der Zeit gefunden – Kirchen wurden im ersten Jahrhundert ohnehin noch nicht errichtet.

Dann aber bricht im Jahr 79 der Vesuv aus und zerstört Pompeji und Herculaneum – für Johannes ein untrügliches Zeichen für ein vernichtendes Gottesurteil gegen Rom und darauf, dass das Weltende nicht mehr fern sein kann. Aber nicht nur für Johannes: Im römischen Reich brodelte es schon seit längerem, sollten doch alle dem römischen Kaiser wie einem Gott huldigen. Die Kulttradition bildet im Römischen Reich gewissermaßen das Fundament der staatlichen Ordnung und eine Störung dieser Ordnung wurde, wie Pedro Barceló in „Die Alte Welt“ (2019) bemerkt, „als Angriff auf die etablierten gesellschaftlichen Wertvorstellungen“ begriffen. Christliche Praktiken und das Bekenntnis zum Christentum gelten, wie Barceló ausführt, seit Kaiser Nero (54-68), der als der erste Verfolger der Christen gilt, als flagitium, also als Straftatbestand.

Insbesondere in der Frage des so genannten Kaiserkults sind die Gläubigen gespalten, gilt er doch als Ausdruck politischer Loyalität. Johannes ist einer von denen, die ihn kategorisch ablehnen – für ihn wäre das quasi ein Verrat an Jesus. Gleichwohl, so Barceló, konnte die monotheistische Ausschließlichkeit des Christengottes „seine Anhänger nie von synkretistischen Ritualen abhalten, ebenso wenig, wie die bestehende Strafandrohung seitens des Staates die Ausbreitung des Christuskultes verhindert hat“.

So huldigen die reichen Bürger von Ephesos also dem Kaiser – und richten sich gewissermaßen ihr Leben in der römischen Welt ein. Die einen wollen ihr Leben im Diesseits bewältigen – und hier hat dann auch Johannes` Vision des nahen Weltendes keinen Platz –, die Anderen aber wollen ihre Seele für das Jenseits retten. So steht pragmatische „Kompromissbereitschaft gegen Glaubensstrenge“, wie Barceló schreibt.

Wahrscheinlich weil Johannes den Kaiserkult verweigerte, wurde er schließlich in der Regierungszeit von Kaiser Domitian (81-96) nach Patmos verbannt. Aber auch in der Verbannung hört er nicht auf zu predigen – und so entsteht dann hier auch der Text der Offenbarung. Allerdings konnte beziehungsweise durfte Johannes vieles nicht offen benennen, das heißt er musste seine Botschaft verschlüsseln. Johannes schreibt beispielsweise (18,18): „Wer Verstand hat, berechne die Zahl des Tieres, denn es ist die Zahl eines Menschen, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.“ Laut jüdischer Gematria, die sich mit der Mystik von Worten beschäftigt und jedem Buchstaben des Alphabets einen Zahlenwert zuordnet, hat der Name „Kaiser Nero“ genau diesen Zahlenwert von 666. Die Übersetzung des Zahlencodes ergibt also, dass mit dem Drachen Kaiser Nero gemeint ist.

In die Regierungszeit von Kaiser Nero (54-68) fällt der Brand Roms im Jahr 64. Um von dem Gerücht abzulenken, Nero selbst sei der eigentliche Urheber des Feuers, wird ein Sündenbock gesucht – und bald in den Juden-Christen gefunden. Für sie ist mit dem brennenden und in Rauch gehüllten Rom angezeigt, dass der letzte Tag gekommen sei – und es gibt Mutmaßungen darüber, dass sie sich aufgrund der „freudigen Erwartung“ des Endes der Welt und der Wiederkunft Christi überhaupt erst verdächtig gemacht hatten, zumal es von den wenigen Vierteln der Stadt, die von dem Feuer verschont blieben, gerade auch ihre waren. Die Apokalypse würde so erst die Argumente für ihre erste Verfolgung liefern.

Wie dem auch sei – jedenfalls ereifert sich Johannes dreißig Jahre später noch immer gegen die Römer und Kaiser Nero: Für Johannes ist Rom noch immer der Sitz des Gegners seines christlichen Gottes, des „Antichrists“, und irdische Macht die Verkörperung des Teufels – jener Bestie, die getötet werden muss. Insofern ist die Offenbarung des Johannes durchaus politisch – es ist der einzige Text im Neuen Testament der sich mehr oder weniger offen gegen die römischen Machthaber stellt und zum Widerstand gegen das römische Imperium aufruft, während alle anderen auf Ausgleich bedacht sind.

Darüber hinaus steht Johannes aber gleichzeitig auch unter dem Eindruck des Bruchs zwischen Juden und Christen nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. So bezeichnet er die „falschen“ Juden – jene, die Jesus nicht als Erlöser anerkennen – auch als „Satanssynagoge“. Dieser Begriff taucht bereits in den Qumran-Schriften, die vermutlich von den Essenern verfasst wurden, auf – und deuten auf die Auseinandersetzungen innerhalb des Judentums um den rechten Glauben hin: Denn schon die Essener, die „Frommen“, übten Kritik am Tempelkult der Phärisäer (Schriftgelehrten) in Jerusalem, weshalb sie sich ans Tote Meer, in die Nähe der Jordanmündung, zurückzogen.

Auch Johannes der Täufer stellt sich hier am Jordan bewusst außerhalb der Institutionen, obwohl er dem Evangelisten Lukas zufolge sogar Sohn eines Tempel-Priesters gewesen sein soll: Bei ihm tritt an die Stelle des Tempelkults ein Tauf-Ritus, der auch mit einem Heilsmotiv verbunden ist, nämlich mit der Vergebung der Sünden: Von allen rituellen Waschungen des Judentums unterscheidet sich die Johannestaufe als originäre Schöpfung des Täufers insbesondere dadurch, dass sie einen sündenvergebenden Charakter hat. Ihr Sinn, so Reinhard Meßner in seiner „Einführung in die Liturgiewissenschaft“ (2001), „besteht in der Gewährung von Heil bzw. in der Verschonung vor dem [Jüngsten] Gericht. Dies ist für den Täufer an die Umkehr als Rückwendung zur göttlichen Lebensordnung (der Thora) sowie an die Taufe gebunden, welche eine ‚Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden‘ (Mk 1,4) ist. Umkehr und Taufe schaffen in der letzten Zeit vor dem Einbruch Gottes Sündenvergebung; sie treten damit im Verständnis des Johannes offensichtlich an die Stelle der Versöhnungsriten im Tempel“, wo am Versöhnungstag (Jom Kippur) einem Widder als Sündenbock symbolisch die kollektiven Sünden auferlegt wurden, bevor er in die Wildnis geschickt wurde (heute kreisen orthodoxe Juden alternativ auch ein Sündenhuhn drei Mal um den Kopf).

An diese innerjüdischen Auseinandersetzungen schließt nun gewissermaßen auch der Verfasser der Offenbarung an, jedenfalls richtet er sie in Form von sieben Sendbriefen direkt an die Gemeinden. Briefe sind für das Urchristentum grundsätzlich ein ganz wesentliches Mittel der Kommunikation und nicht nur Paulus war hierin ganz fortschrittlich. Über die Briefe kann – über Zeit und Raum hinweg – eine Gemeinschaft im Glauben entstehen. Die Offenbarung des Johannes wird so letztlich auch zu einem Zeugnis für den Kampf um die „Gottesfürchtigen“ beziehungsweise die Konkurrenzsituation zwischen christlicher Gemeinde und jüdischer Synagoge.

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Unabhängig davon aber konnte die messianische Hoffnung mit Jesus` Tod am Kreuz für diejenigen, die an ihn glaubten, nur als gescheitert begriffen werden. Zwar predigte Jesus das Reich Gottes, das aber hat nie Gestalt angenommen – noch immer war Israel von den Römern besetzt. An ein himmlisches Reich Gottes dachten viele überhaupt gar nicht, sie konnten sich ein solches zumindest nur auf Erden vorstellen – auf dem Boden Israels, der von der Präsenz der römischen Besatzungsmacht endlich befreit wäre. Nicht zuletzt darum ging es auch den Jüngern. Lukas (24,19) beispielsweise schreibt in seinem Evangelium: „Wir aber hofften, er sei es, der Israel befreien werde.“ Befreien – das hießt damals ganz klar: der römischen Herrschaft in Judäa ein Ende zu machen. Und auch in der Apostelgeschichte (1,6) wird Jesus gefragt: „Wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel?“ Es wird erwartet, dass Gott mittels eines Gesandten Israel befreit.

Die Hoffnung im Judentum war die Herstellung einer Theokratie. Jesus selbst nahm eine abwartende Haltung ein, jedenfalls gibt es keinen Hinweis darauf, dass er gehofft hätte, tatsächlich über Israel zu herrschen und keine Quellen, die es erlauben würden Jesus` Wirken eine starke politische Bedeutung beizumessen (wenn Schriften das tun, sind sie alle nach Jesus` Tod entstanden). Sie alle deuten nicht darauf hin, dass Jesus die politische und militärische Befreiung Israels ein wichtiges Anliegen gewesen wäre oder besondere Bedeutung gehabt hätte, geschweige denn, dass er es als nötig erachtete, einen politischen und militärischen Aufstand zu organisieren. Das Reich, das er im Sinn hatte, war eben „nicht von dieser Welt“, wie ihn Johannes in seinem Evangelium (18,36) zitiert, weshalb Jesus eigentlich auch nicht im Widerspruch zum irdischen römischen Reich steht und Pilatus folglich auch keinen Grund hätte, ihn zu verurteilen – er findet keine Schuld an ihm. Die wird dann bekanntlich auch, insbesondere im Johannesevangelium, den Juden zugeschoben.

Den Evangelien zufolge hatte Jesus seinen Jüngern verheißen, dass sie das Reich Gottes gemeinsam erleben würden. Unmittelbar nach Jesus` Tod variieren nun die inneren Haltungen der Jünger, angesichts dieser Tatsache: Sie schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung – je nach Bericht. Denn unmittelbar nach der Kreuzigung herrscht unter ihnen Verwirrung: Für die Jünger ist unklar, weshalb der göttliche Wille durch den Tod Jesu am Kreuz ausgedrückt werden sollte, zumal das Reich Gottes nicht gekommen war. Und auch sonst hatte sich sein Tod ganz ohne Zeichen vollzogen – sieht man von der im Markusevangelium (15,38) geäußerten Metapher vom „zerrissenen Vorhang“ ab: Gemeint ist damit der Vorhang im Tempel in Jerusalem, der das Allerheiligste abtrennte. Der Riss soll bedeuten, dass Gott fortan nicht mehr dort wohnt – schließlich haben die Juden Jesus abgelehnt, verurteilt und hingerichtet. Deshalb habe Gott sich von ihnen zurückgezogen – und die endgültige Zerstörung des Tempels durch die Römer ist in diesem Verständnis dann nur die gerechte Strafe Gottes.

Schon unmittelbar nach der Verhaftung von Jesus in Jerusalem sind seine Jünger verängstigt aus der Stadt geflohen – nur wenige Frauen sind bei der Kreuzigung anwesend. Schon bald nach Jesus` Tod aber erscheint der Gekreuzigte dem Fischer Simon Bar Jona, Petrus genannt, dem Ältesten der Jünger und auch ihr Anführer. Er ruft daraufhin die Jünger wieder zu sich, die sich nun alle erst einmal in Jerusalem einfinden – und dort bald die gleiche Vision haben: Der Gekreuzigte ist von den Toten auferstanden – er ist tatsächlich der Messias. Damit haben sie nicht gerechnet: Die Nachricht von der Auferstehung Jesu trifft die Jünger völlig unvorbereitet.

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Vor dem Hintergrund der Erscheinungen wird in den nun entstehenden Texten aus dem historischen Jesus von Nazareth über Jesus Christus schließlich der am Kreuz gestorbene und auferstandene göttliche Christus. Adolf Holl spricht in diesem Zusammenhang in „Jesus in schlechter Gesellschaft“ (2002) von einem „Vergottungsprozeß“, in dem „womöglich der Erfolg der Religionen begründet (liegt), da sie den Gläubigen dahingehend entlasten, sich nicht mehr ernsthaft mit Jesus messen zu müssen: Er macht es möglich, viele neue Menschen dem Glauben zuzuführen, ohne ihnen die Komprommisslosigkeit der ursprünglichen Jüngerschaft zumuten zu müssen.“ Es bedarf dazu nur der Befolgung bestimmter – später von Priesterschaft beziehungsweise der katholischen Kirche vorgegebener – Regeln, durchaus keiner harten.

Wie Holl bemerkt setzt der Vergottungsprozess bereits mit Paulus ein, der dem historischen Jesus – anders als die Jünger, die im Grunde das selbe entbehrungsreiche Leben führten wie ihr Vorbild – selbst nie begegnet ist, und findet seine Fortsetzung in den später entstandenen Texten des Neuen Testaments. Die Evangelisten konstruierten zwar noch Beziehungen zum alttestamentarischen Messias, schufen darüber hinaus jedoch eine Jesusfigur, in der der historische, politische Jesus komplett getilgt war. Das gilt insbesondere für das zuletzt entstandene Johannesevangelium, wo aus dem Leben Jesu das Leben Jesus Christus – eine zur Legende verarbeitete Biografie – wird.

Beim Evangelisten Johannes wird der politische Aspekt des Messias-Begriffs abgeschwächt und der galiläische Jesus, Jesus von Nazareth, nach seiner Kreuzigung letztlich sogar zum universalen Christus umgeschrieben: Schon im ersten Kapitel seines Evangeliums wird Jesus zum enthistorisierten, entkörperten „Wort Gottes“ (1,1), zum „göttlichen Logos“ (1,3), später zum „Licht der Welt“ (8,12). Ist der Jesus bei den Synoptikern noch etwas menschlicher gezeichnet, wird er bei Johannes zur endgültig zur göttlichen Lichtgestalt.

Mit der Vergöttlichung betont Johannes die Königsherrschaft Jesu – und manifestiert so gleichzeitig die Trennung vom Judentum: Dem wenn sich seine Anhänger nicht in dem Glauben zusammengefunden hätten, dass Jesus Gott ist, könnte man heute nicht von einer christlichen Religion sprechen. Schon in den synoptischen Evangelien hieß es: wer ist das nur, dass ihm sogar Wind und Wellen gehorchen? (Markus 4,41 und Lukas 8,25) Das ist gewissermaßen der Kern – das ganze Christentum hängt davon ab: Dass das Wort, der Logos, in Jesus Fleisch wird und letztlich wieder Gott selbst.

Genau genommen entwickelte sich Jesus zwar innerhalb des Judentums – auch wenn man ihn für einen großen Häretiker des Judaismus hält –, die christliche Religion aber bildet sich ab dem Moment heraus, wo Menschen behaupten, Jesus ist Gott – also in dem Moment, wo ein Glaubensbekenntnis die Gottheit dieses Menschen Jesus anerkennt, verkündet und öffentlich bekennt. In diesem Moment entsteht etwas völlig Neues.

Die Entwicklung hin zu diesem Bekenntnis allerdings war keine lineare, sondern wurde über Jahrhunderte erörtert und stand noch auf den Konzilen des 4. und 5. Jahrhunderts auf der Tagesordnung. Die Verwendung der Wörter „kyrios“ („Herr“), im Gegensatz zu „theos“ („Gott“) bedurfte einer dauernden Differenzierung: In welchem Maße war Jesus Gott? In welchem Maße war er der Gottessohn? Es gab unterschiedlich Ansichten – jeder wollte ihn so oder so festlegen, ihn zum Mensch machen oder ganz und gar zu Gott. Aber keine Ansicht konnte sich ganz durchsetzen – und so akzeptierte man schließlich das Mysterium, dass er wohl beides ist.

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Als im Jahr 325 Streitigkeiten in der so genannten Ostkirche – ihre Ursprünge gehen auf die ersten christlichen Gemeinden und späteren Patriarchate in Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem zurück – ausbrechen, die die junge Christenheit sogar zu spalten drohen, beruft Kaiser Konstantin ein Konzil in Nicäa ein. Er tut das weniger, weil es ihm um die christliche Religion als Grundlage der ideologischen Einheit seines Reiches geht, sondern eher deshalb, weil er Einigkeit zwischen den Bischöfen braucht, die die Kirchengemeinden kontrollieren und so auch politische Stabilität garantieren. Und so sollen auf dieser ersten Versammlung, dem ersten ökumenischen Konzil, Unstimmigkeiten zwischen den Patriarchaten geregelt werden. Konstantin begreift sich als Garant der Ordnung – und macht die Kirchenangelegenheit damit zu einer Angelegenheit des Kaisers. Politik und Religion sind hier insofern noch miteinander verschränkt: Die Rivalität zwischen diesen christlichen Zentren beizulegen – das ist für Konstantin Kirchenpolitik. Es gibt von ihm deshalb auch nur eine Parole für das Konzil: Einigt euch!

Konstantin benutzte das Konzil, auf dem er als Kaiser eigentlich nichts zu suchen hatte, also um politischen Einfluss auszuüben: Für ihn steht die Einheit der Kirche im Vordergrund, die auch für sein Reich wichtig ist. Deshalb lud er auf seine Kosten alle 1.800 Bischöfe seines Reiches ein in seinen kaiserlichen Sommersitz in Nicäa, unweit von Konstantinopel – das Konstantin im Jahr 330 zu seinem neuen Hauptsitz macht. Konstantinopel verdrängt Rom so vom Rang einer Hauptstadt und entsprechend will es das Patriarchat dann auch zum offiziellen Sitz des des Christentums machen, weshalb es in den nächsten Jahrhunderten vehement versucht seine Vormachtstellung gegenüber den anderen vier Patriarchaten in Alexandria, Jerusalem Antiochia und vor allem Rom zu festigen. Vorerst aber geht es um das Konzil – und Konstantins Ruf folgen auch etwa 200 bis 300 Bischöfe und Dekane, vornehmlich aus den Ostkirchen, sowie zahlreiche Presbyten und Diakone, so dass schließlich etwa 2.000 Theologen an den zweimonatigen Debatten beteiligt sind.

Erst zwölf Jahre vorher wurde durch ein Toleranzedikt das Christentum als offizielle Religion des Römischen Reiches von Konstantin zugelassen. Einigen Bischöfen sah man die Verstümmelungen, die ihnen bei der letzten Christenverfolgung vor gerade einmal 15 Jahren zugefügt wurden, noch an – nun aber wurde insbesondere über die Dreieinigkeit von Christus, Gottvater und Heiligem Geist debattiert.

Auslöser für die Unstimmigkeiten in diesem Zusammenhang – und auch für das Konzil – war die inzwischen seit sieben Jahren im gesamten Mittelmeerraum diskutierte These des Presbyters Arius aus Alexandria (260-327), wonach Jesus dem Gottvater untergeordnet sei – er sei schließlich nur der Sohn und komme deshalb nach dem Vater. Er stellte damit die Frage, ob Christus Gott ist – und sich selbst gegen seinen Bischof und die Orthodoxie, der zufolge Jesus nicht der Erlöser sein könne, wenn er nur ein Geschöpf Gottes sei. Die Trinität frage nur nach dem Verhältnis von Heiligem Geist, Christus und Gottvater – sie stellt aber nicht die Frage, ob Gott verschiedene Existenzformen hat. Jesus sei vielmehr schon immer ein Teil Gottes gewesen und von diesem insofern auch nicht zu unterscheiden.

Auf dem Konzil wurde Arius verurteilt, aber es wurde auch klar, dass dringend ein Glaubensbekenntnis her musste – und so ließ Konstantin schließlich einen Kompromiss formulieren. In diesem so genannten Nicäischen Glaubensbekenntnis (Nicänum) heißt es über Jesus, er sei „gezeugt aus dem Wesen des Vaters und gezeugt und ungeschaffen, wesenseins mit dem Vater“. Jesus sei also nicht geschaffen worden, wie von Arius behauptet, sondern von Gott gezeugt worden (man verwendete dafür den Begriff „Homoousios“ für „von gleicher Substanz“, „von gleichem Wesen“). Von jetzt an stellte man den Sohn auf eine Stufe mit Gottvater – man machte ihn absolut wesensgleich. Entsprechend begreift man die Zeugung auch nicht im Sinne eines zeitlichen Nacheinander, sondern als einen ewigen Akt – eine ewige Zeugung. Schon am Anfang des Johannesevangeliums (1,1 und 1,14) heißt es: „Im Anfang war das Wort, der Logos“ und „das Wort, der Logos, wurde Fleisch“. „Christus“ als metaphysische Figur sei insofern immer schon da gewesen (vor dem historischen Jesus) – er sei deshalb vor aller Schöpfung.

Das müssen alle Bischöfe als Glaubensbekenntnis unterzeichnen. Nur 20 weigern sich und werden in der Folge exkommuniziert und in die Verbannung geschickt. Zu ihnen gehörte auch Arius. Er wird später, auf der Synode von Antiochia im Jahr 341, jedoch rehabilitiert und posthum wieder in die Kirche aufgenommen – schließlich gelang es ihm doch auch, Eusebius von Caesarea zu überzeugen, der dann wiederum Kaiser Konstantin kurz vor dessen Tod taufen wird.

In Nicäa ging es vor allem um das Verhältnis des Vaters zum Sohn, ein paar Jahrzehnte später wiederholte sich das Szenario um die Frage nach dem Wesen und der Aufgabe des Heiligen Geistes – seltsamerweise aber ohne die Trinität selbst in Frage zu stellen.

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Unmittelbar nach Jesus` Tod gab es noch keine Christen im heutigen Verständnis, sondern nur Juden, die offen bekennen: „Jesus ist Christus“, Jesus ist gestorben und auferstanden – er ist der Messias. Aber alle diese Kategorien sind zunächst noch ausschließlich jüdische Kategorien und die Christen insofern nur so genannte Juden-Christen. Insofern ist der Begriff „Christentum“ für das 1. Jahrhundert noch völlig anachronistisch – so etwas gab es damals noch nicht. Erst im 4. Jahrhundert kristallisiert sich die unterscheidbare und institutionalisierte Religion heraus, die man Christentum nennen kann. Gleichwohl wird dann erst das Glaubensbekenntnis, in Jesus den Christos zu sehen, den auferstandenen Jesus, die Kirche begründen.

Nach Jesus` Tod machte es den Jüngern der Glaube, dass er nicht tot, sondern auferstanden ist, möglich, die Krise zu bewältigen. In den ersten Glaubensbekenntnissen heißt es deshalb immer: er ist gestorben – und auferstanden. Der Glaube an die Auferstehung taucht allerdings erst allmählich auf: Jesus stirbt um das Jahr 30 in Jerusalem, die ältesten Dokumente die davon berichten stammen aus dem Jahr 50. Zu dieser Zeit schreibt Paulus seinen ersten Brief an die Thessaloniker (auch Thessalonicher genannt), dem weitere an andere christliche Gemeinden folgen, zwei davon auch an die Korinther.

In seinem ersten Korintherbrief schreibt Paulus (15,35-49), dass ein wiederauferstandener Körper nicht aus Fleisch und Blut sei – deshalb spricht er auch davon, dass der Körper Christi ein soma pneumatikon gewesen sei: ein geistiger Körper. Die etwas später, irgendwann zwischen den Jahren 70 und 100, entstandenen Evangelien widersprechen Paulus in diesem Punkt, denn nach dem jüdischen Verständnis dieser Zeit bilden Körper und Seele eine Einheit: Ohne Körper gibt es auch keinen Geist. Entsprechend wird der Leichnam von Jesus in den vier kanonischen Evangelien auch nicht als Geist dargestellt, sondern sein Körper trägt bei der Erscheinung bei den Jüngern die Stigma der Kreuzigung. In diesem Sinn betont beispielsweise Lukas (24,36-39) die physische Natur der Auferstehung und zitiert Christus mit den Worten: „Seht meine Hände und Füße: Ich selbst bin es. Fasst mich an und seht! Ein Geist hat kein Fleisch und keine Knochen, wie ihr es an mir seht.“

So gelingt es wohl, die Jünger, die noch zweifelten, wie Matthäus (28,16) berichtet, zu überzeugen – und auch den „Ungläubigen Thomas“, der dieser Begegnung nicht beiwohnte. Ihm erscheint Christus laut Johannes (20,27) sogar ein weiteres Mal und fordert ihn auf: „Leg deinen Finger hierher und schau meine Hände an, und streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Egal nun, wie der auferstandene Jesus den Jüngern erscheint – letztlich sind sich doch alle Evangelisten einig darin, dass Jesus nach seinem Kreuzestod auferstanden ist und es nur eine Frage der Zeit sei, bis er Wiederkehren werde und mit ihm das Reich Gottes: Seine Rückkehr geht mit dem Kommen der Gottesherrschaft einher, mit den letzten Dingen und dem Gericht halten. Eben darum heißt es in einem späteren Glaubensbekenntnis „er werde zur Rechten des allmächtigen Vaters sitzen, zu richten die Lebenden und die Toten“.

Dass Jesus jedenfalls auferstanden ist, beweist schon, dass er seinen Jüngern erschienen ist. Auch darüber berichtet Paulus im 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes (1. Kor. 15,5), wo er all diejenigen auflistet, denen Christus erschienen ist. Paulus gebraucht hier in Zusammenhang mit dem Osterereignis den Ausdruck „ophte“, was soviel bedeutet wie: „er ließ sich sehen“, „er wurde gesehen“. Was genau geschah, wird auch hier nicht klar, gleichwohl liegt hierin, in der Erscheinung des auferstandenen Jesus, ein Ursprung des Christentums.

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Der erste, dem Jesus als Auferstandener Paulus zufolge erscheint ist Jesus` Jünger Kefas, genannt Petrus („Kefas“ ist das aramäische Wort für „Fels“, „Pétros“ die griechische Übersetzung davon). Der Erste zu sein, dem der auferstandene Jesus begegnet ist – das verlieh Petrus eine besondere Autorität, das heißt von nun an scheint er zum Nachfolger Jesu und Oberhaupt der Kirche erhoben zu sein. Aber schon zu Lebzeiten soll Jesus, Matthäus zufolge (Mt. 16,18), gesagt haben: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Tore des Totenreichs werden sie nicht überwältigen.“

Der Fels wird hier gewissermaßen zur Verbindungsstelle zwischen den Welten. Indem er zu Petrus sagt: du bist Petrus, übersetzt der „Fels“, der „Stein“, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, greift Jesus auf eine Symbolik zurück, die mit dem Tempel von Jerusalem – und damit dem Judentum – in Verbindung gebracht wurde. Denn es ist wie bei jüdischen Darstellungen vom Tempel von Jerusalem, die besagen, dieser Tempel ruhe auf einem Felsen, und zwar einem kosmischen Felsen (even shetiyyah), als jenem Ort, wo Himmel und Hölle in Verbindung zueinander treten.

Die Formulierung bei Matthäus hat das Bild von Petrus geprägt als einem, der quasi die Schlüssel zum Reich Gottes erhält. In den anderen Evangelien hingegen fällt sein Porträt nicht ganz so schmeichelhaft aus – wo Petrus Jesus, wie im Evangelium von Johannes, drei Mal verleugnet. Ein Porträt von ihm lässt sich insofern schwerlich erstellen, gleichwohl wird er mitunter zu einer symbolischen Figur aufgeladen, die Jesus im Urchristentum fortsetzen wird – zunächst in Palästina als „Säule“ der Jerusalemer Urgemeinde, dann geht er wohl – wie spätere Quellen berichten – nach Antiochia, Korinth und in die Türkei, später vielleicht auch nach Rom, wo er Gründer der ersten Gemeinde gewesen sein soll und das Martyrium erlitten habe: Angeblich soll Petrus vor der Verfolgung durch Nero im Jahr 64 aus Rom geflohen sein. Vor der Stadt aber begenete er der Legende nach dem Auferstandenen, der ihm sagte: „Ich gehe nach Rom, um ein zweites Mal zu sterben“, woraufhin Petrus umgekehrt sei. Petrus soll in Neros Circus, dort, wo sich heute der Petersplatz befindet, gekreuzigt worden sein – und zwar auf eigenen Wunsch hin mit dem Kopf nach unten, um sich nicht anzumaßen wie Jesus zu sterben (deshalb bezeichnet man ein umgedrehtes lateinisches Kreuz auch als „Petruskreuz“).

Dass Petrus in Rom gewesen sein soll – das wird im Neuen Testament allerdings nicht erwähnt. Trotzdem führt die römisch-katholische Kirche das Papsttum auf die Tradition zurück, dass Petrus der erste Bischof von Rom gewesen sei – auch wenn es historisch gesehen im 1. Jahrhundert noch gar kein Monepiskopat gab und die christliche Gemeinde entsprechend auch nicht von einem einzelnen Bischof geleitet wurde. Dennoch leiten die römischen Bischöfe ihren Anspruch auf das Amt des Papstes im Petersdom von seiner Autorität ab.

Aber nicht nur, dass sich die Päpste als Nachfolger Petri bezeichnen – das römisch-katholische Christentum insgesamt wurde auf der Grundlage des Matthäusevangeliums aufgebaut, wo er Petrus als „Felsen“ bezeichnet, auf dem er seine Kirche bauen wird. Liest man dort allerdings weiter, stellt man fest, dass das, was Jesus im 16. Kapitel Petrus zusagt, er im 18. Kapitel auch den anderen Jüngern zuspricht. Selbst im Matthäusevangelium wird Petrus also nicht als einziges Oberhaupt auf einen Sockel gestellt – und so gründet die Geschichte der katholischen Kirche seit 2.000 Jahren eigentlich auf einem Missverständnis.

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Nach seinem Märtyrertod wurde Petrus irgendwo auf dem vatikanischen Hügel („mons vaticanus“) außerhalb der Stadtmauern von Rom begraben, dort, wo damals die Nekropolen in den weichen Tuffstein gegraben wurden. Schon bald wurde über dem vermeintlichen Grab von Petrus ein erstes Petrusmonument errichtet, eine kleine Kapelle, die für Pilger bereits im 2. Jahrhundert als Gedenkort fungierte und über dem später der Petersdom errichtet werden sollte. So entstand hier auf dem Hügel vor der Stadt also tatsächlich ein Ort, an dem Himmel und Totenreich miteinander in Verbindung treten – und der so an das jüdische even shetiyyah erinnert.

Der Gedenkort entstand, obwohl die christliche Religion zu dieser Zeit noch im Verborgenen praktiziert werden musste. Das änderte sich allerdings mit der Thronbesteigung von Kaiser Konstantin. Er erlässt 313 die Religionsfreiheit und lässt dann sogar Kirchen bauen, allen voran die Konstantinische Basilika, auch „Alt Sankt Peter“ genannt, auf dem vatikanischen Hügel – der mutmaßlichen Stelle des Petrusgrabes. Konstantin lässt auf der Nekropole mit Gräbern aus dem 2. Jahrhundert, aber auch noch älteren, die direkt auf Nero verweisen, das Fundament für die Basilika errichten – die dann im 16. Jahrhundert durch eine neue Basilika ersetzt wird, die sich noch heute über dem Petersplatz erhebt.

Die Konstantinische Basilika war etwa 100 Meter lang und damit seinerzeit die größte Kirche Roms. Die Apsis war mit einem riesigen Mosaik versehen, auf dem Jesus in der Mitte dargestellt war, neben ihm Petrus und Paulus, während sich am Boden der Apsis die Memoria befand – also die Gedenkstätte über dem Petrusgrab, an der Stelle, wo nach dessen Kreuzigung ein erstes Petrusmonument über der letzten Ruhestätte des Apostels errichtet wurde. Die Memoria ist der eigentliche Kern der Basilika – auf ihr gründet die Legitimation der päpstlichen Macht.

Die Memoria über dem Petrusgrab bestand aus einer Art Baldachin, der auf sechs Säulen ruhte, die noch heute erhalten sind und in der später neu errichteten Basilika verbaut wurden. Auf sie und auf ein marmornes Mausoleum, das zwischen den Säulen thronte, lief eine lange Sichtachse zu, wobei die Reliquie im marmornen Mausoleum die Achse bestimmt, auf der alle zukünftigen Altäre errichtet wurden – der erste entsteht dann im 7. Jahrhundert, hält aber den Eingang zum heiligen Grab darunter noch offen.

Nachdem sich das Christentum bis ins 7. Jahrhundert im gesamten Römischen Reich ausgebreitet hat, sich aber Konstantinopel als offizieller Sitz gegenüber Rom behauptet und seine Vormachtstellung auf der Grundlage des profitablen Orienthandels gefestigt hat, brauchte man in Rom einen ebenbürtigen Verbündeten, um sich gegenüber der Stadt am Bosporus zu behaupten. Man findet ihn in Karl dem Großen, noch bevor er zum Kaiser gekrönt wird. Er ist der mächtigste Herrscher seiner Zeit – und verbündet sich nun mit dem Papst.

Als im Jahr 799 auf den Papst Leo III. (795-816) ein Attentat verübt wird, sucht er Zuflucht bei Karl dem Großen. Seine Ankunft erfolgte zu der Zeit, als innerhalb des Frankenreiches bereits über die Übertragung der Kaiserwürde auf Karl nachgedacht wurde – und so sollten schließlich beide voneinander profitieren: der Papst findet einen mächtigen Schutzherrn – und krönt dafür Karl den Großen zum Kaiser. Die Zeremonie, die im Jahr 800 in der Konstantinischen Basilika stattfindet verändert die Ordnung der Welt, denn mit dieser Geste verleiht der Papst Karl dem Großen den Titel: Kaiser des Weströmischen Reiches. Damit markiert er offen den Bruch mit der Ostkirche in Form des Patriarchats Konstantinopel. Rom wird wieder Hauptstadt – die Hauptstadt des christlichen Westreichs.

Dieses Bündnis mit den Karolingern bringt dem Papst auch Schenkungen ein, die seinen Einfluss in Italien vergrößern. Immer mehr wird er zu einem Souverän mit echter weltlicher Macht und den damit verbundenen Verteidigungspflichten. So lässt Leo IV. (847-855) Mitte des 9. Jahrhunderts eine 12 Meter hohe Wehrmauer in Rom errichten, die drei Kilometer lang ist und von drei befestigten Toren durchbrochen wird, um die Basilika gegen Angriffe der inzwischen zur Gefahr für Rom gewordenen Sarazenen geschützt zu sein – die so genannte Leoninische Mauer. Durch sie entsteht die Civitas Leonina, die Leostadt. Sie besteht aus dem römischen Stadtteil Borgo, der damals noch außerhalb der Stadtmauern lag, und einem Großteil des – zur Versorgung der wachsenden Pilgerströme – immer stärker bebauten, nur etwa einen halben Quadratkilometer großen Gebiets um das Petrusgrab umfasste. Überreste der Mauer befinden sich heute im Westen der Vatikanstadt.

Der Papst residierte damals noch nicht auf dem vatikanischen Hügel, sondern im Lateranpalast innerhalb von Rom. Weil sich damals aber mehrere einflussreiche römische Familien um den Papstthron stritten, brauchte er einen Ort, an dem er besser geschützt ist. Nahe der Stadt, doch mit dem Tiber als natürlicher Barriere, bot sich der vatikanische Hügel an – allerdings fehlt noch ein Palast neben der Konstantinischen Basilika, der genügend Platz bot für die Kurie, also die Verwaltungsorgane des Papstes. Nikolaus III. (1277-1280 ) aus dem Geschlecht der Orsini gibt den Bau schließlich in Auftrag – und macht den Vatikan damit endgültig zu einem Ort der Macht.

Dieser Palast vom Ende des 13. Jahrhundert verbirgt sich heute im Zentrum der labyrinthischen Vatikanstadt, wo er – bis auf einen Turm – völlig verbaut und in andere Gebäude integriert wurde. Hier regiert der Papst nun abgeschottet vom weltlichen Leben im Kreise seiner Kardinäle, die ihn im Konklave gewählt haben. In dem neu errichteten befestigten Palast direkt neben der Konstantinischen Basilika behauptet das Papsttum seine politische Unabhängigkeit und manifestiert seine Macht – der Vatikan ist seither Sitz des Oberhaupts der katholischen Kirche. Von einer neuen Maurer geschützt wird der Palast noch um 20 Hektar Gärten ergänzt, die aus dem Vatikan ein regelrechtes Landgut machten.

Doch schon bald halten Nachfolgestreitigkeiten die Päpste dauerhaft von Rom fern. Sie weichen aus auf andere Residenzen im Kirchenstaat, zum Beispiel nach Orvieto, Perugia, Anagnia – und schließlich geht der Papsthof nach Avignon, wo die Wanderschaft 1305 endet. Ursprünglich geht es lediglich darum, durch die Wahl eines französischen Papstes, Clemens V. (1305-1314), den Zwist zwischen dem Papsttum und dem französischen König beizulegen. Doch politische Unruhen in Italien und Komplotte der einflussreichen römischen Familien zwingen auch Clemens` Nachfolger in Avignon zu bleiben. Letztlich regieren im Laufe des 14. Jahrhunderts insgesamt 9 Päpste von dem Palast in Avignon aus.

Verärgerte Reaktionen aus Rom lassen nicht auf sich warten: Bei jedem neuen Papst wird ein Botschafter nach Avignon entsandt, um zu versuchen, den Heiligen Stuhl wieder nach Rom zurück zu holen – denn das Schwinden der Macht schadet dem Ansehen der Stadt und mindert die Popularität des Vatikans. Mehr noch: Ohne einen Papst, der die Messe feiert, droht auch die Basilika zu verwaisen und in Vergessenheit zu geraten. Um weiterhin Pilger und Gläubige hierher zu locken, beauftragt man Giotto (1267/76-1337) damit, ein Triptychon mit Petrus an der Stelle des Papstes für den Hauptaltar der Konstantinischen Basilika zu schaffen. Petrus sollte so die physische Präsenz des Papstes ersetzen, der zu dieser Zeit nicht mehr in Rom weilte. Und es sollte die Pilger daran erinnern, dass sich hier das Grab des ersten Papstes befindet – und nicht in Avignon. Durch Giottos Werk behauptet die Basilika ihre Legitimität. Seine Symbolkraft wird so groß, dass sich die Päpste, als sie schließlich nach Rom zurückkehren, ein für alle Mal im Vatikan niederlassen und die nun fast 1.000 Jahre alte, baufällige Basilika renovieren lassen.

Mit dem Ende des Mittelalters erlebt Rom einen beispiellosen Aufschwung, von dem auch der vatikanische Hügel profitiert – die Renaissance. Im Jahr 1503 wird Guliano della Rovere zum Papst Julius II. (1503-1513) gewählt – er wird die Architektur des Vatikans nachhaltig prägen. Als erstes will er einen Palast errichten, der dem eines römischen Kaisers ebenbürtig ist. Mit dem Bau wird Donato Bramante (1444-1514) beauftragt, der für seine Kenntnisse der Antike bekannt ist. Er soll den Palast mit dem Belvedere verbinden – einer großen Villa auf dem Hügel gegenüber. Bramante entwirft für das ansteigende Terrain eine gewaltige Anlage aus Gärten, Terrassen und Galeriebauten – nach den Vorbild der Gärten antiker römischer Villen –, die das Gesicht des Vatikans grundlegend verändern wird. Aber auch diese Anlage ist heute kaum mehr zu erkennen und wurde durch drei Höfe ersetzt. Die Galerien allerdings bestehen noch heute – in ihnen sind heute die 26 vatikanischen Museen untergebracht.

Hier befindet sich auch die Laokoon-Gruppe, die Julius II. von einem römischen Funktionär erworben hat, der die Skulptur bei Arbeiten in seinem Weinberg entdeckte und ausgraben ließ. Der absolute Realismus der Laokoon-Gruppe aus dem ersten Jahrhundert vor Christus wurde in der Renaissance zum Maßstab für die Künstler dieser Zeit – allen voran für Michelangelo (1475-1664), der darin ein Vorbild für seine Körperstudien findet. Julius II. wünscht diese in Stein gehauene Unsterblichkeit aber auch bei sich selbst – und gibt bei Michelangelo ein riesiges Grabmal in Auftrag – dann jedoch beansprucht drei Jahre später plötzlich ein anderes Projekt das Vermögen des Vatikans und Michelangelo wird unerwartet freigestellt. Der Papst will nämlich von Donato Bramante eine neue Basilika bauen lassen, die den Status Roms als Hauptstadt des Christentums untermauern soll. Bramante schlägt dem Papst eine Basilika in Form eines griechischen Kreuzes vor, mit einer Zentralkuppel umgeben von vier weiteren Kuppeln. Er fügt hinzu: „Ich nehme das Gewölbe des Pantheons und hebe es auf die Bögen der Konstantinischen Basilika.“ Das Pantheon, im 1. Jahrhundert vor Christus gebaut, besitzt die größte Kuppel der Antike – das Symbol der Erhabenheit römischer Baukunst. Der Papst ist nach einigen Änderungen mit Bramantes Plan einverstanden, man fügt aber noch ein Mittelschiff hinzu. 1506 feiert man die Grundsteinlegung.

Um die gigantische Basilika, den späteren Petersdom, zu finanzieren, führt Julius II. den Ablass ein und verspricht allen, die den Bau finanziell unterstützen, die Vergebung ihrer Sünden. Während der Bauarbeiten wird die nahe gelegene Sixtinische Kapelle erschüttert. Sie gehörte zum mittelalterlichen Vatikanpalast und war schon damals ein wichtiges Gebäude, weil sich die Kardinale hier zum Konklave versammelten, um den Papst zu wählen. Die Wandgemälde, unter anderem von Botticelli (1445-1510), bleiben zwar unbeschädigt, durch die Decke aber zieht sich ein Riss – der neu verspachtelt und vor allem bemalt werden muss. Für diese Arbeit gelingt es dem Papst ein weiteres Mal Michelangelo zu engagieren, trotz dessen Widerwillen nach dem Fiasko mit dem Grabmal. Er willigt ein, die Decke der beschädigten Sixtina auszumalen. Vier Jahre lang arbeitet er ganz allein daran – und breitet schließlich die gesamte Geschichte des Christentums an der Decke aus, die Genesis, also die Schöpfung, komplettiert das Leben Jesu auf den Wandfresken aus dem 5. Jahrhundert. Am Vorabend von Allerheiligen 1512 wird die Sixtinische Kapelle schließlich mit einer Messe eingeweiht – und alle sind begeistert.

Dann aber veröffentlicht Martin Luther 1517 seine 95 Thesen und beschuldigt die Kirche der Götzenanbetung und der Korruption, vor allem aber der Monetarisierung des Seelenheils durch den Ablasshandel. Es ist die Geburtsstunde des Protestantismus. Die neue Konfession des Christentums breitet sich wie ein Lauffeuer aus und erreicht die meisten Länder des Heiligen Römischen Reiches und Skandinaviens. 1533 bricht zudem England mit dem Katholizismus und gründet die Anglikanische Kirche, mit dem Calvinismus kommt die Bewegung auch nach Frankreich. Der Vatikan ist in Zugzwang. Also gibt Papst Clemens VII. (1523-34) ein neues Altarfresko für die Sixtinische Kapelle in Auftrag – und Michelangelo schafft neben dem Deckenfresko auch noch das Wandgemälde „Das Jüngste Gericht“ hinter dem Altar, wie um daran zu erinnern, dass jenseits allen Theologenstreits Gott über Gut und Böse richtet.

Während der Protestantismus jeden Tag neue Anhänger gewinnt, verlieren sich die Pilger auf ihrer Suche nach dem Grab des Heiligen Petrus im heillosen Chaos der riesigen Baustelle für die neue Basilika. Wie soll man auf einer solchen Baustelle die heilige Messe feiern? Zumindest steht das, leider angeschlagene, Hauptschiff der alten Konstantinischen Basilika noch. Durch eine Mauer von der Baustelle getrennt, geht hier das religiöse Leben weiter. Das Ergebnis ist eine seltsame Hybrid-Struktur: halb Rohbau, halb Ruine. Das liegt daran, dass seit Bramantes Tod ständig die Entwürfe wechseln. So kommt es, das 1546 gerade einmal die vier Hauptpfeiler, der südliche Wandelgang und zwei Deckengewölbe fertiggestellt sind – von einer Kuppel aber ist noch nichts zu erahnen. Ein Schandfleck in der ewigen Stadt – gleich neben den Ruinen des Palatins und des Kolosseums. Deshalb soll der 72jährige Michelangelo nun Ordnung in die Angelegenheit bringen und den Bau fertigstellen.

Im Jahr 1547 wird Michelangelo Bauleiter der Basilika und bleibt es 17 Jahre lang bis zu seinem Tod 1564. Er zeichnet neue Pläne mit radikalen Änderungen: er verringerte die Dimension des Gebäudes, indem er die geplanten Chorgänge entfernte und den Bau nach oben hin öffnete. Vor allem aber beschloss er, das gesamte Gebäude außen mit Travertinstein zu verkleiden, einem weißen Kalkstein, der seit der Antike für Prestigebauten verwendet wird. Der Bau schreitet nun endlich voran – insbesondere auch, weil sich Michelangelo selbst um unscheinbare Details persönlich kümmert. Aber er ist jetzt 88 Jahre alt, hat 13 Päpste überlebt – und wird das Bauende des Petersdoms nicht mehr erleben. Bei seinem Tod fehlt immer noch die gewaltige Kuppel. Allerdings hat er zuvor ein Modell herstellen lassen, das von Filippo Brunelleschis (1377-1446) Technik beim Bau des Doms in Florenz inspiriert ist. Dennoch sollten weitere 24 Jahren vergehen, bis die Kuppel in Rom fertiggestellt ist. Erst 1590, mehr als 75 Jahre nach Baubeginn, erlebt die Basilika Sankt Peter im Vatikan ihre Krönung. Die Kuppel des Petersdoms wird zum Vorbild für die Kuppeln aller späteren Kirchenbauten.

Wenige Jahre nach der Fertigstellung des größten Sakralbaus der Welt werden die Reste der Konstantinischen Basilika abgetragen und an dieser so geschichtsträchtigen Stelle entsteht neuer Raum, den man alsbald mit einem Langhaus bebaut, wodurch aus der neuen Kirche ein Reliquiar der alten wird. Und auch der Petersplatz wird nun in eine riesige Bühne für die Auftritte des Pontifex maximus umgebaut, die entsprechend ausgestattet werden muss. Bereits 1586 – als die Kuppel fertig ist – wird hier mit einem Großaufgebot an Männern und Pferden ein gewaltiger Obelisk aufgestellt, unter dem Petrus gekreuzigt worden sein soll. Damit hat der Platz, dort, wo sich einst Neros Circus befand, in dem neben Petrus auch zahlreiche andere Christen gefoltert wurden, sein Symbol. Aber erst ein Jahrhundert später wird er zur berühmtesten Sichtachse der Welt, dank des Werks von Gian Lorenzo Bernini (1598-1680), der den Petersplatz mit 284 Säulen säumte, die von der Fassade des Petersdoms her kommend den Petersplatz halbkreisförmig in zwei vierreihig angeordneten Kolonnaden gewissermaßen zu umarmen scheinen. Bernini war es auch, der für den Großteil der prunkvollen barocken Innenausstattung des Petersdoms mit dem Baldachin über dem Petrusgrab verantwortlich zeichnet – und so die Theatralisierung des Glaubens auf die Spitze trieb.

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Obwohl der Vatikan heute Sitz der katholischen Kirche ist und Rom schon bald Jerusalem als religiöses Zentrum abgelöst hat, ist unklar, wie das frühe Christentum hierher gelangte – wie es sich überhaupt ausgebreitet hat. Es gibt hierzu keine präzisen Quellen – nur das Neue Testament: Um das Jahr 50 schreibt Paulus mehrere Briefe an verschiedene Gemeinden, die für die ältesten Dokumente des Neuen Testaments gehalten werden (von den 14 veröffentlichten Briefen sind aber wohl nur sieben echte Briefe von Paulus). Geschrieben wurden sie zwischen dem Jahr 50 (1. Thessalonicher) und 56/57 (Römerbrief), der Philipperbrief womöglich auch erst im Jahr 62. Dann folgt das Markusevangelium im Jahr 70 und Lukas, der sowohl ein Evangelium geschrieben hat als auch, zwischen 85 und 90, die Apostelgeschichte.

Alle diese Texte entstehen erst ein oder zwei Generation nach der Kreuzigung und sie geben nur einen fragmentarischen, lückenhaften Überblick – sie liefern keine durchgehende Geschichte –, auch wenn sich Lukas um Kontinuität bemüht und die Apostelgeschichte deutlich als Fortsetzung seines Evangeliums zu erkennen ist. Man verfügt jedoch über keine anderen Quellen um zu rekonstruieren, was sich gleich nach Jesus` Tod ereignet hat. Folglich weiß man beispielsweise nicht, wie das Evangelium von Jerusalem nach Alexandria gelangte, ob es womöglich Pilger waren, die aus Jerusalem zurück kamen. In keiner Quelle steht, wer die Gemeinden in Rom, Alexandria, Ephesos oder Antiochia gegründet hat. Fest steht nur, dass es überall da, wo es zuvor jüdische Synagogen gab, später auch christliche Gemeinden geben wird. So wird sich zum Beispiel in Antiochia, dem Sitz des römischen Statthalters in Syrien, eine Gemeinde bilden, die von entscheidender Bedeutung war für die weitere Entwicklung des christlichen Glaubens. Aber mit Christentum hatte das noch nichts zu tun, denn es handelte sich damals noch um Juden, die den Glauben an den Messias annahmen – um Juden-Christen also, Christen im Sinne von „Jünger Jesu“, nicht um Anhänger einer Religion, die Christentum heißt. Es gibt zu dieser Zeit noch kein autonomes Christentum.

Unklar ist auch, warum die Jünger des Nazareners, die selbst aus der Provinz in Galiläa stammen, nach der Kreuzigung nach Jerusalem zurück kehren – eine Stadt, in der sie sich nicht auskennen, weil sie höchstens Mal zu Pessach hier sind. Zumal ihnen hier noch immer die Gefahr der Verhaftung droht. Es ist möglich, dass sie tatsächlich dem Ruf von Petrus gefolgt sind – auf jeden Fall aber müssen sie sich hier versteckt halten. Aber dass sie da sind – das verweist darauf, dass sie wohl auf die bald bevorstehende Apokaylpse spekulieren: Für die Jünger war klar, dass Jerusalem der Ort sein musste, an dem sich das von Jesus gepredigte Reich Gottes realisieren würde. Entsprechend sind sie hier, weil sie Jesus bei seiner Wiederkunft empfangen wollen.

Die Erwartung dieser Wiederkunft und Gegenwart Gottes – auch Parusie genannt –, des Reich Gottes, ist so groß, dass niemand in der Gemeinde mehr arbeitet, keiner mehr Kinder bekommt – und sich alles auf diese Verheißung ausrichtet. „Marana Tha!“, „Herr mein Meister, komm doch!“ – alle warten nur noch auf die Rückkehr. Die Erwartung der Parusie, des Endes der Zeiten, war im Urchristentum allgegenwärtig – als stünde es unmittelbar bevor. Aber offensichtlich geschieht diese Rückkehr nicht so bald …

Als klar war, dass das Ende nicht so bald kam, stand man nicht nur vor einem Glaubensproblem, sondern auch vor einem wirtschaftlichen, weil inzwischen die Mittel für den Lebensunterhalt ausgegangen waren. Und so musste dieses Modell bald aufgegeben werden, das heißt von nun an musste man eine andere Existenzform in Betracht ziehen um das Ausbleiben der Parusie auch auf Dauer umzusetzen. Für die weitere Entwicklung hin zum Christentum hatten die Veränderungen in dieser Zeit eine wichtige Bedeutung. Adolf Holl bemerkt im Hinblick auf die Änderung des Existenzmodells der ersten Gemeinde in Jerusalem: „Neben dem Vergottungsvorgang in der Vorstellungswelt der Christen ist der Wandel im Versammlungsgefühl konstitutiv für die katholische Kirche.“

Als das Reich Gottes ausbleibt stellte sich die Frage, warum es nicht kam? Gleichzeitig galt es, sich auf eine längere Wartezeit einzurichten und damit alles ein wenig zu systematisieren – Kirchen organisieren, ein System der Verantwortlichen, der Hierarchien und gewissen Solidaritäten schaffen. So geht es im Grunde auch allen Sekten, die ihre Hoffnungen nicht unmittelbar verwirklicht sehen und sich deshalb auf Dauer einrichten müssen. Hat eine Sekte das Ende der Zeiten prophezeit – wie beispielsweise die Zeugen Jehovas, die ihre Hoffnungen allerdings nicht auf die Parusie richten (die sei bereits 1914 erfolgt, als Jesus die Herrschaft im „Köngreich Gottes“ übernommen habe), sondern sie glauben an die Wiederherstellung eines irdischen Paradieses, nachdem vorher alle Nicht-Gläubigen in der Endschlacht von Harmagedon vernichtet wurden –, und es bleibt aus, dann gibt es zwei Möglichkeiten: entweder löst sie sich auf, oder aber sie rückt noch enger zusammen, indem sie sich mit einem Autoritäts- und Schutzmechanismus ausstattet, der sie Fortbestehen lässt.

Im Urchristentum hat das noch nichts mit der Organisation durch verschiedene geistliche Ämter zu tun, die am Ende des 1. und Anfang des 2. Jahrhunderts vorzufinden sind. Aber schon jetzt wird unterschieden zwischen den Predigern, den Propheten und jenen, die verwalten oder das geistliche Leben organisieren. Insofern lässt sich hier durchaus von einem ersten Organisationsstadium im Hinblick auf die später institutionalisierte Kirche sprechen. Und vielleicht auch in diesem Sinn taucht nun im im 5. Kapitel der Apostelgeschichte erstmals der Begriff „Kirche“ für die „Gemeinde“ auf, die sich bis dahin immer nur als „Gemeinschaft“ („Kommunion“) bezeichnete. Allerdings ist dabei noch Vorsicht geboten.

Die Apostelgeschichte ist auf griechisch verfasst und das entsprechende Wort für „Kirche“ lautet „ekklesia“. Es bezeichnet jede Art von „Zusammenkunft“ oder „Versammlung“ – und man kann diesen Begriff nicht so ohne weiteres mit „Kirche“ in unserem heutigen Verständnis übersetzen (oder wie im französische mit „eglise“). Das verleiht dem Begriff eine institutionelle Bedeutung, die er im 1. Jahrhundert so definitiv noch nicht hatte oder haben konnte. Adolf Holl bemerkt in diesem Zusammenhang: „Ist da die Kirche oder erst einmal eine Anzahl von Gemeinden ohne eine zentrale Institution – und das ist Kirche doch: nicht eine Vielzahl von Gemeinden, sondern Menschen, die das gleiche sagen, lesen und die gleichen Regeln akzeptieren. So weit ist es noch nicht.“

Etymologisch betrachtet hatte der Begriff „ekklesia“ außerhalb seiner Verwendung im Neuen Testament keinerlei institutionelle Bedeutung. In der griechischen Bibel bezeichnet der Begriff dann die versammelte Gemeinde Israels – und außerdem bezeichnete das selbe Wort in der griechischen Welt die Gemeinschaft der freien Männer, die innerhalb einer Stadt ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. So verbreitet sich dann die Meinung, dass mit dem Begriff „ekklesia“, „Kirche“, das Wesen der Gemeinde bestens wiedergegeben sei. Und so findet das Wort dann auch Eingang in die christliche Sprache und wird von einem bestimmten Zeitpunkt an bevorzugt verwandt. Nach und nach setzt sich der Begriff jedenfalls durch, um die Gemeinde der Christen in Abgrenzung zur jüdischen Synagoge zu bezeichnen.

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Als Jesus um das Jahr 30 starb, konnte niemand voraussehen, dass seine Anhänger wenige Jahrzehnte später in ihm den Mensch gewordenen Gott sehen würden. Keiner von ihnen konnte ahnen, dass Jesus nicht wiederkehren und sich das Weltende immer weiter hinausschieben, dass letztlich statt des erwarteten Reich Gottes die Kirche kommen sollte. Das war auch nie in Jesus` Absicht: Das Reich Gottes, das er im Sinn hatte, unterschied sich wirklich ganz und gar von der Kirche, die sich dann im 2. Jahrhundert immer weiter institutionalisierte und ritualisierte.

Für Adolf Holl ist ganz klar, dass das nicht im Sinne Jesu war – der sich zeitlebens gegen das Priestertum stellte, deren kultische Tätigkeit zudem auch stets an einen heiligen Ort, einen Tempel, gebunden ist: Im Neuen Testament bedeutet „Priester“, wie Holl ausführt, „Kultdiener“ – man verwendet hierfür den griechischen Begriff „hiereus“ von „hieros“, „heilig“, der später dann auch dem Begriff der „Hierarchie“ zugrunde liegt: auch dieser Begriff stammt aus dem altgriechischen und wurde zusammengesetzt aus „hieros“ und „archē” für “Führung, Herrschaft” – und bezog sich zunächst lediglich auf die Religion, wo es als „hierarchia“ die Reihenfolge der sich abwechselnden Hohe- beziehungsweise Tempelpriester in Jerusalem bezeichnete.

Ursprünglich gab es im Judentum keine Priester: Zur Zeit Abrahams waren die Juden noch kein Volk, sondern Nomaden, und hatten entsprechend auch noch keine Ämter. Sie beteten und opferten ihrem Gott auf Altären, die sie vielleicht auf irgendeinem Felsen in der Nähe errichteten oder auf aufgeschichteten Steinen – wobei ihr Gott, darauf macht Adolf Holl aufmerksam, noch nicht „Jahwe“ war wie dann für Moses, sondern noch „El“, wie für die Wüstenbewohner im Sinai. Erst in Ägypten wurde aus dieser priesterlosen Gesellschaft ein Volk – und für dieses richtete der Gott Jahwe dann auch Ämter ein, die noch in der Person des Moses vereint sind: Er hat die Leitung inne, ist Prophet und Priester. In der Leitung wird ihm dann Josua folgen (Dtn. 34,9), diesem die Richter, dann Saul, David und die Könige, die ihr Amt dann erstmals vererben. Mose war auch der unvergleichliche Prophet (Dtn. 34,10), und Gott versprach ihm: „Einen Propheten wie dich will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen“ (Dtn. 18,18) – und zwar immer wieder, denn dieses Amt ist nicht erblich.

Das Priestertum jedoch ist das erste Amt, das aus dem allumfassenden Amt des Moses ausgegliedert wird – als er seinen älteren Bruder Aaron zum „Hohepriester“ weihte (Ex. 28,1) und mit ihm seine Söhne zu „Priestern der zweiten Ordnung“ (2. Kön. 23,4). Die dritte Ordnung kam den Leviten zu, die beim Gottesdienst assistieren beziehungsweiste „dienen“ (Num. 18,2) sollten. Für sie galt: „Damals sonderte der Herr den Stamm Levi aus, damit er die Lade des Bundes des Herrn trage, vor dem Herrn stehe, vor ihm Dienst tue und in seinem Namen den Segen spreche“ (Dtn. 10,8–9). Die nach Gottes Anweisungen gebaute Bundeslade enthält die Steintafeln mit den Zehn Geboten und ist bis heute das Symbol für den Bund Gottes mit dem Volk Israel. Die Leviten wurden von Gott zu jenem Priesterstamm berufen, der die Bundeslade während des Auszuges aus Ägypten und während der Landnahme Israels trägt – und so Gott inmitten des Volkes präsent halten soll, ihm gegebenenfalls auch die Leviten liest. Für alle aber gilt: Priester sind „Diener des Altars“ (Joel 1,13) und sprechen den Segen über das Volk, nachdem sie Gott geopfert haben.

Um 930 vor Christus errichtet König Salomo dann ein Heiligtum für die Bundeslade, obwohl Gott Samuel zufolge (2. Sam. 7,4-6) schon zu David gesagt hat: „Du willst mir ein Haus bauen, damit ich darin wohne? Ich habe nicht in einem Haus gewohnt … bis auf den heutigen Tag, ich bin umhergezogen in einem Zelt als Wohnung.“ Nun aber wird auf einem Felsen in Jerusalem ein erster Tempel errichtet – der dann allerdings von den Babyloniern im 6. Jahrhundert vor Christus zerstört wird. Erst nach der Heimkehr aus dem babylonischen Exil, etwa sechzig Jahre später, wird ein neuer Tempel gebaut. Nun etabliert sich „eine schriftkundige Priesterkaste mit starkem politischen Einfluß“, wie Holl schreibt. Und so blieb es auch bis zur Zeit Jesu – nur das Herodes um 20 vor Christus den Tempel neu errichtet hatte.

Die ritualistische Religiosität im Tempel, in deren Zentrum das Opfer steht, besonders an Pessach – „die beherrschende Idee ist der Kult“, schreibt Holl, „auf ihn hin ist alles angelegt“ –, steht schon früh in der Kritik. Bereits im 8. Jahrhundert vor Christus etwa bemerkt der Prophet Hosea (6,6): „Denn an Treue habe ich Gefallen und nicht an Schlachtopfern und an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern!“ Das Misstrauen gegen Kult und Ritual im Tempel, das auch von anderen Propheten geäußert wird, wird nun im Neuen Testament aufgegriffen. Allein schon, dass Jesus in Bethlehem zur Welt kommt, zeigt das Oppositionelle, wie Holl ausführt: „Denn nicht in Jerusalem wird Jesus geboren …, sondern in Bethlehem, und die erste Nachricht davon ergeht an die Hirten auf freiem Feld, keineswegs sprechen die Himmlischen zur Priesterschaft im Tempel zu Jerusalem.“

Jesus übernimmt die alttestamentarische Kritik an der priesterlichen Tempel-Religion – und man stellt ihn nach seinem Tod auch in die Tradition eines Gottes, der keinen Tempel braucht. Auf ein Jerusalem ohne Tempel, ein Reich Gottes ohne Priester, verweist dann ein letztes Mal die die Apokalypse des Johannes.

Paradoxerweise aber verwirklichen dann die Juden nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer genau das, was Jesus vorgeschwebt haben mag: eine priesterlose Religion. „Es ist nämlich eine historische Tatsache, dass die Juden nach 70 n. Chr. keine Priester mehr kennen“, bemerkt Holl, sondern nur noch den Rabbi – und der hat keine kultische Funktion mehr, wie noch die Tempelpriester. Adolf Holl bemerkt allerdings, dass es auch „ein ziemlich starkes Argument dafür (gibt), daß die ersten Christen tatsächlich eine Auffassung vertraten, die der herkömmlichen Tempel- und Priesterfrömmigkeit den Rücken kehrte: die frühen christlichen Gemeindevorsteher … hatten keinerlei sakrale Funktionen inne; ihre Leitungsaufgabe ähnelte sehr der eines jüdischen Vorstehers irgendwo in einer Gemeinde des damaligen Mittelmeerraumes.“

Schon gegen Ende des 1. Jahrhunderts ist unter den frühen Christen allerdings auch schon die gegenläufige Tendenz zu beobachten. Holl bemerkt in diesem Zusammenhang: „In einem Brief des römischen Christenvorstehers Clemens aus dem Jahre 96 n. Chr. ist allbereits von einer kultischen Hierarchie die Rede … obwohl es dann noch eine Weile dauerte, bis sich der christliche Vorsteher in Rom endlich den althergebrachten Würdenamen eines pontifex maximus zulegen konnte, also den Titel eines altrömischen Hohenpriesters. Auch dauerte es mehrere hundert Jahre, bis die Christen in großem Umfang Tempel zu bauen begannen und der dazugehörige Klerus die vorhandenen Positionen der staatlich anerkannten Priesterschaft besetzte.“

In der Ausgestaltung seiner Ämter greift das Christentum auf das dreistufige aaronitische Priestertum des Alten Testaments zurück, das heißt von „Priestern“ (hiereis) wollte man ganz am Anfang in Bezug auf die Amtsträger der Kirche noch nicht sprechen, man bevorzugte den Begriff „Presbyter“, der sich vom altgriechischen Wort „presbýtero” für „Älterer” herleitet. Damit bezeichnete man das Leitungsamt der frühen Christengemeinden – aus dem sich dann im 2. und 3. Jahrhundert das Amt des Priesters in der zweiten Ordnung des dreistufigen Weihesakraments entwickelte, sowie das des Diakons auf der dritten und das des Bischofs auf der ersten Stufe.

Dass diese Entwicklung hin zu einer institutionalisierten Kirche aber relativ zügig verlief – das zeigt ein Brief von Ignatius von Antiochien an die Kirche in Smyrna: Darin (Smyrn. 8,1) wird deutlich, dass sich, abgesehen von Propheten und Aposteln, die Ämterstruktur der Kirche bereits im Jahr 110 voll ausgebildet hat: Neben den Presbytern (Priestern) unterscheidet man hier im Hinblick auf das Weihesakrament auch schon Episkopen (Bischöfen) und Diakonen (Assistenten). Es ist diese Ämterstruktur, die sich dann in den christlichen Kirchen im Westen und Osten durchsetzen wird.

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Unmittelbar nach der Kreuzigung versammeln sich die Jünger Jesu in Jerusalem. Von der Jerusalmer Gemeinde in dieser Zeit berichtet die Apostelgeschichte des Neuen Testaments. Lukas vermittelt dort den Eindruck, auch noch Wochen nach Jesus` Tod seien die Jünger alle noch hier – und er beginnt damit, dass der auferstandene Jesus seinen Jüngern erscheint, die ihm nur eine einzige Frage stellen (1,6): „Herr, wirst du noch in dieser Zeit deine Herrschaft wieder aufrichten für Israel?“ Wann wird das Königreich Israel zurückkehren? Das ist gewissermaßen – in den Augen des Verfassers – die ursprüngliche Erwartung der Jünger, die Ausgangssituation. Danach wird aber versucht, neue Prioritäten zu setzen – und in gewisser Weise ist die ganze Apostelgeschichte dieser Verschiebung der Prioritäten – und einer Neuinterpretation der neuen Zeit – vorbehalten.

Fünfzig Jahre nach der Kreuzigung, als Lukas die Apostelgeschichte verfasste, war klar geworden, dass das Reich Gottes auf Erden nicht zurückkehren wird, denn es hätte das Reich Israel mit einschließen müssen. Doch auch noch Jahre nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer konnte man diese eschatologische Hoffnung nicht loswerden – dann aber formuliert der Verfasser der Apostelgeschichte doch noch einen Ausweg: Lukas verschiebt den Fokus weg vom Ende der Geschichte, der Apokalypse, in die Geschichte selbst hinein. Denn in seiner Antwort auf die Frage der Jünger verkündet der Auferstandene (1,7-8) Lukas zufolge: “Euch gebührt es nicht, Zeiten und Fristen zu erfahren … Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über auch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein“. Es sind dies die einzigen Worte, die der Auferstandene in der ganzen Apostelgeschichte spricht – und genau das ist auch Lukas` Absicht: Denn wenn schon das Reich Gottes nicht in Sicht ist, so hält das eschatologische Szenario zumindest doch die Hoffnung bereit, die Gabe des Heiligen Geistes zu empfangen. So vollzieht Lukas die Verschiebung vom historischen, echten Reich hin zu einem sehr viel geistigeren Reich Gottes auf Erden, von dem der auferstandene Christus zeugt.

Hatten die Jünger bis dahin vielleicht auf eine Befreiung von der römischen Besatzung und eine politische Wiederherstellung Israels gehofft, verkündet er nun ein gänzlich anders Programm: die Erfüllung besteht hier in einer vom heiligen Geist beseelten Zeugenschaft des auferstandenen Christus. Und tatsächlich heißt es des weiteren (2,1-4): „Als nun die Zeit erfüllt und der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren sie alle beisammen an einem Ort. Da entstand auf einmal vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie sassen; und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich zerteilten, und auf jeden von ihnen liess eine sich nieder. Und sie wurden alle erfüllt von heiligem Geist und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie der Geist es ihnen eingab.“

Sogleich macht sich die Gemeinde, Lukas zufolge, auf und verkündet gewissermaßen als erste Tat die Auferstehung Christi all denjenigen, die sich wegen des großen jüdischen Pilgerfestes Schawuot um das Jahr 30 zu Pfingsten in Jerusalem aufhalten. Nach jüdischer Vorstellung hat Moses auf dem Berg Sinai nicht allein die schriftliche Thora erhalten, sondern auch ihre mündliche Auslegung – und so steht Schawuot für die „Gabe der Thora“. Das christliche Pfingsten hingegen steht für den Heiligen Geist, der über die Jünger Jesu gekommen sein soll – auch hier wird insofern ein ursprünglich jüdisches Fest gewissermaßen christianisiert, wie auch das jüdische Pessach zum christlichen Ostern umgedeutet und neu inszeniert wird.

Nach der Apostelgeschichte fegte also ein Sturm über die versammelten Gläubigen – der heilige Geist – der es ihnen erlaubte zu reden und predigen, „wie der Geist es ihnen eingab“. Dieses so genannte Pfingstereignis gilt genau deshalb auch als Ausgangspunkt für das missionarische Wirken der Jünger. Es entspricht gewissermaßen dem letzten Auftrag des Auferstandenen an die Jünger am Ende des Matthäusevangeliums, wo es heißt (28,18-20): „Und Jesus trat zu ihnen und sprach: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden. Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe. Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Der auferstandene Jesus gibt seinen Jüngern hier den entscheidenden Auftrag, nämlich zu missionieren und zu taufen – ein zentraler Punkt im Christentum, der es außerdem vom Judentum unterscheidet, wo es keine Missionstätigkeit gibt. Die in diesem Auftrag eingearbeitete Taufformel „… auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes“ ist tatsächlich auch der erste Beleg für die Trinität. Sie ist aus den Taufritualen der ersten Christen entstanden und wurde auf mehreren Synoden diskutiert und von der katholischen Kirche schließlich in der elften Synode von Toledo im Jahr 675 als Dogma festgelegt.

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Sieht man von der Apokalypse des Johannes ab – je jünger die Texte des Neuen Testaments sind, desto weniger stark wird die Dringlichkeit einer Wiederkunft Christi: Paulus erwartet sie noch zu seiner Lebenszeit, im Markusevangelium (13,1ff) heißt es dann, dass die Zerstörung des Tempels den Zeitplan Gottes einläuten würde, als ein Zeichen dafür, dass die Parusie unmittelbar bevorstünde. Und Matthäus und Lukas war bereits klar, dass die Zerstörung des Tempels kein Zeichen für seine Rückkehr bedeutet, weil sie auch eine Generation später immer noch ausbleibt. Sie mussten also die Überlieferung noch ein bisschen verändern. Mit dem Johannesevangelium schlägt die Theologie schließlich in eine ganz andere Richtung um. Deshalb kann man sagen: Je mehr Zeit vergeht, desto mehr schwindet die Erwartung. Das „bald“ in „das Königreich wird bald kommen“, muss notwendig anders definiert werden. Lukas tut das mit dem Pfingstereignis in der Apostelgeschichte: Den Jüngern, die vielleicht auf ein befreites Israel gehofft hatten wird hier etwas anderes verheißen, nämlich die Erfüllung durch den Heiligen Geist – durch ihn wird sich das Reich Gottes auf Erden realisieren.

Jesus war überzeugt, das Gottesreich würde sich noch zu seinen Lebzeiten offenbaren – deshalb kümmerte er sich nicht um seine Nachfolge. Diese Frage stellt sich erst nach seinem Tod – wobei eine Institutionalisierung hin zur Kirche durchaus nicht in seinem Interesse war. Im Neuen Testament sagte er, der gute Hirte, deshalb zu Petrus, dass er Christi Herde weiden solle (Joh 21,15–19), „und nachdem er dies gesagt hatte, sagte er zu ihm: Folge mir!“ Petrus wird so – wenn schon nicht zu seinem Nachfolger – zum Stellvertreter Christi.

Seit Beginn an beruft sich die römisch-katholische Kirche auf den Heiligen Petrus. Im Jerusalem der Jahre 30-40, unmittelbar nach der Kreuzigung, ist diese Geschichte allerdings unvorstellbar: Zwar wird auch hier Petrus als eine „Säule“ der Gemeinde genannt – aber die Bedeutung als Jesus` Nachfolger schreibt ihm nur das Matthäusevangelium zu, die anderen Evangelien schweigen diesbezüglich. Paulus schreibt in seinem zweiten Korintherbrief dann, dass Jesus nicht allein in Petrus, sondern auch in den Aposteln und deren Nachfolgern „Stellvertreter“ habe, die „an Christi statt“ (2. Kor 5,20), in persona Christi sein Amt ausüben. Mit ihm rücken also die Apostel als Gemeindeleiter in den Fokus – während die Apostelgeschichte nun einen ganz anderen Weg einschlägt und Jesus` Familie in den Vordergrund rückt, insbesondere dessen Bruder Jakobus. Aber hatte Jesus tatsächlich einen Bruder?

In den Evangelien gibt es zu Jesus` Familie unterschiedliche, sich auch widersprechende Aussagen. Laut Markus und Matthäus aber hatte Jesus Geschwister. Bei Markus fragen sich die Leute in Nazareth (6,3): „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria, der Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon, und leben nicht seine Schwestern hier bei uns?“ Und ähnlich heißt es bei Matthäus (13,55): „Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heisst seine Mutter nicht Maria, und sind nicht Jakobus, Josef, Simon und Judas seine Brüder? Und leben nicht alle seine Schwestern bei uns?“

Zum Problem für das christliche Bewusstsein werden die Geschwister Jesu erst in dem Augenblick, in dem Maria zur ewigen Jungfrau erklärt wird und die Doktrin von der wundersamen Empfängnis des Gottessohnes entsteht. Dass es aber so sein muss, dass eine „Jungfrau“ den Gottessohn gebärt – das hatte schon der erste große Prophet Jesaja vorhergesagt (7,14): „Die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären.“

Jahrhundertelang werden sich die Theologen nun mühen, das Unerklärliche zu erklären, dabei berichtet Markus, dessen Evangelium als das älteste gilt, überhaupt nichts davon, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde. Offensichtlich wusste er davon gar nichts. Die These von der lebenslangen Jungfräulichkeit konnte aber zum katholischen Dogma werden auf der Grundlage von anderen Texten aus dem 1. Jahrhundert, wo man mit der Jungfräulichkeit Marias wohl Jesus Geburt in das Davidische Umfeld platzieren wollte – deshalb auch der Versuch, Bethlehem als Geburtsort festzulegen, denn dem Alten Testament zufolge stammt David aus Bethlehem und auch der von den Juden erwartete Messias muss aus dem Haus David respektive aus Betlehem stammen.

Dass diese These aber einfach so übernommen wurde – das sagt viel über den theologischen Standpunkt zur Sexualität in der katholischen Kirche im 4. und 5. Jahrhundert aus, der Zeit also, in der die Doktrin formuliert wurde. So schreibt beispielsweise Augustinus (354-430) in seinen Bekenntnissen (Confessiones), dass die „Dünste aus dem Sumpf fleischlicher Begierde“ den „heiteren ruhigen Glanz der Liebe“ verfinstern und dass Schönheit nicht mit der „Lust dieser Augen meines Fleisches“, sondern nur „im Innersten“ wahrnehmbar sei. Darüber hinaus beschreibt er in seinem Gottesstaat (Civitas Dei) das Ideal einer beherrschbaren Sexualität, die dann von der Kirche als offizielle Sexualethik übernommen wurde: Schon im Paradies hätten Adam und Eva dem in der Genesis formulierten göttlichen Auftrag „Seid fruchtbar und vermehrt euch“ gehorchen müssen, doch erst mit dem Sündenfall sei die Begierde, die Lust, geweckt worden. Bis dahin erfolgte der Geschlechtsverkehr leidenschaftslos, und das männliche Glied „würde das Zeugungsfeld besät haben gerade so wie der Bauer die Saat ins Feld sät“. Entsprechend sei er in der Ehe legitim, weil die Menschen dort zeugen, ohne die „beschämende Wollust“ gekannt zu haben, denn auch die „Schamglieder“ wären mehr vom „Willen“ als von der „Lust“ beherrscht worden.

Das Maria Jesus unbefleckt empfängt ist die eine Sache, dass sie aber ewig Jungfrau bleibt – das ist eine spätere Entwicklung. Es gibt verschiedene theologische Ansätze, zumindest die Möglichkeit einer jungfräulichen Geburt einzuräumen. So hat man zum Beispiel darauf verwiesen, dass die Formulierung im Markusevangelium (6,3), Jesus sei ein „Sohn von Maria“ auch darauf hinweisen könnte, dass der Vater von Jesus unbekannt war, da zu jener Zeit die Leute gewöhnlich als die Söhne ihrer Väter bezeichnet wurden („Ben …“). Das ist eine andere These zum Verwandtschaftsgrad zwischen Jakobus und Jesus, nämlich dass Jesus das uneheliche Kind Marias sei. Nach dieser Legende ist Jesus Sohn eines römischen Soldaten namens Panthera.

Ende des 2. Jahrhunderts ist das so genannte Protevangelium des Jakobus (das womöglich ursprünglich Mariä Geburt hieß) entstanden, wo angedeutet wird, dass Josef Witwer gewesen sei und – als er Maria kennenlernte – bereits Kinder gehabt habe, die dann zu Jesus Halbgeschwistern wurden und nicht zu Kindern Marias.

Eine weitere Lesart hat sich gegen Ende des 4. Jahrhunderts durch den Heiligen Hieronymus (347-420) entwickelt, der die Bibelexegese stark geprägt hat: Er glaubt, die Brüder Jesus seien die Kinder einer anderen Maria, Jakobus also der Vetter von Jesus. Das ist zwar kaum glaubhaft – trotzdem blieb er es in der Überzeugung der Katholiken bis heute. Man kann das damit erklären, dass die Evangelien zwar auf Griechisch verfasst, aber zutiefst von einer semitischen Kultur geprägt sind. Und im Hebräischen meint „Bruder“ angeblich nicht unweigerlich eine biologische Verwandtschaft, sondern nur: „naher Verwandter“, wie eben der Vetter.

Für den Historiker allerdings gibt es keinen Grund, den Begriff „Bruder“ anders zu interpretieren, als im herkömmlichen Sinne. Denn im Griechischen gibt es für Vetter ein eigenes Wort. Außerdem bestätigt auch Paulus, das Jakobus der „Bruder des Herrn“ sei. Hätte er von einem Vetter sprechen wollen, hätte er dafür wohl auch das entsprechende Wort verwendet. Man muss also davon ausgehen, dass diese Brüder wirklich (biologische) Brüder waren und nicht nur im weiteren Sinne verwandt. Und das bestätigt im weiteren Sinne auch Jakobus` Zugehörigkeit zum Judentum.

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Die ältesten Papyrusrollen des Neuen Testaments befinden sich Genf, London und Dublin. In einer der ältesten Versionen des Korintherbriefes zählt Paulus alle auf (1. Kor. 15,5-8), denen Jesus als Auferstandener erschienen ist – und unter ihnen war auch Jakobus. Keine andere Stelle im Neuen Testament verweist darauf, nur diese Stelle in Paulus` Korintherbrief. Das zeigt, dass Jakobus bei den Evangelisten keine bedeutende Rolle zugesprochen wird, das heißt Jakobus wird in den später geschriebenen Evangelien nicht weiter erwähnt. Ein paar Jahrzehnte zuvor allerdings ist er bei Paulus, auch im Brief an die Galater (1,19), noch extrem wichtig. Und auch in der Apostelgeschichte des Lukas taucht Jakobus auf – und zwar als eine der herausragenden Figuren der ersten Gemeinde in Jerusalem, die er in der Anfangszeit leitet.

Die Urgemeinde ist kurz nach Jesus Tod, noch zu Lebzeiten von Jakobus, Petrus und den Jüngern, von der Hoffnung getragen, dass das Reich Gottes, das heißt ein von der römischen Besatzungsmacht befreites irdisches Reich, unmittelbar bevorstehen würde. Aber alle streiten sie darüber, wem in dieser neuen Weltordnung Bedeutung zukommen sollte – es ging um die höchsten Ämter. Dass die Rolle des Jakobus in den Evangelien verschwiegen, in der Apostelgeschichte hingegen so betont wird, zeugt jedenfalls von den Machtkämpfen innerhalb der Gemeinde Jesu zu dieser Zeit.

Folgt man der Apostelgeschichte – das wird in den Evangelien nicht gesagt – versammelt sich die christliche Gemeinde Jerusalems schon bald nach Jesus` Tod um Jakobus. Seine Herrschaft beginnt Lukas zufolge dabei zeitlich mit dem plötzlichen Verschwinden von Petrus, dem ersten Leiter der Gemeinde. Es bleibt unklar ob durch Tod oder Exil – fest steht nur, dass Petrus zuvor, in den beiden ersten Jahrzehnten nach Jesus` Tod – dafür sprechen mehrere Texte –, das Oberhaupt der Gemeinde war. Warum er aber verschwindet, bleibt offen, das heißt in der Apostelgeschichte (12,1-16) wird plötzlich sein Ende erzählt: er sei verhaftet worden und in einem Gefängnis, aus dem er von einem Engel befreit wird, dann „ging (er) hinaus und begab sich an einen anderen Ort“. Das kann bedeuten, dass er fortan unablässig reist – oder er aber gestorben ist. Auf jeden Fall taucht er in Jerusalem nicht mehr auf – und damit ist dann auch der Weg frei für Jakobus: Er wird nun zum Oberhaupt der Jerusalemer Gemeinde, also gewissermaßen zu deren Bischof.

Jakobus sollte die Gemeinde bis zu seiner Ermordung im Jahr 62 leiten – und wird in dieser Zeit mitunter sogar „Bischof der Bischöfe“ genannt, womit er über Petrus stünde. Der Apostelgeschichte zufolge tritt er so gewissermaßen eine Art dynastische Nachfolge Jesu an – letztlich jedoch haben sich dann doch die Apostel durchgesetzt, das heißt das demokratische System der Wahl des Oberhaupts, was sich im Fall des römischen Papstes auch bis heute erhalten hat. Adolf Holl bemerkt in diesem Zusammenhang, dass damit auch beachtliche gesellschaftliche Kräfte freigesetzt wurden: Wie schon Jesus durch sein Evangelium der Nächstenliebe „das Mehrheitsgesetz der sozialen Hierarchie“ durcheinander geworfen hat, so habe sich mit der Wahl des Papstes auch in der kirchlichen Hierarchie des Mittelalters „erstmals ein Prinzip durchgesetzt, das in anderen Kulturen bisher praktisch überhaupt nicht vorzufinden war: der soziale Aufstieg aufgrund persönlicher Leistung“, wobei dieses Prinzip schon früh durch Korruption aufgeweicht wurde.

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Nach dem Ausbleiben der Apokalypse muss sich die Gemeinde in Jerusalem umorganisieren. Zu den Machtkämpfen zwischen Jakobus und den Aposteln auf Führungsebene kommen nun auch die ersten Spannungen und Konflikte innerhalb der Urgemeinde: Obwohl Lukas in der Apostelgeschichte – die erst ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen verfasst wurde, aber die einzige Quelle zur Situation in der Jerusalemer Gemeinde ist – grundsätzlich versucht, eine friedvolle Stimmung zu zeichnen, wird nun plötzlich doch von Auseinandersetzungen berichtet. Lukas schreibt (6,1): „In diesen Tagen aber, als die Jünger zahlreicher wurden, kam es dazu, dass die Hellenisten unter ihnen gegen die Hebräer aufbegehrten …“

Die Hebräer sind wohl die Apostel mit aramäischem Hintergrund, während die Hellenisten von der griechischen Kultur geprägt sind. Jerusalem war zur Zeit der Kreuzigung von Jesus eine jüdisch-hellenistische Stadt: 40 Prozent der Ossuarieninschriften (insgesamt sind 280 erhalten) sind in griechischer Sprache. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung hatte Griechisch als Muttersprache – es handelte sich bei ihnen größtenteils um Rückkehrer aus der Diaspora in die Heilige Stadt, die sich zum neuen Glauben bekehrt haben.

Womöglich kam es zwischen beiden Gruppen zu Konflikten aufgrund sprachlicher Unterschiede, die dazu führten, dass man zwei verschiedene Gottesdienste abhalten musste, was entsprechend auch zu zwei verschiedenen Gottesdienstgemeinden führte. Doch die kulturelle Kluft verbirgt die Sicht auf andere Gegensätze zwischen den beiden ungleichen Netzwerken: Wie Lukas berichtet (6,1), begehren die Hellenisten deshalb auf, „weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung vernachlässigt wurden“. Es ging also um den sozialen Dienst der Urkirche – und der Vorwurf der Hellenisten an die Apostel war insofern ganz praktischer Natur: sie sollten sich weniger um die „Verkündigung des Wortes Gottes“ und mehr um die praktischen Belange der Gemeinde kümmern. Aus diesem Grund wurden nun sieben Vertreter der hellenistischen Gemeinde, unter ihnen Stephanus, von den Aposteln als Diakone eingesetzt: Sie sollten sich fortan um eine gerechte Verteilung der Lebensmittel kümmern – wie das heute von der Diakonie verrichtet wird.

Schon bald jedoch wirkten diese Diakone nicht mehr nur innerhalb der Gemeinde, sondern in der weiteren Umgebung auch als Evangelisten (Apg. 8,26-40). Stephanus jedenfalls wird von den Aposteln zunächst als Diakon eingesetzt, beginnt dann aber – wie die Apostel – als Prediger des Evangeliums außerhalb der Gemeinde tätig zu werden: Er tritt als christlicher Propagandist in den Diaspora-Synagogen in Jerusalem auf – und das stößt natürlich auf Widerstand seitens der jüdischen Priester dort. Schon bald eskaliert der Konflikt zwischen den Juden und den frühen Christen.

Die Synagoge in Jerusalem ging immer mehr auf Abstand zur christlichen Gemeinde. Sie wollte nicht, dass die Christen mit den Juden gleichgestellt wurden und das ihnen der gleiche Sonderstatus zukäme, den das Judentum als religio licita („erlaubte Religion“) im Römischen Reich genoss. Und es ist durchaus vorstellbar, dass es zu Denunziationen durch Mitglieder der Synagoge kam, die von dieser Vereinbarung profitierten. Jedenfalls wird Stephanus verleumdet und es kommt zur Anklage gegen ihn – die an jene gegen Jesus im Markusevangelium (14,58) anschließt, das heißt Lukas übernimmt diese Anklage nun in der Apostelgeschichte: Offenbar hat auch Stephanus unzulässige Kritik am Tempelkult geübt. Der Vorwurf in der Apostelgeschichte diesbezüglich lautet (6,13): „Dieser Mensch hört nicht auf, Reden zu führen gegen diesen heiligen Ort und gegen das Gesetz. Wir haben nämlich gehört, wie er gesagt hat: Dieser Jesus von Nazaret wird diese Stätte zerstören und die Bräuche ändern, die Mose uns überliefert hat.“ Stephanus diskutiert demzufolge mit den Juden über den Tempel und das Mosaische Gesetz – und setzt nun zu einer langen Verteidigungsrede an, die darin mündet, dass der von einem „vor Zorn rasenden und mit den Zähnen knirschenden“ jüdischen Mob gesteinigt wird (Apg. 7,54-59).

Die Steinigung von Stephanus soll um das Jahr 40 stattgefunden haben – und gesteinigt wurde laut dem jüdischen Historiker Flavius Josephus im Jahr 62 auch Jakobus. Der galt zunächst eigentlich als streng gläubiger Jude, einer, der sich an die Gesetze Mose und die Thora hielt. Allerdings wollte der Gang der Geschichte damals, dass von den Gesetzen Mose abgerückt wird. Das tat Jakobus wohl auch, dennoch wurde er als Oberhaupt der Gemeinde in Jerusalem, die anfangs die christliche Welt dominierte, zunehmend wie ein Fossil als anachronistische Figur wahrgenommen. Außerdem gewann die Kirche von Rom immer mehr Einfluss – und ihr Schutzpatron war insbesondere auch Petrus. Schließlich hat er posthum seine Identität komplett eingebüßt, als man aus dem Bruder Jesu seinen Vetter machte – und er also zu einem Opfer der fortschreitenden Ablösung vom Judentum wurde, die die Kirche vollzog.

Trotz des schleichenden Machtverlusts innerhalb der frühchristlichen Gemeinde soll Jakobus auf betreiben des letzten Hohepriesters des Zweiten Tempels, Ananus ben Ananus, der in ihm einen potentiellen Konkurrenten gesehen habe, hingerichtet worden sein. Seither ist er unter dem Namen „Jakobus der Gerechte“ bekannt, das heißt: dem Recht treu ergeben, als einer, der die religiösen Regeln strikt einhält – ein Asket. Die christliche Überlieferung integriert später auch einen Brief von ihm in den Kanon des Neuen Testaments, während sie sich ansonsten paradoxerweise darum bemüht, die Erinnerung an Jakobus vergessen zu machen.

Das ist bei Stephanus anders – aus dem gewissermaßen eine Kopie von Jesus gemacht wird, nicht allein was die Tempelkritik anbelangt. Denn auch der Tod des Stephanus wird zu einer Wiederholung der Leidensgeschichte Jesu gemacht, und zwar durch die beiden Sätze: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (7,60), was eine Analogie von Jesus` „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ ist, und mit „nimm meinen Geist auf“ (7,59), was Jesus` „Ich gebe meinen Geist in deine Hände“ entspricht. In der Apostelgeschichte wird das Martyrium des Stephanus, die Steinigung, insofern zu einer Wiederholung der Passionsgeschichte. Das läßt Jesus im Nachhinein als ersten Märtyrer erscheinen, während Stephanus das erste christliche Martyrium zugestanden wird – im Grunde aber das zweite. Die Bedingungen des Christentums werden so von der lukas`schen Theologie jedoch auf der Grundlage einer Legende entwickelt – was schließlich zu gravierenden theologischen Differenzen zwischen Hellenisten und Hebräern führt, das heißt, dass die Hellenisten in Jerusalem versuchen die Figur des Jesus mit Hilfe von Stephanus` Martyrium für sich in Beschlag zu nehmen, endet in einem ersten Bruch innerhalb der frühchristlichen Bewegung.

Nach der Steinigung des Stephanus kommt es aber nicht nur zu einem theologischen Bruch innerhalb des Urchristentums, sondern auch zu einem großen Schlag gegen die Gemeinde in Jerusalem insgesamt. In der Apostelgeschichte schreibt Lukas (8,1) in diesem Zusammenhang: „An jenem Tag nun kam eine grosse Verfolgung über die Gemeinde in Jerusalem. Alle wurden versprengt über das ganze Land, über Judäa und Samaria, nur die Apostel nicht.“

Eine Verfolgung der christlichen Gemeinde konnte nur von den Priestern oder den Pharisäern ausgehen – also von der jüdischen Seite. Es handelt sich hier also um eine Christenverfolgung seitens der Juden von Jerusalem. Es ist die erste große Verfolgung (Nero war wohl derjenige, der die Christen erstmals systematisch verfolgen ließ), der die Urgemeinde ausgesetzt ist – und vor allem die griechischsprachigen Frühchristen zerstreuen sich nun im gesamten Römischen Reich. Seltsamerweise sind es die Apostel, die bleiben, obwohl doch vernünftigerweise sie zuerst hätten fliehen müssen. So jedoch gewähren sie, die der Thora verbundenen Juden-Christen, die beständige Fortdauer des Christentums in der Heiligen Stadt.

Die Situation in Jerusalem beruhigt sich dann in der Folge – während die vertriebenen frühen Christen für die Verbreitung des Christentums in der Diaspora sorgen werden. Sie ziehen nach Judäa und Samaria, wie es heißt, aber auch nach Rom und Antiochia in Syrien, wo Markus in der Zeit um das Jahr 70 vermutlich sein Evangelium schreibt, insbesondere an nicht-jüdische Christen gerichtet. In Antiochia entsteht zwanzig Jahre später auch das Matthäusevangelium, das dem Judentum am nächsten steht. Lukas verfasst sein Evangelium zur selben Zeit, aber womöglich in Rom. Jedenfalls lässt er dort die Missionsreise von Paulus enden und schreibt in diesem Zusammenhang von „Wir“ – als ob er persönlich mit ihm unterwegs gewesen wäre. Das zuletzt erschienene Evangelium stammt von Johannes und ist um das Jahr 100 in Ephesos entstanden. Auch er schreibt, wie die Synoptiker, in griechisch mit aramäischem Einschlag und spricht von einem „Augenzeugenbericht“. Es waren deshalb womöglich Jünger, die seinen Lebensbericht aufzeichneten.

Egal, wohin die ersten Christen ins Exil gingen – überall beginnen sie nun ihre Missionsarbeit. Zunächst dürften das noch ungläubige Juden sein, die sie zum Evangelium bekehren, rasch aber breitet sich die Missionierung aus und sprengt damit den traditionell ausschließlich jüdischen Rahmen. Die nun zum Christentum Bekehrten waren mehrheitlich so genannte Proselyten, also bekehrte Heiden. In diesem Zusammenhang nun tritt in der Apostelgeschichte auch erstmals Paulus prominent in Erscheinung.

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Paulus wird vermutlich um das Jahr 5 im syrischen Tarsus geboren (das heute in der Türkei liegt), und zwar als Jude. Sein Vater gibt ihm den hebräischen Namen Saul (lateinisch Saulus) – nach dem ersten biblischen König Israels. Doch er bekommt wohl schon bei der Geburt noch einen weiteren Namen – und zwar den römischen: Paulus. Denn er ist zwar Jude, aber von Geburt an auch römischer Bürger. Aus Saulus wird insofern also nie ein Paulus – er ist schon von Geburt an Beides.

Paulus spricht Griechisch, die Weltsprache seiner Zeit, und wird streng nach der Heiligen Schrift, der Thora, erzogen, dem jüdischen Gesetz: 613 Vorschriften gibt es in den fünf Büchern Mose – genau 248 Gebote und 365 Verbote. Paulus lernt sie alle, verinnerlicht sie: Das Gesetz ist für ihn gewissermaßen die Norm des Lebens – wie auch für die anderen Pharisäer, denen er sich anschließt. Sie sind eine besonders fromme jüdische Bewegung, deren Anhänger strenger als andere nach dem Gesetz leben und die Reinheitsvorschriften, die eigentlich nur für die Priester im Tempel gelten, selbst auch einhalten wollen.

Wie viele andere Juden hofft Paulus auf den Messias, einen von Gott „Gesalbten“, der das Volk Israel aus der Knechtschaft befreit. Die Propheten haben ihn angekündigt, diesen Nachfolger des Königs David aus Betlehem. Obwohl er ihm nie begegnet – Paulus ist etwa 30 Jahre alt, als Jesus stirbt – muss es ihm als strenggläubigem Juden geradezu absurd vorgekommen sein, dass ausgerechnet ein Gekreuzigter der Messias sein soll. Er hält das wohl für eine Anmaßung – jedenfalls wird er in dieser Zeit zu einem strenggläubigen „Christenverfolger“, wie er später selbst in seinen Briefen schreibt.

Dann allerdings ändert sich sein Leben plötzlich dramatisch: auf dem Weg nach Damaskus umstrahlt ihn völlig unvermittelt ein Licht – in der Apostelgeschichte heißt es dazu (Apg. 9,1–19): „Als er unterwegs war, geschah es, dass er in die Nähe von Damaskus kam, und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht vom Himmel; er stützte zu Boden und hörte eine Stimme zu ihm sagen: Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Er solle in die Stadt gehen, dort werde ihm gesagt, was er tun solle. Es ist das so genannte Damaskuserlebnis – der Augenblick, in dem er vom Saulus zum Paulus wird, vom fanatischen Christenverfolger zu einem an Christus glaubenden „Apostel der Völker“, wie er selbst sagt. Allerdings schreibt er in seinen Briefen ansonsten merkwürdig wenig über diese Berufung, nur, dass er „Jesus unseren Herrn“ gesehen habe (1. Kor. 15,8-9): „Zuallerletzt aber ist er auch mir erschienen, mir, der Missgeburt. Ich bin nämlich der geringste [„Paulus“ heißt „der Geringste“] unter den Aposteln, der es nicht wert ist, Apostel [„Gesandter“, „Bote“] genannt zu werden, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe.“

Paulus verstand sich aufgrund dieser Vision als einen Kraft göttlicher Offenbarung auserwählten Apostel, obwohl er als einziger dieser Apostel Jesus selbst nie persönlich begegnet ist. Die Auszeichnung „Apostel“ wurde bislang nur jenen zuteil, die Jesus kata sarca kannten (Gal. 4,23), also Jesus als Gestalt von Fleisch und Blut. Paulus verweigert sich dieser Hierarchie – und fühlt sich dabei in keinster Weise den Jüngern Jesu unterlegen: Als letztem sei der Auferstandene auch ihm erschienen, so sei er berufen worden (Gal. 1,1). Durch die mystische Begegnung mit dem Auferstandenen (1. Kor. 9 und 15) fiele ihm eine mindestens gleichwertige Autorität zu.

Jedenfalls wird er nach seiner Wandlung nicht nur Missionar, sondern empfindet sich auch als die unmittelbar von Gott eingesetzte Autorität für die Verkündigung des Evangeliums. In Jerusalem hingegen, so berichtet es Lukas in der Apostelgeschichte (9,26) „fürchteten ihn (alle) und glaubten (ihm) nicht, dass er sein Jünger sei“. Für Paulus jedoch war Jesus auch kein Vorbild, wie er es für die Jünger ist, die versuchen ihm nachzuleben. Er interessierte sich nicht dafür, wie sich Jesus verhielt oder was er dachte und sagte, sondern wichtiger war ihm, welche Rolle Jesus im göttlichen Plan einnahm: Für ihn war unwichtig, ob Jesus „einer der unseren“ war, wie noch der jüdische Historiker Jospeh Klausner in „Jesus von Nazareth“ (1930) betont, sondern für ihn zählte vor allem, dass Christus für unsere Sünden starb und am dritten Tag von den Toten auferstanden ist und das er kam, um die Erlösung zu bringen – er wurde von Gott gesandt, um die Menschheit zu erlösen.

Nur vier Mal verweist Paulus auf die Worte des Herrn (1. Kor. 7,10; 9,14; 11,23-25 und 1. Thess. 4,16-17) und in allen Fällen stimmen sie nicht genau mit dem überein, was man aus den Evangelien kennt. Man hat daraus abgeleitet, dass Paulus über keine Biographie von Jesus verfügte, aber er interessierte sich schlichtweg nicht für das irdische Leben Jesu – das sei nicht der Kern der christlichen Botschaft (wenn er sagt, dass seine Gegner einen „anderen Jesus predigen“, wie in 2. Kor. 11,4, bezieht er sich vermutlich genau darauf). Mit der Zeit entwickelte Paulus so seine eigene Theologie – immateriell und körperlos gewissermaßen – und allein sie war ihm wichtig.

Tatsächlich hat sich das, was man heute orthodoxes Christentum nennt, erst im Laufe der folgenden Jahrhunderte herauskristallisiert. Aber dieses Christentum ist ein fundamental von Paulus geprägtes Christentum – eines, das insbesondere Abstand nimmt von der jüdischen Gestalt Jesu, der historischen Figur, die es bei Paulus nicht gibt. Jesus wird hier zum Christus, also zu einer göttlichen Persönlichkeit, die nicht mehr viel mit der Gestalt des Propheten und des Messias zu tun hat. Schon mit Paulus setzt insofern also jener Vergottungsprozess ein, den Adolf Holl als konstitutiv für die weitere Entwicklung des Christentums bezeichnet hat – nicht erst mit Johannes, dem Verfasser des vierten Evangeliums.

Noch allerdings hat sich diese neue Religion nicht durchgesetzt, und so trifft Paulus ein paar Jahre nach der Erscheinung, wohl im Jahr 36, einige Leute in Jerusalem, die Jesus noch persönlich kennengelernt haben. Unter ihnen ist auch die wichtigste Person des frühen Christentums: Petrus. Er bleibt 15 Tage bei ihm und Jakobus in Jerusalem, bevor er weiter wandert nach Antiochia, der vielleicht bedeutendsten Gemeinde außerhalb des Heiligen Landes zu dieser Zeit. In Antiochia – das nur Juden offen steht – leben zu der Zeit etwa 500.000 Menschen – es ist die erste Stadt, in der die Bezeichnung „Christen“ („Christianoi“) aufkommt, und auch Paulus sollte dort seine eigentliche religiöse Sozialisation erfahren. Auch wenn Paulus später als maßgeblich für die Entwicklung des Christentums angesehen wird – erfiunden hat er es insofern nicht.

Von den Christianoi in Antiochia wird Paulus als Apostel anerkannt und schließlich von der Gemeinde als Missionar ausgeschickt – und zwar zu den Nicht-Juden, den heidnischen Römern, die nach ihrer Bekehrung Proselyten genannt werden. Er selbst deutet seine Stellung als eine Art Pendant zur Rolle des Petrus als Apostel der Juden: als Missionar der nicht-jüdischen Völker des Mittelmeerraumes, als Apostel der Nichtjuden. In dieser Funktion wird Paulus seine unverwechselbare Identität entfalten – und dabei in 20 Jahren etwa 16.000 Kilometer zurück legen.

Das Römische Reich verfügt zu dieser Zeit über etwa 300.000 Soldaten, die den brüchigen Frieden im Reich sichern – das macht Paulus ausgedehnten Missionsreisen überhaupt erst möglich. Er missioniert und gründet Gemeinden in Philippi und Thessaloniki, Galatien und Korinth, einige Zeit bleibt er in Ephesos. Überall stiftet Paulus ein Bewusstsein einer neuen christlichen Identität – insbesondere auch durch seine Briefe an die Gemeinden: 7 authentische haben sich im Neuen Testament erhalten (Römer, 1. und 2. Korinther, Galater, Philipper, 1. Thessalonicher, Philemon) – sie sind somit die ältesten Worte, die von einem Christen erhalten sind, geschrieben wohl in den Jahren 50 bis 56.

Das letzte, was man von Paulus aus seinen Briefen erfährt, ist, dass er nach einem weiteren Besuch Jerusalems nach Rom aufbrechen will, um von dort nach Spanien weiterzureisen. Doch dazu kommt es nicht mehr, den er wird vorher im Tempel verhaftet und dem römischen Statthalter in Caesarea vorgeführt. Dreimal tritt in den folgenden zwei Jahren der Hohe Rat der Juden vor römische Instanzen und fordert den Tod des Paulus, doch stets ohne Erfolg. Nach römischem Recht hat er kein Verbrechen begangen – und so wollten die Römer ihn denn auch eigentlich aus der Haft entlassen, schließlich aber wird er, aufgrund seines römischen Bürgerrechts, nach Rom an das kaiserliche Gericht überstellt.

Die Apostelgeschichte berichtet nun von einem zweijährigen Arrest – dann bricht sie jedoch ab. Wann und wie Paulus umkommt, bleibt unklar, es wird aber ein Märtyrertod wie bei Petrus vermutet: Einer Version zufolge soll Paulus um das Jahr 64 nach mit dem Schwert geköpft worden sein. Das wäre zumindest nicht unrealistisch, denn tatsächlich ließ Nero nach dem Brand von Rom die für schuldig befundenen Christen so umbringen. Nach einer anderen Version soll er jedoch – gemeinsam mit Petrus – gekreuzigt worden sein.

Obwohl beide, Paulus und Petrus, als gemeinsame Gründer der Gemeinde Roms gelten, wird doch eher Petrus allein zugeschrieben, erster Bischof Roms gewesen zu sein. Auf ihn berufen sich jedenfalls die Päpste. Paulus aber ist es, der das Christentum in der Welt verbreitet – es mit einem universalen Anspruch verbindet. Und genau diese Universalität reklamiert dann auch die Kirche für sich, indem sie sich den Titel „katholisch“ gibt, der aus dem griechischen „katholikós“ entlehnt wurde und eben „umfassend“, „das Ganze betreffend“ bedeutet.

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Paulus` Briefe gehören zu den wichtigsten Texten des Neuen Testaments – allein schon deshalb, weil Paulus ein Zeitgenosse von Petrus und den Aposteln war. Von den 14 Briefen aber, die in katholischen Fassungen des Neuen Testaments Paulus zugeschrieben werden, stammen jedoch nicht alle auch von ihm selbst: Mindestens einer wurde von jemand anderem geschrieben, nämlich der Brief an die Hebräer – den protestantische Ausgaben nicht zu Paulus` Briefen zählen. Hinzu kommen weitere drei Briefe, die fast allgemeingültig nicht Paulus zugeschrieben werden: die Briefe und Pastoralbriefe an Titus und Timotheus. Bleiben also noch zehn, auf die man sich mehr oder weniger umstritten geeinigt hat, das heißt, eigentlich sind es nur sieben, die einstimmig als authentische Briefe von Paulus anerkannt sind: die Briefe an die Römer und Galater, der erste an die Thessaloniker, die beiden an die Korinther, an die Phillipper und an Philemon.

Paulus` Briefe entstanden fast eine Generation vor den Evangelien – sie sind die ältesten Zeugnisse über die Ursprünge des Christentums, die uns zur Verfügung stehen. Aber Paulus stirbt noch, bevor im Jahr 66 in der Provinz Judäa der Aufstand der Juden gegen die Römer ausbricht. Die Revolte wird von Kaiser Titus (39-81) niedergeschlagen. Im Jahre 70 fällt Jerusalem – und der Zweite Tempel wird in Brand gesteckt und zerstört. Etwa 20 oder 30 Jahre später wird dann der Text geschrieben, der von den Anfängen der christlichen Bewegung berichtet und es erstmals auch erlaubt, Paulus` Briefe und seine Missionarstätigkeit in einen chronologischen Rahmen zu stellen – die Apostelgeschichte. Sie bezieht sich ab dem 9. Kapitel immer wieder auf Paulus, widerspricht ihm in ihren Aussagen allerdings auch immer wieder. Es ist sogar möglich, dass der Verfasser der Apostelgeschichte gar nichts von Paulus` Briefen wusste oder wissen wollte.

Lukas, der als Verfasser der Apostelgeschichte gilt, schreibt insbesondere auch deshalb, weil er ein lineares Bild der Ursprünge geben will – das dann die Geschichte des Christentums während der nächsten 2.000 Jahre bestimmen wird, als seine Schriften einen kanonischen Status erhalten. Dabei schreibt Lukas nicht – wie der römische Historiker Publius Cornelius Tacitus (58-120) es eigentlich für einen Geschichtsschreiber fordert – ohne Tendenz, das heißt Lukas schreibt klar mit einer christlichen Gesinnung.

Die heute bekannte Apostelgeschichte existiert in einer Fassung, in der sie ab etwa 160 verwendet wird. Es erstaunt aber, dass der Bericht von Lukas über die Ursprünge der christlichen Bewegung in der Gemeinde in Rom zwischen 140 und 170 unbekannt ist, obwohl sie zweifelsfrei auch schon lange vorher geschrieben wurde und nicht erst jetzt quasi erfunden wurde. Man ist sich ziemlich sicher, dass Lukas sie nach seinem Evangelium verfasste, zwischen den Jahren 80 und 90.

Lukas hat beide Texte – das Evangelium und die Apostelgeschichte – ursprünglich wohl als ein Werk verstanden, als Geschichte von Jesus und jene von Paulus, und bestätigt damit, dass die christliche Identität sich nicht jenseits von Jesus und Paulus begreifen lässt. Lukas ist der Erste, der das so sagt – einen handschriftlichen Beweis aber dafür, dass die beiden Texte ursprünglich ein gemeinsames Werk bildeten, gibt es nicht. Und insofern auch keinen direkten Beweis dafür, dass Lukas auch tatsächlich der Autor der Apostelgeschichte ist, auch wenn es daran nur wenig Zweifel gibt und die zahlreichen sprachlichen Übereinstimmungen zwischen den beiden Texten nur ein weiteres deutliches Indiz dafür sind.

Der historische Stellenwert der Apostelgeschichte ist zwiespältig, das heißt, einerseits ist sie, neben den Briefen, die einzige Quelle für die Ursprünge des Christentums, andererseits aber stimmen die Informationen leider nicht immer mit den Zeugnissen überein, die Paulus in seinen Briefen über sich selbst gibt. Die Briefe von Paulus wiederum genießen innerhalb des Neuen Testaments die größte Glaubwürdigkeit – aufgrund ihres Alters und der Nähe zu den ersten Gemeinden. Aber die Bedeutung von Paulus tritt erst später zutage, als seine Briefe im 2. Jahrhundert zusammengestellt und verbreitet werden und sich die Frage der Trennung zwischen Judentum und Christentum stellt. Und in diesem Zusammenhang tritt dann insbesondere ihr theologischer Wert in den Vordergrund. Wenn es aber darum geht, ob es sich hierbei um ein historisches Dokument handelt oder um Literatur ist die Antwort eindeutig: Alles, was im Neuen Testament zu lesen ist, wurde für die Veröffentlichung überarbeitet. Deshalb lässt sich nie mit Gewissheit sagen, was nun stimmt und was nicht – und deshalb sind die Briefe von Paulus genauso wie die Apostelgeschichte auch keine historische Chronik der Ereignisse, sondern eben Literatur.

Für Lukas ist Paulus insbesondere deshalb wichtig, weil er an ihm die Kontinuität in der Entwicklung des Christentums von den jüdischen Ursprüngen in Jerusalem bis nach Rom, das Jerusalem dann als Zentrum des Christentums ablöst, nachzeichnen kann. Wichtig ist für ihn dabei die Geschichte der christlichen Mission: von der ersten Predigt Petrus` in Jerusalem bis zu Paulus` Predigt in Rom, wo er mit der Bemerkung schließt, dass die Juden „nicht wollen, dass ich sie heile. So sei euch denn kundgetan: Das Rettende, das von Gott kommt, ist zu den anderen Völkern gesandt worden, und die werden hören“ (Apg. 28,27-28). Paulus besiegelt hier gewissermaßen, dass das Christentum endgültig universell geworden ist und seinem jüdischen Ursprung entwachsen. Gleichwohl aber ist Lukas als Verfasser der Apostelgeschichte auch klar, dass das frühe Christentum am Übergang zum 2. Jahrhundert doch auch davon geprägt ist, dass es innerhalb der jüdischen Welt nicht wirklich erfolgreich ist – und das insbesondere auch aus dem einfachen Grund, weil Jesus am Kreuz gestorben ist.

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Mit Abstand betrachtet, ist Paulus jemand, über den wir aufgrund der Quellenlage am meisten Informationen haben – so erscheint er uns zwangsläufig bedeutsamer als andere wichtige Personen der urchristlichen Bewegung, Diese Bedeutung aber wird in der Apostelgeschichte noch zusätzlich unterstrichen. Lukas bemächtigt sich hier der Figur des Paulus und inszeniert sie gewissermaßen als die zentrale Figur der Urkirche beziehungsweise der christlichen Bewegung in ihrem Ursprung. Das liegt auch daran, dass er – bei aller Widersprüchlichkeit zwischen Apostelgeschichte und Briefen – ein Schema, das Paulus selbst in der Rhetorik seiner Briefen etabliert hat, unhinterfragt übernimmt: es ist das Schema des Vorher – Nachher, und es ist genau dieses Schwarz – Weiß, das die ganze Geschichte historisch unglaubwürdiger, aber literarisch vielleicht interessanter macht. Am deutlichsten wird das beim Damaskuserlebnis beziehungsweise bei der Verwandlung vom Saulus zum Paulus, die ja gewissermaßen der dramatische Kern der ganzen Biographie ist: Allen Erwartungen zum Trotz erwähnt Paulus nämlich an keiner Stelle seiner Briefe diese Episode, in der er dem Judentum abgeschworen hätte. Im Galaterbrief wird die Berufung des Paulus beziehungsweise die Bekehrung des Saulus nur ganz kurz erwähnt – während Lukas das Damaskuserlebnis und die damit verbundene Wandlung vom Saulus zum Paulus unhinterfragt in der Apostelgeschichte übernimmt und gleich drei Mal erwähnt (9,1-9; 22,6ff und 26,12ff), jedes Mal mit nur geringfügigen Abweichungen.

Indem er selbst sich als Sünder darstellt, konnte Paulus Gottes Werk – das sein Leben grundlegend veränderte – noch mehr herausheben. Dass er selbst sich jedoch gar nicht als Sünder begriff, sondern als gläubigen Juden – das verrät er in einer Stelle in seinem Galaterbrief (1,13-14), wo er schreibt: „Ihr habt ja gehört, wie ich einst als Jude gelebt habe. Unerbittlich verfolgte ich die Gemeinde Gottes und suchte sie zu vernichten. Und in meiner Treue zum Judentum war ich vielen Altersgenossen in meinem Volk weit voraus, habe ich mich doch mit ganz besonderem Eifer für die Überlieferungen meiner Väter eingesetzt.“ Als Sünder bezeichnet Pauls sich erst in dem Moment, wo er selbst zum Christ wird – und schließlich macht auch die vorchristliche Tradition aus ihm diesen Sünder.

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Etwa 13 Jahre nach den ersten Treffen mit Petrus, wohl im Jahr 48, wandert Paulus erneut nach Jerusalem, um ein grundlegendes Problem zu klären: Paulus war den christlichen Gemeinden in Judäa unbekannt und betrieb seine Mission außerhalb Palästinas in der jüdischen Diaspora – und das wohl ausgesprochen erfolgreich, wenn man Lukas glauben darf. Gehör findet er dabei zunehmend auch unter den Proselyten – das aber ist vor allem unter den aramäischen Juden in Jerusalem, vor allem den anderen Aposteln, nicht unumstritten. Nach einem Zwischenfall unter jüdischen und nicht-jüdischen Christen in Antiochia beruft Jakobus, der die Jerusalemer Gemeinde zu dieser Zeit leitet, deshalb eine Versammlung der Gemeindevertreter Antiochias ein, zu der auch Paulus als Gesandter der Kirche Antiochias kommt. Im 15. Kapitel der Apostelgeschichte und im 2. Kapitel des Galaterbriefs wird über diese „Apostelkonzil“ (manchmal auch „Apostelkonvent“) genannte Versammlung berichtet: Es soll die grundlegende Frage geklärt werden, ob jemand Jude sein und das Mosaische Gesetz wahren muss, bevor er Christ werden kann, oder ob auch unbeschnittene Heiden getauft werden dürfen?

Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen – die in der syrischen Stadt Antiochia ihren Ausgang nahmen und, ähnlich wie schon beim Konflikt zwischen Stephanus und den Aposteln, eine ganz praktische Ursache hatten: In Antiochia lebte eine große jüdische Gemeinde, und man stellte sich die Frage, wie das Nebeneinander von statten gehen sollte. Die Synagoge besteht in dieser Anfangszeit des Christentums aus drei Kreisen: zunächst der engere Kreis der rechtmäßigen Juden (von Geburt an), um sie die Proselyten (die von einer nicht-jüdischen, also heidnischen Mutter abstammen, aber den jüdischen Glauben samt aller Bräuche ganz angenommen haben) und schließlich die Gottesfürchtigen am Rand.

Nun gibt es damals noch gar keine Messe – die Gemeinde aber ist hier noch eine Tischgemeinschaft: Es gibt das eucharistische Mahl, das gemeinsam geteilt wird. Gefeiert wird das Mahl des Herrn – und genau an diesem Punkt entsteht nun das Problem: Juden und Nicht-Juden zusammen in einer Tischgemeinschaft – das ist unmöglich. Denn entweder es sind alle Juden und essen koscher, oder keiner ist Jude. Beides gleichzeitig geht nicht. Man behalf sich damals mit einem erstes Speisegesetz, wie es bereits im Alten Testament formuliert wurde, das man als eine Art Mindeststandard anwendete – das grundsätzliche Problem aber war damit nicht gelöst.

Lukas beschreibt in der Apostelgeschichte den zentralen Punkt um den gerungen wurde: Jesus ist Jude, auch seine Jünger sind Juden – ihr Horizont scheint sich ohnehin ganz auf Israel zu beschränken – und in der Apostelgeschichte (10,42) werden ihm die Wort in Mund gelegt, dass die Apostel nur zum Volk Israel sprechen sollten. Nach Jesus` Tod jedoch gehen seine Anhänger, zunächst vorsichtig, dann aber immer entschlossener, auch auf die Heiden zu – gemäß dem Evangelium von Matthäus (28,19), wonach die Jünger „zu allen Völkern“, also (auch) den Heiden, gehen sollen und so gewissermaßen eine universelle Mission haben.

Insbesondere für die Apostel stellt sich die Frage, warum man sich nicht damit begnügte, den Glauben an Jesus nur unter den Juden zu verbreiten? Weshalb predigte man auch zu den Nicht-Juden? Schließlich werde schon beim Propheten Jesaja im Alten Testament genau darüber gesprochen: er hat die Erwartung, dass sich am Ende der Zeiten alle Völker sammeln und Israel anschließen werden – nun aber wird die Missionierung der Heiden bereits vor dem Zeitenende von Leuten wie Paulus vorangetrieben.

Es gab unzweifelhaft seit jeher eine jüdische Missionierung – nur so läßt sich die Tatsache erklären, dass bereits um das Jahr 50 etwa 10 Prozent der Bevölkerung des römischen Reiches Juden waren. Es gab also etwa 6 Millionen gläubige Juden und das Judentum war insofern auch keine geschlossene Gesellschaft mehr. Und das trotz Beschneidungsitual, das sicher einige Männer davon abgehalten hat – und sie wiederum sehr empfänglich gemacht haben dürfte, für eine Verkündigung, die diesen Akt nicht mehr notwendig machte.

Aber je mehr Heiden nun in die christliche Gemeinde eintraten, umso ausgeprägter wurden die nicht-jüdischen Merkmale der Gemeinde – desto mehr entfernte sich das Christentum vom Judentum. Diese Spaltung verursachte letztlich die Auseinandersetzungen, die dann insbesondere auch in einen Konflikt zwischen Paulus und den Aposteln gipfeln. Für Paulus ist die Spaltung durch das jüdische Gesetz verursacht, die den Nicht-Juden gewissermaßen aufgezwungen werden – weshalb er die Idee eines neuen Weges vertritt: und das ist der Glaube.

Paulus begeht erst in dem Augenblick auf, wo das Gesetz als Voraussetzung für das Heil betrachtet wird. Er akzeptiert die Thora unter dem Aspekt, dass sie das Verhalten ethisch reglementiert – aber sie dürfe keine Bedeutung als Weg zum Heil haben. Im Zentrum seiner Argumentation steht die Erlöserbotschaft: Wenn im Tod Jesu eine Heilsdimension liegt, so gibt es keinen anderen Weg zur Erlösung als durch den Glauben. Paulus predigte damit etwas völlig Neues, nämlich dass Jesus Gottes Sohn, und nicht nur der Erlöser des jüdischen Volkes, sei. Er war der Erlöser aller, er ist für die Erlösung der ganzen Menschheit gestorben. Und die Heiden können insofern auch gerettet werden, ohne zwangsläufig Juden werden zu müssen – sie müssen nur an Jesus als den wahren Sohn Gottes, den Erlöser, glauben. Dadurch erlangten sie die Gnade Gottes als Voraussetzung für ein Leben in Freiheit – und die Hoffnung auf ein ewiges Leben in der Herrlichkeit Gottes, Amen.

Paulus gilt als Gründer des nicht-jüdischen Christentums – einem, das sich nicht mehr an das jüdische Gesetz hält und das dann ab Mitte des 2. Jahrhunderts seine spezifische Ausrichtung erfahren wird. Es ist allerdings unklar, ob Paulus selbst an ein solches, unabhängiges Christentum glaubte, das heißt er hat im eigenen Verständnis vermutlich eher das Judentum innerhalb der römischen Welt umgestaltet, als dass er bewusst eine neue Religion gegründet hätte. Er selbst hat jedenfalls nie mit dem Judentum gebrochen – und lebte vermutlich sogar nach dem jüdischen Gesetz, das er doch so deutlich verurteilt, weil es einem doch die Freiheit nimmt, wie er im Römerbrief schreibt. Erst durch Jesus` Tod sei man „frei geworden vom Gesetz“ (Röm. 7,6) und so gilt (1. Kor. 6,12): „Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“

Aber selbst wenn Paulus das Judentum nur reformieren wollte, so hat seine Theologie doch zu einem Bruch zwischen Juden und Christen geführt, der mit Stephanus begann und nun endgültig besiegelt wird. In seinem ersten Korintherbrief (1. Kor. 6,19) schreibt Paulus davon, dass der „Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist“. Wenn jeder Einzelne Gott beziehungsweise den göttlichen Geist bereits in sich trägt, braucht es den Schöpfergott des Alten Testaments nicht mehr. Und wenn der Leib der Ort ist, an dem Gott weilt – dann ist es nicht der Tempel in Jerusalem. Entsprechend ist es auch, anders als im traditionellen Judentum, gar nicht mehr so wichtig in Jerusalem zu sein – und es geht insofern auch gar nicht mehr um die Herkunft oder Abstammung. Stattdessen wird für Paulus gewissermaßen die ganze Welt zum Heiligen Land.

Es kommt zum Bruch in der christlichen Bewegung – und das Apostelkonzil endet damit, dass das Missionsgebiet aufgeteilt wird. Tatsächlich wird das Apostolat des Paulus anerkannt, das heißt er soll künftig für die Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden, die Unbeschnittenen, zuständig sein. So beginnt mit ihm gewissermaßen die Missionierung der Welt – und gegen Ende des 3. Jahrhunderts werden bereits 10 Prozent der Bevölkerung des Römischen Reiches Christen sein, bevor sich das Christentum bis ins 7. Jahrhundert als offizielle Religon ganz durchsetzen wird.

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Paulus hat keine religiösen Abhandlungen verfasst, seine Theologie entwickelt sich in seinen Briefen an die Gemeinden. Ungefähr ein Jahr nach dem Apostelkonvent in Jerusalem schreibt er seinen ersten Brief – an die Thessaloniker. Man hält diesen Brief für den ältesten Text des Neuen Testaments und datiert ihn auf das Jahr 50 oder 51. Der Brief gilt als authentisch, enthält aber drei Verse, in denen sich ein so heftiger Angriff gegen die Juden äußert, dass sie auch ein Jahrhundert später geschrieben worden sein konnten – zu einem Zeitpunkt, als die Spaltung zwischen Judentum und Christentum dann bereits vollzogen war. Nur so erklärt so erklärt sich vielleicht die Stelle (Thess. 2,14), in der es gegen die Juden gerichtet heißt: „Denn ihr, liebe Brüder und Schwestern, seid dem Beispiel der Gemeinden Gottes gefolgt – der christlichen Gemeinden in Judäa –, da ihr von euren Mitbürgern dasselbe erlitten habt wie sie von den Juden. Diese haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten, sie haben uns verfolgt, sie missfallen Gott und sind allen Menschen feind, weil sie uns daran hindern, den Völkern das Wort zu verkündigen, das ihnen Rettung brächte; so machen sie unentwegt das Mass ihrer Sünden voll. Aber schon ist der Zorn über sie gekommen in seinem vollen Ausmass.“

Diese antisemitische Passage, wonach die christlichen Prediger daran gehindert würden zu missionieren, passt in ihrer Polemik weder in den Brief, noch zu Paulus. Gleichwohl stützte sich jahrhundertelang die theologische Begründung des christlichen Antisemitismus insbesondere auch auf diese drei Verse aus dem Brief des Paulus an die Thessaloniker. Sie sind zwar schon in den ältesten Handschriften zu lesen, trotzdem lässt sich der Verdacht nicht vermeiden, dass diese eine im Nachhinein vollzogene Interpolation ist, dass man sie also später hinzugefügt hat.

Ein Indiz dafür, das diese Passage anachronistisch ist und erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts verfasst wurde, ist der darin erwähnte Zorn Gottes, der schon über die Juden gekommen sei. Denn eigentlich wird der ohnehin nur alttestamentarisch bedeutsame Zorn Gottes in der christlichen Auslegung mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 in Verbindung gebracht. Und wenn dem so ist – dann kann diese Passage nicht von Paulus stammen, der zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben ist. Unabhängig davon aber zeigt diese Passage noch einmal in aller Deutlichkeit an, dass die Trennung zwischen Judentum und Christentum inzwischen endgültig erfolgte.

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Paulus ist sicherlich die entscheidende Figur in der Frühphase der Konsolidierung des Glaubens und der sich darauf entwickelnden Kirche – noch mehr als Petrus, die erste „Säule“ der christlichen Gemeinde in Jerusalem nach der Kreuzigung Jesu. Dabei war Paulus nicht der erste, der christliche Gemeinden gegründet hat. Bereits vor ihm sorgten griechisch sprechende Urchristen für die Verbreitung des Glaubens – und auch die Gemeinde in Rom existierte bereits als Paulus und Petrus dorthin gingen. Paulus ist insofern also keineswegs der Gründer der christlichen Bewegung, aber sicherlich eine ihrer wichtigsten Figuren.

Gleichwohl steht auch Paulus in der Nachfolge einer hellenistischen Tradition – er führt die Mission des Christentums in Antiochia weiter, in der er seine christlich-religiöse Sozialisation erfahren hatte. Er ist also nicht der erste, was Lukas als Verfasser der Apostelgeschichte übrigens auch betont. Antiochia ist in der Frühphase wichtig, daneben aber gibt es auch noch andere Strömungen im Christentum dieser Zeit – am bedeutendsten ist vielleicht das noch von Petrus geprägte jüdische Christentum in Jerusalem, das Paulus in Antiochien vorausgeht, sowie das johanneische Christenum auf der Grundlage des vierten Evangeliums und schließlich auch die Sprüche Jesu, die in den Evangelien von Lukas und Matthäus zusammengestellt wurden.

Paulus gehört insofern zu einer umfassenderen Konstellation des Christentums in ihrem Ursprung. Dass seine Theologie dann aber doch sinnbildlich für die christliche Identität wird, vor allem im lateinischen, das heißt dem römisch-katholischen Christentum, liegt vor allem daran, dass man ihm im Nachhinein eine beträchtliche Bedeutung zugesprochen hat – als man im 2. Jahrhundert das Vorhaben entwickelte, nach und nach einen verbindlichen Korpus an christlichen Texten zu erstellen. Dieser Kanon sollte dann die Glaubensregeln der Kirche bilden.

Ein erster solcher Korpus wird von Marcion (85-160) erwähnt, der Anfang des 2. Jahrhunderts als Theologe in Rom wirkt – bevor er sich mit der christlichen Gemeinde überwirft und nach der Exkommunikation seine eigene Kirche gründet, die sich verbreitet und dann drei Jahrhunderte lang bedeutsam bleiben wird.

Marcion durchbricht womöglich als erster jene Synthese, die Polykarp von Smyrna (81-167) mit der Herausgabe der Evangelien um das Jahr 120 bewirkt hat, indem er Paulus` Briefe zusammen mit dem Evangelium von Lukas – und zwar nur mit diesem Evangelium, obwohl zu dem Zeitpunkt auch schon die anderen bekannt waren. Aber er war der Meinung, nur Lukas und Paulus hätten die Botschaft Jesu verstanden – die Apostel hingegen gar nicht. Das war revolutionär, denn bis dahin war noch niemand so weit gegangen, zu behaupten, Jesus` Botschaft sei nur in bestimmten Texten zu finden.

Bis zu Marcion entstammte die Matrix des Christentums und die Elemente ihrer Offenbarung allein aus der hebräischen Bibel, das heißt dem Alten Testament. Das gesamte Konzept von Messias, Erlösung und Auferstehung ist durch und durch jüdisch. Neben der Verständigung auf einen Kanon christlicher Texte musste nun also auch der Status dieser jüdischen Überlieferung neu bestimmt werden. Marcion denkt dabei schon paulinisch, das heißt er geht von einem Gegensatz zwischen dem alttestamentarischen Gesetz (Thora) und dem neuen Evangelium, der „frohen Botschaft“, aus: Die Vorstellung eines zornigen, strafenden Gottes ist ihm zufolge unvereinbar mit den neuen Anschauungen – das seien Offenbarungen eines Gottes, der als liebender, barmherziger Gott handelt, wie Jesus ihn beschreibt – aber eben auch Paulus.

Bereits bei Marcion wird Paulus zur wichtigsten Figur für das Christentum nach Jesus – und dann in der Folge für manche so bedeutend, dass er eher als Jesus selbst als eigentlicher Begründer des Christentums gilt. Als Paulus` Briefe ab dem Ende des 2. Jahrhunderts für das Neue Testament zusammengestellt werden, ist er jedenfalls nicht mehr nur der Gründer der paulinischen Mission, sondern der Gründer des Christentums insgesamt. Dabei darf man seine Briefe nicht so lesen, als hätte Paulus selbst sie auch so geschrieben – denn eigentlich liest man sie nur in der Form, wie sie dann auf der Grundlage verschiedener Vorlagen des Korpus im 2. Jahrhundert abgeschrieben wurden. Marcion selbst erwähnt einen Korpus von 10 Briefen – und da er davon ausging, dass die Briefe des Paulus verfälscht seien, hat er sie auch in seinem Sinne überarbeitet herausgegeben, das heißt Marcion erstellte einen von allen Bezügen zum Judentum bereinigten Kanon von Paulus – und auch von Lukas.

Nach dem Fall des Tempels im Jahre 70, als die Zahl der Nicht-Juden in den Gemeinden wächst, wird die Beziehung zum Judaismus problematisch. Für eine Minderheit bleibt der christliche Glaube eine von vielen Formen des Judentums, für eine Mehrheit aber wird das Christentum zu einer neuen Religion, die definitiv mit dem Judentum bricht – was Marcion allen voran als erster vertritt. Er glaubte dabei, dass bereits Paulus eine neue, eigenständige Religion gepredigt, die sich völlig vom Judentum unterschied – so wie sich Gott und Vater von Jesus völlig von dem Gott des Judentums unterscheidet.

Die Anhänger von Jesus im 2. Jahrhundert sollten ihm zufolge also die Texte des Alten Testaments vergessen, denn mit Jesus sei eine ganz neue Religion entstanden – und so schuf er gewissermaßen das erste Neue Testament, das heißt Marcion definierte den Begriff „Neues Testament“ , das er dem Alten Testament gegenüberstellt. Indem Marcion aber den Gott der Christen vom Alten Testament ablöst begeht er eine Häresie – und das ist auch der Grund dafür, dass er von der Kirche ausgeschlossen wird.

Was seine definitive Ablehnung des Judentums betraf, so war Marcion der radikalste oder konsequenteste christliche Theologe des 2. Jahrhunderts. Seine Theorien werden die Entwicklung des Christentums entscheidend beeinflussen. Im Gegensatz zu Marcion aber wird die Kirche sich als eigentliche Erbin der jüdischen Überlieferung definieren, das heißt das Neue Testament in der Fassung des Marcion wurde von ihr nie autorisiert, schließlich ging es hier auch um eine kulturelle Definition des Christentums, ein gemeinsames Bewusstsein und eine doktrinelle Autorität, die von den Bischöfen ausgehen sollte.

Zum ersten veröffentlichten christlichen Kanon, der um das Jahr 160 herausgegeben wurde, gehören die Briefe von Paulus dann aber genauso wie die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Apokalypse. Andere Texte allerdings bleiben bis ins 4. Jahrhundert umstritten – Apokryphe, nicht-kanonische Schriften, machen zu der Zeit etwa das Zehnfache des Neuen Testaments aus. Das Neue Testament in seiner heutigen Form wurde dann aber tatsächlich erst im Jahr 1545 vom Trentiner Konzil angenommen. Erst damit war der Kanon offiziell abgeschlossen.

***

Im Jahr 66 bricht in Judäa, Galiläa und Samaria der jüdische Aufstand gegen Rom aus. Im Jahre 70 setzen die Truppen des Titus den Tempel in Jerusalem in Brand und plündern ihn. Das Judentum muss sich nun, da sie um ihren heiligsten Ort gebracht wurde, völlig neu konstituieren. So entstand das rabbinische Judentum, wie man es heute kennt – und das Christentum. In den beiden folgenden Jahrzehnten zwischen 70 und 90 folgten dann die großen Auseinandersetzungen zwischen Juden- und Christentum. Diese Konflikte endeten damit, dass die christlichen Gemeinden die Synagoge verlassen haben oder aus ihr ausgeschlossen wurden.

Der definitive Bruch findet jedoch erst mit dem zweiten jüdische Aufstand in den Jahren von 132 bis 135 statt, den der jüdische Militärführer Bar Kochba („Sternensohn“) anführt – und an dem die Christen dann überhaupt nicht mehr teilnehmen, offenbar begehren sie schon keine irdische Macht mehr. In dem Aufstand kommt zum letzten Mal eine jüdisch-messianisch Hoffnung zum Ausdruck – er wird aber niedergeschlagen und endete damit, dass der römische Kaiser Hadrian den Tempel nun vollständig schleifen ließ und den Juden verbot, dauerhaft in Jerusalem zu leben. Das hatte Folgen für das rabbinische Judentum, verlagert sich die jüdische geistige Elite nun doch nach Galiläa und Mesopotamien. Dort wird sich ein neu organisierendes Judentum um die Pharisäer herausbilden, zu dem das Christentum dann nicht mehr gehören wird. Die Christen aber – sie dürften den gescheiterten Aufstand ohnehin als das Ende des auserwählten Volkes gedeutet haben.

Historisch gesehen müssen sich die Christen jetzt selbst organisieren – auch wenn man sich das Christentum ohne das Judentum als Fundament noch gar nicht vorstellen kann. So dreht sich denn nun auch die sich entfaltende Auseinandersetzung der Christen mit dem Judaismus um die legitime Interpretation des gemeinsamen Erbes, des Alten Testaments: Um das Jahr 150 tritt in Rom Justin der Märtyrer (100-165), ein frühchristlicher Apologet und einer der ersten Kirchenväter, in Erscheinung. Er stammt aus Nablus und ist einer der ersten christlichen Theologen nicht-jüdischer Herkunft. Justin schreibt, also wollte er im Namen der Christen die Römer überzeugen, das Christentum endlich als unabhängige Religion anzuerkennen – und den Juden gegenüber bemerkt er, dass sie die Thora nicht richtig interpretierten. So argumentiert Justin anhand einer Übersetzung der Septuaginta, dass im 96. Psalm stünde: „… verkündet bei den Völkern“, was man aber auch mit „Heiden“ übersetzen könne. Außerdem unterstellte er den Juden, bei dem Satz „der Herr ist König vom Baum“ die Worte „vom Baum“ gestrichen zu haben – wobei er schon mit einer falschen Übersetzung in der Hand argumentiert. Schließlich hieße es bei Jesaja außerdem auch nicht, dass die „Jungfrau“ ein Kind empfangen würde, sondern nur „junge Frau“ et cetera. Justin behauptet also, die Thora sei gefälscht – und will so die Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum begründen.

Gegenüber einer allegorischen Bibelauslegung wie im Judaismus praktiziert Justin eine typologische Auslegung: alle Texte des Alten Testaments werden von ihm auf Christus bezogen, zumindest aber auf die christliche Wirklichkeit – die sakramentalen und kirchlichen Sachverhalte. Das ist gewissermaßen schon bei Paulus so, wenn er zum Beispiel im ersten Korintherbrief die Ereignisse im Buch Exodus so interpretiert, als ob darin bereits die christliche Taufe „unserer Väter“ beschrieben werde, wenn es heißt, dass sie „unter der Wolke waren, alle durch das Meer hindurchzogen und alle in der Wolke und im Meer auf Mose getauft wurden“ (1. Kor. 10,1). zufolge sei das christliche Sakrament der Taufe hier bereits im Alten Testament angekündigt ist. Das gelte auch für die Eucharistie (10,3): „Alle assen dieselbe geistliche Speise, und alle tranken denselben geistlichen Trank“, er fügte nur das Wort „geistig“ hinzu.

So beginnt schon mit Paulus eine Auslegung des Alten Testaments, die dann bei Justin zur radikal-typologischen Bibelauslegung wird, wo alles auf Christus bezogen wird – und das Judentum insofern auf Nichts gründe. Justin reklamiert so gewissermaßen das gesamte jüdische Erbe für sich und behauptet, dass das jüdische Erbe vollkommen im Christentum aufgegangen sei. Aber Justin – und nach ihm auch Irenäus (140-202), Bischof von Lyon und ebenfalls einer der Kirchenväter – vertreten hier eine äußerst heikle Position, indem sie sich einerseits gegen Marcion stellen, in erster Linie aber natürlich gegen die Juden.

Justins bekannteste Schrift ist sicherlich „Dialog mit Tryphon“, wo er einen Rabbiner namens Tryphon erfindet und ein fiktives Streitgespräch inszeniert, in dem das gerade entstehende Christentum mit dem Judentum konfrontiert wird. Er schreibt hier (43,1 und 2): „Wie nun der Anfang der Beschneidung mit Abraham, der Anfang des Sabbats, der Opfer, Gaben und Feste mit Moses gegeben war und – nach gegebenen Beweisen – der Grund dieser Verordnungen in der Hartherzigkeit eures Volkes lag, so fanden sie notwendig nach dem Willen des Vaters ihr Ende und Ziel in Christus, dem Sohne Gottes, der durch die Jungfrau aus dem Geschlechte Abrahams und dem Stamme Juda und David geboren war, und der – wie verkündet wurde und wie die Prophezeiungen darlegen – als ewiges Geschlecht und als Neuer Bund für die ganze Welt kommen sollte. Wir, die wir durch Christus zu Gott gelangt sind, haben nicht fleischliche Beschneidung erhalten, sondern eine geistige, welche Enoch und seinesgleichen beobachtet haben; da wir Sünder gewesen waren, haben wir sie in der Taufe durch Gottes Barmherzigkeit erhalten, wozu allen in gleicher Weise die Möglichkeit gegeben ist.“

Man hat es hie mit einer starken Neutralisierung der Alten Testaments zu tun: Durch Christus gehen wir auf direktem Wege zu Gott und brauchen das Alte Testament nicht mehr. Dass Justin – das orthodoxe Christentum insgesamt – aber dennoch daran festhält hat mehrere Gründe: Zunächst einmal ist das die erste Heilige Schrift. Ein weiterer Grund war sicherlich, dass neben andern auch die Marcionisten diesen Text ablehnten. Sie lenkten das Christentum in eine Richtung, der Justin nicht folgen wollte – und deshalb betont: das Alte Testament ist unser Text. Schließlich – und das war sich kein zu unterschätzender Grund – hielt man daran fest, weil es in der römischen Welt denjenigen, die den Status der Gesetzlichkeit des Christentums, den Status der religio licita (gesetzliche, zugelassene Religion) anstrebten, nur von nutzen ist, wenn man tiefverwurzelte, historische Bindungen nachweisen konnte. Denn für die Römer musste eine anerkannte Religion ihre historischen Wurzeln haben.

Für die römische Elite ist das Christentum zu dieser Zeit nichts als ein Aberglaube – der sich zum einen durch seine irrationale Natur charakterisiert, aber auch durch seine mangelnde Verankerung beziehungsweise fehlende Tradition. Anders als das Judentum hat es keine lange Geschichte – und wird auch nicht mit einem Land in Verbindung gebracht wie Judäa bei den Juden. Außerdem sind die Juden seit jeher Teil der Gesellschaft und mussten, aus Respekt vor ihrem Gott, auch nicht am Kaiserkult teilnehmen: Für die Römer ist die Religion Politik, es gibt keine Trennung zwischen Religion und Staat. Entsprechend auch ist die religiöse Geste auch immer schon eine politische Geste, das heißt die römische Religion ist eine Praxis mit genau festgelegten Ritualen, durch die eine Verbindung mit den Gottheiten hergestellt und deren Schutz erlangt wird. Aber es gibt keinen Inhalt, keinen Glauben.

Im 2. Jahrhundert stellten die Christen im Römischen Reich eine eigene Kategorie dar: Sie sind keine alte Stammesreligion – und darüber hinaus noch nicht einmal von ihrer alten Kultgemeinschaft, dem Judentum, abgefallen. Man kann davon ausgehen, dass die Römer das Christentum zunächst als eine Bewegung innerhalb des Judentums begriff. Dann allerdings wird diese Bewegung allmählich an ganz spezifischer Eigenständigkeit gewinnen. Das wird deutlich, wenn in Zusammenhang mit Nero von „Christen“ gesprochen wird und sich insofern ein Bewusstsein herausgebildet hat, dass sich eine eigene Gruppe gebildet hat.

Das Wort „Christen“ beziehungsweise „Christianus“ ist eine lateinische Wortbildung, bei dem an das griechische „Christ“ ein lateinisches Suffix gehängt wird. Das geschah in der römischen Zeit gegen Ende der Herrschaft von Caligula (37-41) und zu Anfang der Herrschaft von Claudius (41-54) und sollte die messianisierenden Juden bezeichnen, die ihren Impuls von einem gewissen „Christ“ bezogen. Messianismus aber unter dem Motto „Das Weltende steht bevor“ galt als kriminell, aufrührerisch – entsprechend war die Bezeichnung „Christianoi“ bereits für die Anhänger in Antiochien eine Bezeichnung für „Kriminelle“ (Apg. 11,26). Und dabei blieb es zunächst.

Justin und die Theologen des 2. Jahrhunderts befinden sich in einer konfliktträchtigen und paradoxen Situation: Sie erheben Anspruch auf das Erbe Israels, wollen ihren Nutzen daraus ziehen, und gehen in einer scharfen Polemik all die Juden an, die sich dem Christentum nicht anschließen wollen. Gleichwohl verweist diese Polemik darauf, dass der Abspaltungsprozess noch immer nicht wirklich abgeschlossen war – bis ins 4. Jahrhundert aber verschoben sich die Auseinandersetzungen der Christen dann zunächst sowieso mehr hin zu den Römern.

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Vieles deutet darauf hin, dass sich das Christentum im 2. Jahrhundert allmählich im Römischen Reich verbreitete – von den Städten ausgehend auf das Ländliche. Zu Beginn des 3. Jahrhunderts gibt es im Mittelmeerraum wichtige Zentren des Christentums, vor allem im östlichen Raum: Jerusalem, Antiochien und eine beachtliche Zahl von Gemeinden (dann auch mit Bischöfen) in Kleinasien, Ephesos zum Beispiel. In Ägypten ist heute nur Alexandria bekannt, an der nordafrikanischen Mittelmeerküste gab es ansonsten aber auch noch eine bedeutende Niederlassung in Kathargo. Vereinzelte christliche Gemeinden gibt es auch in Spanien und Frankreich – das unumstrittene Zentrum des christlichen Glaubens aber ist zu dieser Zeit bereits Rom.

Überall im Römischen Reich stellten christliche Praktiken und das Bekenntnis zum Christentum seit Nero (54-68) einen Straftatbestand dar – allerdings sollte der Staat nach einer Weisung des späteren Kaisers Trajan (98-117) nicht allzu inquisatorisch sein, das heißt Rechtsstaatlichkeit und nicht Gewaltanwendung sollte das Auftreten der Institutionen bestimmen. So konnten die Beschuldigten ihre Unschuld einfach durch den Vollzug einer Opferhandlung beweisen. Die Behörden durften auch nur dann aktiv werden, wenn eine begründete Anzeige vorlag, wobei der Denunziant bei einer Falschanzeige vor Gericht sogar die Höchststrafe riskierte. Sein Schicksal lag somit in der Hand des Angeklagten – der seine Unschuld durch den einfachen Vollzug des Opfers beweisen konnte, jedenfalls sah man das Opfer als einen Akt der Solidarisierung mit der politischen Gemeinschaft – als ein Bekenntnis zum Imperium.

Trajan sah in den Christen offenbar weder eine ernsthafte Herausforderung der römischen Religion, noch eine den Staat zersetzende Kraft. Von einer von Märtyrern triefenden Opferungsgeschichte des Christentums kann ohnehin keine Rede sein: Dass die katholische Kirche erst im Konzil von Karthago (418) klären wird, welche Form der Busse man von den Verrätern abverlangen sollte, zeigt, dass die Sache offensichtlich nicht dringend war. Christen, die das Kultopfer hingegen verweigerten, erhielten sofort die Absolution, wie zum Beispiel Origenes (185-254), an dem Rom ein Exempel statuierte. Zwar überlebte Origenes die Folter, starb dann aber wohl an den Folgen. Insgesamt aber war die Zahl der Märtyrer wohl gering.

Nicht der römische Staat hatte Angst vor den Christen, sondern die christlichen Theologen zeigten sich beunruhigt durch die ungebrochene Attraktivität der traditionellen Religionspraktiken (auch die Apokalypse des Johannes, die oft als Indiz für eine Christenverfolgung gedeutet wurde, sollte wohl den inneren Zusammenhalt der Gemeinden stärken). Pedro Barceló bemerkt dazu in „Die Alte Welt“ (2019): „Die monotheistische Ausschließlichkeit des Christengottes konnte seine Anhänger nie von synkretistischen Ritualen abhalten, ebenso wenig, wie die bestehende Strafandrohung seitens des Staates die Ausbreitung des Christuskultes verhindert hatte.“

Anders als das Judentum war das Christentum aber eben keine alte Stammesreligion – und insofern hätte eine Anerkennung des Christentums auch eine neue Konzeption von Politik von den römischen Kaisern verlangt. Seit Augustus (63 v. Chr. – 14 n. Chr.) stellte der Kaiserkult eine bewährte Form der Kommunikation dar: Weil der römische Kaiser als Gott galt, gebührte ihm nach traditioneller Anschauung kultische Anbetung, womit das herrschende politische System stabilisiert wurde. Götterkult und Kaiserkult verschmolzen zum Staatskult. Ihrer Loyalität versicherten sich die Kaiser durch den Vollzug des Opferrituals.

Schließlich aber endete die Verfolgung der Christen ohnehin gänzlich nach dem grausigen Schicksal von Kaiser Valerian (253-260), dem nach einem gescheiterten Feldzug gegen die Sassaniden in Gefangenschaft die Haut abgezogen wurde. Frühchristlichen Autoren erschien das als eine gerechte Strafe Gottes für die Vergehen Valerians gegen die Christen, die er in den Jahren 257 und 258 verfolgen ließ. Dessen Sohn Gallienus stellte die Verfolgung jedenfalls ein – und einen Religionsfrieden her, der die nächsten vierzig Jahre anhalten sollte.

In dieser Phase konnte sich der christliche Glaube ungehindert ausbreiten, dann aber wuchs offenbar die Notwendigkeit, die Suche nach unverzichtbaren himmlischen Beschützern voranzutreiben, weshalb man ab dem Jahr 303 unter Diokletian (284-305) wieder begann, die Christen zur althergebrachten Reichsreligion zurückzuführen – und die Verfolgungsmaßnahmen in diesem Zusammenhang wieder verschärfte. Aber die Verfolgung brachte auch Märtyrer hervor – und damit wurden auch Vorbilder für die christliche Selbstbehauptung geliefert.

Der Begriff „Märtyerer“ kommt aus dem griechischen und bedeutet „Zeuge“, jemand, der sich für seine Sach opfert. Schon früh wurden Juden zu Märtyrern – und hier, in der hellenistischen Zeit, liegen auch die Wurzeln für das Märtyrertum. Im Judentum kannte man allerdings noch kein eigenes Wort für jemanden, der durch sein Opfer seinen Glauben bezeugt: Die Juden unterscheiden nicht zwischen Körper und Geist, das heißt sie leben in ihrem Leib, dem man nicht entkommen kann – wohingegen das Christentum nun von der Vorstellung lebt, dass Jesus auferstanden ist und auch nach seinem Tod weiterlebt.

Das Phänomen des freiwilligen Märtyrertodes geht wahrscheinlich auf Bischof Ignatius von Antiochia zurück: In einem seiner Briefe nach Rom, wo er um das Jahr 115 getötet wird, wird zumindest zum erstem Mal der Wert des Märtyrers als solcher gewürdigt (ohne dass er den Begriff Märtyrer verwendet hätte): Für ihn heißt Christ sein, Märtyrer sein – weil man dadurch Christus ähnlich ist. Im Standhalten der Qual demonstriert der Märtyrer die Überlegenheit Gottes über die menschliche Macht – in Wirklichkeit sei er dann der Bezwinger und nicht das Opfer.

Das Toleranzedikt des Galerius im Jahr 311, das auch von Konstantin (306-337) und Licinius (308-324) in Nikomedia und Mailand 313 bestätigt wurde, markiert dann aber schon bald das eigentliche Ende der Christenverfolgungen im Römischen Reich. Das Edikt wurde im Namen aller damals regierenden Kaiser herausgegeben und tolerierte die freie Religionsausübung, womit die Christen erstmals auch von der Verpflichtung zum Kaiserkult befreit waren.

Aufgrund der Verfolgungsedikte seiner Vorgänger musste Konstantin mit der Realität eines religiös geteilten Reiches umgehen, weshalb er gegenüber der heidnischen Bevölkerung auch weiterhin das Amt des Pontifex maximus versah – und der traditionelle Kaiserkult wurde auch weiterhin nicht verboten. Mit Konstantin setzte sich aber auch das Christentum im Römischen Reich durch – ohne schon zur offiziellen Staatsreligion zu werden. Und obwohl sie offiziell vom Kaiserkult befreit waren, gebührte dem zum Christentum neigenden Kaiser, aus christlicher Perspektive, Verehrung, weil er die christliche Gemeinde beschützte und den öffentlichen Vollzug des Gottesdienstes ermöglichte.

Man weiß nicht viel über die frühen christlichen Sakralräume – aber dass die in der Anfangszeit wirkenden Gemeindeleiter allmählich von einer hierarchisch gegliederten Klerikerschicht abgelöst werden, die schließlich auch das Bischofsamt durchsetzten. Ursprünglich spontan organisierte Gemeinden erhielten nun eine Neuregelung der Leitungsfunktionen und schließlich auch der Kirchenordnung. Dabei setzte sich auch eine um den Bischof kreisende Messliturgie durch, die das Gotteshaus neu strukturierte.

In der Zeit des Religionsfriedens nach Valerian verwandelte sich auch das Gotteshaus: die basilica (ursprünglich ein römisches Markt- und Gerichtsgebäude) wurde zum Prototypen des christlichen Kultraumes, auch im öffentlichen Raum. Die Begriffe Kirche (ekklesia), Basilika (basilica) oder Kathedrale (von der cathedra des Bischofs abgeleitet) sind Ergebnis einer historischen Entwicklung.

Mit der Machtübernahme Konstantins verschieben sich dann die religionspolitischen Koordinaten noch einmal: Christliche Basiliken wurden nun gestiftet, die Kirche von Abgaben und Steuern befreit. Mit Konstantin ersetzt dann das Kreuz in den neu errichteten Kirchengebäuden auch den alten Fisch als Symbol der Urkirche: „Fisch“ heißt auf griechisch „Ichthys“ – den Anfangsinitialien von: Iesous (Jesus) CHris (Christus) Teon (Gottes) HYios (Sohn) Soter (Erlöser). Die unter Konstantin erlassenen Gesetze räumten außerdem dem Klerus sehr weitreichende Privilegien ein – Häretiker aber verlieren ihre bürgerlichen Rechte.

Die häufige Präsenz des kaiserlichen Hofes in den Basiliken wertete diese auf und verlieh den Gottesdiensten zusätzlichen Glanz, dadurch aber ergab sich auch die Notwendigkeit, den Platz des Kaisers in der Kirche zu präzisieren: Eine sich stets verfeinernde Liturgie – womit auch der Klerus (insbesondere der Bischof) unverzichtbar wurde, wobei die Nutzung des christlichen Sakralraumes protokollarische und theologische Kriterien zugleich befolgte – sowie die Prachtentfaltung der Rituale und der Gotteshäuser verwandelten die ursprünglich bescheidenen Orte in Monumente der gesellschaftlichen Selbstdarstellung.

Schon bei den bereits christlich sozialisierten Nachfolgern Konstantins war ein Rückzug von der traditionellen Kultpraxis bei gleichzeitiger Intensivierung der kaiserlichen Präsenz bei den christlichen Feierlichkeiten wie Gottesdiensten, Bischofsysnoden oder Kircheneinweihungen zu beobachten, was eine gewisse Sogwirkung in der Bevölkerung erzeugte. Konstantin sah sich noch als Oberhaupt der Kirche – Gratian (375 bis 383) und Theodosius I. (379 bis 394) verzichten dann ganz auf das kaiserliche Oberpontifikat.

Mit sich der Göttlichkeit entsagenden christlichen Herrschern wie Konstantin II. (337-340) entstand bereits ein Problem im Hinblick auf die Beanspruchung der höchsten religiösen Autorität: Stand ein häretischer Kaiser höher als ein Kleriker? Mit dem Verlust der eigenen Göttlichkeit und der Verdrängung des Staatsoberhaupts aus dem Zentrum der Kultpolitik ging dem Kaiser nun ein weiteres beträchtliches Stück an Gestaltungspotential verloren. Schwindende Macht verringerte zudem die Notwendigkeit der Verehrung, bis sie schließlich kaum mehr eine Relevanz hatte.

Eine wesentliche Bedingung für die Ausbreitung des christlichen Glaubens hingegen war die straffe Organisation der Kirche. Die Institutionalisierung ist bereits um die Mitte des 3. Jahrhunderts beinahe abgeschlossen. So entstand eine für den Staat optimale Verwaltungsstruktur – die Bischöfe bildeten dabei seit der Regierungszeit von Konstantin eine Art Parallelmagistrat (das gute Aufstiegschancen bot, vor allem in Konstantinopel). Die Herausbildung einer anerkannten Hierarchie und die allmähliche Übernahme staatlicher Funktionen durch Bischöfe haben nicht nur zur Ausweitung des klerikalen Einflusses geführt, sondern auch die zunehmende Unentbehrlichkeit der kirchlichen Institutionen unter Beweise gestellt: Bischöfe werden, bedingt durch innere Krisen Roms, zu Stützen der Gesellschaft und Dienstleistungen wie Krankenpflege oder Armenfürsorge, die der Staat immer weniger erfüllen konnte, gelangten in die kirchliche Trägerschaft der Diakonie.

Trotz des Bedeutungsverlust des Kaiserkults hielt sich der christliche Glaube im öffentlichen Raum allerdings noch zurück und war noch eher im Privaten zu finden. Der Durchbruch zur religiösen Homogenisierung erfolgte dann jedoch mit Kaiser Theodosius (379-394). Unter Konstantin war das Christentum bereits eine zugelassene Religion, nun verwirklicht Thedosius die Christianisierung des Römisches Reiches, als er der Reichsbevölkerung den nicänischen Glauben vorschrieb: Theodosius war 394 der letzte Alleinherrscher des Römischen Gesamtreiches, aber bereits im Jahr 380 hat er mit dem so genannten Dreikaiseredikt „Cunctos populos“ in Thessaloniki (gemeinsam mit Gratian und Valentinian II.) die nominelle Religionsfreiheit des Christentums beendet und es zur offiziellen und einzigen Staatsreligion gemacht.

Fortan gingen Staat und Kirche getrennte Wege – ein in der Antike unbekannter Dualismus zwischen Staat und Kultgemeinde prägte von nun an die Geschicke der christianisierten Ökumene. Dass Theodosius außerdem auf den Ehrensitz des Kaiser im Altarbereich der Kirche verzichtete, ist der sichtbarste Beweise dafür, dass der Geistliche über den weltlichen Primatanspruch in Glaubens- und Kirchenfragen triumphierte: Der Kaiser ist vom Zentrum des Kultraumes gewichen – er wird nun selbst zum Gläubigen, und damit auch den seelsorgerischen Direktiven seines Bischofs unterstellt, dern nun auch gegenüber dem Kaiser alle episkopalen Vollmachten hatte.

Mit diesem Edikt allerdings erneuerte Theodosius auch die bereits von Konstantin erlassene Gesetzgebung gegen die Häretiker – was nun zu einer Mobilisierung der Christen führte, das heißt zu zahlreichen unkontrollierten Gewaltausbrüchen und Zerstörungen heidnischer Tempel, zum Beispiel im nordafrikanischen Karthago. Tatsächlich kennt die Antike ansonsten keine religiösen Konflikte – das bringen erst die Christen! Eines der ersten vermeintlich häretischen Opfer ist Pricillian (340-385) in Trier. Leitgedanke der von ihm gegründeten christlichen Bewegung ist das die Bemerkung von Paulus, wonach der eigene Leib ein „Tempel des Heiligen Geistes“ sei (1. Kor. 6,19) – und diesem Gedanken entsprechend befürwortete Pricillian eine strenge Askese, damit der Mensch Wohnung Gottes werden könne.

Darüber hinaus ist er für die Abschaffung der Sklaverei und Gleichstellung der Geschlechter, weshalb er auch Frauen als seine Anhänger aufnahm, wie die Katharer – und stellte sich damit gegen die Meinung der Kirche, zu deren Opfer er dann auch wurde: Gemeinsam mit einigen seiner Anhänger war er der erste Christ, der von anderen Christen wegen Ketzerei mit dem Tod bestraft wurde. Das Gebot der Nächstenliebe – offensichtlich gilt es nun nicht mehr. Der Nächste ist nur der, der dieselbe Linie verfolgt, ansonsten regiert Gewalt.

***

Von Rom endlich als Religion anerkannt, sind die Auseinandersetzung mit dem Judaismus und dem Judentum offensichtlich auch im 5. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen, als Justinian (482-565) als christlicher Kaiser den Thron von Byzanz bestiegen hatte. Zumindest in der gesellschaftlichen Wirklichkeit war das Problem noch aktuell. Die Tatsache, dass seine Rechtsprechung versuchte Christen und Juden zu trennen zeigt, dass dazu ein gesellschaftlicher Anlass bestand. Eine klare Trennung gab es wohl erst lange nach dieser Zeit – mit dem kulturellen Niedergang der mediterranen Städte und dem Beginn des Mittelalters. Aber ohne hier die Entwicklung vom Anti-Judaismus zum Antisemitismus nachzuzeichnen – ab jetzt wird die Geschichte des Christentums zur Schreckensgeschichte …

Historisch betrachtet sind die Beziehungen zwischen Christen und Juden über 2.000 Jahre lang problematisch, weil das Christentum aus dem Judentum hervorging und sich sehr früh – spätestens mit Justin – als das „wahre Israel“ („Verus Israel“) begriff. Damit wurde den Juden in gewisser Weise die Identität gestohlen – die religiöse Identität und ihre Rolle als Vermittler der Offenbarung.

Der Anfang des christlichen Antisemitismus wiederum, das ist für Amos Oz klar, liegt in der Geschichte vom Verrat des Judas. Doch Oz hat eine Theorie – denn Schmuel Asch, Student der Theologie und Protagonist seines Romans „Judas“ (2016), glaubt, „dass Judas von ganzem Herzen an Jesus geglaubt und ihn niemals verraten hat“. Als Jesus Zweifel hat und fragt: „Soll ich nach Jerusalem gehen? Soll ich lieber nicht nach Jerusalem gehen? Vielleicht werden sie mich in Jerusalem umbringen“, da glaubte Schmuel Asch stärker an Jesus, als er selbst an sich: „In der Provinz“, sagt Schmuel zu Jesus, „in irgendwelchen galiläischen Dörfern, Wunder zu vollbringen, bringt nichts. In Galiläa finden ständig Dutzende von Wundern statt – damals wie heute. (…) Wenn du aber die Welt retten willst, wenn du die Welt wirklich erlösen willst, musst du nach Jerusalem gehen.“

Judas wusste, wie man eine Botschaft wirkungsvoll präsentiert, schreibt Oz: „Du musst in Jerusalem gekreuzigt werden – und zwar nicht an einem ganz normalen Tag, sondern … am Vorabend des Pessachfestes, wenn Hundertausende Pilger die Straßen von Jerusalem füllen … Vor den Augen all dieser Menschen musst du dich kreuzigen lassen. Sie alle werden sehen, wie du heil und unversehrt vom Kreuz steigst. Dann werden sie auf die Knie fallen und du wirst sagen, liebt einander, und damit beginnt das Himmelreich. (…) Die Menschen werden einander lieben und das Himmelreich wird beginnen.“

Aber dann, am Kreuz, ruft Jesus „die verzweifeltsten Wort aus, die je gesprochen wurden: Eli, Eli, lama sabachthani? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (…) Er sagt nicht `Vater´ oder `mein Vater´, er sagt `mein Gott´. So oft hat Jesus Gott als Vater angesprochen – doch nicht jetzt. Jetzt ruft er: Gott, o mein Gott, warum hast du mich verlassen? Er stirbt am Kreuz, und Judas erkennt (…) Er hat das Licht seines Lebens getötet. Er hat seinen Gott getötet. Er hat den Menschen getötet, den er auf Erden am meisten geliebt hat.“ Im felsenfesten Glauben. Aus Liebe.

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Erdgeschichte

Seit ihrer Entstehung befindet sich die Erde in einem stetigen Wandel. Die meisten Veränderung treten allmählich ein, andere hingegen ereignen sich katastrophisch. Insbesondere im Hinblick auf solche Veränderungen hat man die Erdgeschichte in verschiedene Abschnitte unterteilt, die so genannten Äonen. Man unterscheidet:

  • Hadaikum
  • Archaikum
  • Proterozoikum
  • Phanerozoikum
Hadaikum

Vor gut 4,6 Milliarden Jahren entstand unsere Erde, als sich verschiedene Materieteilchen zu einem Planeten verdichteten, die die eigene Schwerkraft dann so zusammenpresste, dass sie enormem Druck und hohen Temperaturen ausgesetzt waren und schmolzen. Die Erde war insofern zunächst nichts als ein Feuerball aus kochend heißer Magma, umgeben von ätzenden und giftigen Gasen, geprägt von unzähligen Meteoriteneinschlägen. Das klingt womöglich wie eine Beschreibung der Hölle – und entsprechend leitet man auch vom griechischen Wort „Hades“ die Bezeichnung für dieses Erdzeitalter ab: Hadaikum.

Bis die Erde etwas abkühlte und der Prozess der Krustenbildung einsetzte, sollte es allerdings gar nicht lange dauern: Wie neueste Funde im heutigen Australien beweisen, war die Erde vor 4,4, Milliarden Jahren schon abgekühlt genug, dass langsam eine erste kontinentale Erdkruste entstehen konnte und sogar etwas Wasser sowie eine Art Uratmosphäre, die jedoch noch reich an giftigem Kohlendioxid war. Das zeigen winzige Mineralien, die damals kristallisierten und Zirkone bildeten. Denn Zirkon braucht Granitgestein um sich zu entwickeln, was umgekehrt bedeutet, dass es Granit – also festes Gestein – bereits in dieser Zeit gegeben haben mußte.

Als die bis dahin häufig vorkommenden Meteoriteneinschläge, die die Erdkruste immer wieder aufgerissen haben und die Abkühlung verlangsamten, nachließen, sanken allmählich auch die Temperaturen an der Erdoberfläche weiter ab. Langsam erstarrte mehr und mehr magmatisches Urgestein und so bildete sich bis vor etwa 4 Milliarden Jahren auch eine feste Erdkruste. Zudem konnte sich auch immer mehr flüssiges Wasser sammeln, so dass schließlich auch die ersten Meere und Ozeane entstanden.

Archaikum

Am Beginn des Arachaikum vor 4 Milliarden Jahren hatte sich bereits eine Erdkruste aus großen kontinentalen Gesteinsplatten gebildet, die sich aufgrund der so genannten Konvektionsströme im Erdinneren fortwährend bewegten. In den Urozeanen, die sich bis hierhin gebildet hatten, begann nun vor etwa 3,8 Milliarden Jahren erstes Leben zu entstehen – zunächst aber nur in Form einfachster Bakterien. Man geht davon aus, dass sich in porösen Gesteinswänden hydrothermaler Quellen aus einfachen organischen Molekülen erste einzellige Lebensformen entwickelten, die nun Zellkerne gebildet hatten. Mit dem Entstehen solcher Urzellen teilte sich die Lebenswelt in Bakterien und Archaeen. In ihnen steckt der griechische Begriff für „Ursprung“ oder „Beginn“, der auch namensgebend für das Erdzeitalter werden sollte: Archaikum.

Die Einzeller lebten zunächst von chemischen Verbindungen ihrer Umgebung, dann aber beginnen Bakterien vor etwa 2,5 Milliarden Jahren damit, das Sonnenlicht zu nutzen: Sie werden zu so genannten Cyanobakterien, die die Eigenschaft haben, Sauerstoff zu produzieren, das in der Atmosphäre bislang praktisch nicht vorhanden war. So vollzog sich langsam eine wichtige Kimaveränderung.

Proterozoikum

Mit der veränderten Atmosphäre wurden auch die Lebensformen komplexer, da sich mit der steigenden Sauerstoffkonzentration unter anderem auch Ozon gebildet hatte, das die für Lebewesen tödliche Ultraviolettstrahlung von der Sonne absorbieren kann. So begannen sich vor etwa 1,9 Milliarden Jahren Einzeller (Eukaryoten) langsam zu mehrzelligen Organismen zusammen zu schließen.

Aus diesen mehrzelligen Organismen entwickeln sich zunächst mikroskopisch kleine Vielzeller, die aber immer komplexer werden und wachsen. So entstehen Weichtiere – noch ohne feste Schale oder Skelette, so dass aus dieser Zeit auch kaum Fossilien erhalten sind. Entsprechend wird dieses Äon – die Zeit vor dem Entstehen der Fossilien – auch Proterozoikum genannt.

Phanerozoikum

Das Proterozoikum endete vor 550 Millionen Jahren mit dem Ende einer langen Eiszeit und einer wahren Explosion des Lebens, das heißt innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich aus den primitiven Organismen eine enorme Artenvielfalt. Diese Arten waren bereits wesentlich komplexere, makroskopische Lebensformen – und einige hatten auch Schalen oder Skelette ausgebildet, die dann auch als Fossilien erhalten blieben. Diese „Sichtbarkeit“ des Lebens hat auch dem Erdzeitalter den Namen gegeben: Phanerozoikum.

Das Phanerozoikum dauert bis heute an – allerdings gab es seither einige bedeutende Einschnitte in der erdgeschichtlichen Entwicklung, so dass man dieses Erdzeitalter weiter unterteilte in sogenannte Ären (die selbst wiederum in mehrere Perioden unterteilt werden). Man unterscheidet innerhalb des Phanerozoikums folgende Ären:

Das Phanerozoikum begann vor 550 Millionen Jahren mit der Entstehung zahlreicher neuer Arten im Paläozoikum. Das Lebens war zunächst auf das Wasser beschränkt – als dann die ersten Pflanzen auch festes Land besiedelten. Mit der Entstehung der Vegetation wuchs und gedieh nun auch das Leben auf dem Festland: Mit den ersten Pflanzen wanderten zunächst Bakterien und Pilze an Land – später entwickelten sich Amphibien, die sich langsam neue Lebensräume eroberten, und schließlich auch andere Wirbeltiere, die unabhängig vom Wasser wurden und sich das Land eroberten.

Das Paläozoikum endete vor 251 Millionen Jahren mit dem größten Massensterben aller Zeiten: Über 90 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten starben aus, vor allem in den Meeren. Bis heute ist unklar warum – man vermutet einen Meteoriteneinschlag mit anschließender Eiszeit als Ursache.

Das nachfolgende Erdzeitalter, das Mesozoikum, ist bekannt als Zeitalter der Dinosaurier. Sie beherrschten die Erde fast 200 Millionen Jahre lang – doch vor etwa 65 Millionen Jahren schlug ein großer Meteorit auf der Erde ein, der nun zweifelsfrei für eine deutliche Abkühlung des Klimas und das Aussterben der Dinosaurier sorgte, da sich durch den aufgewirbelten Staub die Atmosphäre verdunkelte und die Sonnenstrahlen nicht mehr durchdringen konnten.

Vom Aussterben der Dinosaurier profitierten vor allem die Säugetiere, die sich am besten an den Klimawandel anpassen konnten. Sie hatten sich bereits im Mesozoikum entwickelt, konnten sich nun aber ungehindert ausbreiten und die unterschiedlichsten Lebensräume auf der Erde erobern. In der Steinzeit vor etwa 2,5 Millionen Jahren trat auch der Mensch (Homo rudolfensis) auf den Plan. Dieses jüngste Zeitalter wird Erdneuzeit beziehungsweise Känozoikum genannt – und wird heute, je nach Perspektive, vom Anthropozän abgelöst.

Kontinente und Landschaften

Die Einteilung der Erdgeschichte orientiert sich an einschneidenden Veränderungen des Lebens (Artenvielfalt oder Massensterben). Dazwischen gab es aber weitere Umbrüche durch verschiedene andere Einflüsse – zu ihnen gehören neben dem Klimawandel insbesondere auch Veränderungen der Meere und Kontinente durch die Kontinentalverschiebung.

Schon früh in der Erdgeschichte formten gewaltige Kollisionen die Erdkruste zu unseren Kontinenten. Die enormen tektonischen Kräfte hoben Ozeanplatten an und formten daraus imposante Gebirge. Aber nach wie vor sind die Kontinentalplatten in Bewegung – das zeigt sich heute überall auf der Erde in Form von Vulkanausbrüchen, Erdbeben und Tsunamis. Die Kataklysmen – die alles zerstörende Katastrophen, denen die Erde ausgesetzt war und ist – ließen so eine vielgestaltige Welt mit unterschiedlichsten Landschaftsformen und Lebensräumen entstehen.

Ozeanien

Ozeanien befindet sich Mitten im Pazifik. Seine Geschichte ist zugleich die der gesamten Erde. Dieser zwischen extremer polarer Kälte und drückender Wüstenhitze gelegene Kontinent ist außerordentlich stabil. Nur an seinen äußersten Rändern, an der Grenze zum Ozean, wird es manchmal gefährlich, denn hier gibt es tektonische Platten in einem labilen Gleichgewicht oder auch Vulkaninseln, die durch die ständige Bewegung der Kontinente explodieren und untergehen.

Ozeanien ist ein gigantisches Archipel aus rund 25.000 Inseln. Seine Geschichte beginnt kurz nach der Entstehung der Erde, die vor 4,6 Milliarden Jahren eine Kugel aus geschmolzener Materie war. Nichts hatte auf ihrer Oberfläche Bestand, nicht einmal Gestein, das sich ständig verflüssigte und wieder in den Schmelztiegel im Erdinneren zurück sank. Lange glaubte man, die ersten Erdkrusten hätte sich erst lange nach der Entstehung des Planeten gebildet, als er ausreichend abgekühlt war. Doch vor kurzem brachte eine Entdeckung in der Nähe von Pilbara im Westen Australiens die bisherigen Annahmen ins Wanken: Bei der Entstehung der ersten Felseninseln kristallisierten winzige Mineralien und bildeten Zirkone. Diese Kristalle durchlebten den heftigsten Vulkanismus der Erdgeschichte – und blieben dennoch erhalten. Und nicht nur das: der Kristall hat die Chronologie der Ereignisse in seiner Struktur gespeichert.

Zirkon braucht Granitgestein um sich zu entwickeln, was umgekehrt bedeutet, dass es Granit bereits vor 4,4 Milliarden Jahren gab. Früher glaubte man, dass es 150 Millionen Jahre nach der Entstehung des Sonnensystems keine kontinentale Erdkruste gab. Doch statt eines kochend heißen Ozeans aus Magma, über den es Meteoriten regnete, war die Erde zu dieser Zeit schon abgekühlt genug, um Kontinente, Ozeane und auch eine Art Atmosphäre zu besitzen, natürlich reich an Kohlendioxid. Lange wusste man darüber nichts, weil aus dieser Zeit keine Kristalle erhalten blieben – bis man eben den Zirkon in Westaustralien entdeckte.

In den zwei Milliarden Jahren nach der Geburt der Erde verschmolzen die Inseln der Erdkruste und bildete erste kontinentale Landmassen, die man als Kratone bezeichnet. Der Pilbara-Kraton in Westaustralien ist Teil des Australischen Schilds: es handelt sich dabei um eine der stabilsten und ältesten Regionen der Erde. Sie kann erklären, wie sich unser Planet von einem unwirtlichen Ort, an dem das Leben nur sehr schwer Fuß fassen konnte, in unsere heutige Welt mit ihrem blauen Himmel, ihrer sauerstoffreichen Atmosphäre, verwandelte, in der eine Fülle komplexer Lebensformen bestehen kann. Dieser Übergang fand vor etwa 2,5 Milliarden Jahren statt – und das Gestein aus dieser Zeit liegt eben im Pilbara-Kraton.

Im Pilbara-Kraton fand man Felsformationen, die das Leben auf der Erde komplett verändert haben – ihnen verdanken wir im Grunde unsere eigene Existenz: Stromatolithe, Strukturen im Fels, die von Kolonien lebender Mikroorganismen zeugen, die diese Strukturen gebildet haben. Vor 3,4 Milliarden Jahren wimmelte es hier nur so von Leben – allerdings ist die Erde heute nicht mit damals vergleichbar: Als die Mikroorganismen die Stromatolithe gebildet haben, gab es nur sehr wenig Festland, das größtenteils vulkanisch war. Der Mond, der gleich alt ist wie die Erde, stand noch sehr viel näher und löste gewaltige Fluten aus. Die Ozeane enthielten sehr viel Eisen und waren grün gefärbt. Der orangefarbene Himmel war Reich an Methan, Ammoniak und Kohlendioxid. Menschen hätten hier noch nicht überlebt – aber das änderte sich innerhalb von einer Jahrmilliarde, als die Stromatolithe die Welt eroberten.

Die Stromatolithe veränderten nicht nur die Atmosphäre, sie hinterließen ihre Spuren auch im Gestein des Pilbara-Kratons, wo man den Übergang von Urerde zur modernen Erde vor 2,5 Milliarden Jahren sehen kann. Zu dieser Zeit verwandelte sich die frühe schweflige und gasförmige Erde für immer in eine weniger feindliche Erde. Man könnte meinen, dass der von den Stromatolithen freigesetzte Sauerstoff dafür verantwortlich war, aber genau das Gegenteil war der Fall: Das Leben wurde komplexer und begann Sauerstoff abzugeben, aber für die meisten frühen Lebensformen war Sauerstoff schädlich. Das Leben passte sich der neuen chemischen Realität, dem ursprünglichen Schadstoff Sauerstoff, aber an – und so entwickelten sich überhaupt erst komplexere Lebensformen.

Die Mikroorganismen, die die Stromatolithen gebildet hatten, färbten die Ozeane von grün nach rot, der von ihnen freigesetzte Sauerstoff ließ das Eisen in den Meeren schlichtweg rosten. Eisenoxidteilchen setzten sich am Meeresgrund ab und bildeten Schichten von mehreren Kilometern Dicke. Dann hoben gigantische tektonische Kräfte sie aus dem Wasser empor. So entstanden Berge mit einem hohen Eisenanteil, der sich in Schichten abgelagerte. Man bezeichnet solche Schichtung im Gestein als Eisenbänderung. Neunzig Prozent des weltweit abgebauten Eisen liegt in solchen Schichtungen wie im Pilbara-Gestein vor. Im Hamersley-Gebirge gibt es deshalb einen riesigen Tagebau zur Gewinnung von Eisen. Jedes werden hier 100 Tonnen rotes Eisen gefördert, hauptsächlich für den Export.

Heute breiten sich keine Stromatolithe mehr aus, in Shark Bay an der australischen Süd-Westküste kann man aber ihre Nachfolger beobachten: Thrombolite, die von Kolonien von Mikroorganismen gebildet werden und kontinuierlich wachsen. Damals waren sie die einzige Lebensform und es gab sie in einer enormen Anzahl – entsprechend viel Sauerstoff setzten sie frei, indem sie die Wassermoleküle in ihrer Umgebung zersetzten, was nach und nach auch die Atmosphäre der Erde veränderte.

Zwei Milliarden Jahre vergingen, in denen sich weitere Landmassen Pilbara anschweißten und eine immer größere Urlandmasse bildeten, aus der sich schließlich vor 700 Millionen Jahren Uraustralien bildete. In dieser Zeit verbanden sich die aufgetauchten Landmassen des Erdballs miteinander zum Vorläufer des zukünftigen Gondwana. Uraustralien war mit dem Landstück verbunden, aus dem später die Antarktis werden sollte. Ihr Zusammentreffen fand vor der südaustralischen Küste statt, aber dieses Ereignis wirkte sich bis weit ins Landesinnere hinein aus: Im Süden Nordaustraliens erhob sich ein neues Gebirge: die Petermann Ranges, von dem heute nur noch der Uluru (Ayers Rock) übrig ist. Er war ursprünglich eine riesige Sanddüne. Mit der Zeit verfestigte sich Düne zu Sandstein, Tektonische Verschiebungen hoben ihn hoch und drehten ihn in alle Richtungen, bevor er langsam erodierte. Der größere Teil des Uluru jedoch ist ohnehin nicht sichtbar, sondern reicht sechs Kilometer tief in die Erde reicht.

Der Zusammenschluss aufgetauchter Landmassen sorgte für Kollisionen, die zu zahlreichen Kataklysmen führten und Südaustraliens Gestalt dauerhaft veränderten. Vor 550 Millionen entstanden so die Flinders Ranges, das größte Gebirge Südaustraliens, als zwei kontinentale Landmassen aufeinanderprallten, sich falteten, und sich der Meeresboden dadurch anhob. Mit der Zeit schliff die Erosion einige Gipfel ab und hob dafür andere heraus. Durch die Erosion kam eine bislang unentdeckte Ozeanplatte aus Sandsteinfragmenten mit bislang unentdeckter Meeresfauna zum Vorschein – es waren mit die ersten Meereslebewesen überhaupt. Alle waren noch ohne Wirbelsäure, es handelte sich fast ausnahmslos um Weichtiere.

Etwa 250 Millionen Jahre später wiederholte sich die Geschichte: eine neue Kollision – ein neues Gebirge, die Blue Mountains an der Ostküste Australiens, westlich von Sydney. Sie lagen ursprünglich unterhalb des Meeresspiegels. Dann wurde dieser angehoben und es entstanden zerklüftete Ebenen, steile Felswände und tiefe Täler. Ein Teil der Blue Mountains besteht aus Kalkstein, in dem sich zahlreiche Tropfsteinhöhlen gebildet haben: die Jenolen Caves. Sie gelten heute als die ältesten begehbaren Höhlen der Welt – man fand darin Sedimente, die mindestens 340 Millionen Jahre alt sind.

Die Kombination von Kalkstein und Wasser hat auf der ganzen Erde zahlreiche Naturwunder wie die Karstlandschaften auf dem Balkan erschaffen – oder eben Tropfsteinhöhlen wie hier. Solche Höhlen entstehen, weil das Wasser Kohlensäure enthält und den Kalk zunächst auflöst und das Gestein so langsam aushöhlt. Sickert Wasser in einen Hohlraum, kann es von oben nach unten abtropfen. Es kristallisiert dabei Kalziumcarbonat aus – und bildet Tropfsteine. Mineralien färben sie manchmal gelblich oder rötlich ein. Über Jahrtausende wachsen so stehende Stalagmiten und hängende Stalaktiten heran.

Das Gebirge der Blue Mountains beherbergt mehrere Känguru-Arten, darunter die Riesenkängurus, von denen es in Australien mehrere Millionen Exemplare gibt. Die Existenz der Riesenkängurus hängt eng mit einem tektonischen Phänomen zusammen, das sehr wichtig in der australischen Geschichte war: Man hat herausgefunden, dass die Jenolan Caves Beuteltier-Friedhöfe sind – die Höhlen haben sich für die Kängurus als tödliche Fallen herausgestellt. Die Vorfahren der Kängurus stammen aus Asien – sie wurden vor etwa 150 Millionen Jahren von leistungsfähigeren Säugetieren von dort vertrieben. Sie flüchteten zunächst nach Gondwana, wo sie von ihren Fressfeinden vertrieben wurden, und gelangten so schließlich in die äußerste Ecke der Landmasse auf den antarktisch-australischen Block – der sich dann von Gondwana abspaltete. Nachdem sich Australien vor etwas weniger als 50 Millionen Jahren von der Antarktis abgespaltet hatte, entwickelten sich die Tiere auf diesem Kontinent völlig isoliert vom Rest der Welt und wurden dadurch einzigartig.

Der Bruch mit der Antarktis hat die australische Südküste dauerhaft geprägt. Am äußersten Rand der Nullarbor-Ebene sieht man die größte Klippenkette der Erde. Nicht weit davon entfernt findet man Granitformationen – und ganz ähnliche Steine in der Antarktis zeigen das andere Ende des im Verlauf immer größer werdenden Risses zwischen den beiden ursprünglich vereinten Kontinenten. Die spektakulärsten Spuren hat dieser Bruch in Tasmanien hinterlassen, südöstlich von Australien. An der Küste östlich von Hobart, in Cape Pillar, teilten sich die beiden Kontinentalplatten mit einer Lavaexplosion, als sich eine Spalte im Boden auftat. Diese Lava drang in die tasmanische Sedimentplatte ein. Mit der Zeit wurden die Sedimente vom Meer fortgetragen, während die erkaltete Lava bis heute erhalten blieb. Die Magmasäulen von Cape Pillar setzen dem Bruch zwischen Australien und der Antarktis gewissermaßen ein ewiges Denkmal.

Die australische Platte bewegt sich seither mit sechs Zentimeter pro Jahr nordwärts. Doch bei dieser Trennung wurde im Osten eine weitere Landmasse von dieser Parzelle des einstigen Gondwana abgerissen – vor 83 Millionen Jahren entstand so Neuseeland. An der Westküste der neuseeländischen Südküste kann man in Punakaiki Felsformationen bestaunen, die an Pfannkuchenstabel erinnern.

Nach der Trennung von Neuseeland von Gondwana versank die Landmasse zunächst für 60 Millionen Jahre unter Wasser. Neuseeland ist unter Wasser mehr als halb so groß wie Australien – und das, was heute als Neuseeland herausragt ist entsprechend nur ein Bruchteil des Unterwasserkontinents Sealandia. Neuseeland wurde in den letzten 23 Millionen Jahren buchstäblich emporgeschoben, als die australische und die pazifische Platte aufeinander getroffen sind. Neuseeland liegt heute genau auf dem Rift, an dem die beiden Platten aufeinander treffen, was sich noch heute an der vulkanischen Tätigkeit im Land bemerkbar macht.

Sichtbarer Ausdruck des Kampfes der beiden Platten ist auch das Gebirge der Südalpen (Southern Alps) auf der neuseeländischen Südinsel – eines der jüngsten Gebirge weltweit. Die tektonischen Gegebenheiten haben zur Entstehung des Gebirges geführt, das sich wie ein Rückgrat über die Insel zieht. Die Südaplpen sind dabei geologisch ähnlich jung wie das Himalayagebirge – und auch sie entstanden in einer Grenzregion zweier Kontintalplatten. Den Namen „Südalpen“ haben sie von James Cook, der dort als erster die Berge kartierte. 23 ihrer Gipfel sind über 3.000 Meter hoch und wachsen unablässig weiter, darunter der mit 3.724 Metern höchste Berg Neuseelands: der Aoraki (Mount Cook), was soviel wie „Wolkenstecher“ bedeutet. Die andauernden tektonischen Verschiebungen lassen die Südalpen jährlich um etwa einen Zentimeter wachsen – Erosion trägt das Gebirge aber ebenso schnell wieder ab.

Die Südalpen bestehen aus dem weichsten, westlichsten Teil der pazifischen Platte – die australische Platte ist um einiges fester. Die Verwerfungslinie – die sogenannte Alpine Verwerfung – verläuft genau entlang der Gebirgskette über die gesamte Südinsel. Hier kann es jederzeit zu Erdbeben kommen, und man misst auch jährlich 14.000 leichtere Beben. Allerdings verschieben sich die Platten hier gegeneinander – sie kollidieren hier nicht frontal: die pazifische bewegt sich nach Süden, die australische Platte nach Norden, zuletzt in aller Heftigkeit 1717. Und da sie sich etwa alle 250 Jahre heftig bewegen, müsste es bald wieder so weit sein.

Auf der neuseeländischen Nordinsel ist die Verwerfung nicht so deutlich sichtbar. Hier verschiebt sich die pazifische unter der Erde in die australische Platte, entsprechend befindet sich hier eine so genannte Subduktionszone. Auf dem Mount Tarawera ereignete sich 1886 der größte Vulkanausbruch in der Geschichte Neuseelands. Er hinterließ eine 17 Kilometer lange, schluchtenartige Narbe in der Landschaft. Unter der Oberfläche regt sich ständig vulkanische Aktivität: Geysire, heiße Quellen et cetera zeigen wie instabil Neuseeland ist, liegt es doch auch am Pazifischen Feuerring, wo 70 Prozent der vulkanischen Aktivität der Erde stattfindet.

Beim Pazifischen Feuerring handelt es sich um eine 40.000 Kilometer lange Vulkankette, die den Pazifik auf drei Seiten umrahmt. Er resultiert daraus, dass sich in den Randgebieten der pazifischen Platte Subduktionszonen mit starker seismischer Aktivität befinden: Die riesigen Erdplatten des Pazifik schieben sich unter die Kontinente und entfalten entlang dieser Kette ihre zerstörerischen Kräfte. Rund 90 Prozent aller Erdbeben weltweit haben ihren Ursprung in dieser Zone, in der auch zwei Drittel der insgesamt knapp 1.400 aktiven Vulkane zu finden sind (da ihr Ausbruch weniger als 10.000 Jahre zurückliegt).

Zum Pazifischen Feurring gehört auch das nordwestlich von Australien gelegene Vanuatu-Archipel, das aus über 80 Vulkaninseln besteht. Auch sie liegen genau auf der Nahtstelle, wo die australische und die pazifische Platte treffen. Hier aber schiebt sich die eigentlich dickere australische Platte unter die pazifische – das ist weltweit einzigartig. Dadurch entstanden vor 3 Millionen Jahre neue Vulkane wie der Yasur, einer der aktivsten Vulkane der Welt.

Der australische Kontinent ist derzeit sicher einer der stabilsten Kontinente überhaupt. In den kommenden 10 bis 20 Millionen Jahren muss man deshalb mit einer dramatischen Veränderung in der Geologie der Umgebung dieser Platte rechnen. Am nördlichen Rand der australischen Platte wird der bereits begonnene Kollisionsvorgang zwischen australischer Platte und asiatischem Kontinent weitergehen. Vermutlich hat sich bis dahin eine weitere Gebirgskette wie die des Himalaya gebildet, die sich von Bangladesch im Westen bis Südchina im Osten erstrecken würde.

Europa

Europa, wie wir es heute kennen, ist geologisch gesehen noch sehr jung: Erst vor 300 Millionen Jahren formte sich dieser Kontinent. Davor bewegten sich die Landmassen, aus denen Europa heute besteht, zusammen mit größeren Urkontinenten über den Globus. Noch weiter in der Zeit zurück, bildeten sich gerade die ersten Landmassen in der Erdkruste. Sie bewegten sich seit der ursprünglich Feuerball ausreichend erkaltet war. Nun konnten sie sich an der Erdoberfläche halten, ohne von der brodelnden Lava verschlungen zu werden und wieder ins flüssige Erdinnere abzutauchen.

Die Entstehung Europas verlief gewissermaßen von Norden nach Süden: Im heutigen Skandinavien befinden sich die ersten Regionen, die sich aus der erkalteten Erdkruste gebildet haben sollen. Die in dieser Landschaft angesiedelten Felsformationen entstanden jedenfalls aus Gestein, dass vor drei Milliarden Jahren in den Tiefen der Erde schmolz. Ein Indiz dafür ist das Vorkommen von Kimberlit, einem magmatischen Gestein aus besonderer Lava aus bis zu 150 Kilometer Tiefe. Eine solche Gesteinsformation aus Kimberlit findet man im schwedischen Kirkenes. Und hier hat man auch den ältesten Kristall des europäischen Kontinents entdeckt: einen 3,69 Milliarden Jahre alten Zirkon – mindestens so alt also ist Europa, und das Skandinavische Schild somit das erste Landstück des Kontinents.

Das Skandinaviasche Schild steht also gewissermaßen am Anfang, bald schon aber schweißten sich weitere Landstücke an den Schild an und bildeten gemeinsam den Urkontinent Baltica. Doch das war nicht der einzige Urkontinent: Im Westen trieb noch Laurentia, entstanden aus dem Kanadischen Schild und Grönland. Vor 420 Millionen Jahren schoben tektonische Kräfte die beiden Urkontinente aufeinander zu – es war die erste große Etappe auf der Entstehung von Europa. Hinweise auf diese Verbindung von Nordamerika und Nordeuropa zum Kontinent Laurasia findet man zum Beispiel in den Highlands im Nordwesten Schottlands: hier findet man 1,8 Milliarden Jahre alte Gneise, aber auch noch älteres Urgestein.

Ausgerechnet in den Highlands wurde klar, dass die höchsten Gipfel der Erde durch tektonische Verschiebungen der Platten entstanden sind: Denn normalerweise legen sich jüngere Gesteinsschichten über ältere, doch in den Highlands kann man etwas völlig anderes beobachten – in Loch Glencoul an der Moine-Verwerfung, die die damalige Grenze zwischen den beiden Urkontinenten markiert liegt nämlich 500 Millionen Jahre altes Gestein aus dem Kambrium unter etwa einer Milliarde Jahre altem Gestein, dem sogenannten „Moine“.

Als Laurasia entstand, bildeten die meisten Landmassen der Erde einen einzigen Kontinent namens Gondwana. Schon bald schoben tektonische Kräfte die beiden Urzeit-Giganten aufeinander zu, was zur Schließung eines Ozeans führte, der beide Kontinente voneinander trennte. So entstand der Superkontinent Pangea, der alle Landmassen damals umfasste. Auf der Insel Groix vor der bretonischen Küste gibt es Hinweise auf diese Kollision vor 300 Millionen Jahren: Das Felsgestein auf Groix, denn während sich die beiden Kontinente aufeinander zubewegten schoben sich Meeresplatten kilometerweit unter den Erdmantel, wobei sich die Mineralien in der Meeresplatte unter dem enorm hohen Druck und den Temperaturen verwandelten. Und diese Steine tauchten nun später wieder an der Erdoberfläche auf – eben auf Groix.

Beim Zusammenstoß von Gondwana und Laurasia entstand auch das sogenannte Herzynische Gebirge. Es ist etwa 800 Kilometer breit und mehrere tausend Kilometer lang. Es verläuft von Polen und die Mittelgebirge in Deutschland (die man in der Antike auch als Herkynischen Wald bezeichnet hat) über Portugal und Nordafrika, setzt sich dann in Nordamerika fort, wo man es als Apalachen bezeichnet. Über Jahrmillionen erhob sich die Herzynische Kette zu einem Gebirge, dass so hoch und breit war wie heute der Himalaya – das inzwischen aber erodiert ist.

Als Pangea vor 300 Millionen Jahren entstand, befand sich das, was einmal Europa werden sollte, in den Tropen. Mit der Entstehung der Vegetation wuchs und gedieh hier nun auch das Leben auf dem Festland, das zuvor auf Meere und Ozeane beschränkt war: Mit den ersten Pflanzen wanderten auch Bakterien an Land. Während sich aber die Pflanzen des Karbons mit rasanter Geschwindigkeit entwickelten, konnten die noch primitiven Bakterien nur mit Mühe die immer komplexer werden pflanzlichen Lebensformen abbauen. So bildeten sich in weiten Teilen Europas die Steinkohleflöze, die später zur Grundlage der Industrialisierung werden sollten.

Im Verlauf der Jahrmillionen wurde Pangea aufgrund der Erosionsprozesse zu einer öden Ebene und so flach, dass der Ozean Tethys, der Vorläufer des Pazifik, eine Bresche im Herzen Europas öffnete. Die Bewegung der Wellen ließ riesige Strände entstehen, die sich mit der Zeit in Sandstein verwandelten. Abdrücke von Lebewesen, die einst hier lebten, blieben so für immer erhalten – befinden sich jetzt aber mitunter in 2.400 Meter Höhe in den Alpen. Bei Emosson in der Schweiz blieben so Fußabdrücke von Dinosauriern erhalten, die sich vor 240 Millionen Jahren über einen solchen Sandstrand bewegten.

Dass diese Abdrücke bis heute erhalten blieben liegt daran, dass es, nachdem sie entstanden, zunächst trocken gewesen sein muss, damit sie aushärten und sich im Sand erhalten konnten. Anschließend legte sich eine neue Schicht aus Schlamm und Sand darüber, die die im Sand verhärteten Fußabdrücke versiegelte. Der Druck der Sedimente sorgte nun dafür, dass der Sand in Sandstein umgewandelt wurde. So entstand ein Abdruck im Sandstein, der über Jahrmillionen erhalten blieb. Durch tektonische Kräfte richtete sich dieser Sandstein dann in die Vertikale auf und blieb so bis heute erhalten.

Mit der Zeit griff der Ozean Tethys immer weiter auf das Festland über – und so gelangte er innerhalb von 50 Millionen Jahren bis nach Süddeutschland. Bayern wurde zu einem Archipel, dass von einem seichten Meer umgeben war. In Solnhofen beispielsweise zeugt das Gestein noch heute von einer Zeit, in der die Region von einer reichen Unterwasserfauna umgeben war: Damals war das Klima heiß und trocken, weshalb das Wasser der Tethys rasch verdunstete und in der Region um Solnhofen Sedimentschichten hinterließ, die so sauerstoffarm waren, dass die Unterwasserleben damals darin erstickten. In den tiefsten Becken hatte der Kalkschlamm genug Zeit, die Kadaver zu bedecken, die anschließend mineralisierten und so zu Fossilien werden konnten.

Vor 200 Millionen Jahren nahm das Schicksal des Planeten eine Wendung: tektonische Kräfte rissen Pangea endgültig auseinander – die Landmasse zerfiel in einzelne Kontinent. Nordamerika und Europa wurden nach Norden verschoben. So entstand ein Raum, der sich sofort mit einem Ozean füllte. Im Süden wurde das Gebiet der späteren Alpen zu einem Meeresgrund, der einmal bis zu 3.000 Meter unter der Meeresoberfläche der Tethys lag.

Vor etwa 80 Millionen Jahren dann kam es zu einer tektonischen Aufweitung der von der Tethys eröffneten Meeresbresche – und es entstand der Atlantik. Es kam zum Bruch zwischen Europa und Amerika. Die warmen Gewässer der Tethys wurden von den kalten Nordmeeren erobert. In dieser Zeit entstanden Cocolithen – einzellige Algen, die dann ganze Landschaften in Europa prägen sollten, denn der Cocolith, produziert Kreide, die der Erdzeit auch ihren Namen gab. In dieser Zeit entstand zum Beispiel das Pariser Becken.

Als Pangea aufbrach kam es zur Bildung einer ozeanischen Platte in der Mitte des Bruchs – es stieg also Material vom Erdmantel im Bereich des Mittelozeanischen Rückens auf, der dadurch anschwoll, wodurch auch der Meeresspiegel anstieg. Als der Meeresspiegel dann wieder absank, blieben bei Dover an der englischen Küste die Coccolith-Felsen von 100 Meter Höhe stehen.

Die Abspaltung von Nord-Amerika markiert eine der letzten Phasen der Entstehung von Europa: Der Riss, der zwischen Europa und Nord-Amerika entstand, und der sich mit dem Wasser des Atlantik füllte, reicht dabei bis in mehrere tausend Meter Tiefe – an der Oberfläche sichtbar ist er nur in Island, das der Riss zweiteilt: Island ist eine Vulkaninsel, die durch eine tiefe Verwerfung gespalten ist, die Europa und Amerika trennt. Noch immer entfernen sich die beiden Kontinente etwa zwei Zentimeter jährlich voneinander – und die die dabei klaffende Spalte schürt die vulkanische Aktivität auf Island, wo die Hitze, die aus dieser Erdspalte dringt, Geysire und heiße Quellen erzeugt.

Nach der Entstehung des Atlantik erhielt Europa seine heutige Form. Das letzte Stück, dass sich an den Kontinent anschweißte, löste sich vor etwa 100 Millionen Jahren von Afrika, prallte gegen Südeuropa und bildete Italien und Kroatien – und mit ihm die Adria. Bei diesem Ereignis hoben sich auch die Alpen, die bald das höchste Gebirge Europas werden sollte mit einer Höhe von bis zu 4.800 Meter. Das Matterhorn bei Zermatt in der Schweiz besteht tatsächlich aus afrikanischen Überresten, unweit davon aber findet man auch Berge aus Granit und Gneis, typischem Festlandgestein, sowie Gestein vom ehemaligen Meeresboden.

Sind die Ursprünge von Europa eher im Norden des Kontinents zu finden, spielt sich die jüngere Geschichte Europas dann vornehmlich im Süden ab, wo Afrika seine 65 Millionen Jahren begonnene Wanderung Richtung Norden fortsetzt. Damals rissen am Meeresgrund des heutigen Mittelmeeres tiefe Spalten auf und es entstanden Vulkane, die Erdbeben und Eruptionen verursachten. Außerdem hob diese tektonische Verschiebung Milliarden Tonnen von Gesteinsmaterial empor und schufen so die Alpen.

Die Vergangenheit dieses Gebirges ist in (Berg-)Kristallen festgehalten, die tief in Kristallklüften verborgen liegen, die sich bei der Hebung der Alpen bildeten. Die Kristalle entstanden bei Temperaturen um die 400 Grad Celsius und einem Druck von drei Kilobar, was dem 3.000fachen Atmosphärendruck entspricht. Ein solcher Druck aber existiert erst in einer Tiefe von etwa zwölf Kilometer unter der Erde. Heute sichtbar ist der Kristall, weil sich der Granit bis in mehrere tausend Meter Höhe gehoben wurde und die darüber liegenden Schichten erodiert sind.

Als Afrika in Bewegung geriet, erlebten Korsika und Sardinien eine abenteuerliche Geschichte, denn bis vor etwa 30 Millionen Jahren waren die beiden Mittelmeerinseln noch mit Frankreich verbunden: Die Provence, Korsika und Sardinien bilden ursprünglich eine Landmasse. Das lässt sich daran erkennen, dass die Felsformationen des französischen Esterel-Gebirges an der Mittelmeerküste in Südfrankreich denen in Korsika und Sardinien zum verwechseln ähnlich sind. Es handelt sich dabei um Felsen, die zwischen 300 und 400 Millionen Jahre alt sind – es gibt auf Sardinien aber auch jüngeres Gestein, das erst 30 Millionen Jahre alt ist. Bei den Klippen auf den Inseln handelt es sich um solches jüngeres Lavagestein aus dem Erdinneren, das in Kontakt mit Luft und Wasser erstarrt ist. Anhand der in den Vulkanfelsen enthalten Eisenoxidkristalle, dem so genannten Magnetit, kann man nun den Weg rekonstruieren, den die beiden Inseln Sardinien und Korsika damals genommen haben, denn dieses Magnetit hat die Eigenschaft, beim Erkalten des Vulkangesteins die Ausrichtung des Erdmagnetfelds zu speichern. So weiß man, dass sich die Inseln, nachdem sie sich von der Provence abspalteten, sich um 45 Grad drehten und so eine Bresche im Westteil des Mittelmeerraums entstehen ließen.

Ein weiteres Rätsel im Mittelmeer sind im Süden Siziliens in den 1960er Jahren entdeckte, über einen Kilometer dicke Salzablagerungen – die Hügel von Realmonte. Diese Hügel bedeckten einmal den kompletten Boden des Mittelmeeres. Die Kollision von Afrika und Europa und die damit verbundene Anhebung des Meeresbodens veränderte aber auch den Wasseraustausch zwischen Atlantik und Mittelmeer – und durch die so genannte „Messinianische Krise“ vor 6 Millionen Jahren gelangte dann kein Wasser mehr vom Atlantik ins Mittelmeer. Weil das Mittelmeer nicht mehr mit Wasser gespeist wurde, begann es langsam zu verdunsten und wurde irgendwann zu einem „Toten Meer“ mit Salzablagerungen von bis zu 1.500 Metern Dicke. Durch die Kollision der beiden Kontinente wurden diese Salzablagerungen nach oben gedrückt und sind nun in Realmonte sichtbar.

Über das trocken gelegte Mittelmeer konnten in dieser Zeit alle Organismen von Afrika nach Europa gelangen. Dann jedoch riss vor etwa 5,3 Millionen Jahren bei einer weiteren tektonischen Katastrophe die Passage zwischen Atlantik und Mittelmeer wieder auf – und ließ über Gibraltar Wasser über gewaltige Kaskaden hereinströmen, die das gesamte Mittelmeerbecken innerhalb von kürzester Zeit füllten (zwischen 11 und 500 Jahren, die Meinungen gehen hier auseinander). Außerdem wurde das Mittelmeer von den Tierarten des Atlantiks wieder besiedelt, so dass es wieder lebendig wurde. Gleichwohl sorgt die Wanderungsbewegung der afrikanischen Platte dafür, dass der Boden unter dem Mittelmeer kontinuierlich ansteigt und das Mittelmeer so eines Tages verschwinden wird.

In Postojna, im Südwesten Sloweniens, kam zu dem Druck durch die langsame Aufwärtswanderung Afrikas die Erosion hinzu: Das Wort „Karst“, das aus dem Slowenischen stammt, bezeichnet Kalkformationen, die durch das Wasser abgetragen und neu geformt werden. Überall auf dem Balkan ließ die Fließbewegung des Wassers eine zerklüftete Karstlandschaft entstehen: Im Laufe der Jahrtausende hat sich Wasser immer tiefer in die Kalkfelsen hineingefressen und sich in unterirdischen Flüssen gesammelt. Die Kohlensäure im Wasser hat dabei den Kalk aufgelöst und Calciumcarbonat auskristallisiert. Tropft dieses Wasser in unterirdische Grotten und Hohlräume, bilden sich manchmal Tropfsteinhöhlen mit ihren charakteristischen Stalagmiten und hängenden Stalaktiten, ansonsten aber lagert sich der im Wasser gebundene Kalk auch an anderer Stelle wieder ab, wenn die unterirdischen Flüsse auf Lagen von härterem Gestein wieder an die Oberfläche treten. Das Gestein dieser Ablagerungen nennt man Kalktuff oder auch Travertin. Für seine Bildung sind relativ hohe Temperaturen nötig, die aber beispielsweise in Kroatien auch vorherrschen.

Der Kalk in den slowenischen Höhlen entstand über Jahrmillionen durch Ablagerungen von Muschelschalen und Skeletten von Mikroorganismen am Meeresgrund, danach setzte die Plattentektonik ein. Gegen Ende des Eozäns, vor etwa 30 Millionen Jahren, hob sich dieses gesamte Gebiet durch die Bewegung der afrikanischen Platte nach Norden, vom Boden des Urmeers nach oben und der Kalkstein wurde durch den Regen freigesetzt. Zu dieser Zeit begann die Karsterosion, das heißt die langsame Auflösung des Kalkgesteins, an deren Ende die heutigen Landschaften entstanden – wie die 20 Kilometer lange Höhle von Postojna. Insgesamt sind es etwa ein Fünftel aller Gesteinsformationen der Erde, die so geformt wurden.

In den südfranzösischen Pyrenäen befindet sich die Höhle von Gargas – in denen auch Spuren des Menschen zu finden sind (Handabdrücke). Die Erde befand sich damals auf der Höhe einer Eiszeit, die schon seit 100.000 Jahren andauerte, und die Natur bot damals wohl ein ähnliches Bild wie heute Nordeuropa. Die Inselgruppe Spitzbergen zum Beispiel scheint in der Epoche der Eiszeiten stehen geblieben zu sein: In Spitzbergen sind etwa 60 Prozent der Oberfläche von Gletschern bedeckt, die sich zur Küste und zum Schelf hin bewegen und dabei ein Relief aus Bergen, Fjorden und Tälern geformt haben. Im Laufe der Zeit hinterließen sie Sedimente auf Spitzbergen. Bis vor 12.000 Jahren bedeckten solche Gletscher einen Großteil Europas: Es wurden Moränen bis weit nach Deutschland und Frankreich hinein gefunden – und die Landschaft sah ähnlich aus wie heute in Spitzbergen.

Die aktivste Tektonik findet heutzutage aber rund um das Mittelmeer statt: Bei ihrer Bewegung Richtung Europa riss die afrikanische Platte Verwerfungen auf und ließ viele Vulkane entstehen – wie zum Beispiel den Ätna auf Sizilien, der sich genau auf der Grenze zwischen afrikanischer und eurasischer Platte befindet. Die verblüffende Vielfalt der Ausbrüche des Ätna – von kleineren Lavaflüssen über Lavafontänen bis hin zu pyroklastischen Strömen – hängt damit zusammen, dass sich die Gänge in seinem Inneren ständig verändern und ihn unberechenbar machen. Es gibt vier Eruptionsspalten und über 300 kleine Löcher oder Schlote an seinen Hängen.

Als Afrika auf Europa prallte, riss der Meeresboden über die gesamte Länge auf und zerriss ihn in Mikroplatten, die sich in- und übereinander schoben. Magma stieg aus den Rissen auf und wo sich Platten übereinander lagerten kam es zu Eruptionen, wodurch Lava bis an die Oberfläche gelangen konnte. Aber bei nach wie vor verändert sich der Ätna durch die Tektonik ständig.

Im östlichen Mittelmeer ist das Netz der Verwerfungslinien sogar noch komplizierten. Die Reibungen, Stöße und Kollisionen zwischen den Landmassen können jederzeit zu Erdbeben führen. Eine dieser Verwerfungen teilte Griechenland in zwei Teile: der Raum zwischen Peloponnes und Festland wurde vom Meer aufgefüllt und heißt heute: Golf von Korinth. Nach wie vor bewegt sich der Peloponnes mit einer Geschwindigkeit von 1,5 Zentimeter pro Jahr vom Festland weg – was am Meeresboden dazwischen zu vielen kleinen Mikrobeben führt. Aber auch größere Beben können vorkommen: Die Hälfte aller Erdbeben in Europa ereignet sich in Griechenland – der Westteil des Golfs von Korinth ist dabei besonders gefährdet.

Weiter östlich verläuft die Nordanatolische Verwerfung in weniger als zwanzig Kilometer Entfernung von Istanbul und zieht sich bis ins Marmarameer. Sie ist eine der gefährlichsten Verwerfungen der Erde und es steht zu befürchten, dass diese tektonische Verwerfung in den nächsten Jahren – das hat auch das aktuelle verheerende Beben im Süden des Landes noch einmal deutlich gemacht – für das Schicksal der Stadt entscheidend sein könnte. Im 20. Jahrhundert kam es entlang dieser Verwerfung immer wieder zu Erschütterungen, die sich langsam auf Istanbul zubewegten. Zuletzt kam es 1999 zu einem schweren Beben in einem Vorort von Istanbul, das bisher nur 1509 und 1766 von einem Beben selbst betroffen war. Der Wiederholungszeitraum für Erdbeben liegt bei 250 Jahren – es könnte also, so befürchtet man, bald soweit sein.

Nordamerika

Man kann das Alter von Granit anhand des in ihm enthaltenen Minerals Zirkon feststellen, denn Zirkon enthält winzige Mengen Uran, dass sich im Lauf der Zeit in Blei verwandelt. Anhand des Uran- und Blei-Anteils kann man dann das Alter des Gesteins bestimmen. So hat man festgestellt, dass die Provinz Quebec in Kanada zu 90 Prozent mit einem so genannten Kraton bedeckt ist – einem Stück Erdkruste, das sich seit 2,7 Milliarden nicht verändert hat. Es gibt hier im Norden von Quebec sogar ein Gebiet innerhalb des Kratons, das 4,3 Milliarden Jahre alt ist. Allerdings gibt es nicht mehr sehr viele Gebiete, wo es so altes Gestein gibt – die meisten Steine sind jüngeren Datums, insbesondere auch jenes an der Erdoberfläche.

Das Gestein des Kratons ist das älteste Gestein des nordamerikanischen Kontinents. Später bewegten sich die verschiedenen Landmassen der Erdkruste und fügten sich neu aneinander. Wenn sie gegeneinander stießen, ließen sie Berge entstehen, und wenn sie auseinander rissen Meere und Ozeane. Vor 500 Millionen Jahren schließlich näherten sich die Kontinentalmassen der Nordhalbkugel einander an. Nach und nach trieben sie auf Afrika zu und fast 100 Millionen Jahre später bildete sich der Superkontinent Pangea. Heute zeugen davon Landschaften im Südwesten Kanadas, in der Provinz Nova Scotia, unweit der Apalachen. Die 3.000 Kilometer lange Bergkette entstand beim Zusammenstoß der beiden Kontinentalplatten von Afrika und Amerika vor 270 Millionen Jahren. Die Kraft war damals so groß, dass die Felsformationen zu einer zackigen, zerklüfteten Landschaft verformt wurden, wie man sie heute in Nova Scotia antrifft.

Bereits 50 Millionen Jahre nach dem Zusammenstoß lösten sich die beiden Platten wieder voneinander – und so entstand vor etwa 200 Millionen Jahren der atlantische Ozean. Seine Entstehung bedeutete das Ende von Pangea. Wo die Erde aufriss stiegen riesige Mengen Magma aus der Tiefe des Erdmantels auf. Über 600.000 Jahre lang kam es zu einer Abfolge heftiger Vulkanausbrüche. Auf Pangea gab es eine ungeheure Artenvielfalt, doch die durch die Eruptionen vor 200 Millionen Jahren austretenden Gase führte zu einer Klimaveränderung, in deren Verlauf zahlreiche Arten ausgestorben – aber auch neue wie die Dinosaurier entstanden – sind. Etwa die Hälfte aller Arten verschwand von der Erde und die Dinosaurier traten nun, in der Kreidezeit, die Herrschaft über den Planeten an (in Drumheller in Alberta findet man das größte Dinosauriermuseum der Welt).

Vor 180 Millionen Jahren lebten zahlreiche Dinosaurier in den später so genannten nordamerikanischen Bad Lands. Dieses Tal, das fast an eine Mondlandschaft erinnert, schlägt eine lange Scharte durch Kanadas Westen – eine riesige Senke, die vor 100 Millionen Jahren entstand, nachdem sich an der Westküste des nordamerikanischen Kontinents vor 180 Millionen Jahren (am Ende des Juras) eine Subduktionszone bildete. Da sich Stücke der Erdkruste hoben und sich auf den nordamerikanischen Kontinent stützten, begann sich der Kontinent abzusenken und bildete eine große Vertiefung inmitten des nordamerikanischen Kontinents. In den nachfolgenden Jahrmillionen sorgten Schwankungen des Meeresspiegels dafür, dass das Meer bis in die Mitte Nordamerikas gelangte und sich ein großes Binnenmeer bildete, das den Arktischen Ozean mit dem Golf von Mexiko verband. Diese Schwankungen sorgten dafür, dass sich die großen Küstenebenen dies- und jenseits des Binnenmeeres entwickelten, die dann von Dinosauriern bewohnt waren. Deshalb findet man hier heute so viele unter Sedimentschichten perfekt erhaltene Skelette von ihnen.

Im Zentrum Nordamerikas entstanden so auch die Great Plains („Große Ebenen“), während vor etwa 60 Millionen Jahren im Westen kleinere Fragmente der Erdkruste auf den Kontinent stoßen, die sich nach und nach an die nordamerikanische Platte anschweißten, wodurch die Platte gewachsen ist. So entstanden die vier westlichsten Staaten des Kontinents: Nevada, Oregon, Kalifornien und Washington – und geben Amerika seither seinen endgültigen Umriss.

Auch der Yosemite-Park entstand auf diese Weise: Der Aufeinanderprall führte zu Bildung einer so genannten Subduktionszone, wo sich eine Platte unter die andere schiebt, und zur Auffaltungen des Gesteins, sowie zu heftigen Vulkanausbrüchen: bei einer normalen Subduktionszone, wo sich eine Platte in einem 45-Grad-Winkel absenkt, kommt es beim Schmelzen der Platte in etwa 100 Kilometern Tiefe zu chemischen Reaktionen, die Magma erzeugen. Dieses weniger dichte Magma stieg aus der Tiefe auf und es kommt zu Vulkanausbrüchen. Ein Teil des Magmas verblieb aber auch im Erdinneren und es formte sich beim Erkalten Granit. Nachdem die Erosion die oberste Kruste der Erde abgetragen hatte, kann man dieses Granit im Yosemite-Park in Form gigantischer Granitkugeln sehen, das heißt eines der deutlichsten Zeichen für die vulkanischen Kristallisationsprozesse bei der Entstehung des Granits sind die sogenannten Dykes: linienartige Steinwülste, die entstanden, weil sich bei der Abkühlung und anschließenden Kristallisation des Magmas Risse bildeten, durch die dann das verbliebene flüssige Gestein gesaugt wurde.

Früher befand sich des Yosemite-Park, wie der gesamte amerikanische Westen, noch vor der Küste – mitten im pazifischen Ozean. Dann aber stoßen die Fragmente der Erdkruste auf den Kontinent. Dadurch bildete sich vor etwa 90 Millionen Jahren die höchste Bergkette Kaliforniens: die Sierra Nevada, die sich von Norden nach Süden über eine Länge von 700 Kilometer erstreckt. Ein Teil davon, der berühmte Steilfelsen El Capitan, ein Granit-Monolith mit über 1.000 Meter Höhe, befindet sich im Yosemite-Park, der sich ansonsten auch durch den Mariposa-Grove auszeichnet, ein Waldstück mit den ältesten und größten Bäumen dieser Erde: über 2.700 Jahre alten Giant-Sequoia, Riesenmammutbäumen.

Heute ragt der höchste Gipfel der Sierra Nevada über 4.400 Meter auf, aber das ist nichts im Vergleich zu jenem Gebirge, dass sich hier einst erhob. Denn über Jahrmillionen haben Wasser, Wind und Eis das Gestein abgebaut. Das kann man heute an den vielen abgerundeten Kuppen der Berge in der Sierra Nevada erkennen. Auch der Glacier-Point – ein Aussichtspunkt mit einem überhängenden Felsen – heißt so, weil hier vor 250.000 Jahren eine gigantische Eismoräne durchgezogen ist, die mit ihrer Kraft das Tal und die benachbarten Berge zurecht geschliffen hat. So verdankt auch der Half-Dome, mit fast 3.000 Meter der höchste Berg Yosemites, seine heutige Form dem Gletscher. Ursprünglich ist das Massiv – durch hohen Druck in intensive Hitze unter der Erde geformt – über 85 Millionen Jahre alt.

Wasser ist auch heute noch prägend im Yosemite-Park, insbesondere dann, wenn im Frühjahr der Schnee in der Sierra Nevada geschmolzen ist und Bäche und Flüsse das Eiswasser in unzähligen Kaskaden und Wasserfällen zu Tal stürzen lassen – wie zum Beispiel beim Yosemite-Fall, der mit über 800 Meter der höchste Wasserfall ist. Er ist in den Frühjahrsmonaten so mächtig, dass selbst, wenn er in den gegenüberliegenden Talwänden bereits verhallt, die riesige Wasserfontäne immer noch als silberner Streifen auszumachen ist. Es sind aber vier große Wasserfälle, die den Park berühmt gemacht haben: der Vernel Fall, der Nevada Fall und der Bridalveil Fall.

Während der Kontinent im Westen also um Nevada, Oregon, Washington und Kalifornien mit den Sierra Nevada ngewachsen ist, fand etwas weiter östlich ein weiteres Phänomen statt: noch eine weitere Gebirgskette erhob sich aus dem Boden: die Rocky Mountains. Dieses Gebirge erstreckt sich über 4.800 Kilometer von Nord-Mexiko bis nach British Columbia im Norden. Die Rocky Mountains entstanden zur gleichen Zeit wie die Sierra Nevada, befinden sich aber fast 1.000 Kilometer weit im Binnenland und entstand nicht am Rand von kollidierenden Erdplatten. Man vermutet, dass das Gebirge durch eine geologische Anomalie entstand, als vor 80 Millionen Jahren die Subduktionszone nicht wie gewöhnlich in einem 45-Grad-Winkel unter den amerikanischen Kontinent verlief, sondern sich die Platte viel dichter unter der Oberfläche entlang schob. Dadurch kam der Fels nicht tief genug, um in der Hitze zu schmelzen. Die Platte setzte also ihren Weg weiter fort und schob unterwegs die Erdkruste zusammen, so dass weit im Landesinneren die Rocky Mountains entstanden. Dieser Ablauf aber ist bis heute nicht bis ins letzte Detail geklärt.

Die Rocky Mountains durchziehen den gesamten Westen Nordamerikas – von Arizona im Süden bis Kanada im Norden – auf etwa 5.000 Kilometer Länge und bis zu 500 Kilometer Breite. Dabei bilden diese Berge die größte Wasserscheide des Kontinents und warten mit über vierzig Bergen über 4.000 Meter auf. Die rund 100 Bergketten der Rocky Mountains entstanden über mehrere Phasen der Erdgeschichte, verteilt über 170 Millionen Jahre. Größtenteils aber wurden sie vor 30 bis 70 Millionen Jahren aufgefaltet, als tektonische Kräfte eine große ozeanische Platte von Westen her unter den Kontinent schoben.

Vor allem in Kanada bilden sie eine beeindruckende Berglandschaft mit zahlreichen Gletschern und 3.000ern. Die Landschaft dort ist insbesondere während der Eiszeiten entstanden und wurde von zahlreichen Gletschern geformt, indem ihre Zungen breiten Täler ausformten, in denen heute zahlreiche Seen liegen. (Der höchste Berg des nordamerikanischen Kontinents liegt aber nicht in den Rocky Mountains, sondern in Alaska: der 6.190 Meter hohe Denali in der Nähe des Polarkreises. Kein anderer Gipfel dieser Erde ragt so hoch über die anderen Gipfel seiner Umgebung heraus wie „Der Hohe“, wie der Denali in der Sprache der indianischen Ureinwohner heißt.)

Eine Region, die an die Rocky Mountains angrenzt, war ebenfalls über Jahrtausende den Umwälzungen der Erde durch die tektonischen Verschiebungen ausgesetzt: der Yellowstone-Nationalpark im Staat Wyoming. Er umfasst eine Fläche von fast 9.000 Quadratkilometern und besitzt mit dem Yellowstone Lake den größten Bergsee Nordamerikas. Vor tausenden von Jahren überschwemmte dieser See nahezu das gesamte geographische Herz des Parks und hinterließ nach dem Rückzug des Wassers ein weites, offenes Tal: das Hayden Valley.

Unter ihm befindet sich ein sogenannter Supervulkan mit gewaltigen Kräften, dessen Ursprung lange unklar war. Inzwischen weiß man, dass der Yellowstone-Park auf einem sogenannten Hot-Spot liegt – einem Gebiet, unter dem ein besonders hohe Temperatur herrscht. Gewaltige Mengen Magma steigen hier aus der Tiefe auf sammeln sich in einer Kammer mehrere hundert Kilometer unter der Erde. Wird das Magma ausgestoßen, durchbricht es die Erdkruste und es entsteht ein Vulkan. Doch während sich die tektonische Platte darüber langsam weiter driftet, bewegt sich der Hot-Spot selbst nicht. Er hinterlässt also in regelmäßigen Abständen seine Spuren an der Erdoberfläche. In den letzten zwei Jahrmillionen war das Gebiet Schauplatz dreier großer Vulkanausbrüche, der letzte fand vor 642.000 Jahren statt. Tausende Tonnen geschmolzenes Gestein wurden damals herausgeschleudert und es bildete sich eine Caldera mit einem riesigen Becken von 72 Kilometer Länge und 52 Kilometer Breite.

Noch immer ist der Supervulkan aber nicht erloschen – Geysire wie der legendäre Old Faithful, Fumerole und andere heißen Quellen prägen die Landschaft im Yellowstone und weisen auf die vulkanische Aktivität hin, die hier unter der Oberfläche herrscht (62 Prozent aller weltweit existierenden heißen Quellen liegen im Yellowstone-Nationalpark). Nichts zuletzt sie haben dazu geführt, dass er im Jahr 1872 zum ersten Nationalpark der Welt erklärt wurde – und sie und der mit ihnen verbundene Schwefel haben ihm auch zu seinem Namen verholfen, „gelber Stein“. Dabei ist der Grand Prismatic Spring mit einem Durchmesser von 90 Meter die größte Thermalquelle Nordamerikas. Der leuchtende Ring um den Pool, der der Quelle ihren Namen gibt, wird dabei von Bakterien und Algen produziert, die je nach Temperatur ihre Farbe wechseln.

Unter dem Grand Prismatic Spring jedoch brodeln gigantische Magmafelder – der Supervulkan unter dem Yellowstone-Park ist der potentiell gefährlichste Vulkan der Welt. Seit 1973 gab es hier etwa 46.000 leichtere Beben, 3.000 jedes Jahr. Der Hot-Spot zeigte sich dabei vor 17 oder 16 Millionen Jahren erstmals an der Oberfläche im Gebiet von Nevada und Oregon. Damit lässt sich nachverfolgen, wie sich die nordamerikanische Platte über den Hot-Spot verschob. Der Westen der USA dehnt sich immer weiter aus, weshalb sich auch die Erdkruste über dem Hot-Spot ausdünnte und das Magma an dieser Stelle bis an die Erdoberfläche vordringen konnte.

Neben dem Hot-Spot unter dem Yellowstone-Park existiert ein weiteres einflussreiches Phänomen im Westen des nordamerikanischen Kontinents: die San-Andreas-Verwerfung. Sie erstreckt sich über 1.300 Kilometer Länge durch Kalifornien. An dieser Stelle schiebt sich die pazifische Platte weiter nach Nord-Westen, während die nordamerikanische Platte sich in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Die Folge: die beiden Stücke der Erdkruste bewegen sich gegeneinander und lassen in regelmäßigen Abständen die Erde beben.

Kalifornien spaltet sich unaufhörlich vom amerikanischen Kontinent ab, mit einer Geschwindigkeit von fünf Zentimeter pro Jahr. In einer Million Jahren wird es eine Insel sein. Die San-Andreas Verwerfung ist vor rund 25 Millionen Jahren entstanden. Vor dieser Zeit war Kalifornien eine Subduktionszone, jetzt aber verschieben sich die Platten horizontal. Dadurch ist ein kompliziertes Netzwerk aus Rissen beziehungsweise Sekundärverwerfungen in der Region entstanden, die sich miteinander verbinden. Eine davon ist die Hayward-Verwerfung, die sich nach Osten erstreckt und die die Seismologen besonders besorgt. (Hier fand das Erdbeben von 1868 mit einer Stärke von 7 auf der Richterskala statt. Ein größeres gab es 1906 mit 8,2. Das letzte Erdbeben ereignete sich 1989.) Ein neues riesiges Beben ist also nur eine Frage der Zeit – und die gewaltigen Kräfte der Plattentektonik werden nicht aufhören, die Gestalt Nordamerikas weiter zu verändern.

Zentralamerika

Auch die Landschaft Mittelamerikas und der Karibik ist das Ergebnis einer bewegten geologischen Geschichte. Mit seiner Lage wischen Bergen und Meer zeigt Mittelamerika eine ungewöhnliche landschaftliche Vielfalt. Die Karibik im Osten, mit ihren zahlreichen Inselgruppen, grenzt direkt an den Atlantik an. Im Westen erstreckt sich ein schmaler Landstreifen von Mexiko bis nach Nordkolumbien und grenzt an den Pazifik an. Zwischen Nord- und Südamerika eingekeilt, ist diese Region seit jeher gewaltigen tektonischen Kräften ausgesetzt – bis heute lebt das tropische Paradies mit der ständigen Bedrohung von Erdbeben oder Vulkanausbrüchen.

Die Geschichte dieser Region ist einzigartig in der Erdgeschichte: Während die meisten Kontinente Jahrmilliarden Jahre alt sind, ist Mittelamerika deutlich jünger. Erst vor 150 Millionen Jahren entstand es aus den Tiefen des Meeres. In der Sierra Madre im Westen Mexikos – einer Gebirgskette, die das Land über eine Länge von 1.000 Kilometer durchquert – findet man Gipfel aus der frühen Entstehungsgeschichte Mexikos.

Vor rund 200 Millionen Jahren begannen das spätere Nord- und Südamerika nach Westen abzudriften. Sie stießen dabei gegen eine Ozeanplatte – die Vorstufe des pazifischen Ozeans. Diese sogenannte Farallon-Platte begann sich damals, bis vor etwa 20 Millionen Jahren unter den Erdmantel beziehungsweise die nord- und südamerikanische Platte zu schieben. Diese Subduktion löst magmatische und plutonistische Phänomene aus. Damit ist gemeint, dass magmatisches Gestein in die Tiefe dringt und es zu Vulkanismus kommt, also magmatisches Gestein an die Oberfläche kommt. So geschah es an der westlichen Sierra Madre, wo man noch letzte Überreste der Farallon-Platte finden kann, obwohl ein Großteil von ihr bei der Subduktion verschwunden ist. Und zwar in Form von Kupfer, das direkt von dieser Platte stammt: als sie sich unter die nordamerikanische Platte schob, wurde das wertvolle Mineral durch Wasser und Magma fortgespült und drang in die feinen Risse der kontinentalen Kruste ein. Das Kupfer-Vorkommen in Mexiko ist also eine direkte Folge der einstigen Kollision.

Bei ihrem Verschwinden setzte die Farallon-Platte die Entstehung Mittelamerikas in Gang. Außerdem überließ sie einer Ozeanplatte das Feld, die sich direkt hinter ihr befand: der Pazifikplatte. Vor 150 Millionen, Ende des Jura, kam es in diesem Ozean zu einem großen Ereignis, als die karibische Platte entstand. Spuren davon findet man bis heute auf der kleinen Antilleninsel La Désirade, wo sich die karibischen Wellen an einer stark zerklüfteten Küste brechen.

Überall auf den Antillen sind die Strände mit Basalt und vulkanischem Tuffstein übersät, wie es ihn heute nicht mehr gibt: Kissenlava, die in mehreren Tausend Meter Meerestiefe unter dem Druck von kaltem Wasser entstand. Sie sind das Ergebnis heftigen Vulkanismus über einem sogenannten Hot-Spot am Meeresgrund und bildeten sich, als bis zu 1.200 Grad heißes Magma aus dem Erdinneren hier austrat. Sie sind der Beweise dafür, dass die karibische Platte als Ergebnis tektonischer Bewegungen einst am Meeresgrund entstand – und zwar Mitten im pazifischen Ozean.

Später setzten die beiden amerikanischen Platten ihre langsame Drift nach Westen fort und die karibische Platte schob sich nach und nach zwischen die beiden. Vor etwa 100 Millionen Jahren erreichte die Karibikplatte so ihre heutige Position in den Tropen, an der Grenze zwischen atlantischer- und pazifischer Platte.

Doch auf ihrer Ostseite lief das Zusammentreffen mit dem Atlantik nicht ohne Zusammenstöße ab: Die beiden Ozeanplatten kollidierten heftig – und die eigentlich dichtere atlantische Platte tauchte unter die karibische Platte. An der Kontaktstelle reißt überall das Gestein und Magma spritzte aus der Tiefe auf. So bildete sich ein Bogen vulkanischer Inseln wie beispielsweise auch Guadeloupe.

Aber auch auf der Westseite stößt die karibische Platte auf Widerstand: mit der Südspitze des nordamerikanischen Kontinents tritt sie dort auf den Pazifik. Auch seine Platte schob sich nach und nach in die Tiefe (Subduktion) und sorgte ebenso für die Entstehung zahlreicher Vulkane. Der letzte tauchte vor weniger als einem Jahrhundert aus der Erde auf: Innerhalb von nur vier Tagen ist 1943 in Mexiko ein Vulkan von 60 Meter Höhe entstanden. Er reiht sich in die lange Kette von Vulkanen ein, die sich über die gesamte Westküste Mexikos erstreckt. Es ist die Region, mit der höchsten Vulkandichte in Amerika, die durch die Subduktion der pazifischen unter die nordamerikanische Platte bedingt ist.

Auch der Pazifische Feuerring resultiert daraus, dass sich in den Randgebieten der pazifischen Platte Subduktionszonen mit starker seismischer Aktivität befinden. Lösen diese Aktivitäten unterseeische Beben aus, können auch Tsunamis entstehen. Die nördliche Karibik ist davon besonders gefährdet: in den letzten 500 Jahren wurden hier über 50 Tsunamis aufgezeichnet.

Etwas weiter nördlich, bei den Großen Antillen, herrscht keine Subduktion vor, sondern hier verschieben sich die karibische und die atlantische Platte horizontal gegeneinander: Statt sich durch ein Subduktionsphänomen untereinander zu schieben, reiben sie sich aneinander und eine weitere, riesige Verwerfung entsteht – die mitten durch Haiti verläuft. Darauf ist auch das heftige Erdbeben mit der Stärke 7 im Jahr 2010 zurückzuführen, das über 230.000 Opfer forderte (wovon sich Haiti bis heute nicht vollständig erholt hat).

Im Westen wiederum sorgte ein anderes geologisches Ereignis vor drei Millionen Jahren dazu, dass der Isthmus von Panama entstand: Nord- und Südamerika berührten und verbanden sich – und etappenweise entstand so ein neues Gebiet. Dieser Prozess begann vor 15 Millionen Jahren, als sich die pazifische Platte unter die karibische schob: Damals bildete sich eine Kette vulkanischer Inseln, während zur selben Zeit tektonische Bewegungen Teile des Meeresbodens an die Oberfläche schoben. Auch andere Landstücke tauchten aus dem Meer auf. Sedimente sammelten sich im Laufe der Jahrtausende und füllten schließlich nach und nach die Zwischenräume. Dann verschloss sich der Isthmus vollständig vor nur drei Millionen Jahren.

Um den Atlantik wieder mit dem Pazifik zu verbinden schuf man im 20. Jahrhundert einen gigantischen Kanal: den Panamakanal, an dem noch heute gearbeitet wird, um ihn für breitere Schiffe schiffbar zu machen. Die Bauarbeiten legen dabei immer wieder Beweise für den großen interamerikanischen Faunenaustausch frei: Die Entstehung des Isthmus von Panama vor drei Millionen Jahren hat das biologische Gleichgewicht auf dem Süd- und Nordamerikanischen Kontinent verändert, denn nachdem sie 50 Millionen Jahre voneinander getrennt waren, gelangten nun, über die entstandene Landbrücke, neue Arten von Nord- nach Südamerika – und umgekehrt. Eine Wanderungsbewegungen von Tieren von einem zum anderen Kontinent setzte ein, was enorme Auswirkungen auf die biologische Vielfalt der beiden Kontinente hatte.

Südamerika

Südamerika hat die längste Gebirgskette, den dichtesten Regenwald, den mächtigsten Fluss und die größte Artenvielfalt der Erde – alles entstanden durch die unbändige Energie im Inneren der Erde: durch tektonische Verschiebungen, Erdbeben und Erosion.

Bei der Entstehung unserer Erde vor 4,6 Milliarden Jahren ist unser Planet ein gigantischer Feuerball. Dann kühlt er ab – und es entstehen die ersten Ozeane und die ersten Spuren von Kontinenten. Diese nähern sich an und bilden riesige Flächen auf der Erdkruste – die Kerngebiete der Kontinente. Einer dieser kontinentalen Kerne war vor zwei Milliarden Jahren der Amazonas-Kraton (Amazonia), der Grundstein Südamerikas. Diese Kerngebiete sind heute – kaum verändert – noch immer im Norden Brasiliens zu finden, auch wenn Wasser und Wind die Landschaft in Jahrmillionen verändert haben. Und zwar auf den abgeflachten Gipfeln der Berge, die die Indios Tepui, Tafelberge, nennen.

Im Laufe der Zeit verschiebt sich der Amazonas-Kraton und prallt dabei gegen andere Erdmassen. Vor 1,8 Milliarden befindet er sich im Zentrum des Superkontinents Columbia. Man kann in Südamerika mindestens vier Zyklen unterscheiden, in denen sich Superkontinente gebildet haben: Der älteste dieser Superkontinente aber ist Columbia, der jüngste ist Pangea im Mesozoikum vor 300 Millionen Jahren. So war das spätere Südamerika aufgrund der tektonischen Verschiebungen immer wieder Teil verschiedener Superkontinente.

Die Bewegung der urzeitlichen Kontinente aber ist kaum nachzuvollziehen, da kaum Spuren auf der Erde hinterlassen wurden. Die wenigen aber, die man gefunden hat, deuten darauf hin, dass die Landmassen, die heute Südamerika bilden, schon vor mindestens 900 Millionen Jahren vereint waren. Südamerika entstand durch den Zerfall des damaligen Superkontinentes.

Der neue Kontinent sollte allerdings weitere, tiefgreifende Veränderungen erleben: Vor etwa 700 Millionen Jahren bewegen sich die Landmassen der südlichen Hemisphären aufeinander zu und das zukünftige Südamerika kollidiert mit dem zukünftigen Afrika. Durch diese Verbindung entstand nicht nur der neue Superkontinent Gondwana – eine der wichtigsten Etappen bei der Entstehung von Südamerika -, sondern auch ein Gebirge, dessen letzte Überreste in Form von Granitfelsen noch heute in der Bucht vor Rio de Janeiro in Brasilien zu sehen sind: der berühmte Zuckerhut und der Corcovado („Bucklige“), ein 710 Meter hoher Berg, auf dem die Christusstatue thront zum Beispiel. Sie sind die letzten Zeugen dieses Ereignisses.

Aber auch auf der anderen Seite des Atlantiks, an der afrikanischen Küste finden sich Spuren von Gondwana, in Namibia zum Beispiel in der Region Kharas (mit der Stadt Keetmanshoop). Gigantische Granitfelsen ragen hier überall aus der weiten Ebene – sie gleichen jenen an der brasilianischen Küste. Erst 300 später beginnen Afrika und Südamerika wieder auseinanderzudriften und sind von nun an durch den atlantischen Ozean voneinander getrennt.

Durch das Auseinanderdriften entstehen Risse in der Erdkruste, durch die heißen Magma nach oben dringt und in die Felsenspalten fließt. Diese Magmaintrusionen sind in der namibischen Landschaft bis heute sichtbar, so genannte Dykes aus Dolomit (ein Basaltgestein) – ähnlich jenen Dykes im Yosemite-Park in Nordamerika.

Das spätere Südamerika driftet von an langsam nach Westen ab und trifft dort auf die riesige pazifische Platte und kollidiert mit ihr – es erheben sich die imposanten Gipfel des Andengebirges. Sie liegen genau dort, wo die beiden Platten aufeinander gestoßen sind. Im mittleren Teil, zwischen Peru, Chile und Bolivien sind die Berge der Anden besonders imposant. Hier ist die Gebirgskette über 1.700 Kilometer breit und über 6.000 Meter hoch.

Interessant hier ist, dass sich – anders als in den Alpen – keine Gesteinsschichten unterschiedlichen Alters übereinander gelegt haben, das heißt sie zeigen nur geringe Verformungen und keine ausgeprägten Faltenwürfe, allenfalls leichte Wellenbewegungen. Die Anden entstanden nämlich nicht nur die Kollision zweier Kontinentalplatten, sondern als die südamerikanische auf die pazifische Platte traf, sank diese durch ihre höhere Dichte in die Tiefen des Erdmantels. ab. Die Sedimente auf dem Meeresboden blieben auf der Oberfläche und lagerten sich auf den Rändern der beiden Platten übereinander. Dies wiederum führte zu einer Verdichtung der Erdkruste der Kontinentalplatte, die im Laufe der Zeit immer höher wurde. In den Anden ist die Erdkruste an einigen Stellen über 70 (!) Kilometer dick.

Ganz im Süden des Kontinents, in Torres del Paine, stellt sich die Landschaft der Anden aber ganz anders dar. Zwischen tiefen Tälern erheben sich hier Spitze Berge. Die Landschaft ist voller Kontraste und die Berge haben eine intensive braune Färbung – ganz anders als im nördlichen Teil der Anden. Dieser Teil der Anden entstand nämlich erst sehr viel später – und seine Entstehung ist um einiges komplexer.

Bei seiner Drift nach Westen trifft Südamerika auf die pazifische Platte, seine Südspitze aber befindet sich einige Millionen Jahre später in einem Gebiet, in dem bereits die pazifische und die antarktische Platte aufeinander getroffen sind. Auf die Erdkruste wird von allen Seiten hoher Druck ausgeübt und großen Mengen Magma steigen an die Erdoberfläche, was zu einer beachtlichen Erwärmung der Felsen führt, was wiederum ihre intensive Färbung bedingt.

Der Kontinent driftet noch immer weiter Richtung Westen, was an der südamerikanischen Küste bis heute regelmäßig für Erdbeben sorgt. Vor allem die Provinz Ilo im Süden Perus ist davon stark betroffen. Die Subduktionsprozesse in etwa 40 Kilometer Tiefe – als der Ort, wo sich die beiden Platten untereinander schieben – haben dabei auch zahlreiche Vulkane entlang der Andenkette hervorgebracht. Sie sind Teil des Pazifischen Feuerrings, der entstanden ist, weil der Pazifik rundherum von Subduktionszonen wie im Fall der Anden umgeben ist.

Der mittlere Abschnitt der Anden – die Zentralkordillere – entstand in mehreren Etappen: Als die pazifische Platte unter der südamerikanischen Platte abtaucht, schiebt sie deren Kruste nach oben. Eine erste Gebirgskette entsteht – die östliche Kordillere mit ihren hohen, schneebedeckten Bergen. Am Rande der südamerikanischen Kontinentalplatte führt die Subduktion zu einer Erhitzung der Erdkruste und bringt diese zum Schmelzen. Aus dieser flüssigen und verformbaren Masse entsteht im Laufe von Jahrmillionen die Hochebene des Altiplano. Intensive vulkanische Tätigkeit führt später dann zur Bildung einer zweiten Gebirgskette – der westlichen Kordillere mit ihren nicht sehr hohen Bergen – die im westlichen Teil des Altiplanos eine natürliche Schranke bildet.

Im Osten der Anden liegt das Amazonasbecken mit seiner außergewöhnlichen Artenvielfalt. Der tropischen Regenwald im Amazonasbecken ist sechs Quadratkilometer groß und damit der größte zusammenhängende Regenwald der Erde. Man geht dass hier über 1,4 Millionen verschieden Tier- und Pflanzenarten leben – mehr als die Hälfte aller auf der Erde vorkommenden Arten. Die Geschichte des Amazonasregenwaldes ist dabei eng mit der der Anden verbunden: In der Zeit als sich die Gebirgskette der Anden herausbildete, war das Amazonasbecken immer wieder von großen Wasserflächen bedeckt. Das letzte Mal vor etwa 12 Millionen Jahren – und es handelte sich dabei um ein Binnenmeer mit Salzwasser. Darauf verweisen Funde fossiler Austern mitten im Regenwald.

Im Laufe der Zeit zog sich das Binnenmeer im Amazonasbecken zurück und machte Platz für den mächtigsten Fluss der Erde: den Amazonas. Im Laufe dieser Evolutionsgeschichte konnte sich hier eine einzigartige Artenvielfalt entwickeln.

Asien

Vor 4,6 Milliarden Jahren war die Erde ein Feuerball aus geschmolzener Materie. Am Ufer des Baikalsees in Russland findet man heute die ältesten Felsen Asiens – aus der Frühzeit nach der Abkühlung unseres Planeten, als sich die ersten Landmassen zusammenfügten. Es sind Felsen des sibirischen Kratons und die darin gefundenen Mineralien, Zirkone, sind 3 bis 4 Milliarden Jahre alt. Der sibirische Kraton ist damit die erste Landblock des asiatischen Kontinents.

Vor etwa 1,9 Milliarden schloss sich das Gestein dieses uralten Kratons mit jüngerem Gestein zusammen – der Beweis, dass sich Asien zu dieser Zeit ausdehnte. Vor 2 Milliarden Jahren befanden sich nur etwa 30 Prozent der heutigen Landmasse Asiens auf der Erdoberfläche. Doch im Lauf der Zeit verleibte sich Sibirien immer mehr Landmassen ein: Sibirien, das Herzstück des Kontinents, verband sich im Lauf der Zeit mit ausgedehnten Gebieten wie der Mongolei und China. Im Zentrum dieses Geschehens stand der Baikalsee, an dessen Südufer sich die Ereignisse anhand des dortigen Gesteins rekonstruieren lassen.

Vom sibirischen Kraton und dem Baikalsee aus begann die Tektonik das heutige Asien zu formen. Vor 500 Millionen Jahren legte Nordchina eine Strecke von 2.000 Kilometer zurück, ehe es mit voller Wucht gegen Sibirien prallte. Am westlichsten Rand des noch jungen asiatischen Kontinents wiederum stieß Nordeuropa – damals noch Teil des Superkontinents Pangea – gegen Sibirien. Bei diesem Zusammenprall erhob sich eine Gebirgskette von 2.000 Kilometer Länge: der Ural. Die Energie dieses massiven Aufpralls hinterließ zahlreiche Eisen-, Zink- und Kupfer-Vorkommen in der Region.

Bei der Entstehung des Urals drang unterirdisch 300 Grad heißes Wasser aus den Tiefen der Erde in das Gestein ein. Dieses Wasser stand unter einem sehr hohen Druck und ließ das Gestein kristallisieren – man nennt das einen schwarzen Raucher, eine Art Unterwassergeysir, der unter bestimmten Bedingungen wie Hitze und hohem Druck entsteht. Auf seinem Weg durch die Spalten hinterließ das Wasser Mineralablagerungen – das erklärt die Erzvorkommen im Ural. Das Zink-Mineral beispielsweise entstand in dieser Zeit aus den so abgelagerten Sulfiten.

Nach dem Zusammenschluss von Europa und Asien verband der Superkontinent Pangea alle Landmassen der Erde bis auf Südchina, das isoliert mitten im pazifischen Ozean trieb. Damals war die biologische Vielfalt auf der Erde außerordentlich reich und breit gefächert, doch eine große Kehrtwende stand unmittelbar bevor, denn die Tektonik spaltete vor 250 Millionen Jahren den Nordwesten Sibiriens. Dadurch tat sich die Erdkruste auf – und drei Millionen Kubikmeter Lava überfluteten eine Fläche von der Größe Europas. Es war die größte Vulkanaktivität seit der Entstehung der ersten Landmassen. Dieses Ereignis hatte kritische Auswirkungen auf die Umwelt: die Atmosphäre reicherte sich mit giftigen Gasen an und das Gleichgewicht der Ozeane kippte.

Seltsamerweise lassen sich die Auswirkungen dieses verheerenden Vulkanausbruchs in Sibirien in Südchina am besten beobachten, obwohl es damals noch vom jungen Kontinent Asien abgetrennt war – und zwar anhand der sogenannten Perm-Trias-Grenze in Gesteinsformationen, die gewissermaßen eine Grenze zwischen Leben und Tod markiert: Im Kalksteinmassiv aus dem Perm kann man noch viele Fossilienspuren erkennen; Im unmittelbar daran anschließenden Bereich darüber allerdings findet man dann absolut keine Spuren von Leben mehr. Das Massensterben der geologischen Vielfalt – etwa 98 Prozent der im Meer lebenden Tierarten starben damals – ist hier also so deutlich markiert wie vielleicht nirgendwo anders. Die Dinosaurier allerdings überlebten die Katastrophe und sollten das Tierreich bald beherrschen.

Pangea brach vor 220 Millionen auseinander und die Kontinente drifteten ab. Es ist noch unklar, wie sich die Mikrokontinente fortbewegten, die heute Süd-Ost-Asien bilden. In Thailand aber fand man Fossilien von Dinosauriern, die auch in China lebten, was bedeuten würde, dass die beiden Länder am Ende des Jura eine Landmasse bildeten.

Zur selben Zeit hatte sich weiter südlich Urindien bereits aus dem Landblock aus Afrika, Südamerika, Australien und der Antarktis gelöst und driftete nun mit hoher Geschwindigkeit (15 Zentimeter pro Jahr) Richtung Norden und verband sich schließlich vor 50 bis 35 Millionen Jahren mit Süd-Ost-Asien. Auf seinem Weg nach Südasien, in seine heutige Position, überquerte Indien vor 70 Millionen Jahren auch einen permanenten Hot-Spot in der Erdkurste, was erklärt, weshalb heute riesige Mengen Basalt in dem Land vorkommen in einer Region, in der es weit und breit keine Vulkane gibt.

Unter der Oberfläche bildeten sich damals enorme Mengen Magma. Extrem heiße Steine stiegen auf und durchbohrten förmlich den Subkontinent. So konnten sich Lavaströme über tausende Kilometer über Indien ausbreiten – oft mehrere Kilometer dick wie bei den Dekkan-Traps –, das dann zu Basalt wurde. Der ganze Prozess dauerte vermutlich fünf Millionen Jahre lang an. Inzwischen diskutiert man, ob die dabei ausströmenden Gase nicht zum Aussterben der Dinosaurier geführt haben könnte? Wie dem auch sei – die Welt befand sich damals an einem Wendepunkt für das Leben, bei dem dann ein Meteoriteneinschlag nur noch für die endgültige Katastrophe gesorgt hätte.

Beim Zusammenprall Indiens mit Süd-Ost-Asien entstand die höchste Gebirgskette der Welt: der Himalaya. 14 seiner Berge sind über 8.000 Meter hoch – und sie alle werden vom 8.848 Meter hohen Mount Everest überragt. Das Gebirge bildete damals allerdings noch den Meeresboden in mehreren Kilometern Tiefe. Beim Zusammenprall wurde dieser Boden in der horizontalen komprimiert und in der vertikalen verdickt: Auf seinem Weg nach Norden komprimierte Indien die Ozeanplatte, die es von Asien trennte. Der Meeresboden wurde dabei so gefaltet, dass er aus dem Wasser heraus trat – und schließlich mehrere Kilometer hoch gedrückt wurde. Deshalb findet man heute Fossilien von Meeresbewohnern wie Ammoniten im Himalaya.

Der Himalaya zieht sich in einem über 3.000 Kilometer langen Bogen von Pakistan im Westen bis Myanmar im Osten. Das Gebirge trennt den indischen Subkontinent von Zentralasien. In geologischen Zeiträumen bemessen ist er noch jung: seine Entstehung beginnt vor etwa 40 bis 50 Millionen Jahren, als die indische Kontinentalplatte von Süden her mit der eurasischen zusammenstößt und sich unter diese schiebt. Ein Prozess, der immer noch andauert: bis heute wächst das Himalayagebirge um etwa ein Zentimeter pro Jahr.

Aus den Gletschern des Himalayagebirges speisen sich die großen Flüsse Asiens wie etwa der Mekong im Norden, aber auch Indus, Brahmaputra oder Ganges im Süden. Neben Monsunregen und Schnee, Eis und Wind bearbeiten auch insbesondere auch die zahrleichen Flüsse die Berge des Himalayagebirges unablässig und graben tiefe Täler zwischen den Felsen.

Nachdem Indien den Meeresabschnitt, der es von Asien trennte, verschlossen hatte, begann es sich unter den Kontinent zu verschieben. So hat es bis heute etwa ein Drittel seiner ursprünglichen Fläche eingebüßt – und wird irgendwann ganz verschwunden sein. Hierin liegt Grund dafür, dass der Himalaya noch immer wächst. Denn durch die Subduktion hat sich die Kruste außerordentlich stark verdickt. Das zusätzliche Gewicht hat nun einen Teil des kühleren Gesteins der Ozeanplatte tiefer ins Erdinnere unter den Himalaya geschoben. Dort haben die viel höhere Temperaturen und der wesentlich höhere Druck zum Schmelzen der Sedimente geführt, wodurch sich Granit bildete. Granit aber faltet sich nicht, wie man es von anderen Gesteinsschichten kennt, sondern ist magmatisch und damit formbar – und wird unter Druck nach oben gepresst.

Man geht davon aus, dass ein Großteil des Himalaya aus solchen metamorphen Steinen entstanden ist: Der untere Teil des Himalaya wird so nämlich durch immer wieder neu hinzukommendes Gesteinsmaterial angehoben, das unter dem übermäßigen Gewicht des Himalayagebirges herausgepresst wird. Das würde zumindest die außergewöhnliche Höhe seiner Gipfel erklären und die Tatsache, warum sie noch immer wachsen.

Der Himalaya ist so hoch, dass die heißen und feuchten Winde im Sommer zwischen seinen Gipfeln hängenbleiben und als sintflutartige Regenfälle niedergehen – als Monsun. Seit Jahrmillionen trägt dieser strömende Regen die Berge ab und schwemmt Sedimente fort. Oben auf dem Berg erodieren Gletscher das Bergrelief – Stück für Stück wird der Himalaya so abgetragen. Der erste Teil dieser Sedimentwanderung findet in den Siwalik-Bergen statt, einer kleinen Bergkette vor der Südflanke des Himalaya, schließlich gelangen die Sedimente in die Bucht von Bengalen.

Der größte Teil der Sedimente aus dem Siwalik-Gebirge wird von zwei großen Flüssen befördert: dem Ganges und dem Brahmaputra, die dieses Gesteinsmaterial über 3.000 Kilometer weit transportieren und schließlich im Mündungsdelta am Golf von Bengalen zusammenfließen. Das Sediment sammelt sich in den Verwerfungen, die Indien entstehen ließen als es sich unter den asiatischen Kontinent schob. Diese Verwerfungen führen direkt zu einem noch relativ jungen Schwemmland: Bangladesch. Es entstand vor knapp 30 Millionen Jahren – und ist damit das jüngste Stück Asiens.

Ganz Bangladesch ruht auf einem gewaltigen Sedimenthaufen und besteht aus Sümpfen und temporären Wasserläufen. Nur die Sedimente aus dem Himalaya – etwa eine Milliarde Tonnen jährlich (!) – verhelfen Bangladesch dazu, dass es sich in einem relativ stabilen Gleichgewicht über Wasser hält – denn der Süden des Landes tendiert dazu, unter den Meeresspiegel zu rutschen. Das feine Sedimentmaterial gelang dabei weit in den Golf von Bengalen hinein – man schätzt, das dort inzwischen etwa das dreifache Gesteinsvolumen des Himalaya liegt: Material von etwa 30 Kilometern Dicke, das über einen Zeitraum von 20 Millionen Jahren dort abgelagert wurde.

Über Jahrmilliarden entstand Asien durch gewaltige tektonische Kollisionen und vulkanische Aktivitäten. Asien bildet zwar ein zusammenhängendes ganzes ist aber keinesfalls statisch. Noch immer bewegen sich die tektonischen Platten – und das sich gegenwärtig die indische Platte unter Asiens Landmasse schiebt, wird aller Wahrscheinlichkeit irgendwann in der Zukunft zu einer Katastrophe in Nepal führen – das kleine Land ist zwischen Indien und dem restlichen Asien eingekeilt. Die Gegend im Nordwesten Kathmandus, der Hauptstadt Nepals, gehört zu jenen Regionen weltweit, die sich am schnellsten bewegen, nämlich 2 bis 4 Zentimeter jährlich. Wenn die im Untergrund des Himalaya aufgebauten Spannungen zu heftig werden, kommt es zu Erdbeben, das letzte ist bereits schon wieder 300 Jahre her.

Indiens tektonischer Vorstoß bedroht aber nicht nur Nepal, sonder dadurch, dass sich die Landmasse wie ein Pfeilspitze vorwärts schiebt, bewegen sich ganz Indochina, Indonesien und Java in Richtung Ozean. So entsteht ein Kontinentalplateau von fast 3.000 Kilometer Länge, umgeben von einem Kranz aus Inseln, die durch instabile Meeresgründe voneinander getrennt sind. In diesem riesigen Gebiet spielte sich in prähistorischer Zeit auch ein wichtiges Kapitel der Menschheitsgeschichte ab. Die erste Entdeckung dieser Inseln durch den Menschen hätte ohne die Tektonik nie stattfinden können.

Auf der Insel Java wurden in Sangiran zahlreiche Funde gemacht: uralte Menschenschädel neben jüngeren – es sind die ersten Inselbewohner der Menschheitsgeschichte. Die Menschen gelangten in der Eiszeit in dieses entlegene, hunderte Kilometer von den Kontinenten entfernte Gebiet, als sich durch eine globale Abkühlung durch die sich ein Teil des Wassers der Erde als Eis an den Polen sammelte. Durch diese geomorphe Veränderung ging der Meeresspiegel zurück, und zwar über einen Zeitraum von 2,5 Millionen Jahren, und der Homo erectus gelangte nach Java. Als das Eis am Ende der Eiszeit schmolz, saß der Homo erectus auf der Insel fest.

Das Meer stieg nun innerhalb weniger Jahrmillionen um etwa 130 Meter an. Aus einem Kontinent mit vielen Tälern, in denen die Menschen überall verteilt lebten, wurde eine Inselgruppe. Dieses Phänomen wiederholte sich mehrfach – und betraf später auch den Homo sapiens.

Südostasien kann zum Ozean hin abgetrieben werden, weil kein geologisches Hindernis die durch Indien angestoßene Bewegung aufhält. Im Norden des Himalaya hingegen erhebt sich direkt hinter dem tibetischen Hochebene eine deutliche Hürde: eine Gebirgskette, die als echte geologische Barriere von 300 Kilometern Länge dem Vorstoß der indischen Platte Einhalt gebietet. Deshalb muss das tibetische Plateau unweigerlich die im Süden ausgelöste tektonische Stoßwelle auffangen. Bei dieser Parallel zum Himalaya verlaufenden Bergkette handelt es sich um das Kunlun-Gebirge.

Direkt am Fuß dieses Gebirges verläuft eine Verwerfung, die sogenannte Kunlun-Verwerfung. Die indische Platte entfaltet hier eine solche tektonische Kraft, dass durch sie nicht nur der Himalaya entstanden ist, sondern sie sorgt auch dafür, dass das gesamte, 1.000 Kilometer weiter nördlich gelegene, tibetische Plateau entlang der Kunlun-Verwerfung seitwärts nach Osten verschoben wird. Doch diese Verschiebung geht nicht reibungslos vonstatten, sondern manchmal sammeln sich tief im Erdinnern auch Spannungen an, was dann zu Erdbeben führt. Das letzte große mit 7,8 war hier 2001.

Die tektonischen Verschiebungen entlang der Kunlun-Verwerfung haben spektakuläre Auswirkungen auf Asiens Geomorphologie. Einige hundert Kilometer weiter beispielsweise verdankt die Wüste Badain Jaran in der inneren Mongolei ihre Besonderheit diesen Verschiebungen: ihre bis zu 500 Meter hohen Sanddünen sind die höchsten Wüstenerhebungen der Erde – und sie sind stationär und wandern nicht mit dem Wind. Am meisten aber überraschen die 75 Seen am Fuß der Dünen, die nie austrocknen. Das Wasser dafür kommt aus dem Kunlun-Gebirge über unterirdische Sickerungen beziehungsweise ein Netz von tiefen Verwerfungen hierher: Die Verwerfungen sorgen für vulkanische Tätigkeit und große Hitze in der Tiefe, wodurch das versickerte Wasser erwärmt wird, verdunstet und nach oben in die Dünen steigt, wo es wieder abkühlt und so die Seen am Fuß der Dünen in Badain Jaran füllt.

Den Kunlun-Verwerfung folgen im Osten weitere Verwerfungen, die ebenfalls immer wieder für schwere Erdbeben sorgen, wie beispielsweise 2008 in der Region Sichuan eines mit der Stärke 8,0. Erdbeben kommen auch entlang der gesamten Ostküste Asien vor – das Tōhoku-Erdbeben 2011 mit dem anschließenden Tsunami 2011 war wohl eines der verheerendsten.

Bekanntlich hat der Tsunami auch Fukushima in Japan getroffen: Ganz Japan sitzt rittlings auf der Grenze zwischen der pazifischen und der atlantischen Platte. Der Pazifik dringt bis zu diesem Vorposten des asiatischen Kontinents vor. Man bezeichnet dieses Gebiet extremes seismischer und vulkanischer Aktivität als Pazifischer Feuerring. Gegenüber dem japanischen Archipel im Osten sind diese Kräfte am eindrucksvollsten – sie rissen diesen Mikrokontinent vom asiatischen Festland ab. Außerdem ist Japan direkt von der mit mehr als 10.000 Metern tiefsten unterseeischen Verwerfung betroffen.

Seit jeher leben die Japaner mit einem schwankenden Untergrund – auch in der Megametropole Tokio, wo fast 35 Millionen Menschen auf engstem Raum leben. Zu Japan gehören insgesamt 110 der insgesamt etwa 1.400 aktiven Vulkane auf dem Pazifischen Feuerring. Am berühmtesten ist der Vulkan Fuji, der erst vor knapp 100.000 Jahren entstand. Jeder seiner Ausbrüche ließ den Vulkan noch höher in den Himmel wachsen. Heute ragt er über 3.700 Meter weit auf – und stellt ein großes Risiko für den gesamten Südosten Asiens dar, obwohl er zuletzt 1707 ausgebrochen ist.

Man vermutet, dass sich unterhalb des Fuji zwei Magmakammer befinden. Die tiefer gelegene ist weniger gefährlich, weil sie gewöhnliche Basalt-Lava enthält. Aber je mehr Andesit-Magma bei einem Ausbruch aus der oberen Kammer enthalten ist, desto explosiver wird die Mischung, was wiederum zu heftigeren Eruptionen führen kann. Das Andesit-Magma könnte zu pyroklastischen Strömen führen: Die bei einer Explosion entstehende Aschewolke fällt dann in sich zusammen und es stürzt gemeinsam mit heißem Magma mit hoher Geschwindigkeit den Berg herab. Wäre der Fuji nur ein Basalt-Vulkan, wäre das Risiko einer Explosion gering.

Die Vulkane des Pazifischen Feuerrings haben eine Besonderheit, die Aufschluss über ihre Aktivität in der Tiefe geben könnte: sie reichern Gold im Boden an. Das gilt zum Beispiel für den Pinchincha bei Quito in Peru, auf den der Schatz der Inka zurückgehen soll. Mit ihm begann der Mythos um das legendäre „Eldorado“ – ein sagenhaftes Goldland im Innern des nördlichen Südamerika. Aber die größten Goldvorkommen finden sich im Südosten des Pazifik: Der Prozess der Goldanreicherung erfolgt so, dass Gold an den Nahtstellen tektonischer Platten zunächst mit der Magma aus der Tiefe nach oben kommt. Gasausstöße von Fumerolen enthalten denn auch hohe Konzentrationen an Chlor, das in verschiedenen Formen vorliegt – auch in Form flüchtiger Goldchloriden. Man geht davon aus, dass mit den Gasen Gold transportiert wird, das sich dann anderswo wieder ablagert.

Afrika

Afrikas geologische Geschichte begann in der Frühzeit unseres Planeten. Die ersten afrikanischen Gebiete entstanden und waren später in einen gigantischen Superkontinent eingeschlossen. Als sie sich daraus befreiten, kam es zu tiefgreifenden Veränderungen, bis am Ende das Afrika entsteht, das wir heute vor Augen haben. Diese turbulente Vergangenheit lässt sich noch heute aus dem Gestein ablesen.

Nach der Abkühlung der Erde entstanden die ersten Protokontinente, die sich mit der Zeit einander annäherten. Die Ozeane hingegen versanken in der Tiefe des Erdmantels, wo gigantische Kräfte freigesetzt wurden: Unter der Landoberfläche stiegen Temperatur und Druck exponentiell an. Unter diesen Extrembedingungen kam es mancherorts zur Kristallisation von Kohlenstoff, der zu Diamanten wurde. In Südafrika (Kimberley) etwa kann man sie heute noch finden.

Die Gegend um Kimberley gehört zu den ältesten Landstücken Afrikas, das heißt man findet hier einen sogenannten Kraton – ein Gebiet, dass seit Jahrmilliarden unverändert ist.Vor allem aber stießen genau hier in der Frühgeschichte der Erde, vor 2,9 Milliarden Jahren, zwei Stücke der Erdkruste zusammen und es entstanden jene Diamanten, die Kimberley Ende des 19. Jahrhunderts Wohlstand brachten: 1867 entdeckte in junger Landwirt auf dem Seitenhang eines Hügels den ersten – es war der Anfang des Bergbaus. Wo der „Eureka“, so nannte man den ersten Diamanten, gefunden wurde, klafft heute das Big Hole: die Mine hat einen Durchmesser von 500 Meter und ist das größte Loch, das je von Menschenhand gegraben wurde – bis man einen Vulkanschlot freigelegt hatte.

Die Diamanten von Kimberley entstanden in etwa 100 Kilometer Tiefe. Erst viel später bildete sich ein Vulkan an der selben Stelle. Dadurch wurden die Diamanten, der Kimberlit, nach oben befördert – und der Vulkankegel später durch Erosion abgetragen. Die Diamanten zeugen insofern von vulkanischer Aktivität in der Vergangenheit und davon, dass sich Kimberley auf einem Vorläufer des späteren Afrikas befindet.

Nach seiner Entstehung wuchs dieses frühe afrikanische Gebiet nach und nach, das heißt weitere Inseln der Erdkruste stießen gegen den Kraton und verschmolzen über Jahrmillionen miteinander. Doch vor 2 Milliarden Jahren erschütterte ein verheerender Einschlag plötzlich die gesamte Region.

Er ereignete sich im Nordosten Südafrikas, an der Stelle, wo sich heute Vredefort befindet. Denn hier ist damals ein Meteorit mit einem Durchmesser von über 10 Kilometer eingeschlagen. Dadurch entstand ein Krater von über 300 Kilometer Durchmesser und 30 Kilometern Tiefe – eine der verheerendsten Katastrophen der Erdgeschichte, die Sedimente aus der Zeit vor 3,6 Milliarden Jahren an die Oberfläche beförderte. Der Meteorit verändert Afrika von Grund auf, es war aber nicht der letzte Einschlag.

Die Erdmassen der Südhalbkugel konvergierten weiter und bildeten vor 800 Millionen Jahren den Superkontinent Gondwana – ein zentrales Kapital in Afrikas Entstehungsgeschichte, das sich im Fish River Canyon in Namibia heute beobachten lässt. Mit 160 Kilometer Länge und teilweise 27 Kilometer Breite ist er der mit Abstand größte Canyon des gesamten Kontinents. Der Fish River hat sich hier immer tiefer in Boden gegraben und ist dabei bis zu Gesteinsschichten aus der Zeit Gondwanas vorgedrungen. Sie befinden sich heute am Talgrund.

Vor 700 Millionen Jahren kollidierte hier die künftige südamerikanische Platte mit Afrika – doch weiter nördlich stieß ein kleines Landstück ebenfalls mit Gondwana zusammen. Die Spuren dieses Ereignisses findet man heute im Sultanat Oman auf der arabischen Halbinsel in sogenannten Dykes. Das sind sind Magmaeinschlüsse im Erdmantel: Dabei drängt Magma aus der Tiefe der Erde, presst sich durch die Kruste und ändert dabei seine Zusammensetzung. Es drängt senkrecht nach oben und erscheint an der Oberfläche. Sie entstanden vor 700 Millionen Jahren, als es zu heftigen tektonischen Bewegungen zwischen den Platten kam. Das kann man anhand der Magnetisierung des Gesteins feststellen: Die Erde ist von einem starken Magnetfeld umgeben, dessen Neigung an jedem Punkt des Erdballs variiert. Als sich die Dykes bildeten, wurde das in ihnen enthaltene Eisen regelrecht magnetisiert: Die Kristalle richteten sich genau nach der Achse des damaligen Magnetfelds aus. Das Gestein bewegt sich anschließend durch plattentektonische Bewegungen an der Erdoberfläche, doch die Kristalle in den Dykes verbleiben in ihrer ursprünglichen Position. Sie haben somit die Lage des Gesteins – und damit des Kontinents – zum Zeitpunkt ihrer Entstehung gespeichert. Man spricht hier von Paleomagnetismus – über den man dann den Breitengrad errechnen kann, auf dem die Dyeks entstanden sind.

Weiter südlich, in Kapstadt, zeugt auch der Tafelberg von einer sehr frühen plattentektonischen Kollision vor etwa 540 Millionen Jahren: Die Platte, aus der später Lateinamerika entstand geriet in Kontakt mit Westafrika, durch Drehung um ihre eigene Achse prallte sie jedoch auch gegen Südafrika. Der Zusammenprall setzte starke Kompressionskräfte in beiden Kontinenten frei. Dabei entstand auch der Tafelberg, der zu einer deutlich größeren Bergkette – dem Kap-Faltengürtel??? – gehörte, die eben zur selben Zeit entstand wie Gondwana. Am Fuße des damaligen Kap-Faltengürtel stieg außerdem magmatisches Granit nach oben, dass noch heute zu ziemlich überall an der südafrikanischen Küste vorzufinden ist.

Der Tafelberg ist 1.780 Meter hoch und umschließt das historische Zentrum Kapstadts wie ein Amphitheater. Geologisch gesehen ist er sehr alt: seine oberen rund 600 Meter starken Schichten bestehen aus über 450 Millionen Jahre altem Sandstein. Vor allem die oberste Lage ist ungewöhnlich, denn da hat der Sandstein einen hohen Anteil von Quarzit, was ihn besonders hart macht. Dieser spezielle Tafelbergsandstein ist äußerst korrosionsbeständig. Er bildet die charakteristischen grauen Felsbänder des Berges. Jahrmillionen von Erosion haben die Hochebene des Tafelberges mit ihrer kargen Landschaft erschaffen. Während der Eiszeiten hobelten Gletscher den Berg regelrecht ab. In den Warmzeiten dazwischen ragten die Bergkuppen zeitweise als Inseln aus dem Wasser.

Vor 500 Millionen Jahren war die Entstehung Gondwanas abgeschlossen, das heißt alle Kontinentalplatten der Südhalbkugel hingen zusammen. Das künftige Afrika befand sich in dessen Zentrum. Doch die tektonischen Bewegungen hörten damit nicht auf: langsam trieb Gondwana über die Oberfläche des Erdballs ab – und die Spitze des afrikanischen Kontinents landete auf der Höhe des Südpols. Für die Erde begann eine Phase der Klimaabkühlung und ein Großteil von Gondwana wurde mit einer dicken Eisschicht überzogen. In Damaraland in Namibia findet man noch heute Spuren dieser Eiszeit – mitten in der Savanne: hunderte von versteinerten Bäumen, die seit Jahrmillionen perfekt erhalten blieben. Sie sind damals eingefroren und wurden relativ schnell von einer Sedimentschicht überdeckt – so hatten sie keinen Sauerstoff zur Verfügung, um wieder auszuschlagen. Im Zuge eines sehr langsamen geologischen Prozesses wurden dann alle Holzzellen durch Mineralien ersetzt, die im Sediment kristallisierten. So sehen die Steinbäume echten Holzbäumen noch heute zum Verwechseln ähnlich.

Bei den versteinerten Bäumen handelt es sich um Arten aus dem Norden, das heißt, als sie versteinerten, ähnelte die Region hier dem heutigen Kanada: das Klima war feucht und kalt. Die Bäume beweisen also, dass sich Gondwana vor 300 Millionen Jahren auf der Höhe des Südpols befand. Doch etwa später wanderte der Superkontinent wieder nach Norden. Die Eiszeit war beendet und die Temperaturen stiegen wieder und das Eis schmolz. Gewaltige Wassermassen ergossen sich über die gesamte Region.

Nach Jahrmillionen des festen Zusammenhalts lösten sich die Kontinente voneinander. Sie nahmen daraufhin eine sehr unterschiedliche Entwicklung: Indien stieß gegen Asien und ließ den Himalaya entstehen, das höchste Gebirge der Erde. Australien wurde zum unabhängigen Ökosystem. Ein Inselkontinent der vom Rest der Welt abgeschnitten ist. Die Antarktis landete am Südpol und verschwand unter ewigem Eis. Südamerika wanderte westwärts. Hier findet man heute die längste Gebirgskette, den dichtesten Wald und den mächtigsten Fluss der Erde.

Weniger spektakulär ist Madagaskars Ablösung von der afrikanischen Küste vor 165 Millionen Jahren, aber doch ungewöhnlich. Denn zunächst blieb es noch mit Indien verbunden, doch vor etwa 120 Millionen Jahren löste es sich wiederum von Indien und driftete in seine heutige Position etwa 400 Kilometer vor Ostafrika. Erst vor 88 Millionen Jahren wurde die Insel komplett isoliert. Doch im Laufe der Jahre bildete sich auf der roten Insel ein besonderes und einzigartiges Ökosystem – die Tiere spiegeln diese ungewöhnliche geologische Geschichte wieder, dutzende Tiergarten gibt es nirgendwo sonst, beispielsweise die Lemuren: über 100 verschiedene, vollkommen endemische Arten dieser Primaten hat man auf Madagaskar entdeckt. Sie werfen die Frage auf, wie es hier Primaten geben kann, wo die doch auf anderen Kontinenten erst nach der geologischen Trennung auftreten? Ihr Ursprung ist bis heute ungeklärt.

Seit 100 Millionen Jahren hat Afrika seine heutige Form, doch seine Geschichte ist noch längst nicht abgeschlossen: Eine gewaltige Kluft zieht sich durch den Osten Afrikas: der große afrikanische Grabenbruch. Insgesamt erstreckt sich der Grabenbruch über rund 6.000 Kilometer Länge und reicht von vom Grenzgebiet der Türkei zu Syrien im Norden – wo im Februar 2023 gerade erst ein gewaltiges Erdbeben für verheerende Zerstörungen gesorgt hat – über das Jordantal und das Rote Meer bis nach Kenia und weiter nach Mocambique.

Über die gesamte Länge des Grabens bewegen sich unter der Erdoberfläche zwei tektonische Platten mit der Geschwindigkeit von etwa einem Zentimeter pro Jahr auseinander, während aus dem Erdinneren heißes Material nach oben drängt, Erdbeben auslöst und Vulkane wachsen lässt: etwa 100 aktive Vulkane gibt es allein im Ostafrikanischen Grabenbruch, mitunter die höchsten Erhebungen Afrikas. Die vulkanische Aktivität speist auch einige heiße Quellen im und am Grabenbruch, die von einigen afrikanischen Ländern auch zur Energiegewinnung genutzt werden. Am Ende des Grabens, in Kenia, liegt eine ganze Kette von Seen, die bis zu 1.500 Meter tief sind. Viele davon werden aus heißen Quellen gespeist.

Zur Zeit besteht der Grabenbruch aus einem riesigen eingekesselten Tal von mehreren Kilometern Breite. Der Grabenbruch entstand, als es vor einigen Jahrmillionen zu einer Absenkung des gesamten Tals kam: Das Meer drang mehrmals in die Senke ein und lagerte hier mehrfach Sedimentschichten ab, beispielsweise an der südlichsten Spitze des Grabenbruchs in Mocambique, wo fossile Knochen, geschützt vom Sediment, diese Zeit bis heute überdauerten. Durch die Erosion tauchen heute große Mengen von Fossilien an der Oberfläche des Grabenbruchs auf.

Manche Forscher gehen davon, dass die Bildung des Grabenbruchs zur Entstehung unser frühen Vorfahren beigetragen haben könnte. Die tektonischen Kräfte führen hier zu einer tiefgreifenden Veränderung der Landschaft: Während Westafrika von einem Feuchtwald bedeckt war, war der Teil östlich des Grabenbruchs Savanne mit Giraffen, Nashörnern und Löwen. Die menschlichen Vorfahren siedelten sich offenbar in dieser weniger unwirtlichen Gegend an. So entwickelten sie sich deutlich anders als ihre Vettern, die Großaffen, die an das Waldmilieu angepasst waren. Neben den Knochenfunden findet man immer auch Steinwerkzeuge – und das gab es vorher nicht.

Durch die Tektonik veränderte sich die Landschaft und auch das Klima und die Vegetation – und natürlich wandern die Tiere mit, wenn sich die Lebensbedingungen ändern. Die Entwicklung des Menschen hat hier nicht begonnen, der Mensch kam erst später in den Grabenbruch – aber erst hier entstand die Gattung Mensch womöglich, auch wenn das nicht ganz unumstritten ist. Ohne Plattentektonik wäre die Erde aber vielleicht noch ein Planet der Affen.

Womöglich zerreißt der Grabenbruch den Kontinent Afrika in 100 Millionen Jahren in zwei Hälften und es entsteht ein neuer Ozean dort, wo heute noch die Seen zu finden sind. In einigen Jahrmillionen wird außerdem auch ein neuer Subkontinent entstehen: Arabien. Parallel dazu driftet ganz Afrika weiter nach Norden. Sein Zusammenstoß mit Europa und Asien steht aus geologischer Sicht kurz bevor.

Vor 300 Millionen waren alle Landstücke der Erde in einem einzigen Superkontinent zusammengefasst. Doch Pangea, so sein Name, teilte sich später in zwei Hälften: Eurasien trennte sich vom künftigen Afrika und den beiden anderen Kontinenten der Südhalbkugel. In der Mitte öffnete sich ein Ozean: die Tethys. Die Entstehungsgeschichte der Tethys hinterließ ihre Spuren in einer der trockensten Gegenden der Erde: der arabischen Halbinsel. Hier birgt der Boden reichlich Erdöl, was den Golfstaat Reichtum bescherte, auch dem Sultanat Oman. Vor etwa 100 Millionen Jahren lag Oman weiter südlich, weit entfernt vom zukünftigen Europa. Früher befand sich hier noch keine Wüste mit Bergen, sondern der Ozean Tethys bedeckte die Region. Man erkennt das noch heute an der starken Sedimentierung der Omanischen Gebirgskette.

Da die Tethys warm und seicht war herrschten ideale Bedingungen für Bakterien, die die Sedimentschichten zu Kerogen umbauten. Doch vor 20 Millionen rückten die Kontinente näher zusammen und die Tethys verschloss sich wieder – das Kerogen wurde durch die Subduktionszone in die Tiefe herabgezogen. Unter dem Druck im Erdinneren wandelte es sich in Kohlenwasserstoffe um und drang in die Gesteinsritzen. Ein Rohstoffreservoir ist wie ein feinporiger Schwamm, dessen Poren mit Kohlenwasserstoff oder Gas gefüllt sind.

Doch der Verschluss der Tethys vor 20 Millionen Jahren hinterließ nicht nur Erdöl. In der Fayum-Wüste in Ägypten, im Wadi El-Hitan, ragen überall Gesteinsformationen auf, die Erosion zu bizarren Gebilden geformt hat. Zwischen diesen Steinskulpturen hat man, mitten in der Wüste, über 1.000 Walskelette gefunden – heißt „Wadi El-Hitan“ übersetzt doch auch „Tal der Wale“. Hier war vor 37 bis 40 Millionen Jahren einmal das Tethys-Meer.

Die Tethys war ein großer Meeresarm, der den Atlantik mit dem Indischen Ozean und dem Pazifik verband. Afrika war komplett von Eurasien abgetrennt. Und nach und nach öffnete sich durch die Plattentektonik die arabische Platte, flottierte durch die Öffnung des Roten Meeres und verschloss diesen Meeresarm komplett, bis nur noch das heutige Mittelmeer übrig blieb. Die Existenz dieses heute verschwundenen Ozeans beweist, dass sich der afrikanische Kontinent langsam nach Norden Richtung Europa bewegt und damit kollidiert. Heute trennt nur noch das Mittelmeer die beiden Kontinente, aber die Bewegung ist noch nicht abgeschlossen – an der Meerenge von Gibraltar ist das am deutlichsten spürbar: in Marokko bebt die Erde regelmäßig unter dem Einfluss der tektonischen Kräfte. Nach und nach wird sich die Meerenge schließen, und in 50 Millionen Jahren wird das Mittelmeer dann fast verschwunden sein.

Gleichzeitig löst sich Arabien langsam von der Sinai-Region und driftet nach Norden. Es bewegt sich schneller fort als Ostafrika. Im Ergebnis verschieben sich beide Platten gegeneinander und in der Mitte hat sich eine gigantische Verwerfungslinie gebildet: der sogenannte Levante-Korridor zieht sich vom Roten Meer bis zur Türkei. Zwischen Jordanien, Israel und Palästina sorgt diese Plattenverschiebung für die Absenkung einer ganzen Region – und mittendrin liegt das Tote Meer, 400 Meter unter dem Meeresspiegel. Die Massada-Festung auf einem Plateau über dem Toten Meer bietet einen einzigartigen Ausblick auf die Judäische Wüste und die gesamte Region.

Das Massada-Plateau gehört zur Sinai-Platte oberhalb der großen Senke, die durch den Levante-Korridor entstanden ist. Die Verwerfung ist rund 1.200 Kilometer lang und ermöglicht es der arabischen Platte gegenüber der Sinai-Platte sich nordwärts zu bewegen. Das ruft seit langem schon heftige Beben in der Region hervor., die den Levante-Korridor immer noch tiefer aufreißt. Wenn sich die arabische Platte nach Norden verschiebt, braucht sie außerdem Platz, weshalb an ihrer nördlichen Front Berge entstehen lässt und indem sie die Türkische Platte nach Westen verschiebt.

Etwas weiter südlich macht sich die Trennung zwischen Afrika und Arabien anders bemerkbar. Seit 20 Millionen Jahren entfernen sich die beiden Platten allmählich voneinander (mit durchschnittlich 15 Millimeter pro Jahr). Heute schon ist die arabische Platte fast vollständig unabhängig von Afrika, bis auf eine kleine Landbrücke im Süden des Roten Meeres: das so genannte Afar-Dreieck, das sich irgendwann aber ebenfalls von Afrika ablösen wird. Zwischen ihnen entsteht gerade ein Ozean, der zurzeit noch ein gerade einmal 300 Kilometer breiter Meeresarm ist. Gemeint ist das Rote Meer, an das im Osten der Golf von Aden anschließt. Diese Meeresöffnung zeigt sich im Oman anhand seismischer Aktivität, die sich tief im Golf von Aden ereignen, weil dort durch das Auseinanderdriften ein neuer Ozeanischer Rücken entsteht, wie beim mittelatlantischen Rücken.

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Meeresströmungen

Um ihren jährlichen Lebenszyklus durchlaufen zu können, stellt die Weinrebe Mindestanforderungen an ihre Umwelt, zu denen auch Wärme gehört. Weinbau findet vornehmlich zwischen dem 30. und dem 50. Breitengrad nördlich und südlich des Äquators statt – nur in diesen beiden Zonen herrschen entsprechende Temperaturen und nur hier kann der Rebstock über den Winter eine klimatisch bedingte Ruhepause einlegen. Meeresströmungen spielen dabei eine nicht unwesentliche Rolle, ermöglichen sie doch auch in klimatisch schwierigen Regionen Weinbau, weil sie die Atmosphäre kühlen oder aber Wärme an sie abgeben. Ohne den warmen Golfstrom wäre es beispielsweise in Westeuropa mindestens 5 bis 10 Grad kühler – und nicht nur der Weinbau vor große Herausforderungen gestellt.

Meeresströmungen entstehen, weil die Schwerkraft des Mondes eine gewaltige Sogkraft in den Ozeanen der Erde entfaltet: Ebbe und Flut – die Gezeiten – entstehen und die Erdrotation, die den sogenannten Corioliseffekt verursacht, veranlasst Winde und das Wasser der Weltmeere dazu, kreisförmige Muster zu bilden. Dies beeinflusst die Strömung des Oberflächenwassers der Ozeane, die immerhin siebzig Prozent unseres Planeten bedecken. Hinzu kommen der Salzgehalt und die Temperaturschwankungen der Ozeane – all diese Kräfte erzeugen die Meeresströmungen, von denen einige in der Tiefe, andere nah an der Oberfläche verlaufen.

Für den Weinbau wichtige Meeresströmungen sind dabei insbesondere:

  • der Humboldtstrom vor Pazifikküste Chiles
  • der Benguelastrom vor der Atlantikküste Südafrikas
  • der Westaustralstrom vor Australien
  • der Golfstrom vor der europäischen Atlantikküste
  • der Kanarenstrom zwischen den Kanaren und Nord-West-Afrika
  • der Kalifornienstrom vor der Pazifikküste Kaliforniens
Meeresströmungen_Karte

Antarktischer Ozean

Meeresströmungen sind ein komplexes System, in dem alle fünf Ozeane miteinander vernetzt sind. Eine entscheidende Rolle für die südliche Hemisphäre spielt dabei das Gebiet des Antarktischen Ozeans. Bei ihm handelt es sich um jene gewaltige Wassermasse, die den antarktischen Kontinent umgibt – und deshalb enorm wichtig ist für die globale Meereszirkulation, da hier die drei großen Weltmeere (Pazifik, Atlantik, Indischer Ozean) miteinander verbunden werden.

Die treibende Kraft dafür ist der sogenannte Antarktische Zirkumpolarstrom, der an manchen Stellen 2.000 Kilometer breit ist und bis in eine Wassertiefe von 4.000 Metern reicht und somit die mächtigste Meeresströmung der Erde ist. Auf der Südhalbkugel bildet sich die Westwindzone deutlich stärker aus als im Norden. Das liegt daran, dass hier zum einen die besonders niedrigen Temperaturen der Antarktis in der gesamten Region für ein besonders starkes Luftdruckgefälle sorgen, zum anderen gibt es in diesen Breiten nur wenige Berge oder andere Landmassen, die den Wind abbremsen würden. Daher treiben die Westwinde sogar den Antarktischen Zirkumpolarstrom an.

So wie im Antarktischen Ozean selbst die stärksten Winde durch keine Landmassen gebremst werden, entfaltet auch der Zirkumpolarstrom ungebremst seine Kräfte, wobei er durch seinen ständigen Kreislauf um die Antarktis das kalte Wasser aus der Tiefe der drei Meeresbecken des Pazifik, des Atlantiks und des Indischen Ozeans aufnimmt und gleichzeitig die Wassermassen allmählich an die Oberfläche holt, wo er sie neu unter den drei Weltmeeren aufteilt. Die globale Meereszirkulation im südlichen Ozean sorgt so für einen kontinuierlichen Wärmeaustausch zwischen den Meeresbecken.

Abgesehen vom Antarktischen Zirkumpolarstrom bildet sich außerdem überall entlang des antarktischen Kontinents – in einem begrenzten Gebiet in der Nähe des Festlandsockels und der Plattform – Tiefenwasser, also Strömungen in den Tiefen des südlichen Ozeans, die ebenso vom Zirkumpolarstrom aufgenommen werden. Verantwortlich für diese Tiefenströmungen scheinen die sogenannten Polynjas rund um die Antarktis zu sein: große, offene Wasserflächen, die trotz der extremen Kälte selbst eisfrei bleiben, aber ständig neues Eis bilden.

Die Antarktis selbst hat mit über 13 Millionen Quadratkilometer den größten Eisschild der Erde (und ist damit etwa um ein Viertel größer als Europa). Der Kontinent ist fast vollständig mit Eis bedeckt – und sein Eisschild bindet fast 70 Prozent allen Süsswasssers auf der Erde. Nur zwei bis drei Prozent des antarktischen Kontinents sind eisfrei: kleine felsige Oasen.

Der antarktische Eisschild ist so schwer, dass er Teile des Kontinents unter den Meeresspiegel drückt. Man nimmt an, dass die Entstehung des antarktischen Eisschildes vor rund 45 Millionen Jahren begann. Mit der Zeit ist er zu gewaltiger Stärke herangewachsen und heute mancherorts bis zu 4.900 Meter dick – von manchen Bergen ragen nur die höchsten Gipfel hervor. Immun gegen die Klimaerwärmung ist diese riesige Eismasse jedoch nicht: der antarktische Eisschild schmilzt – und zwar immer schneller, wie der Vergleich der letzten Jahrzehnte zeigt. Sollte dieses Eis irgendwann ganz schmelzen, würde das unter den Meeresspiegel gedrückte Land zwar wieder aufsteigen, aber gleichzeitig würde der Meeresspiegel durch das Schmelzwasser um etwa 60 Meter ansteigen – was für die Küsten weltweit verheerende Folgen hätte.

Noch aber bleiben die Temperaturen selbst im antarktischen Sommer von September bis März unter dem Gefrierpunkt, die Eismassen schmelzen also noch nicht vollständig. Im Winter gefrieren zudem große Meeresgebiete um den Kontinent, bis sich durch das Meereis die Fläche der Antarktis fast verdoppelt. Dafür sorgen insbesondere auch die Polynjas.

Polynjas entstehen durch die extremen Fallwinde, die das Packeis aufbrechen und so große Wasserflächen freilegen. Nahe am Antarktischen Kontinent kann es besonders windig werden. Denn über dem zentralen Plateau der Antarktis liegt ein stabiles Hochdruckgebiet, in das wärmere Luft aus großer Höhe einströmt. Diese Luft kühl ab, sinkt nach unten und strömt über das Schelfeis aufs Meer. Im Osten der Antarktis wird das ganze Jahr über eine konstante Windgeschwindigkeit von 80 Stundenkilometer gemessen, solche Fallwinde können aber auch über 300 Kilometer pro Stunde schnell werden – und dann auch die Packeisflächen vor der Küste aufbrechen.

Diese von den kalten Fallwinden freigelegten Wasserflächen werden nun allerdings gewissermaßen zu Eisfabriken, wobei jedoch große Mengen an Salz freigesetzt werden: Durch die Abkühlung des Wassers wird ständig neues Meereis gebildet, welches nur noch recht wenig Salz enthält. So entsteht nicht nur neues Eis, sondern auch ein sehr kaltes, salzreiches und somit dichtes Wasser – und da Salzwasser schwerer als Süßwasser ist, strömt es in die Tiefe. Da es um die Antarktis zahlreiche Polynjas gibt, die für die Tiefenströmungen sorgen, ist hierin also ein wesentlicher Motor für die Meeresströmungen zu sehen.

Pazifischer Ozean

Humboldtstrom und El Niño

Aus dem Zirkumpolarstrom um die Antarktis gibt es mehrere „Ausgänge“, aber eine der stärksten Strömungen führt in den Pazifik: Nahe des südamerikanischen Kontinents drehen die Wassermassen nach Norden ab. Das ist der Humboldtstrom, an dem sich ein wichtiges Phänomen der Meereszirkulation beobachten läßt, nämlich wie nährstoffreiche Meeresströmungen auch die Geografie des Lebens in den Ozeanen beeinflussen.

Der kalte Humboldtstrom ist ein pazifischer Meeresstrom, der über insgesamt 6.500 Kilometer die gesamte südamerikanische Küste entlang nach Norden strömt – von Patagonien bis zum Äquator und von dort weiter zum Galapagos-Archipel. Er ist eine von zahlreichen Meeresströmungen, aber die einzige, die in den antarktischen Gewässern beginnt, nämlich in der extrem rauhen und stürmischen See der Drake-Passage zwischen Antarktis und südamerikanischem Kontinent.

Die Drake-Passage ist eine etwa 1.000 Kilometer breite Meeresstraße und eine Zone des klimatischen Übergangs, wo sich das eisige Polarmeer mit dem Meer der subpolaren Region an der Südspitze von Chile, in Patagonien, vermischt. Sie befindet sich zwischen Kap Horn an der argentinischen Südspitze und der Antarktischen Halbinsel – eine über 1.300 Kilometer lange, gebirgige Landzunge in Richtung Südamerika, die nur zu rund 80 Prozent von Eis bedeckt ist und deren Gebirge mit über 3.200 Meter hohen Gipfeln von der bewegten geologischen Vergangenheit der Halbinsel zeugen, die tektonisch gesehen eine südliche Fortsetzung der südamerikanischen Anden ist, mit der sie lange auch verbunden war: Fast eine halbe Milliarde Jahre lang bildeten Südamerika und die Antarktis nämlich einen Teil des Urkontinents Gondwana (ursprünglich gemeinsam mit Afrika und Australien). Vor 34 Millionen Jahren trennten sich die beiden Kontinente, als Gondwana zerbrach.

Der Humboldstrom entsteht nun zwar in der Drake-Passage, eigentlich aber handelt es sich bei ihm um ein sogenanntes Küstenauftriebssystem: hier wird das warme Oberflächenwasser an der südamerikanischen Pazifikküste durch den Südostpassat weggedrückt. Dadurch erst kann das kalte und nährstoffreiche Tiefenwasser des Stroms aus der Antarktis an die Meeresoberfläche aufsteigen – der sogenannte Küstenauftrieb. Vier solche Küstenauftriebssysteme gibt es weltweit, neben dem Humboldtstrom sind das:

  • der Kanarenstrom vor Nordwest-Afrika,
  • der Bengualstrom vor der Westküste Südafrikas und
  • der Californiastream vor der kalifornischen Pazifikküste.

Küstenauftriebssysteme wie der Humboldtstrom sorgen für einen einzigartigen Artenvielfalt im Ozean. Sie machen zwar nur zwei Prozent der Meeresoberfläche aus (nach anderen Angaben sind es 10 Prozent), hier aber leben 90 Prozent aller Meeresbewohner (und auch 20 Prozent des weltweiten Fischfangs wird hier gemacht). Der Humboldtstrom ist dabei der Meeresstrom mit der größten Artenvielfalt der Erde.

Die Grundlage für diesen Artenreichtum im Humboldtstrom bildet das Plankton, also pflanzliche und tierische Organismen (die außerdem auch die Hälfte des Sauerstoffs produzieren, den wir atmen, und genauso viel des gesamten Kohlendioxids in der Atmosphäre absorbieren!). Das Leben dieser Organismen wird gänzlich von den Meeresströmungen bestimmt, das heißt erst der Küstenauftrieb beim kalten Humboldtstrom sorgt für eine außergewöhnliche Planktonfülle: Wie ein gewaltiger Fluss transportiert er Nährstoffe im Meer, das heißt die kühle Strömung führt viel Sauerstoff mit sich – und Sauerstoff ermöglicht das gedeihen mikroskopischen Lebens, das wiederum die Nahrungsgrundlage für viele weitere Arten bildet: Plantkon wird von Zooplankton gefressen, das wiederum die Nahrung für die Sardellen darstellt, die wiederum die Nahrungsgrundlage für zahlreiche andere Fischarten darstellen.

Wo viel Plankton ist, sind also auch viele Fische – und Änderungen in den Strömungsverhältnissen führen sofort auch zu Veränderungen in der Artenvielfalt. Denn die Sauerstoffgrenze, unterhalb derer für viele Fische zu wenig Sauerstoff vorhanden ist, hängt direkt mit dem Auftrieb zusammen. Schwächt dieser sich ab, sinkt die Sauerstoffgrenze. Die Fische verteilen sich dann über ein größeres Gebiet. Die Meeresströmungen sorgen hier also nicht nur für den Anfang der Nahrungskette, sondern auch für ihre Stabilität.

In Patagonien stößt der Humboldtstrom das erste Mal auf Land. Hier, wo die südlichen Anden und unberührte Regenwälder direkt bis an die Pazifikküste reichen, existiert eine einzigartige Landschaft aus Fjorden und Archipeln. In Patagonien sind im Landesinneren riesige Flächen von gewaltigen Eiskappen und Gletschern überzogen – und sie alle schmelzen in den letzten Jahren angesichts der Klimaerwärmung immer schneller: Von der letzten Eiszeit sind in Patagonien nur noch vier Prozent des Eises übrig – und die globale Erwärmung sorgt dafür, dass auch dieses Eis bald schmelzen wird. Andererseits gelangt so kostbares Süßwasser in die Flüsse und lässt das Grasland gedeihen, wodurch wiederum zahlreiche neue Lebensräume entstehen. Über das Schmelzwasser der Gletscher gelangen auch Mineralien und Nährstoffe aus den Anden in den Humboldtstrom. Er ist deshalb auch etwas weniger salzhaltig als der Ozean, durch den er fließt.

Aber nicht nur im Wasser – der Humboldtstrom beeinflusst auch die Ökosystems und Lebensräume an Land, und zwar über den gesamten 5.000 Kilometer langen Küstenverlauf. Insbesondere in Küstennähe wirkt sein Einfluß direkt: Zum einen bringen die vorherrschenden Winde durch die Flusstäler kühle Luft ins Landesinnere, zum anderen führen sie in sehr küstennahen Gebieten wie beispielsweise dem Valle del Limarí mitunter auch Nebel mit sich, Camanchaca genannt, der sich durch die Mischung von warmen Luftmassen und kühlen Wassertemperaturen an der Oberfläche gebildet hat. Eine Meeresbrise bringt so Feuchtigkeit in die ansonsten trockenen Weinanbaugebiete – oder etwas weiter nördlich auch in die Atacamawüste zwischen Pazifik und Andengebirge, der ältesten und trockensten Wüste der Erde.

Neben dem Humboldtstrom üben Fallwinde aus den Anden über die gesamte Nord-Süd-Achse Südamerikas einen temperaturmildernden, kühlenden Einfluß am westlichen und östlichen Rand der Weinbaugebiete aus. In manchen Jahren allerdings leiden insbesondere auch die Weinbauregionen Chiles unter dem Klimaphänomen El Niño beziehungsweise der damit verbundenen Dürre. Es ist nun gerade die Erwärmung der ansonsten so kalten Küstengewässer, der bisweilen den Beginn des El-Niño-Phänomens markiert.

El Niño ist ein in einem Zyklus von sechs bis zehn Jahren auftretendes Wetterphänomen (zuletzt 2015, aber immer zur Weihnachtszeit, daher auch der Name: „das [Christus-]Kind“), das sich im gesamten pazifischen Raum bemerkbar macht. Auch wenn die Ursache bis heute nicht restlos klar ist, sind Veränderungen der Wassertemperatur des Pazifischen Ozeans für das Phänomen entscheidend – und zwar in den tieferen Wasserschichten des Humboldtstroms. Diese erwärmen sich um mehrere Grad Celsius, was nun die globalen Wind- und Niederschlagssysteme komplett durcheinander bringt.

El Nino zeugt von der starken Verbindung von Ozean und Atmosphäre, das heißt für das El-Niño-Phänomen sind die beiden Bereiche Atmosphäre und Ozean entscheidend: In der Atmosphäre vor Südamerika gibt es ein Gebiete mit hohem Luftdruck – es ist kühl aber trocken. Auf der anderen Seite des Pazifiks, in der asiatisch-australischen Region, sind hingegen ein niedriger Luftdruck sowie relativ warme und feuchte Bedingungen vorherrschend. Die Passatwinde nun fungieren zwischen diesen beiden Luftdrucksystemen als Ausgleich – sie wehen normalerweise beständig Richtung Westen. (Man unterscheidet Nordost- und Südostpassat. Eigentlich wehen beide beständig etwa vom 30. Breitengrad von Norden und Süden Richtung Äquator, wo sie sich treffen, sie werden dabei aber von der durch die Rotationsbewegung der Erde ausgelösten Corioliskraft nach Westen abgelenkt.)

Im Pazifischen Ozean sorgen die Passatwinde dafür, dass die kalten Meeresströmungen in Richtung der wärmeren Gewässer nach Westen geweht werden: der Pazifik ist vor Südamerika durch den Humboldtstrom kalt und hat nur etwa 20 Grad, während er vor Südostasien mit 30 Grad sehr warm ist – auch hier kommt es normalerweise also zu einer Art Ausgleichsbewegung.

El Niño nun dreht dieses Prinzip komplett um: regelmäßig brechen die Hochdrucksysteme vor Südamerika zusammen – aus noch unbekannten Gründen. Die Winde hören dann auf zu wehen beziehungsweise wehen plötzlich in die andere Richtung. Infolgedessen kommt das ganze Strömungssystem in Luft und Wasser zum erliegen oder kehrt sich sogar um: der Wind bläst nun nach Osten und treibt die warmen Wassermassen an die südamerikanische Westküste (und führt hier zu einem Mangel an Nährstoffen aus kühleren Schichten des Ozeans und einer verminderten Planktonproduktion, was insbesondere auch in Peru das Ökosystem auf den Kopf stellt: So hat sich beispielsweise beim letzten El Niño die Wassertemperatur auf 25-28 Grad Celsius erhöht, was für ein verschwinden der Sardellen gesorgt hat und damit auch zu einem Rückgang des Fischfangs um 95 Prozent).

Es ändern sich also die Wetterverhältnisse und klimatischen Bedingungen im gesamten Pazifikraum durch das Phänomen – und zwar dramatisch: der ansonsten kühle Ozean vor Südamerika wärmt sich auf – der Humboldtstrom kommt praktisch zum erliegen – und gibt plötzlich viel Feuchtigkeit ab. Entsprechend entsteht eine hohe Luftfeuchtigkeit dort, wo es eigentlich sonst trocken ist und es kommt zu verheerenden Starkregenereignissen (beispielsweise in der Atacama-Wüste). In der eigentlich feuchten australisch-asiatischen Region ist es dagegen plötzlich sehr trocken und es herrscht extreme Trockenheit (oder kommt zu heftigen Feuersbrünste wie zuletzt in Indonesien und Australien).

Alles beginnt also mit einer Veränderung der Passatwinde und führt zu atmosphärischen Störungen, die vor allem die Tropen treffen, aber globale Auswirkungen haben: Die Auswirkungen beschränken sich nicht nur auf den Pazifikraum, sondern auch Regionen in Nordamerika waren betroffen. In Kalifornien beispielsweise führte der letzte El Niño zu extremen Starkregenereignissen und Überschwemmungen, während sich die Auswirkungen in Europa in Grenzen hielten: die Temperaturen stiegen hier nur um durchschnittlich 1,4 Grad Celsius. Allerdings wurde zuletzt auch im Atlantik vor Europa ein ähnliches Wettersystem entdeckt, zwischen Azorenhoch und Islandtief. Es sorgt regelmäßig für kalte Winter, ist aber noch nicht ausreichend erforscht.

Unterliegen die Strömungen jedoch keinen Störungen, fließt der Humboldstrom in etwa 45 Kilometer Entfernung zur chilenischen und peruanischen Küste weiter bis zum Äquator, in dessen Nähe er dann auf den Panamastrom trifft, der von Nord nach Süd fließt. Gleichzeitig begegnet er dem Cromwell-Strom (auch Pazifischer Äquatorialer Unterstrom genannt), ein nach Osten fließender unterirdischer Strom, der sich über die Länge des Äquators im Pazifischen Ozean erstreckt und aus der Tiefe aufsteigt. Angetrieben von den saisonalen Winden und unterstützt durch die Erdrotation, dreht der Humoldstrom an dieser Stelle von der Küste ab in Richtung Westen, dem Äquator entlang hinaus in die Weiten des Pazifik.

Bevor er sich mit wärmeren tropischen Strömungen vermischt und ein vollkommen neues marines Ökosystem entsteht, trifft der Humboldtstrom fast genau auf dem Äquator noch auf das zu Ecuador gehörende urzeitliche Galapagos-Archipel, mitten im Pazifik, etwa 1.000 Kilometer vor der südamerikanischen Küste. Die Galapagos sind eine Ansammlung von 13 spektakulären, unterseeischen Vulkaninseln und hunderter kleinerer Inseln und Eilande, die hier als Gipfel eines submarinen Gebirges aus zahlreichen Vulkanen aus dem Wasser ragen. Ihre Entstehung verdanken sie einem sogenannten Hot-Spot, wo Magma aus dem Erdinneren aufsteigt und die Erdkruste durchbricht. Wie in Hawaii waren es auch hier tektonische Verschiebungen und dieser Hot-Spot, die vor vier Millionen Jahren zu jenen Vulkanausbrüchen geführt haben, durch die die Inseln erst entstanden sind (Española war die erste).

Jede Insel des Archipels ist anders, mit einzigartiger Geografie und Klimazone. Dabei ist das Klima hier insgesamt nicht typisch tropisch, obwohl die Galapagosinseln direkt auf dem Äquator liegen. Das liegt daran, dass hier zwei Erdplatten – die Nazca- und die Cocoserdplatte – aufeinantertreffen und gleich vier gewaltiger Meeresströmungen, wobei insbesondere zwei das Klima des Archipels beeinflussen: eben der aus der Antarktis kommende eiskalte Humboldtstrom, der die Luft über dem Meer abkühlt und eine Hälfte des Jahres bestimmt; in der anderen Jahreshälfte dominiert der warme Panamastrom, der aus Mittelamerika kommt und tropisch-warm ist. Zwar bringt der Panamastrom kaum Nährstoffe, dafür kommt mit ihm aber tropischer Regen. Während zu dieser Zeit im Meer also Mangel herrscht, beginnt das Land zu ergrünen, weil die Regenwolken an den hohen Bergen hängenbleiben und abregnen. Auf den eigentlich kargen Vulkaninseln beginnt dann alles zu blühen.

Kalifornienstrom

Wie der Humboldtstrom im südlichen Pazifik, ist der Kalifornienstrom Bestandteil des sogenannten nördlichen pazifischen Kreislaufsystems, wo er den Nordpazifikstrom entlang der kalifornischen Küste nach Süden erweitert und dann am Äquator in den Nordäquatorialstrom übergeht – so wie der Humboldtstrom in den Südäquatorialstrom. Das heißt, südlich und nördlich des Äquators treiben die Wasser mit dem Nord- und Südäquatorialstrom in den oberflächlichen Wasserschichten in 200 bis 300 Meter Tiefe weiter westwärts – zunächst bis nach Ozeanien. Am westlichen Rand des Pazifiks werden Wassermassen dann aber vom gegenläufigen Äquatorialen Unterstrom erfasst, der sie wieder zurück nach Amerika schickt – direkt unter dem Äquator, in etwa 100 Meter Tiefe. (So werden die Weltmeere auch mit Plankton versorgt, wobei die Ozeane jeweils unterschiedliche Biome besitzen, das heißt verschiedene Planktonarten, je nach Wassertemperatur.)

Der Kalifornienstrom führt kaltes Wasser aus Richtung Alaska nach Süden, weshalb der Pazifik an der kalifornischen Küste auch entsprechend kalt ist. Auch beim Kalifornienstrom handelt es sich dabei um ein sogenanntes Küstenauftriebssystem, das heißt der Kalifornienstrom wird verursacht durch kühle Auftriebswässer, die an die Oberfläche gelangen, weil der ablandige Passatwind (Nordostpassat) die warmen Wassermassen an der Oberfläche nach Westen geweht hat. Die kühlen Strömungen aus der Tiefsee sorgen – ähnlich wie beim Humboldtstrom – für einen enormen Nährstoffreichtum, sodass es an der kalifornischen Küste inzwischen wieder über 2.000 Blauwale gibt (sie finden hier Krill in den aufsteigenden Strömungen und müssen nicht tief abtauchen) und überhaupt die höchste Artenvielfalt des Kontinents.

Der Kalifornienstrom beeinflusst aber nicht nur das Ökosystem der küstennahen Gewässer: Angesichts der Größe Kaliforniens ist verständlich, dass es regionale Unterschiede in der Geografie und dem Klima gibt, dennoch spielt im größten Teil des Landes der Breitengrad bei der Bestimmung des Klimas eines bestimmten Weinbergs eine relativ geringe Rolle – wesentlicher ist der Einfluss der hier im Sommer etwa 15 Grad Celius kühlen Meeresströmung, die in Kalifornien für eine Temperaturabkühlung von jährlich durchschnittlich etwa 6 Grad Celius sorgt (gegenüber Kampanien in Süditalien beispielsweise, das auf dem gleichen Breitengrad liegt).

Weil nun die warme Luft aus der stark erhitzten Wüstenlandschaft im Landesinneren auf diese kalten Wassermassen trifft, bildet sich Küstennebel, der praktisch den ganzen Sommer über dem Ozean liegt. Seewinde sorgen dafür, dass dieser Nebel durch die Täler ins Landesinnere zieht und so auch in den Weinanbaugebieten für Feuchtigkeit und Kühlung sorgt. Wenn sich die Temperaturen beispielsweise in Sonoma, im Landesinneren, der 32-Grad-Marke nähern, saugt die aufsteigende warme Luft dort den Dunst landeinwärts und sorgt für etwas Kühlung. So ist es in kalifornischen Weinanbaugebieten wie Sonoma praktisch jeden Morgen nebelig.

Insgesamt wirkt insbesondere die Bucht von San Francisco – ähnlich wie der Humboldtstrom in den Weinanbaugebieten in Chile – wie ein Klimaregulator: kalte Luft, oft von Nebel begleitet, zieht vom Meer herein und senkt die Nachttemperaturen. Zusätzlich braucht die Sonne am Morgen einige Zeit, um den Nebel aufzulösen, was bedeutet, dass der kühlende Einfluß auch in der ersten Tageshälfte spürbar ist. In küstennahen Gebieten, etwa in Carneros am Südrand von Napa Valley und Sonoma, wo die Temperaturen recht niedrig liegen, kann der Effekt so stark sein, dass er in manchen Jahren sogar die volle Ausreifung der Trauben beeinträchtigt.

Entscheidend für dieses Phänomen ist auch die Entfernung eines Weinbergs zum Pazifik: je mehr Berge zwischen Weinberg und Meer aufragen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die oft mit Nebel einhergehende Seeluft das Klima günstig beeinflußt. Andererseits schirmen die Berge der Coast Range an der Küste die Weinberge dort nicht mehr vom kühlen Pazifik ab, wo sie auf unter 460 Meter Höhe sinken, wie beispielsweise südlich von Los Angeles im Santa Barbara County, wo manche bis zum Meer reichenden Täler die Meeresluft weit ins Hinterland strömen lassen (bis in die Sierra Foothills, 240 Kilometer von der Küste entfernt).

Indischer Ozean

Der Äquatorialstrom treibt aber auch Wassermassen über Ozeanien hinaus bis nach Madagaskar, wo sie sich teilen: der nördliche Zweig führt in das Becken des Indischen Ozeans, der südliche Zweig in den Mocambique- und den Agulhasstrom – das Pendant zum atlantischen Golfstrom. Er führt bis an die Südspitze Afrikas. (Hier steigt das kühle Wasser aus dem südlichen Ozean auf und führt – wie beim Humboldtstrom – zu einem enormen Planktonreichtum, was wiederum für eine spektakuläre Sardinienwanderung hierhin sorgt.)

Wo der warme Mocambique- und Agulhasstrom auf den kalten Benguelastrom treffen, vor Südafrika, entsteht Verdunstungsnebel, der von Seewinden ins Landesinnere geweht wird und dort insbesondere in den küstennahen Gebieten eine kühlende Wirkung entfaltet – ähnlich wie beim Humboldtstrom in Chile. So wachsen in Südafrika die meisten Weinreben in Küstennähe in einem kühleren Klima, als es der südliche Breitengrad vermuten läßt (Weinbau findet hier zwischen dem 27. und dem 34. südlichen Breitengrad statt), während im Landesinneren wesentlich höhere Temperaturen herrschen.

Etwas weiter südlich vor der südafrikanischen Küste, wo die warmen Meeresströmungen auf den kalten Antarktischen Zirkumpolarstrom treffen, entstehen große, vertikale Wasserwirbel, die von der Oberfläche bis zum Meeresboden reichen. Diese Wirbel führen zu Umwälzungsprozessen, die erst langsam verstanden werden. Aber da sie die in den Ozeanen gespeicherte Wärme sowohl horizontal als auch vertikal bewegen, sind auch sie ein wichtiger Klimafaktor.

Neben dem Wärmeaustausch haben diese Wirbel auch insofern einen wichtigen Einfluss auf das Klimasystem, als sie wichtig für die Speicherung von Kohlendioxid in den Ozeanen sind: Denn durch die senkrechte Bewegung des Wasser aktivieren die Wirbel die Produktion von Plankton, das – wie bereits in Zusammenhang mit dem Küstenauftriebssystems des Humboldtstroms erläutert – Kohlendioxid absorbiert. Gleichzeitig ziehen sie Wasser in die Tiefe, in dem bereits Kohlendioxid gespeichert ist – und insbesondere in diesen kalten Tiefen- und Bodenwassern erfolgt die Speicherung, also im Nordatlantik und im südlichen Ozean. (Aber die kohlendioxidreichen Tiefseeströmungen aus dem Nordatlantik steigen südlich des Zirkumpolarstroms wieder an die Oberfläche auf und geben dort auch wieder Kohlendioxid an die Atmosphäre ab, weshalb eine genaue Einschätzung des Kohlendioxidaustausches zwischen Ozean und Atmosphäre nur schwer möglich ist.)

Zweifelsfrei nimmt die Menge des absorbierten Kohlendioxid mit zunehmender Erwärmung ab: Nachgewiesen ist, dass der Nordatlantik im Vergleich zu Studien vor zehn Jahren nur noch etwa die Hälfte des Kohlendioxids speichert, der südliche Ozean sogar nur noch etwa ein Zehntel. Gleichzeitig ist die Kohlendioxid-Konzentration in den Meeren im gleichen Zeitraum gestiegen: bis zum Jahr 2100 wird sich die Menge wahrscheinlich verdreifachen, was zu einer Versauerung der Meere führt – und so das Leben in den Ozeanen bedroht. Eine erhöhte Abgabe des in den Ozeanen gespeicherten Kohlendioxids würde außerdem zu einer Beschleunigung der Erderwärmung führen.

Die Wirbel haben eine Lebensdauer von etwa zwei bis drei Jahren und bewegen sich langsam durch den Atlantik, den sie innerhalb weniger Monate durchqueren können. Wassermassen gelangen so nicht allein mit den Äquatorialströmen, sondern auch mit diesen Wirbeln nach Südamerika – wo dann wiederum der für das Klima und den Weinbau in Europa so wichtige Golfstrom entsteht.

Atlantischer Ozean

Golfstrom

Im Atlantischen Ozean ist der Golfstrom Teil des Kreislaufs der globalen Meeresströmungen. Er transportiert warmes Wasser vom Golf von Mexiko bis hinauf in den äußersten Norden Europas, zum Polarkreis, und sorgt so dafür, dass die Temperaturen in Westeuropa mindestens 5 bis 10 Grad wärmer sind als ohne ihn. Weinbau wäre zum Beispiel in Bordeaux ohne den Golfstrom nur schwerlich möglich.

Der Golfstrom nimmt seinen Anfang im namensgebenden Golf von Mexiko. Das ursprünglich kühle Atlantikwasser der Strömung erwärmt sich dort, doch dann versperren ihm Kuba und Florida den Weg – was zu einem wichtigen Beschleunigungseffekt führt. Denn in der vergleichsweise engen Floridastraße werden die gewaltigen Wassermassen der Meeresströmung – einem Windkanal ähnlich – verdichtet und so auf etwa 9 Kilometer pro Stunde beziehungsweise 5 Knoten beschleunigt. Mit dieser Geschwindigkeit strömt der Golfstrom nun die nordamerikanische Atlantikküste hinauf Richtung Neufundland, wo er mit dem aus dem Arktischen Ozean kommenden kalten Labradorstrom zusammentrifft, bevor er in der Westwindzone zwischen dem 50. und 60. Breitengrad als Nordatlantischer Strom den Atlantik durchquert.

Im Atlantik wird der Golfstrom zum Nordatlantischen Strom (Nordatlantikdrift) und teilt sich: Ein Teil seines Wassers biegt dabei nach Süden ab und passiert die zu Portugal gehörenden Azoren, eine Gruppe von Vulkaninseln mitten im Atlantik, etwa 2.000 Kilometer von der portugiesischen Küste entfernt. Die Gewässer hier zählen zu den Fischreichsten der Welt – außerdem sorgt der Golfstrom hier für ganzjährig milde Temperaturen, weshalb auf den Azoren, mitten im Atlantik, sogar Weinbau praktiziert werden kann.

Die Azoren liegen, wie auch die Vulkaninsel Island, genau auf der Grenze zweier Kontinentalplatten: dem Mittelatlantischen Rücken, also der Zone, in der die eurasische und die nordamerikanische Kontinentalplatte gebildet werden und unaufhörlich auseinander driften – die eine wandert nach Osten, die andere nach Westen. Die Erdoberfläche wird dadurch ständig gedehnt und auseinandergerissen und mit Magma aus dem Erdinneren aufgefüllt. Ständig bricht an dieser Nahtstelle also Material aus dem Erdinneren nach oben und formt die eurasische und die nordamerikanische Platte. Mehr noch als auf den Azoren macht sich dieser Vulkanismus in Island, unter dem zusätzlich noch ein Hot Spot liegt, besonders stark bemerkbar: Im Schnitt bricht dort alle fünf Jahre ein Vulkan aus (und wo gletscherbedeckte Vulkane ausbrechen, schmelzen ihre Eiskappen und es ergießt sich eine gewaltige Flut aus geschmolzenem Eis und Schutt – der sogenannte Gletscherlauf – ins Tal).

Die Azoren hingegen sind weniger wegen des Vulkanismus des Mittelatlantischen Rückens bekannt, sondern insbesondere wegen des nach ihr benannten Azorenhochs. Es entsteht weil die über den Tropen erwärmte Luft bei ihrer Reise Richtung Nordpol zwischen dem 25. und 30. Breitengrad auf die kalte Luft der Polregion trifft. Dort liegt der Gegenspieler des Azorenhochs: das Islandtief. Durch die Rotation der Erde wird der warme Luftstrom nach Osten abgelenkt und genau über den Azoren beginnt er zu rotieren, das Azorenhoch entsteht. Bleibt es stabil, bedeutet das für Europa Sommerwetter, weil es kontinuierlich warme Luft aus Afrika nach Norden pumpen kann. (Luft strömt immer von Hoch- zu Tiefdruckgebieten. Je größer der Druckunterschied, desto stärker der Wind: von leichter Brise bis hin zu schweren Stürmen.)

Umgekehrt sorgen die Wassermassen des nach Süden abgelenkten Arms des Golfstroms aber auch für etwas Kühlung auf den Kanaren: Bei den Kanaren handelt es sich um eine Inselgruppe westlich von Afrika, auf der Höhe der Sahara, am äußersten Rand der Klimazone, die sich für Weinbau eignet. Ständig weht hier ein kräftiger Wind und die Sonne brennt das ganze Jahr gnadenlos, aber der kühle Kanarenstrom, eine von Norden kommende und zwischen den Kanaren und der afrikanischen Nordwest-Küste verlaufende Meeresströmung, sorgt für etwas Kühlung, sodass hier tatsächlich auch Wein produziert werden kann.

Der Hauptarm des Golfstroms aber bewegt sich als Nordostatlantischer Strom weiter Europa zu, wo er seine Wärme in die Atmosphäre abgibt und so für ein mildes Klima sorgt: Südwestwinde und die Gezeiten tragen die Wärme des Golfstroms an die gesamte europäische Atlantikküste – von Frankreich (Bordeaux) bis hinauf zu den nordwestlich von Norwegen gelegenen Lofoten und weiter in die Arktis.

Die Lofoten sind eine Inselgruppe im Nordwesten Norwegens, etwa 200 Kilometer nördlich des Polarkreises, die wegen der warmen Meeresströmung ein relativ warmes, trockenes Klima haben, sodass – auch aufgrund der Mitternachtssonne von Ende Mai bis Mitte Juli – hier sogar Erdbeeren anbauen lassen. Bekannt sind die Lofoten aber wegen ihres Fischreichtums aufgrund der warmen Gewässer: Durch ihn ist das Wasser hier erst eisfrei, außerdem bringt der Golfstrom nährstoffreiches und warmes Wasser und sorgt so dafür, dass der Dorsch zu den Lofoten kommt um hier zu Laichen (Dorsch ist der noch nicht geschlechtsreife Kabeljau). Erst im Frühjahr, wenn die Dorschsaison – aus ihm wird getrockneter Stockfisch – endet, wandert der Fisch von seinen geschützten Laichplätzen bei den Lofoten wieder zurück in die kalte Barentssee.

Früher kam der Kabeljau in ungeheuren Mengen im Atlantik vor (die Wikinger folgten seinen Schwärmen bis nach Amerika), in letzter Zeit aber hat sich das Wasser hier bei den Lofoten um über ein Grad erwärmt, weshalb der Kabeljau nach Norden ausgewichen ist um dort zu laichen. Entsprechend gibt es bei den Lofoten heute etwas weniger Dorsch. Dennoch wird er hier immer noch gefangen – Stockfisch von den Lofoten hat sogar eine eigene „geschützte Ursprungsbezeichnung“.

Über 10.000 Kilometer legt der Golfstrom also zurück, von den Tropen bis zum Polarkreis. Durch Verdunstung in den heißen Regionen ist das Atlantikwasser dabei salzhaltiger geworden und durch die Vereinigung mit dem aus dem Arktischen Ozean kommenden Labradorstrom auch kälter (der Labradorstrom ist Bestandteil des sogenannten kleinen atlantischen Stromringes, zu dem unter anderem auch der Gröndlandstrom und der Nordostatlantische Strom gehören). Beide Faktoren führen dazu, dass das Wasser dichter und schwerer wird und nun in der Grönlandsee – einem nördlichen Randmeer des Atlantiks – wie ein Wasserfall auf den Meeresboden sinkt und nachfließendes Wasser mit sich zieht: In kilometerbreiten Säulen fällt das Wasser zwischen Island und Grönland in eine Tiefe von etwa 4.000 Meter ab, um von dort aus parallel zum Mittelatlantischen Rücken zurück Richtung Süden zu strömen. Auch die kalte Grönlandsee fungiert insofern als eine Art Motor für das Strömungssystem – auch wenn es mehrere hundert Jahre dauert, bis es schließlich in der Tiefe zurückgeflossen ist.

Schneller bewegt sich das Oberflächenwasser, das vom Nordostpassat in Richtung Mittel- und Südamerika zurück geweht wird und von dort in den Golf von Mexiko. Dort beginnt der Kreislauf wieder von vorne: das abgekühlte Wasser erwärmt sich erneut und der Nordäquatorialstrom wird wieder zum Golfstrom. Dieser Kreislauf, diese Umwälzströmung, scheint sich allerdings abzuschwächen. Es besteht jedenfalls die Gefahr, dass die vom Mensch verursachte Klimaerwärmung zum Einfließen großer Mengen von grönländischem Schmelzwasser in den Atlantik führt.

Grönland ist zu 80 Prozent von Eis bedeckt und ein Abschmelzen dieses Grönlandeises würde den Golfstrom quasi „verdünnen“, sodass er nicht mehr so konzentriert in die Tiefe absackt. Das zunehmende Süsswasser würde insofern den atlantischen Strömungskreislauf abschwächen und das würde natürlich den Golfstrom beeinflussen: er würde weniger Wärme von den Tropen nach Norden transportieren. Eine Störung des atlantischen Strömungssystem könnte zudem auch zu katastrophalen Unwetterphänomenen wie beim El Niño führen, wo das pazifische Strömungssystem komplett durcheinander gerät.

Arktischer Ozean

Der Arktische Ozean (Nordpolarmeer) macht nur vier Prozent der Gesamtoberfläche aller Meere aus, er spielt aber eine wichtige Rolle, weil er – wie der Antarktische Ozean in der südlichen Hemisphäre – die Strömungen im Nordatlantik und überhaupt in der nördlichen Hemisphäre maßgeblich beeinflusst: Mit dem Atlantik ist der Arktische Ozean über das sogenannte Europäische Nordmeer zwischen Grönland und Skandinavien verbunden (das Europäisches Nordmeer ist insofern wie das Grönlandmeer ein Randmeer des Atlantiks, weil es zu diesem Ozean überleitet); Mit dem nördlichen Pazifik wiederum ist es über die nur etwa 85 Kilometer breite Beringstraße verbunden – über sie gelangt also kaltes Wasser in den Nordpazifischen Strömungskreislauf.

Wie bei den Tiefenwassern in der Grönlandsee oder in Zusammenhang mit den Polynjas in der Antarktis, gibt es ein solches Phänomen auch im Eismeer der Arktis: Dort wird das Absinken des Wassers zur kalten Jahreszeit durch ein Phänomen verstärkt, das Auswirkungen auf das globale Klima hat. Denn dort verliert das Eis, das aus gefrorenem Salzwasser besteht, aufgrund der Schwerkraft langsam seinen Salzgehalt. Das Ergebnis ist eine kalte und schwere Salzlake, die in die Tiefe sinkt und dabei gewaltige Wassermengen mit sich reißt: Wie ein Förderband zieht dieser gigantische unterseeische Wasserfall salzreiches Wasser 2.000 Meter in Tiefe und schiebt es ähnlich langsam Richtung Süden.

Ausgeglichen wird das durch wärmere Strömungen an der Wasseroberfläche, die sich nach Norden bewegen und sich dabei wiederum abkühlen. So entsteht eine sogenannte thermohaline Zirkulation, abgeleitet von den griechischen Begriffen „thermos“ für „warm“ und „halos“ für Salz. Dieser gewaltige Strömungskreislauf transportiert Wärme und ist damit für das klimatische Gleichgewicht der Erde mitverantwortlich – er fungiert also gewissermaßen wie ein Thermostat.

Durch die Klimaerwärmung aber nimmt nun nicht nur die arktische Eisdecke ab, sondern auch die Gletscher in Grönland schmelzen immer schneller. Gletscher entstehen grundsätzlich im Laufe vieler Jahrhunderte bis Jahrtausende in kalten Regionen, wenn Niederschlag als Schnee gefallen nicht schmilzt, sondern sich immer weiter aufschichtet und schließlich unter seinem eigenen Gewicht zu festem Eis gepresst wird. Das geschah insbesondere während der letzten Kaltzeiten, das heißt seit rund 2,5 Millionen Jahren wechseln sich Kaltzeiten und Warmzeiten auf der Erde regelmäßig ab, jeder Zyklus dauert rund 100.000 Jahre. Während der Kaltzeiten sanken die globalen Temperaturen so deutlich, dass Gletscher wuchsen, bis sie fast ein Drittel aller Kontinente bedeckten, darunter große Teile Europas und Nordamerikas, insbesondere aber auch die Polregionen.

Gletscher sind nicht statisch, sondern werden von ihrem eigenen Gewicht zu Tal gedrückt. Tatsächlich wandern alle Gletscher mehr oder weniger schnell bergab, es scheint nur so als wären sei eine statische Masse. Durch ihr Gewicht graben sie sich immer tiefer in den darunter liegenden Felsen ein, verbreitern und vertiefen so Täler und speisen zahlreiche Flüsse. Der im Eis mitgeführte Schutt – das sogenannte Geschiebe – lagert sich als Moräne am Ende und an den Seiten ab. Wenn zwei kleinere Gletscher zusammenfließen, werden die Seitenmuränen zu Mittelmuränen, sichtbar als brauner Längsstreifen auf dem hellen Eis.

Lange setzte sich Jahr für Jahr auf den Gletschern in den Polarregionen oder hohen Gebirgen regelmäßig eine neue Schicht Eis ab – in dem meistens auch ein wenig Luft eingeschlossen blieb. (Gletschereis erscheint blau, wenn es keine Luftbläschen enthällt, da diese unter großem Druck zusammengepresst wurden oder wenn Wasser in einer Eisspalte erneut einfriert. Eis mit Luftbläschen schimmert hingegen rein weiß – wie jenes in der Antarktis –, weil sie das Licht reflektieren.) Gletscher enthalten insofern stets auch Informationen über Luftzusammensetzung und Qualität über tausende von Jahren und im Verlauf der Zeit entstand so auch eine Art Klimaarchiv, das sich wissenschaftlich erschließen und nutzen läßt (die ältesten Gletscher in Polnähe enthalten ein solches Archiv, das über 800.000 Jahre zurückreicht). Die weltweite Klimaerwärmung läßt aber auch diese Archive schmelzen. Es gibt heute weltweit praktisch keinen einzigen Gletscher mehr, der noch wachsen würde. Im Gegenteil: Man geht heute sogar davon aus, dass Gebirge wie die Alpen schon in wenigen Jahrzehnten komplett gletscherfrei sein werden.

Schon heute liegen weltweit nur noch etwa 10 Prozent der Landoberfläche unter Gletschereis, davon neun Zehntel in der Antarktis. Das größte zusammenhängende Gletschereisfläche außerhalb der Polregionen ist das kanadische Kluane-Eisfeld im Yukon-Territorium. Aus dem gewaltigen zentralen Plateau wandern über 200 Gletscher ins Tal. Aber auch hier gingen in den letzten 50 Jahren fast ein Viertel der Gletscherflächen aufgrund der Erderwärmung verloren. Auch in Alaska verlieren fast alle der insgesamt fast 27.000 Gletscher ständig an Fläche und Masse.

Durch das Schmelzwasser des Packeises haben die Oberflächenströmungen, die die Labradorsee und das Grönlandmeer erreichen, einen immer niedrigeren Salzgehalt und damit eine immer niedrigere Dichte. Dadurch jedoch verlangsamt sich auch die thermohaline Zirkulation – und damit der Wärmeaustausch. Aus der Erderwärmung folgt eine Zunahme der Süßwassertransport in die Arktis, die die globale Meereszirkulation in Zukunft erheblich beeinträchtigen könnte. Welche Folgen das wiederum für das Klima haben wird, ist schwer abzusehen, klar ist aber, dass das Meereis, das die Wärme im Ozean von der Atmosphäre isoliert und so den Wärmeaustausch maßgeblich beeinflusst, von der Menge es vorhandenen Salzwassers abhängt (je höher der Salzgehalt, desto kälter das Wasser, desto mehr Eis – und ohne Meereis würden enorme Mengen Wärme in die Atmosphäre gelangen).

Fakt ist, dass sich in den letzten Jahrzehnten die durchschnittliche Dicke des Meereises in der Arktis um 40 Prozent verringert hat und seine Fläche im Vergleich zu den 1970er Jahren um fast zwei Millionen Quadratkilometer abgenommen hat. Zahlreiche Klimamodelle sagen voraus, dass der Arktische Ozean schon Mitte dieses Jahrhunderts komplett eisfrei sein könnte.

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Boden

Gemeinsam mit den kulturellen Anstrengungen des Menschen und dem Klima bildet der Boden das sogenannte Terroir. Zusammen mit der Rebsorte wirkt es stilbildend für den Wein, wobei es insbesondere der Boden ist, der mit seinem Nährstoff-, Wasser- und Lufthaushalt sowie seiner Erwärmbarkeit und Durchwurzelbarkeit die Typizität eines Standorts prägt, die im Wein zum Ausdruck kommt.

Von seiner jeweiligen Beschaffenheit hängt ab:

  • die Wärmespeicherfähigkeit und ob er die Wärme insbesondere in kalten Nächten wieder abgeben kann.
  • Auch für das Wasserspeichervermögen ist die Bodenbeschaffenheit wichtig – dafür, ob Niederschlagswasser gespeichert wird oder womöglich schnell abfließt (Drainage). Und nicht zuletzt befinden sich auch
  • die lebenswichtigen Nährstoffe im Boden. Hier entscheidet die Bodenbeschaffenheit – insbesondere die Größe der Körnung – darüber, wie tief die Rebe wurzeln muss, damit ihr diese Nährstoffe zur Verfügung stehen und ob sie viel oder wenig Energie dafür aufbringen muss.

Die Rebe nutzt den Boden zur Verankerung sowie als Nährstoff- und Wasserreservoir – aber auch auf das für Wachstum und Reife der Rebe bedeutende Mikroklima nimmt der Boden Einfluss. Grundsätzlich gilt in diesem Zusammenhang, dass es für den Wein besser ist, wenn es die Rebe schwer hat, an Wasser und Nährstoffe zu gelangen, weil für sie dadurch weniger umgewandelte Sonnenenergie zur Verfügung steht um das holzige Traubengerüst auszubilden. Außerdem geraten die Beeren bei einer knappen Nährstoffversorgung etwas konzentrierter und aromatischer. Nicht zuletzt ist die Rebe so außerdem auch gezwungen tiefer zu wurzeln, was sie wiederum in Trockenphasen vor Wasser- und Nährstoffmangel schützt.

Mineralität

Neben den klimatischen Bedingungen beeinflussen also insbesondere der Nährstoff-, Wasser- und Lufthaushalt des Bodens den Stoffwechsel der Rebe und wirken sich auch geschmacklich auf den Wein aus – auch wenn bis heute nicht abschließend geklärt ist, wie genau. Oft wird in diesem Zusammenhang von Mineralität im Wein gesprochen. Nun stellen Skeptiker zurecht fest, dass die Aromen, die wir als „mineralisch“ identifizieren, wenig mit den tatsächlich vorhandenen Mineralien im Boden zu tun haben, schließlich schafft es kein einziges Mineral überhaupt vom Boden über die Rebe in den Wein. Niemand kann insofern die chemischen Komponenten eines Bodens im Wein schmecken – und zu behaupten, ein Wein schmecke nach „Schiefer“ ist angesichts dessen wohl auch etwas übertrieben.

Aber nun geht es auch gar nicht darum, die Mineralien eines bestimmten Bodens zu identifizieren, auf dem ein Wein wächst. Wenn man beim Wein von „Mineralität“ spricht, bezieht sich das nicht auf das Untergrundgestein, sondern was man schmeckt sind insbesondere Säuren, also Stoffwechselprodukte der Rebe, die unter bestimmten Bodenverhältnissen deutlicher hervortreten. Von Interesse ist insofern allein, dass unterschiedliche Weinbergsböden die in ihnen wurzelnden Rebstöcke und deren Trauben beeinflussen. Und das läßt sich auch schmecken, denn Wein, der auf einem Boden mit einem hohen Mineralgehalt wie etwa Kalk oder eben Schiefer gewachsen ist, schmeckt unzweifelhaft anders, als Weine von nährstoffarmen Lehmböden. Zurecht wird ihnen attestiert, eine deutlich spürbare saline, salzige Note zu haben, während andere Aromen vielleicht weniger ausgeprägt wahrzunehmen sind.

Ob ein Wein nun nach „Schiefer“ schmeckt oder nicht – inzwischen ist unbestritten, dass sich Böden charakteristisch auf den späteren Wein auswirken. Sie verändern die Zusammensetzung von natürlichen Säuren und Aromastoffen im Wein und nehmen so einen entscheidenden Einfluss auf seinen Geruch und Geschmack.

Natur des Bodens

Als Boden bezeichnet man grundsätzlich die oberste Schicht der Erde – die Erdauflage über dem Untergrundgestein. Bei dieser Schicht handelt es sich um eine an der Erdoberfläche entstandene, mit Luft, Wasser und Lebewesen durchsetzte Verwitterungsschicht aus mineralischen und organischen Substanzen. Zusammengesetzt ist der Boden dabei überwiegend aus Mineralien (Silikate und Karbonate, die etwas weniger als die Hälfte ausmachen) sowie aus Wasser und Luft (etwa zu je einem Viertel), den weitaus geringsten Anteil macht gewöhnlich organisches Material aus. In etwa so ist ein Boden aufgebaut – allein es fehlt noch ein entscheidender Faktor, denn ein Boden ist mehr als nur eine Verwitterungsschicht, mehr also als nur zerbröselter und aufgelöster Fels: Egal, welcher Definition von Boden man folgt, wesentliches Merkmal bei allen ist, dass sich Leben in der Krume regt.

Boden ist nicht nur Substrat, sondern selbst ein eigener lebendiger Organismus, wobei insbesondere die mikrobielle Aktivität darüber entscheidet, ob ein Boden auch lebt. Der Humus ist dabei die lebendige Schicht des Bodens, das Leben dort bildet sich vor allem durch zersetzende Organismen, wobei es unter normalen Bedingungen etwa 100 bis 300 Jahre dauert, bis eine etwa ein Zentimeter dicke Schicht eines humosen Bodens gebildet wurde.

Humus ist insofern also eine Bodensubstanz, die durch einen jahrhundertelangen, permanenten Zersetzungs-, Umwandlungs- und Aufbauprozesse organischen Materials durch unzählige Mikroorganismen entsteht. Nur diese Bodenschicht gibt jenen fruchtbaren Untergrund, auf dem sich das Leben auf unserem Planeten abspielt. Umgekehrt aber braucht das Leben auch den Boden um überhaupt lebendig zu sein. Boden ist insofern unabdingbar für alles Leben – er ist im wahrsten Sinn des Wortes unsere Lebensgrundlage. Bruno Latour (1947-2022) sprach in diesem Zusammenhang vom Terrestrischen als einer „dünne[n] Schicht der Kritischen Zone“ zwischen dem Erdinneren und der Atmosphäre, innerhalb derer allein (mikrobiologisches) Leben möglich ist.

Ein entscheidender Schritt im Hinblick auf die Evolution des Lebens im Rahmen der erdgeschichtlichen Entwicklung war vor etwa 500 Millionen Jahren die Bildung der Ozonschicht, die genug kosmische Strahlung abhielt damit Leben an Land überhaupt möglich wurde. Ein weiterer Schritt fand vor etwa 460 Millionen Jahren statt, als die ersten Pflanzen vom Wasser auf das Festland übergingen. Um an die lebenswichtigen Mineralien zu kommen, halfen ihnen wohl Mykorrhiza mit ihren Enzymen. Noch heute jedenfalls sind 80 Prozent aller Arten auf die Zusammenarbeit mit Pilzen angewiesen.

Die Landnahme durch Moose und Flechten erst ermöglichte oder beschleunigte zumindest die Bodenbildung, denn neben Wasser war erst ab jetzt auch genug organische Substanz da, um Erde zu bilden. Der älteste fossile Boden, den man bisher entdeckte, ist so vor etwa 380 Millionen Jahren entstanden, wobei insbesondere auch Mikroben wichtig für die Umwandlung des Verwitterungsmaterials in fruchtbare Erde sind, indem sie mit Hilfe von Enzymen organische Substanzen in ihre Grundbausteine zerlegen. Bis dahin bestanden die Böden allein aus verwittertem Grundgestein, das allerdings extrem reich an Mineralien ist, die so wichtige Nährstoffe wie Natrium, Kalium, Stickstoff und Phosphor enthalten. Es gab noch keinen Humus, keine organische Substanz – es waren noch Substrate ohne Leben. Erst die Pflanzen brachten das Leben in den Boden, erst durch ihre Zersetzung entstand fruchtbarer Humus.

Entscheidend für das Leben beziehungsweise die mikrobielle Aktivität und damit auch die Fruchtbarkeit des Bodens ist die Bodenazidität, also der Säuregehalt des Bodens. Gemessen wird dieser Säuregehalt mit dem ph-Wert: je geringer dieser Wert, desto saurer der Boden.

  • < 4,5 stark sauer
  • 4,5 – 5,5 sauer
  • 5,5 – 6,5 schwach sauer
  • 6,5 – 7,2 neutral
  • >7,2 basisch beziehungsweise alkalisch

Saure Böden mit geringen ph-Werten weisen eine geringe mikrobielle Aktivität auf, das heißt die Verfügbarkeit an Mineralien ist auf sauren Böden viel schwieriger und die Rebe muss kämpfen, was sich allerdings wiederum positiv auf die Qualität eines Weines auswirkt. Das ist beispielsweise bei Ton- oder Schieferböden der Fall, aber auch bei Urgesteinsböden aus Basalt oder Granit, wie beispielsweise im spanischen Rias Baixas, wo die Granitböden einen ph-Wert von etwa 3,2 aufweisen. Aber auch Kalkböden sind stark sauer: der Albariza genannte Boden in Andalusien zum Beispiel hat einen Kalkanteil von etwa 25 bis 40 Prozent und organische Stoffe nehmen bei ihm nur etwa 1,5 Prozent ein. Generell gilt, dass die meisten Nährstoffe bei einem nur schwach sauren ph-Wert freigesetzt werden und damit für die Rebe verfügbar sind.

Grundsätzlich werden Mineralien bei Verwitterungsprozessen freigesetzt. Überhaupt sind die vielfältigen geologischen Schichten Europas durch Verwitterung und Erosion gekennzeichnet: Einerseits entstehen durch die Verwitterung im Lauf der erdgeschichtlichen Entwicklung überhaupt erst Böden, andererseits verlieren die entstandenen Böden auf dem eigentlich mineralreichen Urgestein selbst ihre Fruchtbarkeit durch solche Verwitterungs- und Erosionsprozesse. Zurück bleibt dann oft nur unfruchtbarer Quarzsand, der sich aufgrund seiner Nährstoffarmut nur bedingt für die Landwirtschaft und den Weinbau eignet.

Dagegen haben basische Böden wie solche mit einem hohen Kalkanteil eine höhere mikrobielle Aktivität. Grundsätzlich gilt ansonsten, dass in wärmeren Böden die Mikroben besser arbeiten, das heißt mehr Nährstoffe zur Verfügung stehen. Bei Nährstoffmangel werden Böden bisweilen auch landwirtschaftlich oder weinbaulich bearbeitet: Durch die intensive und tief reichende Bodenbearbeitung insbesondere bei der Neuanlage eines Weinbergs – ein Vorgang, den man auch als Rigolen bezeichnet und der nicht mit dem weniger tief reichenden Pflügen verwechselt werden darf –, wird der Boden gelockert, um einerseits die Durchlüftung und Wasserspeicherung sowie die Verwurzelung der Rebe zu verbessern; Andererseits stehen der Rebe durch die Aufmischung frischen, nährstoffreichen Materials aus tieferen Bodenschichten auch mehr Nährstoffe zur Verfügung. Darüber hinaus hilft bei Nährstoffmangel als biologische Alternative zur Düngung auch Begrünung: Bei Begrünung zwischen den Reben – wie häufig im biologischen und biodynamischen Weinbau – sammeln die Reben mehr Stickstoffe an den Wurzeln, den sie wieder freigeben, wenn sie absterben, das heißt man muss gegebenenfalls nicht mehr (oder zumindest weniger) düngen.

Für die Bodenentwicklung sind mehrere Faktoren wichtig, die zusammen darüber entscheiden, was für ein Boden entsteht und weshalb sich Böden untereinander unterscheiden. Das sind insbesondere:

  • die geologischen Bedingungen wie das Ausgangsgestein,
  • das Relief und das geologische Alter des Landes,
  • die Organismen, die dort wachsen und leben (auch der Mensch muss hier berücksichtigt werden) sowie
  • das Klima und der Wasserhaushalt.

Entscheidend für die Art des Bodens ist zunächst also das Ausgangsgestein, welches das Fundament eines Bodens bildet. Im Wesentlichen unterscheidet man in diesem Zusammenhang folgende Gesteinsarten, abhängig von ihrer Entstehungsweise:

  • Plutonische, also im Erdinneren entstandene Magmatite wie zum Beispiel Granit.
  • Vulkanisches Gestein, das erst an der Erdoberfläche erstarrt ist wie beispielsweise Basalt oder Porphyr.
  • Sedimentäres Gestein, also kalkhaltige Ablagerungen von Meeresorganismen, aus deren Verdichtung beispielsweise Kalkstein oder Kreide entstehen, sowie Sandablagerungen in Wüsten, deren Sedimente sich zu Sandstein verdichteten.
  • Metamorphite, das heißt metamorphe Gesteine, die durch hohen Druck und/oder hohe Temperatur im Nachhinein verändert wurden. Marmor ist beispielsweise metamorphes Gestein: ein Metamorphit, bei dem Kalk, Dolomit oder ein anderes karbonithaltiges Gestein wie der kalkhaltige Kreidestein im Erdinneren durch Hitze und Druck zu Marmor umgeformt wurden (der Kalziumgehalt bei Marmorstein liegt bei 98 Prozent).

Egal aber um welchen Boden es sich handelt: Böden sind stets Verwitterungsprodukte und es dauert, bis aus nacktem Fels fruchtbare Erde wird. Das Gestein ist gewissermaßen der Grundstoff aus dem und auf dem Böden aufgebaut sind – die physikalische und chemische Verwitterung jedoch entscheidet darüber, welche Art von Boden sich daraus entwickelt. Man kann Böden dabei zunächst einmal hinsichtlich der Korngröße ihrer jeweiligen mineralischen Partikel unterscheiden. Je nach Größe dieser Partikel differenziert man grob in:

  • Ton (Mineralbodenteilchen mit einer Korngröße unter 0,002 Millimeter Durchmesser)
  • Schluff (Teilchen zwischen 0,002 und 0,063 Millimeter Durchmesser)
  • Sand (Partikel mit einem Durchmesser zwischen 0,063 und 2 Millimeter)
  • Lehm (mehr oder weniger gleichmäßiges Korngrößengemisch aus Sand, Schluff und Ton ohne Kalkanteil)

Aus dem Boden bezieht die Pflanze Wasser und Nährstoffe (Kalium, Magnesium, Eisen, Zink und Phosphor), deshalb spielt er nicht nur im Weinbau eine entscheidende Rolle. Von der Größe seiner Partikel hängt ab, wie schnell Nährstoffe für die Rebe zur Verfügung stehen – oder ob sie eher durch Wasser ausgespült werden. Humus beispielsweise ist sehr nährstoffreich und hat ein ausgezeichnetes Wasserhaltevermögen. Auch Ton bindet Wasser, während Sand und Steine im Gegenteil den Wasserabfluss, die Drainage, erleichtern.

Ton ist überall auf der Erde an der Oberfläche zu finden – und zwar dort, wo als Folge der Verwitterung des Muttergesteins neuer Boden entsteht. Aber auch Bäume können durch die Säure ihrer Wurzeln zur Bildung von Tonmineralien beitragen – Verwitterung findet insofern sogar in mehreren Metern Tiefe im Erdinneren statt. Tonböden bestehen dabei aus zu winzigen Körnern verwitterten und erodierten Quarzkristallen, die durch Wasser zu feinkörnigen, gestapelten Schichten aus komplexen Verbunden von Silizium, Sauerstoff, Wasserstoff und Aluminium verklebten – sie sind der eigentliche Ton beziehungsweise das Tonmineral.

Je nach Schichtaufbau des Tonminerals unterscheidet man Zwei-, Drei- und sogar Vierschichttonminerale, die alle irgendwann aus ursprünglichen Gesteinen herausgewittert sind (man unterscheidet unter anderem Vermiculit, Smectit und Kaolinit). Sie alle verfügen über die Eigenschaft Wasser und Mineralien in ihrer Kristallstruktur aufzunehmen; die Tonminerale quellen dann auf, werden zu Speichern, und geben das Wasser und die in ihm gelösten Mineralien später wieder an die Rebe ab. Am fruchtbarsten jedoch sind Dreischichttonminerale, deren Quellfähigkeit am besten ist. Sie sind typisch für fruchtbare Böden und spielen neben dem Humus auch eine herausragende Rolle für die Ernährung von Reben. Dreischichtminerale bilden sich bei nicht zu intensiver Verwitterung und Versauerung des Bodens. Sie sind daher in vielen Böden aus ehemals kalkhaltigen eiszeitlichen Ablagerungen enthalten (Löss).

Durch die gegeneinander bewegbaren Schichten ist Ton leicht formbar und eines der Gesteine mit der größten Austauschoberfläche – und es interagiert nicht nur mit Wasser, sondern auch mit Mikroorganismen: Tonpartikel sind für die mit ihnen interagierenden Mikroben wichtig, weil sie viele Mineralien aufnehmen können, darunter Eisen, Stickstoff und Phosphor, und insofern eine bedeutende Energie- und Nährstoffquelle darstellen. Mikroben leben hauptsächlich in der Humusschicht des Bodens. Sobald Humus aber auf Ton trifft, gehen sie über die mikrobielle Aktivität eine Verbindung ein – Ton-Humus-Mischungen sind insofern ein Kennzeichen für einen gesunden, lebendigen Boden.

Als Energie- und Nährstoffquelle ist Ton auch bedeutend für die Meere: da Ozeane relativ arm an Eisen sind, brauchen sie Eisen vom Festland. Das bekommen sie durch die in den Sandstürmen und den Meeresströmungen auch über große Distanzen bewegten Tonpartikel. Tonpartikel aus der Sahara, die dort einst in einem riesigen See entstanden, der die Region bedeckte, werden häufig bis nach Südamerika getragen, das heißt jedes Jahr landen circa 27 Millionen Tonnen Staub und 22.000 Tonnen Nährstoffe im Atlantik, wo sie schließlich auch bis nach Südamerika gelangen – und über Winde auch für eine regelmäßige Düngung des Regenwaldes im Amazonasgebiet sorgen. (Im Alpengebiet besorgt diese Düngung übrigens der Föhn: Landwirtschaft wäre ohne den warmen Wind in den Alpen kaum möglich, der außerdem oft Saharastaub mit sich transportiert, der auch hier eine düngende Wirkung hat.)

Im Hinblick auf das Wasserspeichervermögen eines Bodens gilt grundsätzlich: je kleiner die Korngröße, desto besser die Wasserspeicherung, denn es stehen einerseits weniger breite Kanäle zur Verfügung, durch die das Wasser ablaufen könnte, andererseits vergrößern kleinere Partikel die Oberfläche eines Bodens. Die Summe der Kornoberflächen eines Tonbodens ist etwa 1.000 Mal größer als die eines Sandbodens. Anders gesagt: Steht die Rebe auf einem wasserdurchlässigen Sand- oder Kiesboden, können das lebensnotwendige Wasser und damit die Nährstoffzufuhr an den Feinwurzeln vorbeifließen. In diesem Fall verfügt der Boden nämlich nur über eine geringe Wasserspeicherfähigkeit, auch wenn er dann für die Pflanze leicht zu durchwurzeln ist. Um an ausreichend Nährstoffe zu gelangen müssen die Rebstöcke dann auch in tiefer liegende Bodenschichten vordringen.

Auch auf harten, steinigen Böden sind alte Reben mit einem tief reichenden Wurzelwerk wichtig, damit sich die Feinwurzeln im Laufe der Zeit durch die Gesteinsritzen bohren können um an die Nährstoffe zu gelangen. Grundsätzlich gilt hier, dass ein höherer Gehalt organischer Bestandteile die Wasserbindungsfähigkeit und die Nährstoff-Eigenschaften eines Bodens positiv verändern.

Genauso wie das Speicher- ist umgekehrt aber auch das Drainagevermögen eines Bodens für die Rebe wichtig. Wasserüberschuss in Form von Staunässe, verbunden mit einer schlechten Durchlüftung schädigt die Entwicklung der Wurzeln der Rebstöcke. Auf kalkreichen Böden kann bei kühlen Frühjahren ansonsten zum Beispiel Chlorose entstehen, sichtbar an der Gelbfärbung der Blätter. Viele der besten Weinbergböden bestehen deshalb aus einem Gemisch aus Sand und Ton, das als Lehm bezeichnet wird. Diese Böden haben einen ausgeglichenen Wasserhaushalt, das heißt sie besitzen ein gutes Drainagevermögen, versorgen die Rebe aber dennoch mit genug Wasser und Nährstoffen für ihr Wachstum.

Entscheidend für die Drainage beziehungsweise das Wasserhaltevermögen des Bodens und damit die Verfügbarkeit der im Wasser gelösten Nährstoffe ist auch die jeweilige mineralische Zusammensetzung des Bodens. Manche Mineralien können Nährstoffe nicht festhalten, sodass diese letztlich ausgewaschen werden, andere binden sie so fest, dass sie vom Rebstock nicht gelöst werden können. Entscheidend ist hier auch die Bodenart, an der die Bindungen erfolgen können.

Die Elemente, die Art der Minerale und die Zusammensetzung der Gesteine sind entscheidend für den Charakter eines Bodens. Neben der Korngröße spielt insofern auch die Bodenchemie eine wichtige Rolle: Die chemische und physikalische Verwitterung sorgt dafür, dass das Gestein zunehmend in kleinere Partikel zerfällt, deren mineralische Bestandteile von unterschiedlicher chemischer Zusammensetzung sein können und als Nährstoffe für die Reben fungieren.

Organische Bestandteile des Humus wiederum sind bisweilen abgestorbene Pflanzenteile oder Ausscheidungen verschiedener Bodenlebewesen, allen voran jenen des Regenwurms. Aber auch Bakterien (Mikroben) und Pilze zählen dazu. Etwa 5 Tonnen solcher Lebewesen finden sich in einem Hektar Bodenfläche. Insbesondere der für die Reben lebensnotwendige Stickstoff sowie Phosphor stammt von den organischen Partikeln, wobei die Bodenlebewesen durch ihre Zersetzung viele Nährstoffe für die Pflanze überhaupt erst aufschließen und verfügbar machen.

Außer Wasser und den organischen Partikeln ist auch Luft ein wichtiger Bestandteil des Bodens – auch sie gehört zu einem funktionierenden Nährstoffkreislauf. Bodenluft zirkuliert durch die Hohlräume und Kanäle (Poren) des Bodens und ermöglicht überhaupt erst Leben im Boden. Wasser wiederum sickert als Niederschlagswasser durch dieselben Poren ein und wandert teilweise bis ins Grundwasser, ein anderer Teil verdunstet. Das übrige Wasser jedoch wird von den Tonmineralien und in den Poren festgehalten und steht den Reben zur Verfügung.

Der Wasser- und Lufthaushalt eines Bodens werden insofern in erster Linie von den in ihm vorhandenen Poren bestimmt. Pflanzen können dabei nur eine bestimmte Saugspannung erzeugen, um das Wasser aus den Poren nutzen zu können. Um für die Pflanzen verfügbar zu sein, müssen die wasseraufnehmenden Poren einen Durchmesser zwischen 0,0002 und 0,01 Millimeter haben. Größere Poren können kein Wasser mehr festhalten. Ihr Gesamtvolumen jedoch ist ausschlaggebend für die Belüftung des Bodens – und hängt jeweils von der Bodenart beziehungsweise der Korngrößenzusammensetzung ab, die wiederum die Lagerungsdichte beziehungsweise Speicherfähigkeit des Bodens bestimmen. Ein nährstoffreicher Boden mit moderatem Wasserhaushalt und guter Belüftung und Erwärmbarkeit ist jedenfalls wichtig für die Qualität eines Weines.

Bodenentwicklung

Ein Boden entwickelt sich, wenn atmosphärische Einflüsse (Wetter) und Lebewesen (Flora und Fauna) die Gesteine angreifen und so für ihre Verwitterung sorgen: So sondern beispielsweise Flechten und Moose Säuren ab und sorgen so dafür, dass Gestein verwittert. Aus dem Staub bildet sich der Boden, auf dem das restliche Ökosystem entsteht, das heißt die eigentliche Bodenbildung erfolgt, wenn Stoffe angereichert oder abgeführt werden. Das ist ein fortlaufender Prozess, wobei unsere Böden heute fast ausnahmslos durch die Nutzung des Menschen mitgestaltet werden. Für Weinbergsböden gilt das in besonderem Maße.

Seit Millionen von Jahren bildet dabei Gestein das Fundament unserer Böden. Boden bildet insofern nur die Auflage des darunter liegenden Grundgesteins – jenes „Mutterbodens“, in dem erst die eigentliche Mineralisierung stattfindet. Im Lauf der erdgeschichtlichen Entwicklung haben sich durch Erdbewegungen und Ablagerungen verschiedenste Formationen, unterschiedliche Aggregatzustände und Gesteinskörnungen ergeben auf deren Grundlage sich wiederum unterschiedliche Böden entwickelt haben.

Im Verlauf der erdgeschichtlichen Entwicklung sind sich auch bestimmte Gesteinsarten entstanden, aus deren Verwitterung sich wiederum verschiedene Böden gebildet haben, wobei man in diesem Zusammenhang folgende Erdzeitalter unterscheidet:

Paläozoikum

Mit dem Devon beginnt vor etwa 400 Millionen Jahren das Paläozoikum, auch „Erdaltertum“ genannt. Aus diesem und noch älteren Zeitalter stammen die ältesten Gesteinsarten. Sie bilden heute den harten Gesteinssockel der Kontinente, das sogenannte Urgestein: Granit und Gneis, der durch geologische Umwandlung von Granit entstand (und zum Beispiel in der Wachau zu finden ist). Sie setzen sich aus verschiedenen Mineralien zusammen, vor allem aus Feldspat, aluminiumhaltigen Glimmern und insbesondere auch aus Quarz. Außerdem können auch Erze in den beiden kristallinen Gesteinen enthalten sein.

Granit und Gneis bilden einen Großteil der kontinentalen Erdkruste und der Gebirgswurzeln, unterhalb des Urgesteins und am Meeresgrund liegt allerdings noch eine weitere Schicht mit anderen Gesteinen, die ebenso aus kristallisiertem Siliziumdioxid – also Quarz – bestehen, jedoch nicht so aluminiumhaltig sind, sondern vor allem Magnesium enthalten. An der Erdoberfläche treten sie allerdings nur dort auf, wo sie von Vulkanen nach oben geschleudert wurden, wie beispielsweise Basalt oder Porphyr. Beide sind an der Erdoberfläche erstarrtes Vulkangestein, wobei Basalt in nur wenigen Stunden entsteht, wenn die Lava erkaltet und oft weitreichende Gesteinsdecken bildet: Basalt hat seinen Ursprung im Inneren der Erde, in einer Tiefe von einigen Dutzend Kilometern, wo das geschmolzene Gestein eine Temperatur von über 1.200 Grad Celsius hat. Magma steigt empor und ergießt sich über die Erdoberfläche, durch schnelles Auskühlen im Kontakt mit Wasser oder Luft entsteht das Gestein.

Basalt ist ein sehr dunkler Stein und wie alle schwarzen Objekte speichert er die Wärme der Sonne und strahlt sie nach Sonnenuntergang an die Umgebung ab, das heißt in der Nähe von Basaltgestein profitiert Weinbau von der in ihm gespeicherten Wärme. Basalt ist dabei eines der Gesteine mit der größten Verbreitung auf der Erde – und dennoch ist nur ein kleiner Teil davon sichbar, denn die stärkste vulkanische Aktivität findet auf dem Meeresboden statt. Aber genau dort, in der ozeanischen Basaltkruste weit unterhalb der Meeresoberfläche, gibt es Leben in Hülle und Fülle: aktive Mikroben, die in den Poren der Basaltschicht leben und sich auch von Basalt ernähren. Sie haben insgesamt mehr Masse als die Menschen auf der Erde. Salzwasser setzt im Basalt Nährstoffe wie Eisen oder Schwefel frei. Mit Hilfe dieser Elemente setzen die Organismen chemische Reaktionen in Gang, wodurch sie über genügend Energie verfügen um sich zu ernähren und ohne Licht in den vielen kleinen Poren zu überleben. Es handelt sich also um ein System, bei dem der geologische Prozess Leben ermöglicht, weil er chemische Energie freisetzt. Auch die ersten Lebensformen auf der Erde dürften ihre Nährstoffe sicherlich vom Basalt erhalten haben, der damals auf der Erde vorherrschte (Basalt könnte insofern ein Schlüsselelement bei der Erforschung des Lebens auf der Erde sein).

Der purpurfarbene Porphyr wiederum ist sehr quarzreich. Mit einem ph-Wert von 3 bis 3,5 ist er darüber hinaus – wie Granit oder Schiefer – ausgesprochen sauer. Nicht zuletzt deshalb ähneln sich auch die Weintypen dieser drei Böden. Die größte Porphyr-Lage Deutschlands befindet sich im Siefersheimer Heerkretz in Rheinhessen, unmittelbar an der Grenze zur Nahe. Hier herrscht Rhyolith vor, ein auch als Quarzporphyr bekanntes Gestein. Wie bei Granit erkaltete und erstarrte das Magma auch bei Rhyolith noch im Erdinneren, allerdings sehr oberflächennah. Dennoch dauerte es bis ins Tertiär, bis die Gesteinsschichten darüber erodiert waren und das Rhyolith als heute sichtbarer „Roter Fels“ an der Nahe an die Oberfläche gelangte.

Mitunter verwitterte Rhyolith aber auch zu einem Lehm-Grus-Gemisch auf das sich mit der Zeit angewehter Löss legte. Daraus entwickelte sich dann ein sehr nährstoffarm und saurer Boden. Der mitunter hohe Steingehalt und der lehmige Feinboden führten zu einer gemäßigten Wasserspeicherfähigkeit, die im Weinbau jedoch durch eine Ertragsreduktion ausgeglichen werden kann. Die dunkle Farbe sorgt für eine guten Erwärmbarkeit des Bodens. Weine von solchen Böden zeichnen sich durch eine ausgeprägte Mineralik aus und muten fast salzig an. Hinzu kommt bisweilen eine kräftige Säure.

Auch bei Granit handelt es sich um Ur- beziehungsweise Tiefengestein vulkanischen Ursprungs, wobei das ursprünglich magmatische Gestein sehr langsam abkühlte und dadurch extrem verhärtete. Wie Basalt ist also auch Granit ein magmatisches Gestein, anders als Basalt aber erkaltete und erstarrte Granit bereits tief im Erdinneren infolge einer langsamen Abkühlung riesiger Mengen dickflüssigen Magmas, das nicht bis zur Erdoberfläche vordringen konnte. Das plutonische, also aus der Unterwelt stammende Gestein hat deshalb eine grobkörnige Struktur, wovon auch der Name abgeleitet wird, bedeutet „granum“ doch „Korn“. Granulate sind dabei oft tief miteinander verschmolzen, was wiederum die Härte des Gesteins ausmacht.

Wie alle anderen Gesteine verwittert zwar auch Granit, trotzt der Erosion aber länger. Granit besteht aus Silikaten, Feldspaten (mit einem hohen Mineralienanteil) und Glimmer. Aus dem Glimmer lösen Mikrobaktierien die Mineralstoffe heraus, die dann, wie beipielsweise in den Vogesen im Elsass, den Reben zur Verfügung stehen. Durch die Erosion von Granit entstand hier ein saurer Boden, den die Winzer des Elsass nutzen: in ihren Weinen kommen die Mineralsalze voll zur Geltung, ihnen wird oft ein „kristalliner Charakter“ zugeschrieben.

Die Urgesteinsschicht wurde im Laufe der erdgeschichtlichen Entwicklung immer wieder vom glühend heißen Magma im Erdinneren verformt, zerbrochen, verschoben und übereinander geschoben. Wind und Wetter ausgesetzt verwitterten und erodierten diese Urgesteinsschichten, wobei die Erosion des Gesteins insbesondere dort erfolgte, wo es noch nicht von schützender Vegetation bedeckt war.

Lange drehte sich außerdem die Erde noch nicht mehr oder weniger stabil, sondern die Erdachse änderte ihre Lage immer wieder. Das hatte zur Folge, dass die Pole genauso wie der Äquator ständig „wanderten“ und die Kontinente, also die erstarrte Landmasse, entsprechend keine konstante Lage einnahmen. Sie verschoben sich permanent und wanderten dabei auch durch verschiedene Klimazonen. Je nach Klimazone nun lagerten sich unterschiedliche Sedimente ab. Diese Ablagerungen sind oft nichts anderes als feine Partikel aus erodiertem Urgestein, wie beispielsweise im Wüstenklima, wo Stürme enorme Mengen Sand zwischen den aufgefalteten Granitbergen zusammentrugen. Sand besteht vor allem aus hartem Quarz, der widerstandsfähigsten Komponente von Granit und Basalt. In feuchtem, tropischem Klima hingegen wurde die abgestorbene Vegetation, also organisches Material (Kohlenwasserstoff) zu Sedimenten akkumuliert, während sich auf dem Meeresgrund kalkhaltiger Ton ablagerte.

Senkungen und Hebungen der abgelagerten Schichten führten dazu, dass sie mal überflutet, mal wieder den Erosionsprozessen ausgesetzt waren oder sich unterschiedliche Ablagerungen überdeckten. Neue Sedimentschichten legten sich über ältere und pressten sie zusammen. So wurden sie im Prozess der Lithogenese zu neuem Gestein, sogenanntem Sedimentgestein: aus Sand wurde Sandstein, aus Kalk Kalkstein und aus organischer Substanz Kohle.

Sandstein entsteht, wenn sich Sandschichten langsam übereinander legen. Kommt dann Perkolation hinzu, entsteht Sandstein: bei diesem Prozess sickert Wasser allmählich durch die Sandschichten, dadurch werden Mineralien ausgewaschen die die Sandkörner kitten und zementieren. Bei rötlich gefärbtem Sandstein beispielsweise sind es Eisenoxide, die den Sandstein verfestigen, wie beispielsweise beim Uluru (Ayers Rock), der sich Mitten in der roten zentralaustralischen Halbwüste (im Land der Anangu) erhebt: er lag vor über 500 Millionen Jahren unter einem riesigen Meer. Als das Meer austrocknete erhob sich der Berg aus der Ebene des ehemaligen Meeresbodens. Im Lauf von Jahrmillionen erhoben tektonische Erdbewegungen das ehemals horizontale Grundgestein, das heißt, sie kippten das riesige Gebirge einfach um und die Witterung ließ den Sandstein in der Folge dann erodieren – Wind und Wasser haben den Stein geformt. Dabei ist der Inselberg weitaus größer als der 350 Meter hohe sichtbare Sandstein: sechs Kilometer, so schätzen Geologen, ragt er ins Erdinnere.

Sandstein definiert sich wie der Sand selbst durch die Größe seiner Körner: 0,063 bis 2 Millimeter ist das Maß, bei größeren Körnern spricht man von „Geröllstein“. Und wenn das Sandkorn zum Staubkorn schrumpft, dass mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen ist, wird Sandstein zum tonigen „Schluffstein“. Sandstein ist gewöhnlich gelb, Hämatit sorgt gegebenenfalls für die Rotfärbung des Sandes.

Kalkstein wiederum – der grundsätzlich zu einem hohen Säuregehalt im Wein führt – bildet sich aus Plankton beziehungsweise den Skeletten maritimer Mikroorganismen des Urzeitmeeres, insbesondere von sogenannten Kalkflagellaten (Coccolithen), die im Prozesse der Lithogenese, also der Steinwerdung, zu Kalkstein gepresst wurden. Kalkflagellaten gehören zum Phytoplankton – und bilden insofern die Grundlage allen Lebens im Ozean: Plankton nimmt die Energie der Sonne auf, daraus bilden sich dann erste Lebensformen, die zur Nahrungsgrundlage aller weiterer maritimer Lebewesen werden (Fischlarven, Muscheln und Korallen ernähren sich von Plankton). In einem Liter Meerwasser befinden sich zwischen 10 und 100 Milliarden solcher Planktonorganismen.

Kalkflagellaten sind Einzeller, die vor etwa einer Milliarde Jahren erstmals auftauchen und lernten, kleine Kalkplättchen im Inneren ihrer Zelle zu bilden, aus denen später Kalkskelette wurden. Das kann kein anderes Lebenwesen, das heißt Kalkflagellaten sind wie winzige schwimmende Steine. Wenn sie sterben sinken sie auf den Meeresgrund – so entsteht dort eine gewaltige Materialmenge, die langsam in die Höhe wächst: 20 Millionen Jahre lang hat sich alle 1.000 Jahre eine zwei Zentimeter dicke Schicht aus Kalkskeletten im Meer aufgetürmt. Einzellige Organismen haben so riesige Berge geschaffen, wobei die Hälfte des heutigen Kalksteins durch solche Kalkflagellaten gebildet wurde. (So wird auch Kohlenstoff in geologische Erdschichten eingeschlossen: Erdöl stammt aus Kalkschlamm – und der entsteht ebenfalls aus diesen Planktonfriedhöfen aus Kalkflagellaten-Skeletten.)

Wo sich große Mengen Sediment gebildet hatte, entstand im Erdinneren Druck, der jedoch wiederum Gegendruck erzeugte. So wurden Sedimentgesteine oft mehrere tausend Meter in die Höhe gehoben, senkrecht gestellt oder manchmal sogar umgekippt, womit letztlich auch die geologischen Schichten durcheinander gerieten. So entstanden auch Kalksteingebirge. Wo sie der Formung durch das Wasser ausgesetzt ist, spricht man von Karstgebirgen – Karst ist durch Wasser geformter Kalkstein. Immerhin ein Fünftel der Landfläche weltweit ist aus solchem Karstgestein, wie beispielsweise auf dem Balkan die Gegend um den Skutarisee in Montenegro.

Die Entstehung der Sedimente aus dem Urgestein, ihre Verwandlung zu Sedimentgestein und die Auffaltung der Gebirge (auch Oro- oder Epirogenese genannt) sind verschiedene, aufeinander folgende Prozesse, die sich über lange Zeiträume erstreckten. Die neu entstandenen Gebirge unterlagen jedenfalls wiederum ihrerseits der Erosion, wie zuvor das Urgestein – und wieder lagerte sich das erodierte Material ab und presste das darunter liegende Sediment zu neuem Gestein zusammen. So entstanden bereits im Devon unter anderem Schiefer und Quarzit.

Als Schiefer werden gewöhnlich unterschiedliche tektonisch deformierte, das heißt durch Druck gefaltete, aber auch metamorphe Sedimentgesteine bezeichnet, deren einziges gemeinsames Merkmal ihre Spaltbarkeit entlang paralleler Flächen ist. Den Schiefer gibt es also nicht, sondern dahinter können sich verschiedene Gesteinsarten wie Tonschiefer oder Gneis verbergen, aber auch spaltbare feinkörnige Sedimentgesteine werden so bezeichnet.

Das größte Weinanbaugebiet auf Schieferboden weltweit ist zweifelsohne das Dourotal in Portugal. In Deutschland ist insbesondere die Terrassenmosel bekannt für ihren dunklen Schieferverwitterungsboden, aber auch das Ahrtal. Die Schieferterrassen an der heutigen Mosel entstanden, als sich im Rhenoherzynischen Ozean vor 400 Millionen Jahren Schicht um Schicht Sedimentmaterial ablagerte, das schließlich mehrere tausend Meter mächtig war. Als die Urkontinente kollidierten wurde dieser Meeresgrund durch Biegen und Brechen zu dem, was man heute Schiefer nennt.

Quarzit entsteht durch Metamorphose aus Sandstein: Am Grund des Rhenoherzynischen Ozeans wurden sandige Sedimente aufgeschichtet, die sich zunächst zu feinem Sandstein mit einem hohen Silikatanteil verfestigten und dann weiter zu Quarzit – wie zum Beispiel bei Bingen an der Mündung der Nahe in den Rhein, wobei diese Quarzitvorkommen nur einen erster „Vorposten“ des Rheinischen Schiefergebirges etwas weiter nördlich bilden. Durch eine Mischung aus hohem Druck und hoher Temperatur sowie mechanischer Belastung wuchsen dort einzelne Quarzpartikel zusammen.

Da Quarzit fast ausschließlich aus solchen miteinander verbundenen rekristallisierten Quarzpartikeln besteht, handelt es sich – anders als bei Schiefer – um ein ausgesprochen hartes Gestein, das auch gegenüber Erosion und Verwitterung sehr widerständig ist. Gleichwohl war auch der aus diesem Ausgangsgestein gebildete Boden Erosionsprozesse in der Eiszeit im Quartär vor etwa 2 Millionen Jahren ausgesetzt, die alle älteren Verwitterungs- oder Bodenbildungsreste beseitigten. Der Quarzitboden aus dem Devon wurde an der Oberfläche durch starke Frostverwitterung wieder zu Gesteinsbruchstücken und Sand zerkleinert. So waren zu Beginn der Warmzeit nach dem Ende der Eiszeit vor etwa 10.000 Jahren die Hänge bei Bingen mit Schuttdecken aus Quarzit und angewehtem Löss bedeckt, die dann das Ausgangssubstrat für den heutigen Boden bildeten.

Als Ausgangsgestein allerdings ist Quarzit arm an Nährstoffen, entsprechend sind auch die heutigen Böden in der Region von Nährstoffarmut gekennzeichnet, außerdem haben sie nur eine geringe Wasserspeicherfähigkeit. Die lockere Materialdecke des zerbröselten Gesteins sorgt allerdings dafür, dass der Boden gut durchlüftet und insofern auch erwärmbar ist. Außerdem ist er für die Reben auch leicht zu durchwurzeln – und tief wurzeln muss die Rebe auch, um dem steinigen Boden Wasser und Nährstoffe zu entlocken. Ein gewisses Alter ist dazu vonnöten. Der Wein zeigt dann kräuterige Noten, ist in der Regel schlank aber langlebig und der Quarzitboden bringt außerdem eine charakteristische saline Note in die Weine.

Ähnlich wie Quarzit entsteht auch Grauwacke durch die Umwandlung von Sandstein: Grauwacken sind marine Sedimente, die bevorzugt in Sedimentbecken abgelagert werden, die einem in Entstehung begriffenen Faltengebirge vorgelagert sind, wie beispielsweise im Fall des Rheinischen Schiefergebirges. Anders als bei Quarzit allerdings bestehen die verfestigten Sandfraktionen des Ausgangsmaterials nicht überwiegend nur aus Quarz, sondern insbesondere auch aus Feldspat. Entsprechend handelt es sich bei Grauwacke um stark verfestigte, graue bis grüngraue, kieselsäurehaltige Sandsteine mit einem hohen Anteil an Feldspat und Matrix, wobei der Begriff Grauwacke meist nur für Gesteine verwendet wird, die aus dem Karbon vor 330 Millionen Jahren stammen oder noch älter sind.

Im Perm vor etwa 275 Millionen Jahren wurden dann mehrere tausende Meter mächtige Sedimente zu oft rötlichen, eisenhaltigen Ton-, Schluff- oder Sandsteinen verfestigt (Zechstein, Rotliegendes) wie beispielsweise beim sogenannten „Roten Hang“ in Rheinhessen zwischen Nierstein und Nackenheim, bei dem es sich um rote eisen- und kalkhaltige Ton- und Feinsandablagerungen aus der Wüstenlandschaft der Zeit des oberen Rotliegend handelt. Damals herrschte ein trocken-heißes Klima. Tümpel und Salzpfannen prägten die Landschaft, ähnlich vielleicht wie heute im Death Valley – bevor dann am Ende des Perm der Ozean von Norden her bis in weite Teile des heutigen Südwestdeutschland vordrang und hier vor etwa 258 bis 250 Millionen Jahren das sogenannte Zechsteinmeer bildete.

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Am Ende des Tertiär gelangte das Rotliegend infolge einer Hebung wieder an die Oberfläche, wo es bis heute die Landschaft prägt, insbesondere zwischen Nierstein und Nackenheim, wo der einbrechende Rheingraben am Ende des Tertiärs zu Ausbildung jener Steilhänge führte, die heute intensiv für den Weinbau genutzt werden. Aus dem Rotliegend entwickelte sich dabei durch Verwitterungsprozesse im Verlauf der Zeit ein flachgründiger Boden, dessen größte Bedrohung Erosionsprozesse sind.

Böden, die sich aus dem Rotliegend entwickelt haben, können nur wenig Wasser für die Rebe speichern und auch die Durchwurzelung des tieferen Gesteins ist schwierig. Allerdings sind in dem kalkhaltigen Boden Nährstoffe und Eisenminerale ausreichend vorhanden. Die dunkle, rötliche Farbe aufgrund des hohen Hämatit-Anteils sowie die gute Durchlüftung sorgen für eine schnelle Erwärmung. Besonders Riesling kommt mit diesem flachgründigen, wasserarmen Boden insgesamt gut zurecht. Die Weine geraten bisweilen mineralisch und kräuterig, haben eine ausgeprägte Säure und sind langlebig.

Mesozoikum

Noch zu Beginn des Mesozoikums (auch „Erdmittelzeit“ genannt) im Trias vor etwa 250 Millionen Jahren waren alle Kontinente zu einer Landmasse, Pangea genannt, vereint. Erst gegen Ende des Mesozoikums in der Kreidezeit vor etwa 65 Millionen Jahren nahmen die auseinander driftenden Kontinente in etwa ihre heutige Stellung ein. (Seit ihrer Entstehung wird die Erde durch ihre Hitze im Inneren ständig umgeformt, die Platten der Erdkruste verschieben sich noch immer. Aus der Plattentektonik erwachsen Gebirge und Vulkane – und ausströmende Gase bildeten eine erste Atmosphäre. Aus ihrem Wasserdampf entstanden auch die frühen Ozeane.) Durch das sukzessive Aufbrechen der Landmasse jedoch veränderte sich auch das Klima beständig: finden sich zu Beginn des Mesozoikum noch riesige Wüsten, wird das Klima insbesondere mit der Entstehung der Tethys zu Beginn des Trias weltweit bald feuchter.

Mit dem beginnenden Zerfall Pangeas in einzelne Kontinente im Jura vor etwa 200 Millionen Jahren wird erstmals auch die bis dahin ungebrochene weltweite Meeresströmung gestört und damit auch der durch sie verursachte weltweite Ausgleich des Klima. Erste Klimazonen entstehen in der Folge. Bis zum Ende der Kreidezeit und damit des Mesozoikum haben sich dann erstmals Jahreszeiten mit Kaltzonen im Norden und Süden der Erde entwickelt.

Geologisch betrachtet steht am Beginn des Mesozoikums die Trias, die ihren Namen nach dem auffälligen Vorkommen einer Gesteinsschicht aus Buntsandstein unten, Muschelkalk in der Mitte und Keuper oben hat – auch wenn sich diese Trias nur im sogenannten Germanischen Becken nördlich der Alpen ausgebildet hat. (Deshalb verzichtet man international auch darauf, die einzelnen Gesteinsstufen mit einer zeitlichen Chronologie zu verbinden. Stattdessen folgt man der neutralen zeitlichen Untergliederung der Trias in Unter-, Mittel- und Obertrias, unabhängig von den Grenzen der Buntsandstein-, Muschelkalk- und Keuperschicht.) Besonders deutlich ist das heute in Franken zu sehen, wo im Mainviereck Buntsandstein vorherrschend ist, im Maindreieck Muschelkalk und im Steigerwald Keuper, bei dem es sich um marin beeinflusste Kalk- und Tonsteine handelt. Auch Gipskeuper findet sich hier oft, der vorwiegend aus bunten, überwiegend rötlichen Tonsteinen mit Gipseinlagerungen – einem wasserhaltigen Calciumsulfat – gebildet wird.

Der Begriff Buntsandstein wurde um 1780 an der Bergakademie Freiberg geprägt und im Sinne von „bunter Sandstein“ im Gegensatz zum „roten Sandstein“, dem Rotliegend, verwendet. Als Gesteinsschicht lagert Bundsandstein dem Zechstein aus dem Perm auf und wird selbst von Muschelkalk überlagert. Der Begriff meint insofern keinen buntgefärbten Sandstein eines beliebigen Alters, sondern genau diese eine bis mehrere hundert Meter mächtige Gesteinsabfolge der Trias, die vornehmlich aus kontinentalen Ablagerungen wie Ton- und Sandsteinen besteht.

Der geographische Ablagerungsraum für die Sedimente, aus denen sich Buntsandstein bildete, war das Germanische Becken, das entstand, als im Perm die Tethys von Osten in den Urkontinent Pangea vordrang. In der Trias erweiterte sich dieses Becken noch einmal nach Süden: Im Gegensatz zu seinem Pendant aus dem Perm, dem Zechsteinmeer, das nach Norden mit dem Ozean verbunden war, stand das sogenannte Muschelkalkmeer aus dem Trias nach Süden über die sogenannte Burgundische Pforte mit der Tethys in Verbindung.

Die Burgundische Pforte in den südlichen Vogesen ist heute Teil einer gewaltigen Grabensenke zu der auch der später entstandene Oberrheingraben gehört. Für den Weinbau in Deutschland ist diese Pforte deshalb wichtig, weil durch sie warme, mediterrane Luft über das Rhônetal ins Rheintal strömt und hier für ein insgesamt gemäßigtes, warmes Kontinentalklima sorgt – und so perfekte Bedingungen für den Anbau von Weinreben in diesem nördlichen Randklimabereich für Weinbau liefert. In Baden beispielsweise ist das Klima dadurch insgesamt mild und der Kaiserstuhl – ein sich aus der Rheinebene erhebender Vulkankegel, auf dem fast ein Drittel der badischen Weine wächst – die wärmste Region Deutschlands mit den meisten Sonnenstunden.

Lange vor der Entstehung des Oberrheingrabens aber existierte hier ein flaches Urmeer, das, wie der Name schon sagt, als Ablagerungsraum für den Muschelkalk fungierte, nach dem lange auch die erdgeschichtliche Phase bezeichnet wurde. Die Sedimente für den Muschelkalk bestanden dabei, anders als man vielleicht vermuten würde, nicht überwiegend nur aus Muschelschalen, sondern auch aus anderen Krustentieren des Flachmeeres sowie Trochiten (versteinerte Pflanzenreste), die auf dem Meeresboden zu einer Kalkschicht zusammengepresst wurden. Bei Muschelkalk handelt es sich dabei um Stein, nicht um Fels: ein karstiges, mineralhaltiges Gestein, das beispielsweise in Franken für charakteristische Silvaner sorgt. Silvaner fühlt sich hier wohl, denn er „lebt“ von seinem tiefgründigen Wurzelwerk, hat eine gute Kalkverträglichkeit und braucht tiefgründige Böden. Diese findet er in Lagen im Maindreieck, wo Muschelkalk liegt und Silvaner eine deutlich mineralische Note erhält, nahezu ohne Fruchtaromatik, und sehr schlank wird.

Über einen langen Zeitraum von etwa 100 Millionen Jahren haben sich die Sedimentschichten mehr oder weniger flach auf Meeresboden gestapelt – auch noch im Keuper – und sind am Ende teilweise bis über 2.000 Meter mächtig. Dann allerdings kam es mit den Kontinentalverschiebungen zu tektonischen Verwerfungen und in diesem Zusammenhang auch zur Entstehung der Alpen vor etwa 135 Millionen Jahren an der Wende von der Jura- zur Kreidezeit (der Prozess hatte seine letzte wichtige Phase vor etwa 30 bis 35 Millionen Jahren im Tertiär, hält aber immer noch an).

Die Verschiebungen tieferer Erdschichten in Zusammenhang mit der Entstehung der Alpen liefen auch weiter in nord-westliche Richtung Richtung Frankreich und verwarfen auch die alten Sedimentschichten aus dem Trias, die nun nicht mehr waagrecht lagen, sondern senkrecht aufgestellt wurden. Betroffen davon war insbesondere ein geographisches Gebiet, das heute als Pariser Becken bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um ein fossiles Sedimentbecken (ehemaliger Meeresboden), auf dem sich heute bedeutende französische Weingebiete befinden: die Champagne und das Chablis, aber auch die nördlich gelegenen Randgebiete des Burgund.

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Das Pariser Becken entstand bereits im Perm, seine heutige Schichtung jedoch entwickelte sich erst ab dem Trias, als der Boden des Beckens durch die Kontinentalverschiebung angehoben wurde. Nur die Senke um das heutige Paris lag damals noch unter Wasser und füllte sich seither mit über 3.000 Meter mächtigen Sedimenten, wobei sich die letzte Schicht zu Kalkstein entwickelte, der bis heute den charakteristischen Boden in der Champagne bildet. Denn während die Verwerfungen in Zusammenhang mit der Entstehung der Alpen zwar im Burgund noch so groß sind, dass die Schichten aus der Trias an die Oberfläche traten, hat ihre Kraft in der Champagne bereits nachgelassen – hier liegen jüngere Sedimentschichten oben. Sie bestehen aus Kalkablagerungen von Skeletten maritimer Mikroorganismen (Kalkflagellaten) und amorphem Kalkschlamm, der sich zu einem Kalkstein mit einer sehr feinkörnigen Matrix verdichtete: zu Kreide.

Kreide ist eine sehr reine Form von Kalkstein, weil es im wesentlichen aus den winzigen Skeletten von Kalkflagellaten besteht, die reich an Calciumcarbonat sind und deshalb besonders hell, beinahe weiß. Denn im Kontakt mit Wasser und Säuren im Boden löst es sich auf und das Calzium wird freigesetzt. Kreide ist dabei sehr porös – Wasser und Nährstoffarmut insofern vorherrschend.

Kalkhaltige Kreide ist also die vorherrschende Gesteinsart in der Champagne. Im Hinblick auf den Weinbau wirkt sich der poröse Untergrund günstig für die Bodenentwässerung aus: Da Kreide hochporös ist dient sie als Wasserreservoir, schließlich können etwa 300 bis 400 Liter auf einem Kubikmeter gespeichert werden, so dass die Wasserversorgung auch bei Trockenheit gewährleistet ist. Die Kreideschicht in der Champagne reicht dabei bis in eine Tiefe von etwa 35 Meter. Viele Mineralsalze sind hier im Wasser gelöst, was zu einer unverkennbar mineralischen Note zahlreicher Champagnerweine führt. Grundsätzlich zeichnen sich Weine, die auf purem Kalkstein oder Kreide stehen durch eine feinfruchtige Aromatik aus, sie sind mineralisch mit einer sehr komplexen Spannung und insgesamt eher elegant mit einer ausgeprägten Säure. Mit der Reife entwickeln sich reifere Nuancen und auch ein kreidiger Schmelz – dazu benötigen diese Weine jedoch Zeit.

Tertiär

Mit dem Tertiär beginnt vor etwa 65 Millionen Jahren das Kanäozoikum, also die sogenannte „Erdneuzeit“. Mit Beginn dieses Erdzeitalters beschleunigte sich im Zusammenhang mit der Bildung der Alpen der Einbruch des Oberrheingrabens – ein Teil einer schon 300 Millionen Jahre bestehenden Schwächezone der Erdkruste. Die Entstehung dieser etwa 300 Kilometer langen und etwa 30 bis 40 Kilometer breiten Tiefebene geht auf das Tertiär vor etwa 50 Millionen Jahren zurück, als ein ursprünglich bereits 400 bis 500 Millionen Jahre altes Gebirgsmassiv wie ein Tonnengewölbe einstürzte. Früher einmal bildete der geologische Graben den mittleren Bogen der Bergrücken der Mittelgebirge, heute flankieren Schwarzwald und Odenwald im Osten, sowie die Vogesen und der Pfälzerwald im Westen die Ebene, die inzwischen vom Rhein als Abfluss zur Nordsee genutzt wird.

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Der auch als Oberrheinische Tiefebene bezeichnete Graben ist Teil einer gewaltigen, noch immer aktiven Grabenbruchzone, die sich von Skandinavien bis Ost-Afrika zieht. Im Tertiär war die Entstehung des Oberrheingrabens verbunden mit vulkanischer Aktivität, die sich heute in zahlreichen, tief erodierten Vulkanschloten zeigt sowie in einigen noch existierenden Überresten von ehemaligen Vulkanen, deren bekanntester sicherlich der Kaiserstuhl in Baden ist. Die meisten vulkanischen Gesteine der Region, sogenannte Vulkanite, sind etwa 40 Millionen Jahren alt, am Kaiserstuhl selbst herrscht – neben Sedimentablagerungen – Vulkangestein vor, das in der letzten aktiven Phase vor etwa 19 bis 16 Millionen Jahren durch zahlreiche Vulkanausbrüche gebildet wurde.

Eines der bekanntesten Vulkanite ist Tuff, verdeutlichend auch Tuffstein genannt. Tuff bezeichnet ein vulkanisches Eruptivgestein, das zu drei Viertel aus verfestigten Pyroklasten unterschiedlichster Korngrößen besteht und weltweit Farben von grau über gelblich, bräunlich und rötlich bis kräftig rot haben kann. Eines der bekanntesten Weinanbaugebiete auf Tuffstein befindet sich in Kampanien, wo das Gestein namensgebend für den Weißwein Greco di Tufo ist. Tuff ist aufgrund vieler vulkanischer Gaseinschlüsse häufig sehr porös und zählt zu den Weichgesteinen. Das wird auf einzigartige Weise auch in der Basilikata deutlich, wo in Matera zahlreiche sogenannte Sassi (Höhlenwohnungen) in den weichen Tuffstein gegraben wurden, die inzwischen zum Weltkulturerbe gehören.

Die Vulkane in Baden sind längst inaktiv, der Oberrheingraben jedoch sinkt nach wie vor um etwa 1 Millimeter pro Jahr und ist mittlerweile mit einem etwa 4.000 Meter mächtigen Sedimentpaket aus Ablagerungen des Rheins gefüllt, zunächst jedoch wurde der Graben mit kalkhaltigen teritären Meeresablagerungen aus Skeletten maritimer Organismen wie einem Korallenriff gefüllt (den den harten Kalk der Steinkorallen erzeugten winzige Polypen und einzellige Algen, sogenannte Zooxanthellen). Denn über den Graben war damals eine Verbindung zu den Weltmeeren entstanden, die weite Teile Südwestdeutschlands unter Wasser setzten. Das gilt auch für eine Senke, die sich vor etwa 34 Millionen Jahren in Zusammenhang mit der Entstehung des Oberrheingrabens bildete, als an dessen nordwestlichem Ende eine Krustenscholle mit einbrach, allerdings nur um einige hundert Meter, aus der sich dann das sogenannte Mainzer Becken entwickelte.

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Das Mainzer Becken, in dem heute praktisch das gesamte Rheinhessen liegt, war damals eine Bucht dieses tropischen Meeres. Die damalige Küste dieses Meeres und ein ihr vorgelagerter Inselarchipel lagen im Westen des heutigen Weinanbaugebietes. Dort waren Decken saurer vulkanischer Gesteine (Porphyr) an der Oberfläche verbreitet, die sich bereits vor 350 Millionen Jahren gebildet hatten. Diese Decken wurden nun von der Brandung zerstört und zu Geröllen, Kiesen und Sanden zerrieben – im Grunde genau wie bei einem heutigen Schwemmlandboden -, die teilweise an Ort und Stelle liegen blieben und noch heute kalkige Schalen oder Skelette der einstigen Meereslebewesen beinhalten.

Nach Ende der Eiszeit begann dann die bis heute anhaltende Verwitterung, in deren Folge der Boden eine bräunliche Farbe annahm und nahezu vollständig entkalkte. So entstand aus dem verwitterten Kiessand ein Boden, den man als Regosol bezeichnet: ein gering entwickelter, junger Boden auf kalkfreien Lockersedimenten. Charakteristisch für einen solchen Regosol-Boden ist seine sehr gute Durchlüftung und sein geringes Wasserspeichervermögen. Nur auf der Oberfläche der Kiese bleibt nach einem Regen ein kleiner Wasserfilm erhalten, auf dem sich dann bisweilen auch ein feines Wurzelgeflecht bildet, mit dem die Reben das wenige Wasser für sich nutzen können. Auch der Nährstoffgehalt dieser Böden ist nicht gut, weshalb eine Ertragsbegrenzung zu qualitätssteigernden Ergebnissen führt. Nichtsdestotrotz zeigen sich die Weine die auf Regosol insgesamt eher schlank und elegant. Von der Aromatik her sind sie eher fruchtbetont, wobei erfrischende grüne Aromen dominieren. Da es keinen Kalk gibt, der die Säure puffert, ist diese eher lebhaft.

Im tropischen Meer des Mainzer Beckens selbst wurden vor etwa 31 bis 24 Millionen Jahren zunächst bis zu 370 Meter mächtige Schichten des sogenannten Mergeltertiärs abgelagert, die heute an den Hängen der vielen rheinhessischen Hügel zu finden sind. Es sind leicht abzutragende kalkhaltige, unverfestigte Sande, Schluffe und Tone als Ausgangsmaterial für den Mergel. Bei Mergel handelt es sich also um ein Sedimentgestein, das entsteht, wenn das feine Material, also Sande, Schluffe und Tone, abgelagert und gleichzeit Kalk ausgefällt oder ebenfalls abgelagert wird. Je nachdem, wieviel Kalk das Gestein enthält unterscheidet man verschiedene Arten des Mergels, die unter anderem von

  • Kalkstein (95 Prozent Kalk, 5 Prozent Ton) über
  • Mergel (35 Prozent Kalk, 65 Prozent Ton) und
  • Tonmergel (25 Prozent Kalk, 75 Prozent Ton) bis hin zu
  • Ton (100 Prozent Ton) gehen.

Die Sedimente als Ausgangsmaterial für den Mergel entstanden, als die Verbindung zu den Weltmeeren allmählich unterbrochen wurde. Durch Eindampfung des Meerwassers unter den damaligen tropisch-subtropischen Klimabedingungen wurde nicht nur der Kalk, sondern stellenweise auch Gips ausgefällt. Die eigentliche Bodenbildung setzte dann allerdings erst wesentlich später nach dem Ende der Eiszeit ein – mit oberflächlichen Entkalkungs- und Verwitterungsvorgängen, bis sich der Pararendzina genannte Boden ausgebildet hatte: ein gering entwickelter, junger Boden auf kalkhaltigen Lockersedimenten. Begleitet wurde die Verwitterung von fortwährenden Erosionsprozessen an den Hängen, die heutzutage durch landwirtschaftliche oder weinbauliche Nutzung noch verstärkt werden.

Die lockeren Pararendzina-Böden sind sehr kalkhaltig und haben ein großes Wasserspeichervermögen. Die Wasserversorgung ist gut, allerdings besteht auch die Gefahr von Staunässe in feuchten Klimata. Man kann diese Gefahr jedoch durch eine Dauerbegrünung des Bodens mindern. Ansonsten ist die Nährstoffversorgung gut, außerdem können sich die Wurzeln der Reben in den lockeren Böden leicht ausbreiten. So entstehen auf Pararendzina körperreiche und kraftvolle Weine, die fast schon opulent sind. Die Säure wird aufgrund des hohen Kalkanteils des Bodens gut abgepuffert und zeigt sich gut ausbalanciert. Weißweine haben eine ausdrucksstarke, exotische Aromatik, während Rotweine durch ihre dunkle Aromatik und rauchige Würzigkeit bestechen.

Besteht der Mergel zu drei Viertel aus Ton, spricht man von Tonmergel. Ein hoher Anteil des Tones sind spezielle quellfähige Tonminerale, die Wasser in ihrer Kristallgitterstruktur einlagern und bei Trockenheit wieder abgeben. Diese Quellungen und Schrumpfungen führten über die Zeit zur Bildung eines besonderen Bodengefüges, dem sogenannten Pelosol. Wie bei praktisch allen Böden entsteht auch er durch Verwitterung, in dem Fall von tonhaltigen Ausgangsgesteinen. Pelosol besteht aus sehr dichten, vieleckigen Körpern, Polyeder genannt. Beim Schrumpfen aufgrund von langen Trockenperioden bilden sich entlang der zwischen dieser Polyeder liegenden Trennwände oft Trockenrisse, die bisweilen bis zu einem Zentimeter breit werden können. Über diese Risse dringt Humus in tierfere Schichten ein (man spricht in diesem Zusammenhang von „Selbstmulchen“). Regnerische Perioden wiederum führen zur Quellung des Tons und Wasserstau.

Der hohe Tongehalt verleiht diesen Tonmergelböden aufgrund ihrer Quellfähigkeit eher ungünstige Qualitäten für den Weinbau. Der Boden kann zwar viel Wasser speichern – das dann jedoch fest gebunden ist und den Rebstöcken nicht zur Verfügung steht. Dadurch verstärkt sich der Wassermangel gegebenenfalls noch zusätzlich bei trockenen Bedingungen. Bei feuchten Bedingungen wiederum schließt der Druck des stark aufquellenden Materials die Poren des Bodens, was zu Luftmangel führt und die Durchwurzelung des Bodens erschwert. Die Nährstoff- und Kalkgehalte sind zwar hoch, der Pelosol-Boden erwärmt sich jedoch nur langsam, was das Wachstum nicht begünstigt. Gelingt es den alten Reben jedoch tief genug zu wurzeln, entstehen körperreiche, reichhaltige Weine mit feiner Säure. Die Aromatik präsentiert sich bisweilen reif und mitunter sogar exotisch, während mineralisch-saline Noten eher kaum wahrnehmbar sind.

Aus den Resten von Kalkalgenriffen und Skeletten von Meeresbewohnern des tropischen Meeres entstand vor etwa 23 Millionen Jahre dann (im Miozän) ein bis zu 165 Meter mächtiges Kalksteinstockwerk, dessen Reste heute die Plateaus der vielen rheinhessischen Hügel bilden.

Nachdem sich das Meer vor etwa 11 Millionen Jahren zurückgezogen hatte, begann die andauernde festländische Phase. Rheinhessen ist nun Hebungs- und Abtragungsgebiet mit Ausnahme des Rheingrabens, der weiter einsinkt und jetzt Ablagerungsraum von Flusssedimenten ist. Bei den einsetzenden Abtragungsvorgängen erweist sich das Kalksteinstockwerk als schützendes Dach über den weicheren Mergelschichten und bildet das Grundelement der Tafellandschaften.

Neben den Relikten von Landschaftsformen und Ablagerungen aus dieser letzten, festländischen Phase des Tertiärs sind Überbleibsel damaliger Böden bis heute überliefert. Diese Böden bezeichnet man als Paläoböden. Dabei handelt es sich um umgelagerte Teile oder Erosionsreste von sehr mächtigen Kalkstein-Verwitterungsböden, die sich in der langen Phase unter warmem und feuchtem Klima durch intensivste Lösungsvorgänge entwickeln konnten. Also um konservierte Böden, die durch Überdeckung entstanden sind und die unter aktuellen Klimabedingungen nicht würden entstehen können. Überbleibsel solcher Böden sind insbesondere Terra fusca und Terra rossa.

Terra fusca ist ein Boden aus Kalksteinbraunlehm der entstand, weil sich während des Verwitterungsvorgangs des Kalksteins schlecht lösliche, nicht kalkige Bestandteile, die im Kalk zuvor als „Verunreinigungen“ eingelagert waren, zurückblieben und eine lehmige oder tonige Schicht, den so genannten Residualton. Die bräunliche Färbung verdankt der Boden Eisenteilen, die zu bräunlichen Eisenoxiden umgewandelt wurden. Abschließend wurde noch ein dünner Lössschleier abgelagert. Aus diesem Löss stammen auch die heutigen Kalkgehalte.

Aufgrund seines hohen Tonanteils von etwa 80 Prozent kann Terra fusca viel Wasser speichern, das die darauf wurzelnden Reben jedoch nicht nutzen können, da es großteils fest an das Material gebunden ist. Die Tonminerale und der Lössanteil sorgen dafür, dass die Nährstoffversorgung gewährleistet ist, allerdings ist Terra fusca durch den hohen Wasseranteil schwer erwärmbar. Terra fusca ist darüber hinaus ein sehr steiniger Boden, was die Durchwurzelung erschwert. Dennoch entstehen auf dem schweren, kühlen Boden fruchtbetonte, fast schon üppige Weine mit einer reifen Aromatik und zurückhaltender Säure.

Terra rossa wiederum ist ein roter Kalksteinrotlehm, der unter trocken-heißen Bedingungen entstand. Unter diesen Bedingungen wandelten sich die im Residualton angereicherten, ursprünglich bräunlichen Eisenoxide in intensiv rote um, sogenanntes Hämatit. Sieht man von später erfolgten Lössablagerungen ab, war damit die Bildung eines Bodens abgeschlossen, den man heute insbesondere auch in mediterranen Gebieten weitverbreitet findet sowie in Australien.

Die lehmige Beschaffenheit macht den Terra rossa zu einem guten Boden für Weinbau, ist doch sein Wasserhaushalt sehr ausgewogen. Da er etwas dunkler ist, erwärmt er sich im Frühjahr schnell. Wegen seines Lössanteils stellt er eine gute Nährstoffversorgung sicher, wobei der hohe Anteil an roten Eisenmineralen und der hohe Tonmineralanteil eine spezielle Mineralzusammensetzung ergeben. Ungewöhnlich ist darüber hinaus, dass eine kalkreiche über einer kalkfreien Schicht liegt – daraus ergeben sich sehr facettenreiche Weine, die sich körperreich, aber mit verhaltener Fruchtaromatik präsentieren und stattdessen eher rauchig-mineralische Noten zeigen und eine gut integrierte Säure haben.

Aus der selben Zeit als die Paläoböden vor 11 bis 5 Millionen Jahren entstanden stammen auch die ersten Zeugnisse des Urrheins – dessen Reste heute noch als Tone, Sande und Kiese in ganz Rheinhessen zu finden sind. Es war eine feucht-warme Zeit, in der sich aus diesem Ausgangsgestein ein Boden entwickelte, der für tropische, feuchte Regenwälder typisch ist. Jahrmillionen hoher Temperaturen und starke Durchfeuchtung griffen die Gesteine an, von denen letztlich nur schwer lösbare Eisen- und Aluminiumoxide und neu gebildete Tone übrig blieben. Hinzu kam in den folgenden Kaltzeiten Lössablagerungen, deren Kalkanteil durch Auswaschungen in den Boden eingetragen wurde.

Über einen längeren Zeitraum verkitteten die Tone zu etwas größeren, sandartigen Körnern, die zu einem stabilen, erdigen Bodengefüge führten und dafür sorgten, dass der sogenannte Fersiallit-Boden – ein weiterer Paläoboden des Tertiärs – gut durchlüftet ist und für eine gute Drainage sorgen. Für Reben allerdings ist die damit verbundene Trockenheit jedoch ein Problem, dass sie andererseits dazu anregt tief zu wurzeln. Das müssen sie auch, ist Ferisallit doch ein kalk- und nährstoffarmer Boden, dem man im Weinbau mit einer angepassten Bodenpflege und dem Einbringen von Humus begegnen kann. Auf den so angereicherten Tonböden entstehen dann körperreiche Weine mit ausgeprägter Fruchtaromatik und sanfter Säure. Durch das lange Wachstum auf den nährstoffarmen Böden verringert sich die Säure, die Aromatik jedoch wird verstärkt.

Quartär

Das Quartär beginnt mit dem Pleistozän vor etwa 2 Millionen Jahren und ist vielleicht besser bekannt als das Eiszeitalter. In dieser Zeit war es zwar nicht überall eisig, hierzulande aber durchschnittlich zehn Grad kälter als heutzutage, trocken und staubig – und in der kargen Landschaft wehte ein beständiger, schneidender Wind von den Gletschern aus den Alpen sowie jenen, die aus Skandinavien bis nach Brandenburg vorgerückt waren und noch heute die Landschaft um Berlin prägen. Ähnlich wie heutzutage in der Arktis existierten in den extremen Bedingungen damals keine Bäume und insgesamt nur wenige Pflanzen. Das änderte sich erst langsam, als die Temperaturen vor etwa 18.000 etwas milder wurden und die Eiszeit langsam endete. Die Klimaerwärmung damals dauerte etwa 8.000 Jahre, dann wurde das Klima mit Beginn des Holozän vor 11.650 Jahren wärmer und zugleich ozeanischer, regenreicher – und insgesamt etwas ausgeglichener.

Am Ende der Eiszeit ist auch die Landschaft der heutigen Vulkaneifel zwischen den Weinanbaugebieten des Ahrtal und der Mosel entstanden, auch wenn die Gletscher damals nicht bis hierher vorgestossen sind. Insofern unterschied sich die Landschaft in der Eifel im Grunde nicht wesentlich von der heute – allerdings kam es dann vor etwa 13.000 Jahren zum letzten Vulkanausbruch in Deutschland durch den Laacher Vulkan. Seine Eruption wird auf 11056 v.u.Z. datiert – und noch heute zeugt der Laacher See, der sich in der Caldera des Vulkans gebildet hat, von dem enormen Ausmaß des Ausbruchs, handelte es sich doch um den gewaltigsten Vulkanausbruch, der jemals in Mitteleuropa stattgefunden hat. Gesteinsbrocken wurden in bis zu 40 bis 50 Kilometer Höhe in die Atmosphäre geschleudert.

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Mehrere Wochen dauerte die Eruption, als etwa 1.000 Grad heißes Magma direkt auf ein Grundwasserreservoir traf. Eine gewaltige Wasserdampfexplosion schleuderte die Decke des Laacher Vulkans kilometerweit in die Höhe, bevor sich eine Asche- und Gerölllawine meterdick über die Landschaft legte und eine etwa 30 Meter mächtige Bodenschicht bildete, wovon noch heute die Wingertsbergwand zeugt. Dann brach in der Nähe von Andernach auch noch ein natürlicher Rheindamm und es folgte eine gigantische Flutwelle das Rheintal hinunter, die sich noch heute in den Niederlanden nachweisen läßt.

Die Vulkanlandschaft der Eifel ist geprägt von zahlreichen, bis zu 460 Meter hohen Vulkankegeln (wie beispielsweise Burg Olbrück) und mit Regenwasser gefüllten Vulkankratern, sogenannte Maare (wie beispielsweise der 70 Meter tiefe Weinfelder Maar bei Daun). Die meisten dieser Kraterseen sind nach Ausbrüchen vor rund 40.000 bis 20.000 Jahren entstanden. Die Vulkanlandschaft selbst formte sich bereits vor 45-35 Millionen Jahren, vor 700.000 Jahren begann dann eine zweite Phase vulkanischer Aktivität. Die Landschaft ist im Wesentlichen geprägt von vulkanischem Bims- und Tuffstein, aber auch andere, seltene magmatische Gesteine wurden bei den Vulkanausbrüchen immer wieder hochgeschleudert und finden sich noch heute. Außerdem ist vor 34.000 Jahren das damalige Tal mit Lava vollgelaufen, aus der sich eine etwa 30 Meter mächtige Basaltschicht bildete, als der Lavastrom erkaltete. Der dunkle Basalt wird in den Steinbrüchen der Region schon lange abgebaut und wurde beispielsweise für die Uferbefestigung des Rheins genutzt oder – zusammen mit dem hellen, leicht zu verarbeitendend Tuff – für zahlreiche Kirchenbauten (Tuff aus Weibern wurde mit dem sogenannten „Vulkanexpress“ bis zum Rhein gebracht, wo das Vulkangestein verladen und verschifft wurde).

Der Ausbruch des Laacher Vulkans war der letzte Ausbruch – vor etwa 10.000 Jahren sind die Vulkane schließlich verstummt. Damit jedoch ist der Vulkanismus in der Region noch nicht am Ende: unter der Vulkaneifel befindet sich eine heiße Zone, die bis weit in den Erdmantel reicht. Das Erdinnere ist insofern bis heute in Bewegung und hebt den Boden jedes Jahr um etwa einen Millimeter. Etwa 50-100 Erdbeben gibt es jedes Jahr, die aber praktisch nicht wahrnehmbar sind (2007 war das bisher stärkste mit 3,9 auf der Richterskala). Es ist insofern nur eine Frage der Zeit, bis es womöglich wieder zu einem Ausbruch kommt.

Der immer noch aktive Vulkanismus in der Eifel läßt sich anhand zahlreichen Phänomene beobachten, von denen der Kaltwassergeysier bei Andernach vielleicht der spektakulärste ist: alle zwei Stunden schleudert er eine bis zu sechzig Meter hohe Fontäne in die Luft, bei der sich die gewaltigen vulkanischen Kräfte im Erdinnern entladen. Kaltwassergeysire entstehen, wenn Kohlendioxid aus dem flüssigen Magma auf Grundwasser trifft – und dann gesammelt in die Luft geschleudert wird. Ansonsten steigen Kohlendioxid-Blasen auch als sogenannte Mofetten im Laacher See auf, die aus dem Wasser sprudeln. Auch sie kommen aus den riesigen Magmakammern in etwa vierzig Kilometer Tiefe – eine Tiefe, in die auch die Erdbeben gehen (und damit die tiefsten Beben in Deutschland sind).

Überall in der Eifel gibt es außerdem Wasserquellen, sogenannte Dreese (aus dem Keltischen, wo der Begriff eine „sprudelnde Quelle“ bezeichnet). Auch dieses Wasser ist mit Mineralien und Kohlendioxid versetzt, das aus den Entgasungsprozessen des flüssigen Magmas im Erdinnern stammen. Aus zahlreichen solcher Quellen wird Mineralwassser gewonnen – Gerolsteiner ist nur eines von vielen.

Unabhängig vom Vulkanismus in der Eifel – im Pleistozän bildeten sich vielerorts die wichtigsten Ausgangsmaterialien der heutigen Böden, insbesondere vom Wind angewehter Löss und Flugsand sowie Permafrostböden, aus denen sich in der nachfolgenden Warmzeit unsere heutigen Böden entwickelten. Das waren vornehmlich Anwehungsböden aus verwitterten und erodierten Partikeln – Lössböden genannt –, die durch Frosteinwirkungen oder Temperaturwechsel während der Eiszeit aus dem Gestein gesprengt wurden. Das eigentliche Urgestein jedoch, in dem beim Wein die Mineralisierng stattfindet, befindet sich unterhalb der Anwehungsböden. So findet sich zum Beispiel am badischen Kaiserstuhl eine Lössauflage auf dem älteren vulkanischem Untergrund.

Löss ist ein sogenanntes Lockersediment, welches durch Verwitterungs- und Erosionsprozesse anderer Gesteine entsteht und durch Windverwehungen an seinen Ablagerungsort befördert wird. (Nach Aiolos, dem griechischen Gott des Windes, spricht man in diesem Zusammenhang auch von „äolischem Transport“.) Lössböden wurden erstmals 1823 vom Mineralogen Karl Cäsar Ritter von Leonhard so bezeichnet. Er entlehnte das Wort „Löss“ vom alemannischen „lösch“, das so viel wie „locker“ bedeutet. Damit wollte er aufzeigen, dass sich auf der Grundlage von Löss ein gut durchlüfteter und insbesondere auch für Pflanzen wie die Weinrebe leicht durchwurzelbarer Boden entwickelt hatte. Lössböden erwärmen sich deshalb schnell und speichern gewöhnlich große Mengen Wasser in pflanzenverfügbarer Form, allerdings nicht in extrem heißen Jahren, in denen dann auch Trockenstress bei der Rebe eintreten kann. Besonderes Merkmal von Lössböden ist ihr breites Mineralspektrum, das ein großes Nährstoffreservoir für die Rebe darstellt. So entstehen bisweilen unkomplizierte, vollmundige Weine mit reifen, gelbfruchtigen Aromen und einer lebhaften, aber abgerundeten Säure.

In den Kältewüsten nach der Eiszeit, im Holozän, als es noch keinen schützenden Pflanzenbewuchs gab, konnte der Gesteinsstaub vom Wind zu tausenden Meter hohen Staubwolken aufgewirbelt werden und über weite Strecken verweht werden, bevor sie sich als Löss ablagerten (etwa so, wie heute der Saharasand vom Föhnwind über die Alpen getragen wird). Flugsande waren dabei etwas größere Partikel, die nicht so weit flogen und so zunächst eher für die Bildung von Wanderdünen sorgten. Wo die erst Vegetation entsteht, wird der Staub jedoch festgehalten und kann sich ablagern. Das heißt, erst die Entwicklung einer dauerhaften Pflanzendecke sorgte dafür, dass die Wanderbewegung des Gesteinsstaubs gebremst und er endgültig festgehalten wurde. Etwa ein Zehntel der gesamten Landoberfläche damals wurde schließlich von solchen Lössauflagen bedeckt.

Bei der damals entstandenen Lössauflage handelte es sich überwiegend um Sand und Schluff aus den ehemaligen Gletschervorfeldern (Endmoränen), die sich wie ein Band entlang der ehemaligen Vereisungsgrenze praktisch um den gesamten Globus legten. Der Löss selbst bestand dabei aus feinen sandigen Quarzpartikeln mit Resten von Kalkstein. Eine Spur Eisen machte ihn gelb, ein größerer Eisenanteil hätte ihn rot gefärbt. So aber handelt es sich aus ihm einen fruchtbaren, feinkörnigen gelben Boden, der sich nach dem Ende der Eiszeit in Senken und Bergen wie dem Kaiserstuhl oder dem Tuniberg in Baden ablagerte und dessen Tiefe dort heute mehr als zehn Meter beträgt.

Die weitere Bodenentwicklung erfolgte in Zusammenhang mit der weiteren Verwitterung: Nachdem sich die Staubpartikel abgelagert hatten löste sich der restliche Kalk im Regenwasser und verschwand, während die feinen Sand- und Schluffkörnchen weiter verwitterten. Immer winzigere Partikel entstanden, zwischen denen sich das Wasser sammelte. Erst deshalb wurden die Tonmiernale und Nährstoffe für Pflanzen greifbar – und erst durch die Pflanzen entstand aus dem an sich leblosen Material überhaupt erst ein Boden.

Und zwar nicht nur einer, sondern man unterscheidet eine ganze Reihe von Böden, die allein aus Löss entstanden sind, allen voran Schwarzerde (Tschernosem), wie man sie insbesondere auch in der Ukraine findet, und die heute bei uns – unter gemäßigt feuchten Klimabedingungen – vorherrschende Braunerde. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie gewöhnlich eine ausgezeichnete Grundlage für die Landwirtschaft bilden. Einige der fruchtbarsten Äcker heutzutage entstanden auf Basis von Lössablagerungen.

Am Ende der Eiszeit entwickelten sich aus dem Flugsand aus ausgetrockneten Flussbetten sehr nährstoffarme Böden, da zu dieser Zeit noch keine Humusentwicklung stattgefunden hatte: am Ende der Eiszeit gab es praktisch keine Vegetation. Das änderte sich erst im Holozän: Das Holozän begann vor etwa 11.600 Jahren und ist die jüngste Phase des Quartärs. Wie in allen vorherigen Warmzeiten, gab es auch im Holozän Klima-, das heißt Temperatur- und Niederschlagsschwankungen, deren Ursache in Europa der Einfluss des Atlantiks mit dem Golfstrom ist. Hierzulande entwickelte sich ein kontinentales Klima, das sich durch kalte Winter und heiße Sommer auszeichnet, die es erlaubten, dass bald eine Steppenvegetation die Landschaft bedeckte, die zur Grundlage für die weitere Bodenbildung wurde.

Die neu entstandene Vegetationsdecke nach der Eiszeit erst stoppte die Sandstürme beziehungsweise die Dünenwanderungen. Ohne schützende Vegetationsdecke kann der winderosionsanfällige Flugsand auch unter heutigen Bedingungen in Bewegung geraten. Außerdem ermöglichte die Vegetation überhaupt erst die Bodenbildung durch Prozesse der chemischen Verwitterung, Auswaschung und Anreicherung. So bildeten sich auf Basis von Löss und Flugsanden schließlich Braunerde, das heißt braunfarbige Böden, die durch die Bildung von Eisenoxiden entstanden sind mit einem hohen Anteil an unverwitterten Mineralen.

Entkalken die Lössböden im Laufe der Zeit und verlagern die in ihnen enthaltenen Tonteilchen in tiefere Schichten spricht man von Parabraunerde, auch als Lessivés bezeichnet (von französisch „lessivage“, „Auswaschung“). Sie gehören zu den häufigsten bodentypen in Mitteleuropa. Es handelt sich dabei um gut durchlüftete Böden, die eine hohe Wasserspeicherfähigkeit besitzen und sehr nährstoffreich sind.

Ausgangsgestein für die Braunerde ist oftmals auch Andesit, ein dunkles vulkanisches Gestein, das im Perm vor etwa 275 Millionen Jahren beim Erkalten von Lavadecken entstand. Vor etwa 2 Millionen Jahren setzte dann die Entwicklung des heutigen Bodens ein, als das Andesit mit abgestorbenem organischem Material im Oberboden angereichert wurde – ähnlich wie bei der Schwarzerde, einem Steppenboden, der sich gegenüber der Braunerde durch eine noch mächtigere Humusanreicherung auszeichnet –, was die chemische Verwitterung der Minerale einleitete. Äußeres Merkmal dieser Prozesse ist auch hier die Braunfärbung des Bodens durch die Bildung von bräunlichen Eisenoxiden.

Braunerde ist, anders als Schwarzerde, nicht besonders tiefgründig und zeichnet sich bisweilen durch einen hohen Steingehalt aus, der beim Weinbau auch den Wurzelraum für die Rebe einschränkt. Dadurch ist das Wasserspeichervermögen eher gering – der einzige Nachteil dieses Bodens. Dafür ist er allerdings reich an verfügbaren Nährstoffen. Oberhalb des Festgesteins ist der Boden gut durchlüftet und leicht erwärmbar. Wenn es dem Rebstock gelingt sich tief zu verwurzeln können mineralische Weine entstehen mit ausgeprägten Fruchtaromen und einer erfrischenden Säure.

Als das Land wieder feuchter wurde entstanden außerdem jene Schwemmlandböden (Alluvialboden), die von Flüssen oder Gletschern angetragen wurden: Wasser, das auf der Erdoberfläche abfließt, bildet Bäche und dann Flüsse, die ganze Landschaften prägen können. Sie tragen zur Erosion bei, indem sie Steine und Sand mitreißen. An langsam fließenden Stellen lagern sie diese dann wieder an und bilden Inseln und Schwemmland mit tonhaltigen Böden aus Flussablagerungen, wie nach dem Abschmelzen der Alpen beispielsweise bereits jene des Urrheins oder wie heutzutage zum Beispiel die Böden in Bordeaux oder an der Rhône.

Bodenerosion

Im Verlauf der Jahrmillionen wurde die kontinentale Erdkruste permanent von Bewegungen im darunter liegenden Erdmantel verschoben und aufgefaltet. Wenn dabei Kontinentalplatten aufeinandertreffen und übereinander geschoben werden, drücken sie gewaltige Gebirgsketten nach oben. Der Naturgewalt aus dem Erdinneren stehen dabei Kräfte aus der Atmosphäre entgegen: Wind, Wasser und Frost – sie sorgen für permanente Verwitterungs- und Erosionsprozesse.

Neu im Holozän ist die Besiedlung der Landschaft durch den Menschen. Auch Rodung und landwirtschaftliche Bearbeitung veränderten die Böden. Die Bodenbearbeitung durch den Menschen störte die Vegetationsdecke und förderte damit Abtragungsprozesse und die Bodenerosion vermehrte sich. Während sich unter dem menschlichen Einfluß sogenannte Rigosol-Böden entwickelten – die im Weinbau besonders tiefgründige Bodenbearbeitung, das Rigolen, verändert die natürlichen Böden –, führte die Ansammlung des erodierten Bodenmaterials andernorts zur Entwicklung von Kolluvisolen, das heißt Böden mit einem tiefreichenden angeschwemmten humosem Oberboden aus Löss, ähnlich wie bei der sehr fruchtbaren Schwarzerde.

Die humusreichen Kolluvisolböden sind gut durchlüftet und können viel Wasser speichern. Sie sind kalk- und nährstoffreich, insbesondere im oberen humosen Bereich. Rebwurzeln können ihn leicht durchdringen und so auch in trockeneren Jahren problemlos einen ausreichenden Wasserhaushalt garantieren. Durch den relativ hohen Kalkgehalt dieser Böden entstehen Weine mit einer reifen gelbfruchtigen Aromatik und einer abgerundeten Säure.

Kolluvisolböden entstanden insbesondere durch Erosionsprozesse bei dafür besonders empfindlichen Lössböden. Schon bei geringer Neigung eines Bodens beispielsweise wird der mit Humus angereicherte, dunkle Oberboden des Löss vom Niederschlagswasser abgetragen und hangabwärts wieder abgelagert. So entstehen insbesondere in den unteren Hangbereichen beziehungsweise Talniederungen durch umgelagerten „Mutterboden“ neue Lössböden mit mächtigem humosem Oberboden – eben mehrere Meter dicke Kolluvisole.

Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass mit der Entstehung von Kolluvisol der Erosionsprozess nicht beendet ist. Auch Kolluvisolböden selbst sind davon bedroht – Erosion ist eben ein fortschreitender Prozess, an dessen Ende von einem fruchtbaren Boden mitunter nur mehr eine Sandwüste übrig bleibt. Und es ist keine Übertreibung zu sagen, dass diese Gefahr neben der Klima- und Artenkrise die dritte entscheidende Herausforderung der Menschheit ist, insbesondere angesichts dessen, dass die höchste genetische Diversität und mikrobielle Aktivität unterirdisch vorherrschen.

Für Erosionsprozesse sind entweder Winde, aber auch abfließendes Wasser verantwortlich. Bei der Winderosion, wo insbesondere die Bodenfeuchtigkeit ein wichtiger Faktor ist, unterscheidet man zwischen:

  • Reptation (etwa 7 bis 25 Prozent der Winderosion), wo der Wind feine Sandkörnchen über den Boden wegrollt. Hierzu reichen bei trockenen Böden bereits Windgeschwindigkeiten von 4 bis 6 Meter pro Sekunde – sogenannte „schwache Brisen“.
  • Salation (50 bis 80 Prozent), wenn die Windgeschwindigkeit höher ist und die feinen Bodenpartikel wie Schluff in etwa einem halben Meter Höhe geweht werden.
  • Suspension (3 bis 38 Prozent), wenn der Wind die Partikel, wie beispielsweise beim „Saharasand“, in noch weit größere Höhen transportiert, wo sie dann vom Regen aus der Luft „ausgeswaschen“ werden.

Bei der Wassererosion unterscheidet man:

  • Flächenerosion, wo die Poren der Bodenoberfläche bei kräftigem Regen (von „Starkregen“ spricht man, wenn innerhalb einer Stunde zwischen 15 und 25 Liter Regen pro Quadratmeter fallen) beim Zurückfallen zuvor aufgeworfener Bodenpartikel verstopft werden und die Fläche so verschlossen – ein Prozess, den man auch „Verschlämmung“ nennt. Dadurch kann das Wasser nicht in den Boden versickern und fließt stattdessen über die verschlämmte Flache ab, wobei es fruchtbaren Boden mitreißt – oder manchmal sogar auch ganze Hänge. (Starkregenereignisse haben sich seit 2001 mehr als verdoppelt.)
  • Graben- und Rinnenerosion, wo die Wassererosion nicht flächen-, sondern linienhaft erfolgt: Bei der Rinnenerosion fließt Bodenmaterial entweder in kleineren Rillen ab, oder, insbesondere bei stärkerem Niederschlag oder größerem Gefälle, bilden sich auch tiefere Gräben.

Deutschland verliert jedes Jahr durchschnittlich zwischen 23,3 und 53,1 Millionen Tonnen Boden durch Erosionsprozesse. Die Erosion durch Wind und Wasser – die Abtragung des fruchtbaren Bodens – nimmt aber weltweit zu: Laut Weltagrarbericht gehen jedes Jahr etwa 24 Milliarden Tonnen landwirtschaftlich nutzbarer Boden durch Erosionsprozesse verloren, allein 970 Milliarden auf dem Gebiet der Europäischen Union (damit könnte man Berlin einen Meter höher legen). Zurück bleiben unfruchtbare Flächen, die für die Landwirtschaft verloren sind.

Das exzessive Pflügen landwirtschaftlicher Flächen gilt als Hauptursache für die Erosion, ansonsten aber setzen auch durch die Klimaerwärmung vermehrt auftretende Hitze und Dürren sowie Verdichtung und eine Zerstörung der Humusschicht durch eine falsche Nutzung den Böden zu. Selbst bei den fruchtbarsten Böden beträgt der Humusanteil nicht mehr als 20 Prozent, durch eine falsche Bearbeitung sind es auf Ackerböden heutzutage aber bisweilen sogar nur etwa 1,5 bis 3 Prozent (auf Wiesen etwa 4 bis 10 Prozent).

Von Erosion betroffen sind alle Kontinente. Deutlich wird so, dass Boden letztlich eine endliche Ressource ist. Ohnehin sind nur etwa elf Prozent der Landfläche überhaupt für die landwirtschaftliche Nutzung geeignet. Umgekehrt waren 1997 bereits 15 Prozent der Landoberfläche weltweit unwiederbringlich zerstört (nicht allein durch Erosion, sondern auch durch Überdüngung und Versalzung), 2008 bereits 24 Prozent. Inzwischen sind es über ein Drittel aller Böden, die degradiert sind – und bis 2050 könnten tatsächlich 90 Prozent aller Böden weltweit geschädigt sein.

Auch wenn in Deutschland nur etwa 30.000 Quadratkilometer Böden als gestört gelten, was etwa 9 Prozent entspricht – auch wir bleiben vom Verlust der Böden nicht verschont. Zeit, sich klar zu machen, dass die Bedingungen auf dem Mars für Ackerbau doch noch gänzlich ungeeignet sind …

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Wachau

Die Wachau ist Österreichs berühmtestes Weinanbaugebiet, selbst wenn sie mit 1.350 Hektar lediglich drei Prozent der Gesamtanbaufläche einnimmt. Sie liegt etwa 65 Kilometer westlich von Wien, am westlichen Rand des Weinlandes, zwischen Melk und Krems in Niederösterreich, wo die Donau eine Kette aus bis zu 500 Meter hohen Bergen auf einer Länge von etwa 35 Kilometern durchbricht.

Wachau_Weinanbaugebiete

Die Geografie verleiht den fast ausnahmslos trockenen Grünen Veltliner und vor allem Rieslingen ihr unverwechselbares Profil. „Wachau“ heißt die Landschaft hier vermutlich deshalb, weil ihr Name eine Ableitung von „Wagrain“, womit ein Abhang bezeichnet wird, der sich an einem wogenden Wasser entlang zieht. Und tatsächlich ist hier das zerklüftete Nordufer der Donau steil wie die Hänge an der Mosel oder Côte Rôtie – und ebenso überzogen von einem Band aus Weinbergsterrassen entlang schmaler Wege, die vom Fluss zu den bewaldeten Höhen hinaufführen.

Im Mittelalter floß die Donau noch nicht so träge bis zu ihrer Mündung ins Schwarze Meer wie sie es heute tut. Bis zu ihrer Regulierung ab dem 15. Jahrhundert – systematischer dann ab dem 19. Jahrhundert – war sie ein reißender Strom und trotzdem befahren. Zahlreiche Burgen auf den Hügeln an ihren Ufern, deren Ruinen noch heute weithin sichtbar sind – wachten über den Verkehr auf ihr. (In der Burg Dürnstein war übrigens Richard Löwenherz gefangen, angeblich weil er auf einem seiner Kreuzzüge die österreichische Fahne verspottet haben soll. Der Legende nach eilte sein Sänger Blondel daraufhin in den Sherwood Forest, um sich bei Robin Hood ein Lösegeld zu leihen, mit dem er den König freikaufte. Tatsächlich saß Löwenherz 1192 ein paar Monate in der Burg ein und wurde schließlich für 12.000 Kilogramm Silber freigelassen.)

An den steilen Hängen am Ufer der Donau wurden für den Weinbau Terrassen errichtet, insbesondere auch um der Gefahr der Bodenerosion zu begegnen – deshalb errichtete man zahlreiche Trockensteinmauern, die das verhindern sollen. Durch das Anlegen von Terrassen schafft man außerdem überhaupt erst ein begehbares Gelände, dessen kostbare Fläche man dann maximal Nutzen konnte. Die Steine werden dabei ohne Mörtel ohne ähnliches aufgeschichtet, so dass die Drainage gewährleistet ist und das Wasser nicht aufgestaut wird. Außerdem speichert eine solche Trockensteinmauer Wärme.

Über neunzig Prozent der weltweiten Weinproduktion erfolgt industriell – das ist für die Wachau nicht adäquat und eine maschinelle Bearbeitung der Rebstöcke aufgrund des Terrassenweinbaus an den bis zu 70 Grad geneigten Berghängen auch nicht praktikabel.

In der Wachau erreicht das pannonische Klima seinen westlichsten Einflußbereich. Es heizt das Donautal flussaufwärts bis zum östlichen Ende der Wachau auf, während aus dem Westen gemäßigte atlantische Luft ins Donautal gelangt. Insbesondere auch der „Spitzer Graben“ im Westen ist außerdem von kühlenden Einflüssen und Niederschlägen aus dem nördlichen Waldviertel und südlichen Dunkelsteiner Wald beeinflußt ist.

Nachts werden die Hänge von frischer Luft aus Wäldern darüber gekühlt, während nicht zuletzt auch die Donau hilft, die Temperaturen auszugleichen indem sie als Klimaregulator fungiert und die kalten Luftmassen abzieht. Die Donau hat in der Wachau in enorme Fließgeschwindigkeit, die eine Durchwirbelung der Luft bewirkt, was gegen den Frost hilft und an heißen Sommertagen für etwas Abkühlung und Frische im Tal sorgt. Tagsüber reflektiert sie die Sonnenstrahlen in die steilen Weinbergterrassen am Nordufer. So entstehen insgesamt Weine mit einem besonderen Charakter, einer volle Dichte und einer schönen Säure.

Weinbau findet in der Wachau im Uferbereich der Donau auf Löss und Sand statt, wo insbesondere der Grüne Veltliner gut gedeiht. Die Traditionstraube der Wachau liefert hier lebendige Weine, grün getönt, alkoholreich und fast pfeffrig. Die besten können so lange reifen wie feine weiße Burgunder. Grüner Veltliner findet hier ideale Bedingungen – insbesondere Richtung Kremstal im Osten, wo sich die Donau öffnet und anstelle des Gneisbodens vermehrt Löss auftritt. Er ist ein besserer Wasserspeicher und bringt fülligere, cremigere Weine.

Während die flacheren Lagen also für den Grünen Veltliner reserviert sind, verwenden die Winzer die höchsten und steilsten Lagen, die bis zu 200 Meter über der Donau aufragen, für Riesling. Ihre typische Mineralik verdanken sie insbesonderee auch dem Boden – bisweilen eine dünne Bodenauflage auf den Urgesteinsterrassen aus Granit, Schiefer und insbesondere Gneis. Auch ein erheblicher Anteil an Erz kennzeichnet die Wachauer Böden.

Auf diesen harten Böden muss die Rebe tief wurzeln um ans Wasser zu kommen. Im Hochsommer müssen die steilen, nach Süden ausgerichteten Terrassen mitunter sogar bewässert werden (Tröpfchenberieselung), denn die für den Rebbau erforderliche Mindestmenge von 500 Millimeter Niederschlag jährlich wird nicht immer erreicht. Doch die kühlen Nächte mildern die Folgen der Trockenheit, und die Donau reguliert die Wärme. Insofern vereinen die Spitzenrieslinge aus der Wachau den stahligen Einschlag eines Weines von der Saar mit der vollmundigen Struktur eines Elsässer Grand Cru.

Die Winzer der Wachau haben sich lange nicht dem „Districtus Austriae Controllata (DAC)“ angeschlossen, sondern einen eigenen Regionalzusammenschluß gebildet: die Vinea Wachau Nobilis Districtus. Bis 2020 war das ein eigenes, vom DAC unabhängiges Klassifikationssystem zum Schutz und zur Förderung der Wachauer Weine, mit dem die Winzer nicht die Reife und den Zuckergehalt zum Maßstab machten, sondern die Bereitung des Weins mit seinem Terroir: Ausschlaggebend ist die Kombination aus Trauben, Jahrgang und Lage – denn auf dem 35 Kilometer langen Streifen sind rund 900 Einzellagen, hier Rieden genannt, klassifiziert (darunter auch die berühmte Riede Achleiten nordöstlich von Weißenkirchen, wo Schiefer und Gneis den Weinen mineralische Struktur verleiht).

Das Klassifikationssystem, das von der Vinea Wachau Nobilis Districtus geschützt wird, ist älter als die DAC-Bezeichnung und unterscheidet drei Weinkategorien:

  • Steinfeder (das ist das unter Naturschutz stehende Gras „stipa pinnata“, das getrocknet den Hut der Wachauer Tracht ziert) für leichte, spritzige Weine mit maximal 11,5 Volumenprozent Alkohol
  • Federspiel (bezieht sich auf die herrschaftliche Jagd mit Falken: Jener Gegenstand, den man in die Luft wirft, um den Beizvogel zurückzuholen) für elegante, klassische Weine bis 12,5 Volumenprozent
  • Smaragd (Smaragd-Eidechsen sind das Symbol für die wertvollsten Weine der Wachau – sie kommen nur in sehr warmen Regionen vor) entspricht einer Spätlese und steht für hochreife, sehr kraftvolle Weine ab 12,5 Volumenprozent

Die Weinbautradition in einer der ältesten Kulturlandschaften Europas reicht fast 2 Jahrtausende zurück. Die Wachau ist dabei sicherlich eine der schönsten Landschaften Österreichs und nicht zu unrecht seit dem Jahr 2000 Weltkulturerbe. In der Begründung dazu heißt es unter anderem, dass es sich bei diesem Abschnitt des Donautals um „eine herausragende Kulturlandschaft“ handelt, „um eine von Bergen umgebene Flusslandschaft, in der greifbare Zeugnisse einer langen historischen Entwicklung bemerkenswert gut erhalten sind. Die Architektur, die Siedlungen und die Landwirtschaft in der Wachau illustrieren auf lebhafte Weise eine im Grunde mittleralterliche Landschaft, die sich im Laufe der Zeit organisch und harmonisch entwickelt hat. Die Abholzung der natürlichen Walddecke durch den Menschen begann im Neolithikum, zu radikalen Veränderungen der Landschaft kam es jedoch erst um 800, als die bayrischen und Salzburger Klöster begannen, die Hänge der Wachau zu kultivieren und das heutige landschaftliche Muster aus Weinterrassen anzulegen. Mehrere beeindruckende Schlösser dominieren die Städte und das Donautal; darüber hinaus gibt es überall in den Städten und auf dem Land eine Vielzahl architektonisch und künstlerisch bedeutende Sakralbauten.“

Die Weinberge mit ihren typischen Terrassen sind Zeugnis dafür, dass die Wachau eine der Natur abgetrotzte Landschaft ist – eben eine Kulturlandschaft. Insbesondere auch die Benediktiner haben sich in diesem Zusammenhang verdient gemacht. Neben den zahlreichen Burgen auf den Hügeln, sind es auch ihre Klöster und Sakralbauten, die das Donautal architektonisch prägen. Ein solcher Bau – gleichsam eine Inszenierung krichlicher Macht – steht gleich am Eingang der Wachau: Stift Melk mit seiner Bibliothek – dem ideologischen Hauptquartier des Benediktinerordens, der sich 1089 hier niedergelassen hat.

In der prachtvollen Bibliothek des Stifts – in die Umberto Eco übrigens auch den Anfang seines „Im Namen der Rose“ verlegt hat – wird alles aufbewahrt, was man Grundlage des abendländischen Geistes bezeichnen kann: Etwa 100.000 Bücher und 1.800 Handschriften, die älteste aus dem 9. Jahrhundert. In Melk wird bis heute mit ihnen gearbeitet.

Melk wird schon im Nibelungenlied erwähnt: Burgunderkönigin Kriemhild soll hier auf ihrem Weg zum Hunnenkönig Attila Station gemacht haben: „Aus Medelick [Melk] auf Händen / brachte man getragen / Manch schönes Goldgefäße / angefüllt mit Wein“, heißt es dort im 21. Abenteuer.

Fast ebenso prächitg wie Melk ist auch die Benediktinerabtei am Göttweiger Berg, die den Endpunkt der Wachau darstellt. Stift Göttweig wurde auf einem Hügel südlich der Donau am Ausläufer des Dunkelsteinerwaldes erreichtet und mitunter auch das „österreichische Monte Cassino“ genannt. Dort hat Benedikt von Nursia 526 den nach ihm benannten Orden gegründet. Trotz aller Strenge, genehmigte Benedikt jedem Mönch aber doch auch etwa einen Liter Wein täglich. Die Lage an der Donau bot ihnen für Weinbau jedenfalls beste Voraussetzungen – und vielleicht übernahmen die Benediktiner Stift Göttweig 1094 ja auch gerade deshalb.

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Grüner Veltliner

Grüner Veltliner ist eine autochthone österreichische Weißweinsorte – die auch hauptsächlich dort angebaut angebaut wird: von weltweit etwa 18.000 Hektar, die mit der Rebsorte bestockt sind, stehen fast 15.000 Hektar in Österreich, was dort etwa einem Drittel der Gesamtrebfläche entspricht beziehungsweise der Hälfte der Anbaufläche für Weißwein. Die wichtigsten Rebflächen für Grünen Veltliner liegen dabei in Niederösterreich, vom Donauraum bis ins Weinviertel.

Obwohl der Name es suggeriert, steht der Grüne Veltliner in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zu anderen Veltlinern wie beispielsweise Roter Veltliner, Frühroter Veltliner, Rotgipfler oder Zierfandler – und hat seinen Ursprung auch nicht in Valtellina (Veltlin) im Norden der Lombardei an der Grenze zur Schweiz. Gentechnische Analysen haben ergeben, dass die eigenständige Rebsorte eine natürliche Kreuzung zwischen Traminer und einer bis dahin unbekannten Rebsorte ist, die man nach ihrem Fundort im burgenländischen Leithagebirge am Neusiedlersee St. Georgen benannt hat. Um die vermutlich etwa 400 Jahre alte Rebsorte vor dem verschwinden zu bewahren, wurden inzwischen zahlreiche Reben von ihr nachgezüchtet und 2015 fand auch erstmals eine Lese statt.

Grüner Veltliner erlangt seine Vollreife eher spät, sodass er sich im gemäßigteren, etwas wärmeren Klima wohlfühlt und Standorte in weiter nördlichen Breitengraden eher ungeeignet für ihn sind. Ausreichend Niederschläge vorausgesetzt, ist die Rebsorte insgesamt zwar relativ widerstandsfähig, während der Blüte allerdings etwas empfindlicher und anfällig für Pilzerkrankungen.

Im Weinberg ist Grüner Veltliner leicht an seiner auffälligen weißen Behaarung auf der Blattunterseite zu erkennen, die ihm in Österreich auch den Namen „Weißgipfler“ einbrachte. Ansonsten bildet er eher gelbliche, große Trauben mit rundlichen, manchmal ovalen Beeren. Grundsätzlich ist Grüner Veltliner eher ein Massenträger, der insbesondere auf tiefgründigen Sedimentböden (Löss) besonders fruchtbar ist – und insofern zur Qualitätssteigerung der Ertragsreduzierung bedarf.

Die autochthone Rebsorte findet besonders in den Weinbaugebieten Niederösterreichs optimale Bedingungen vor. Ideale Voraussetzungen zum Anbau der Rebsorte bietet vor allem das nördliche Weinviertel, aber auch die Lössböden im Kamp- und im Kremstal sowie am Wagram. In einfacheren Lagen des Weinviertels werden meistens Erträge um die 100 Hektoliter pro Hektar erreicht, entsprechend ist der im Stahltank hergestellte, duftende Wein auch eher von einer frischen, fruchtigen Stilistik mit reichlich Säure. Körperreichere, komplexere Weine mit reifer gelber Aromatik und charakteristischer pfeffriger Würze – mitunter unterstützt durch den Ausbau in alten Eichenfässern – lassen sich auf kargeren Böden wie den Urgesteinsterrassen der Wachau erzielen, wo die Erträge etwas gemindert werden. Hier entstehen sehr langlebige Weine, die durchaus das Potenzial zur Flaschenreifung haben – und vielleicht sogar noch lagerfähiger sind als Riesling, jedenfalls auch bei längerer Lagerung nichts von ihrer Frische verlieren.

In Niederösterreich ist der Grüne Veltliner seit dem 16. Jahrhundert insbesondere auch als Teil des Mischsatzes und unter dem Namen „Grüner Muskateller“ bekannt, seine weite Verbreitung findet er jedoch seit seit den 1950er Jahren, als der Rebenzüchter Lenz Moser die Hocherziehung am Drahtrahmen für ihn in Österreich einführte. 2002 wurde dem Grünen Veltliner auch als erstem österreichischen Wein mit der Auszeichnung des Weinviertels als „Districtus Austriae Controllatus (DAC)“ eine geschützte Herkunftsbezeichnung gewidmet, der 2006 das Traisental und 2007 das Kremstal folgten, hier sogar als Reserve. Seither allerdings hat die Anbaufläche für Grünen Veltliner etwas abgenommen, in den letzten 15 Jahren um etwa 22 Prozent – was jedoch nichts an der Dominanz der Rebsorte in Österreich ändert.

Außerhalb von Österreich sind die Rebflächen für Grünen Veltliner doch eher überschaubar. Anpflanzungen gibt es in Tschechien und der Slowakei, wo die Rebsorte „Veltlin Zelene“ oder „Veltlinske Zelené“ genannt wird, sowie im Norden Ungarns als „Veltlini“. Aber auch in Australien und Neuseeland werden mit der Rebsorte Versuche angestellt.

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Zweigelt

Mit Blaufränkisch und Zweigelt hat Österreich zwei autochthone Rotweinrebsorten, die sich auch im etwas kühleren Klima wohl fühlen und sich durch ihre lebhafte Säure auszeichnen. Auch wenn Zweigelt dabei sein Terroir vielleicht nie so gut wird abbilden können wie Blaufränkisch – im Hinblick auf die Anbaufläche ist Zweigelt mit 6.500 Hektar deutlich vor ihm und insofern Österreichs meistangebaute Rotweinsorte. Allein in den letzten zwanzig Jahren ist die Rebfläche für ihn um fast die Hälfte gewachsen – während umgekehrt jene des Grünen Veltliners, immerhin die erfolgreichste österreichische Rebsorte, in der gleichen Zeit um mehr als zwanzig Prozent abnahm.

Dabei hat die Rebsorte noch gar keine lange Geschichte: Sie wurde nämlich erst 1922 von Fritz Zweigelt, dem Leiter der Rebenzucht in der Weinbauforschungsanstalt Klosterneuburg, gezüchtet und ist aus einer Kreuzung von Blaufränkisch und St. Laurent hervorgegangen. Es war die 71. Kreuzung, die Zweigelt vornahm – und sollte seine erfolgreichste werden.

Zweigelt übernahm die Rebenzüchtung an der 1860 gegründeten, ältesten Weinbauschule der Welt nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Zeit, als die aus Amerika eingeschleppte Reblaus die europäische Reblandschaft fast völlig zerstört hat. In die österreichischen Weinberge gelangte sie unter anderem dadurch, dass August Wilhelm von Babo (1827-1894), der erste Leiter der Weinbauschule, befallene Reben aus New Jersey anpflanzte – mit der Folge, dass wenige Jahre später praktisch alle Weinberge unwiderbringlich zerstört waren.

Die Reblauskrise änderte den Weinbau auch in Österreich von Grund auf: Für die Neubestockung der Weinberge griff man auch hier auf das in Frankreich entwickelte Verfahren zurück, Rebsorten von Vitis vinifera auf das Wurzelwerk reblausresistenter amerikanischer Unterlagsreben zu propfen. Das allerdings war sehr aufwändig und natürlich mit erheblichen Kosten verbunden, weshalb zahlreiche österreichische Weinbauern auf sogenannte „Direktträger“ zurückgriffen, das heißt Amerikanische Rebsorten wie Delaware, die man einfach in den Boden pflanzen konnte.

Vehement und unermüdlich setzte sich Zweigelt in zahlreichen Vorträgen und wissenschaftlichen Publikationen gegen diese Direktträger ein – und erarbeitete sich so bald einen Weltruf als Önologe: Nicht nur, weil sie aufgrund ihres „fuchsigen“ Aromas – dem sogenannten „Foxtone“ – geradezu „ungenießbar“ seien, sondern auch, um eigene österreichische Sorten wie den Grünen Veltliner oder die Blaufränkisch zu schützen. Schließlich setzte sich Zweigelt im österreichischen Weinbauauschuss gegen die Direktträger durch – nur noch im Burgenland werden sie gepflanzt: Weine aus den Rebsorten Noah oder Delaware beispielsweise heißen dort „Uhudler“.

Die ohnehin bereits vorhandenen österreichischen Rebsorten wollte Zweigelt selbst noch um neue Züchtungen erweitern: „Tatsache ist, dass keine der hierzulande gebräuchlichen Sorten in jeder Hinsicht befriedigt; entweder lässt der Ertrag zu wünschen übrig, oder das gilt besonders für die feineren Sorten – die Trauben reifen zu spät oder auch die Fäulnisempfindlichkeit bedrohen alljährlich den Ertrag“, schreibt er in diesem Zusammenhang 1927. Um das zu ändern experimentierte er mit der Kreuzung verschiedener Genotypen von Vitis vinifera – aber auch mit Kreuzungen von Reben amerikanischer und europäischer Genetik, weil solche Hybriden letztlich resistenter sind.

Zweigelt setzt dabei auf die sogenannte Auslesezüchtung – und versuchte aber auch, durch aufwändigere Kreuzungen mehrerer Sorten eine neue, qualitativ und quantitativ verbesserte genetische Identität zu schaffen. Als Nachfolger von Babo fühlte er sich auf jeden Fall berufen, exakte Methoden auf der Basis der Vererbungsgesetze von Gregor Mendel (1822-1884) anzuwenden. Dazu werden männliche Blüten kastriert, indem die Rebenhütchen entfernt werden um die Pollen freizulegen. Anschließend wird die Blüte mit einem Papiersäckchen umschlossen, das verhindern soll, dass es zu unerwünschten Befruchtungen kommt.

Die Kreuzung „Nr. 71 St. Laurent x Blaufränkisch“ – sie sollte Zweigelts erfolgreichste Rebsorte werden. Die zunächst nur mit der Züchtungsbezeichnung angegebene Rebsorte (dafür, dass ihr Zweigelt den Namen „Rotburger“ gegeben haben soll, gibt es keine Belege) treibt früh aus und benötigt auch etwas Zeit, um auszureifen – jedoch nicht so lange wie Blaufränkisch. Außerdem ist die Rebsorte nicht frostanfällig und stellt auch nur geringe Ansprüche an Boden und Standort im allgemeinen. Gefahr droht allenfalls durch Pilzerkrankungen wie den Falschen Mehltau. Ansonsten jedoch zeichnet sie sich durch ziemlich hohe Erträge aus, sodass ein gewissenhaftes Laubwandmanagement („Canopy Management“) notwendig ist, um sie im Wuchs zu regulieren und hochwertiges Traubenmaterial zu erhalten. Auch ein frühzeitiges Ausdünnen der Trauben (Grüne Lese) hilft, damit der Wein nicht zu „dünn“ ausfällt.

Ansonsten ergibt die Rebsorte, reinsortig ausgebaut, einen farbintensiven und vollfruchtigen Wein (Sauerkirsche) mit weichen Tanninen – er eignet sich aber auch gut für den Ausbau im Barrique, wo er dann vielleicht einen etwas traditionelleren Stil erhält.

Nach der erfolgreichen Züchtung 1922 geriet die neue Rebsorte allerdings in Vergessenheit – und als nach dem Zweiten Weltkrieg das Zweigelt`sche Rebenzüchtungssortiment zerstört und verloren geglaubt war, entdeckte man doch noch ein etwa 2.100 Rebstöcke umfassendes Neuzuchtfeld mit sogenannten Edelraisern, das unbeschadet den Krieg überstanden hatte. Insbesondere der damalige Rebenzüchter Lenz Moser machte sich in der Folge an die Rettung der Rebsorte: Unter seiner Leitung beginnt ab 1950 eigentlich erst die weitere Vermehrung der Rebe.

Der Züchter selbst allerdings, Fritz Zweigelt, war zu dieser Zeit schon nicht mehr öffentlich tätig – und das hatte auch seine Gründe, wie Daniel Decker in einem Beitrag in „Wein in Österreich“ ausführt und Gerald Teufel in einem Dokumentarfilm zeigt. Denn Zweigelt war ein strammer, überzeugter Nationalsozialist und schon von Anfang an, seit 1933, Mitglied der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP)“, wie außer ihm auch noch etwa 50.000 andere sogenannte „Illegale“ in jenen Jahren bis zum Anschluß Österreichs als „Ostmark“ an das Deutsche Reich 1938. Schon damals verteilte er Flugblätter, nutzte seine Kontakte zur nationalsozialistischen Propaganda – und bezeichnete sich selbst als „alten Kämpfer“. 1937 sagte er auf einer Reichstagung in Heilbronn unter anderem: „Der Wille des Führers ist uns heiliges Gebot. (…) Die planmäßige Ernährungswirtschaft, die reichen Ernten der letzten Jahre im Feldbau, im Getreidebau, im Obstbau werden alle Hoffnungen unserer Gegner zunichte machen, jemals dieses Deutsche Volk in die Knie zu zwingen. Jüdischem Spekulationsgeist ist für alle Zeit der Boden entzogen.“ Es war noch eine der harmloseren „oratorischen Entgleisungen“, wie man das später entschuldigte …

Während die jüdischen Weinhändler enteignet wurden, setzte sich Zweigelt als neuer Direktor an die Spitze der Weinbauschule in Klosterneuburg und machte sich dort an die Säuberung der Anstalt. Sogleich entfernte er alle missliebigen Kollegen – nicht alle aus politischen Gründen. Ihm selbst wäre dabei beinahe zum Verhängnis geworden, dass er unter anderem jahrelang in der Zeitschrift eines jüdischen, mittlerweile arisierten und gleichgeschalteten, Verlags publiziert hat. Nichtsdestotrotz führt an Zweigelt zu der Zeit kein Weg in der „ostmärkischen Weinlandschaft“ vorbei – 1944 wird er sogar, „im Namen des Führers“, mit dem Professorentitel geehrt.

Nach dem Krieg liegt Zweigelts Weinschule in Trümmern – und er selbst wird zwar wegen Volksverhetzung angeklagt, das Verfahren gegen ihn jedoch bald eingestellt. Zweigelt war – wie offenbar so viele – unabkömmlich für die Weinwirtschaft, wird sogar Oberregierungsrat. Es ist dann 1958, als Lenz Moser aus Anlass von Fritz Zweigelts siebzigstem Geburtstag unter der Überschrift „Ab 1960: Zweigelt-Kreuzungen im Verkehr“ nicht ohne tiefe Bewunderung schreibt: „(D)ieser Doktor Zweigelt gehört zu jenen Menschen, von denen jenes gewisse Etwas ausgeht, dass wir mit einem Fremdwort als das ,Fluidum‘ bezeichnen und das nur wirklichen Persönlichkeiten eigen ist.“ Zweigelt habe „weit über 1000 Kreuzungen zwischen europäischen Reben untereinander sowie auch zwischen europäischen und amerikanischen Reben durchgeführt“, eine davon sei jene von St. Laurent x Blaufränkisch, „die zu Ehren des Züchters Zweigelt-Rebe benannt wurde.“

Schon 1956 habe Lenz Moser deshalb beim Züchter selbst angefragt, ob er seine Züchtung „Blaue Zweigelt-Rebe“ nennen dürfe, was Zweigelt offenbar bereitwillig angenommen hat (ähnlich wie bei der Scheurebe in Deutschland, deren Züchter ebenfalls eine Vergangenheit als NSDAP-Mitglied hatte). Zweigelt selbst hat sich dazu allerdings wohl nur ein einziges Mal geäußert – aus Anlass einer Dankesrede bei einer Medaillenverleihung: „Zur Neuzüchtung von Sorten sind Tausende von Kreuzungen durchgeführt worden und nur einige wenige haben m. E. die Erwartungen erfüllt – so die blaue Zweigelttraube (…) Dass es die Zweigelttraube gibt, weckt in mir gemischte Gefühle – einerseits die Hoffnung, dass sie mich wahrscheinlich überleben wird, und andererseits die Hoffnung, dass sich manch einer an diesem Wein berauschen wird, wie ich mich seinerzeit berauscht habe an der Freude der gelungenen Züchtung.“

Als Zweigelt 1964 stirbt, zeichnet sich der Erfolg der Rebsorte noch nicht ab – erst 1975 erfuhr der „Zweigelt“ endgültig seine Markteinführung. Dann jedoch ging es schnell, das heißt, insbesondere der hohe Ertrag der Zweigelt-Rebe führte dazu, dass immer mehr österreichische Weinbauern sie anpflanzten. Die neue Rebsorte habe, so Lenz Moser, den Vorteil, dass sie erheblich früher reife als beispielsweise der damals häufig angebaute Blaue Portugieser und noch dazu gegenüber dem Echten Mehltau unempfindlich sei.

Schon seit 1972 ist sie als „Zweigeltrebe Blau“ offiziell ins Rebsortenverzeichnis für Qualitätsweine aufgenommen. Heute, genau hundert Jahre nach ihrer Züchtung, ist Zweigelt die meistangebaute rote Rebsorte in Österreich – und sorgt ob ihres Namens wieder für Kontroversen. Verschiedene neue Bezeichnungen werden für die vielgeliebte Rebsorte vorgeschlagen, allein, durchgesetzt hat sich bislang noch keine so wirklich. Was lange währt …

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Dornfelder

Als August Karl Herold (1902-1973) starb, waren gerade einmal etwa 100 Hektar mit ihr angebaut, heutzutage ist Dornfelder, nach dem Spätburgunder, die meistangebaute rote Rebsorte in deutschen Weinbergen: etwa 8.000 Hektar – überwiegend in Rheinhessen und der Pfalz, aber nicht nur – sind mir ihr bepflanzt, was fast acht Prozent der Gesamtanbaufläche Deutschlands entspricht. Dabei hat Dornfelder überhaupt keine lange Vergangenheit, sondern sie ist das Ergebnis einer Züchtung aus dem Jahr 1956. Die Geschichte des Dornfelders ist insofern eine Erfolgsgeschichte

Leider ist nicht bekannt, wie August Herold darüber dachte, dass die Dornfelder nicht seinen Namen trägt. Als er sie an der „Staatlichen Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau“ im württembergischen Weinsberg züchtete, war der Name „Herold“ bereits vergeben – und zwar von ihm selbst für die ebenfalls von ihm gezüchtete, heute aber völlig unbekannte „Heroldrebe“. Immerhin war sie zumindest der Kreuzungspartner (der Sorte „Helfensteiner“) für die neue Rebsorte – die nun an seiner statt nach dem Gründer der Weinsberger Weinbauschule benannt werden sollte: Imanuel Dornfeld (1796-1869).

Als Herold die Dornfelder züchtete, wurde sie zunächst eigentlich nur als Verschnittpartner für hellere Sorten verwendet, denn die Rebsorte ist ausgesprochen farbintensiv, was im kalten Klima Deutschlands eher die Ausnahme ist, und fungierte deshalb insbesondere als sogenannte „Färbersorte“ (wie beispielsweise die Alicante Bouschet in Südfrankreich) – um helleren Rebsorten eine dunklere, kräftigere Farbe zu verleihen. Nach und nach aber trat der Dornfelder unabhängig davon in den Fokus der Aufmerksamkeit der Winzer – vielleicht zuerst im Weinberg, beim Anbau, dann aber auch geschmacklich.

Dornfelder läßt sich wesentlich bequemer anbauen als Spätburgunder: er hat nur eine relativ kurze Reifezeit – wesentlich früher als Blaufränkisch beispielsweise – und reift deshalb auch unter eher widrigen klimatischen Bedingungen zuverlässig aus, weshalb er insbesondere für den Anbau in Regionen mit sogenanntem „cool climate“ – wie eben Deutschland – geradezu prädestiniert ist. Trotz seiner kräftigen Stengel ist hier aber dennoch darauf zu achten, dass die Lagen, in denen er wächst, tatsächlich frostfei sind. Ansonsten ist er – das spricht außerdem für ihr – nicht krankheitsanfällig, relativ resistent gegen Fäulnis und darüber hinaus ausgesprochen wachstumsintensiv: Dornfelder neigt zu hohen Erträgen bis zu 120 Hektoliter pro Hektar. Er wird dann allerdings etwas beliebig, weshalb beispielsweise eine Ertragsreduktion durch den Reb-Rückschnitt im Sommer („grüne Lese„) zu deutlich besseren Qualitäten führt – die dann auch dazu führen, dass Dornfelder reinsortig ausgebaut wird, wie heutzutage üblich.

Arbeitet man im Weinberg gewissenhaft, entstehen farbintensive Weine mit kräftiger Säure und ausgesprochen dunklen, fruchtigen Aromen, die aber einen samtigen Charakter zeigen mit eher zurückhaltenden Tanninen. Solche Dornfelder gibt es tatsächlich leider – inzwischen immer seltener – auch als halbtrockene oder liebliche Weine. Es gibt aber auch Dornfelder, die sich von einer etwas eher würzigeren, kräftigeren Seite zeigen – und sich dann auch für den Ausbau im Barrique eignen.

Totz seines außerordentlichen Erfolgs in Deutschland wird Dornfelder ansonsten nur sehr wenig angebaut. Kleinere Rebflächen gibt es allerdings in der Schweiz – und sogar in Japan und Thailand.

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Trollinger

Bedeutung erlangte die Rebsorte als „Trollinger“ – vor allem in Württemberg -, eigentlich aber stammt sie aus Südtirol, wo sie „Schiava“ heißt und die aus ihr erzeugten Weine „Vernatsch“. Zwar erhält die Rebsorte dort ihren Namen erst im 18. Jahrhundert, als sie zur meistangebauten Rebsorte avancierte, gleichwohl dürfte sie in Südtirol ihren Ursprung haben – zumindest verweist die Bezeichnung Trollinger darauf, handelt es sich dabei doch wahrscheinlich um eine Abwandlung von „Tirolinger“. In Südtirol jedenfalls hat die Rebsorte ihr zweites wichtiges Anbaugebiet neben Württemberg.

In Oberitalien tritt die Rebsorte etwa ab dem 12. Jahrhundert in Erscheinung, in Württemberg ist sie dann ab dem 14. Jahrhundert nachgewiesen und wird dort, ebenfalls im 18. Jahrhundert, zur „Trollinger“. Eine weitere Verbreitung in Deutschland findet dann aber praktisch nicht mehr statt, das heißt, von vernachläßigbaren dreißig Hektar abgesehen, befinden sich alle Rebflächen von Trollinger in Württemberg. Sie ist dort die meistangebaute Rebsorte – obwohl sich ihre Rebflächen in den letzten zwanzig Jahres etwas zurück entwickelt haben: Wuchs die Anbaufläche für Trollinger zwischen 1960 und 1995 um etwa 1.000 Hektar und erreichte damit ihren Höchststand mit etwa 2.500 Hektar – zu der Zeit stellte sie etwa jede dritte Rebe in Württemberg -, verringerte sich die Fläche seither auf etwa 2.000 Hektar im Jahr 2021.

Die Konzentration auf das südlich gelegene Württemberg hat klimatische Gründe, handelt es sich dabei doch um eines der wärmeren deutschen Anbaugebiete. Denn Trollinger hat eine lange Vegetationsperiode um auszureifen – sie reift sogar noch nach dem Riesling. Damit das gelingt, sind im Frühherbst frostfreie Lagen notwendig, das heißt, die Rebstöcke der Trollinger fühlen sich am wohlsten auf warmen Böden wie etwa Keuper oder Muschelkalk.

Trollinger reagiert also empfindlich auf Spätfroste, allerdings verträgt sie auch direkte Sonneneinstrahlung nicht so gut – und braucht insofern Schatten. Deshalb wird sie in Südtirol im Pergolasystem erzogen. Unter ihr bleiben Feuchtigkeit, Temperatur und Luftverhältnisse weitgehend konstant, und auch der Boden trocknet nicht so schnell aus. Ist es insgesamt aber zu kühl und feucht, ist Trollinger relativ anfällig für Fäulnis, aber auch für andere Pilzkrankheiten wie Mehltau.

Dafür ist die Rebsorte dann aber relativ anspruchslos im Anbau, das heißt Trollinger ist eine ertragreiche Sorte, die etwa 100 Hektoliter pro Hektar erbringt, auch auf nährstoffarmen Böden, wobei sich das Mostgewicht mit durchschnittlich etwa siebzig Oechslegraden für die Produktion von Qualitätswein eignet. Die Säure allerdings fällt für einen Rotwein eher hoch aus.

Insgesamt erbringt Trollinger leichte, fruchtige Weine mit geringem Tannin – süffige Weine, mit einer hellroten Farbe, die aber fast nur in Württemberg selbst getrunken werden und dort auch als eine Art schwäbisches Nationalgetränk gelten. Manchmal wird Trollinger auch mit Lemberger verschnitten, ansonsten eignet sie sich aufgrund ihrer geringen Tannine nicht für eine längere Lagerung, sondern sollte am besten noch innerhalb eines Jahres getrunken werden.

Anders als in Württemberg, ist Trollinger in den anderen deutschen Anbaugebieten wegen seiner späten Reife unbeliebt – nicht aber in Südtirol, wo sie als Schiava schon einmal siebzig Prozent der Rebflächen ausmachte, inzwischen aber mit etwa 1.000 Hektar „nur noch“ 18 Prozent. Fast alle firmieren als DOC Alto Adige, wobei die klassischen Anbaugebiete für Schiava in Südtirol um Bozen, Meran und Kaltern liegern. Hier entstehen auch so bekannte Weine aus ihr wie zum Beispiel der St. Magdalener, der als kraftvollster Vernatsch gilt, oder auch der Kalterersee.

So wenig verbreitet Trollinger auch ist – er ist dafür doch an einigen Neuzüchtungen beteiligt, von denen man kaum weiss. Die bekannteste dürfte vielleicht der Kerner sein …

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Passito (Strohwein)

Als Passito wird in Italien ein Süßwein bezeichnet, der aus rosinierten beziehungsweise getrockneten Trauben hergestellt wurde und insofern einem Strohwein in Österreich entspricht beziehungsweise einem vin de paille in Frankreich, zum Beispiel im Jura oder im Elsass. „Passito“ leitet sich von „appassito“ für „verwelken“ ab, wobei der Vorgang des Rosinierens, der Trockenvorgang, „appassimento“ genannt wird. Seinen Ursprung hat dieses Verfahren im antiken Rom, wo man bereits einen Süßwein namens „Passum“ aus rosinierten Beeren hergestellt hat.

Der Trockenvorgang kann erfolgen, indem man die Trauben am Rebstock rosinieren läßt – beispielsweise auch durch das Verfahren der Passerillage -, oder aber, indem man sie nach der Lese an der Luft trocknet. In diesem Fall werden die Trauben entweder – wie beim deshalb so genannten Strohwein – auf Stroh- oder Schilfrohrmatten auslegt, oder indem man sie an Gestellen aufhängt.

Zahlreiche Vin Santos in Italien sind Passito-Weine genauso wie der Malvasia delle Lipari oder auch der Moscato di Pantelleria – der bekannteste Passito dürfte aber sicherlich der Amarone della Valpolicella sein. Sowohl für ihn als auch für den Recioto della Valpolicella wird das Appassimento-Verfahren verwendet, wobei der Amarone gar nicht süß ist wie der Recioto, sondern bitter („amaro“).

Für die Herstellung eines Amarone werden die Trauben – im Unterschied zu einem Recioto – früh gelesen, das heißt zwischen Ende September und Anfang Oktober, wenn sie noch reichlich Säure haben. Anschließend erfolgt das Appassimento beziehungsweise die Rosinierung, wozu die Trauben in Trockenräumen, sogenannten „fruttai“, ausgelegt und 100 bis 120 Tage angetrocknet werden (wobei der Nebel, der in den hügeligen Alpenausläufern des Valpolicella oft auftritt, die Antrocknung beeinflußt). Während dieses Prozesses in zum Teil offenen Räumen verlieren die Trauben unter ständiger Luftzirkulation etwa die Hälfte ihres Gewichtes und sie verändern ihren Charakter grundlegend: die Säure wird vermindert, das Verhältnis von Glucose und Fructose wechselt und es kommt zu einer Erhöhung an Resveratol (einem charakteristischen Geschmacksstoff).

Bei der Rosinierung verdunstet Wasser, während Zucker, Säure und Extraktstoffe umso konzentrierter zurückbleiben. Für einen Strohwein in Österreich ist zum Beispiel vorgeschrieben, dass die getrockneten Trauben nach drei Monaten auf der Strohmatte mindestens 25ºKMW (Klosterneuburger Mostwaage) aufweisen, was 121,5ºOe (Oechslegrade) entspricht, oder 30ºKMW (145,8ºOe) nach zwei Monaten.

Sowohl für den Recioto als auch den Amarone werden die Trauben etwa vier Monate angetrocknet. Danach werden sie gepresst und der Most vergoren. Die Pressung erfolgt beim Amarone vor oder kurz nach Weihnachten. Die Trauben enthalten dann extrem viel Zucker, aus dem während der Gärung viel Ethanol entsteht (wobei beim Recioto der Zucker nicht vollständig zu Alkohol umgewandelt wird. Das Ergebnis ist dann ein süsser Passito mit geringerem Alkoholgehalt). Damit die üppigen Aromen des späteren Amarone nicht in einer Überdosis Alkohol ertrinken, bleiben die Beerenschalen erst mal im abgepressten Most liegen – oft mehrere Monate -, denn so zieht der Wein Gerbstoffe aus, die ihn bitter, später jedoch auch langlebig machen. Gleichzeitig passiert aber etwas, daß manche als das „miracolo del amarone“ bezeichnen, denn die Hefe hört hier nicht bei 15 Volumenprozent Alkohol auf zu arbeiten, sondern erst bei 16 Volumenprozent und mehr – was an einem speziellen Hefestamm liegt.

Nach dem Abpressen erfolgt die Vinifikation, das heißt ein mindestens zweijähriger Ausbau in (slowenischen) Eichenholzfässern und in der Flasche. Riservas müssen sogar vier Jahr in Holz reifen. Während der Reifung zieht sich sich die Fermentation monatelang hin, in denen der Wein oxidiert. Entsprechend ist Amarone granatfarben und nimmt deutliche Reifenoten an.

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Muskateller (Muscat)

Muskateller ist eine sogenannte Aromarebsorte, die sich insbesondere im warmen Klima wohl fühlt und in den Anbaugebieten am Mittelmeer eine jahrhundertelange Tradition hat. Schon in der Antike wurde sie in Griechenland ihres intensiven Duftes wegen gerühmt und noch heute wird „Muscat“, wie die Rebsorte in Frankreich heißt, als „Musqué“ bezeichnet, als ob sie tatsächlich „nach Moschus duftend“ wäre. Zahlreichen aromatischen Rebsorten allerdings wird diese Eigenschaft zugeschrieben – außer dem Muskateller, der in Italien „Moscato“ und „Moscatel“ in Spanien genannt wird, beispielsweise auch dem Gewürztraminer.

Obwohl man sich bei der Angabe der Rebsorte bisweilen des französischen „Muscat“ bedient, hat sie nicht dort ihren Ursprung, sondern kommt vermutlich aus dem antiken Griechenland – auch wenn sie erstmals 1304 in einem Text aus Bologna als „Muscatellus“ erwähnt und später „Moscadello“ genannt wird. Schon früh rückte man so die Dufteigenschaft der Rebsorte in den Vordergrund – und gerne wird dieser Duft mit jenem der Muskatnuss beschrieben. Nun allerdings gelangte die Frucht des Muskatnussbaums erst nach 1500 mit Portugiesischen Seefahrern aus ihrer Heimat in Indonesien nach Europa – der Name der Muskatnuss hat also seinerseits eine andere Bedeutungswurzel und stammt vom mittellateinischen „nux muscata“, was soviel wie „nach Moschus duftende Nuss“ bedeutet. Denn diesen Duft des stark riechenden Sekrets aus dem Moschusbeutel des Moschushirschen gelangte bereits im Altertum über Persien in unsere Region und war also schon länger bekannt.

Jedenfalls wird die Rebsorte unter diesem Namen bekannt und taucht dann auch bald im Midi auf, wo die Rebsorte bis heute Bedeutung hat. Gemeinsam mit Malvasia gelangt auch Muskateller aus Kreta bereits im 14. Jahrhundert mit den Galeeren bis nach England – und 1534 ist auch erstmals in Deutschland von der Rebsorte die Rede, als sie im württembergischen Brackenheim zum Kauf angeboten wird.

Ähnlich wie bei Malvasia, die auch ein vergleichbares Alter haben dürfte, gibt es heute zahllose Varietäten, die den Begriff „Muscat“ in irgendeiner Form im Namen tragen – annähernd 200 verschiedene Rebsorten sind es wohl. Sieht man von solchen Rebsorten ab, die ohnehin keine verwandschaftliche Beziehung zu den Muscat-Sorten haben – wie beispielsweise der insbesondere im Bordelais verbreitete Muscadelle -, lassen sich aber grundsätzlich fast alle auf folgende vier Arten zurückführen:

  • Muscat Blanc à Petits Grains
  • Muscat d`Alexandrie
  • Muscat Ottonel
  • Muscat d`Hamburg (der aber praktisch nur als Tafeltraube verwendet wird, sieht man von kleinen Rebflächen in Osteuropa oder auch in Polynesien und China ab, wo er in Kreuzungen mit Sorten von Vitis amurensis der Stammvater ganzer Generationen von asiatischen Rebsorten ist)
Muscat Blanc à Petits Grains

„Muscat Blanc à Petits Grains“ („Weißer kleinbeeriger Muskat“) wird im deutschen „Gelber Muskateller“ genannt und zählt zu den ältesten bekannten Rebsorten in Europa – wenn sie nicht überhaupt die älteste ist. Denn bei den meisten der etwa 200 Rebsorten von „Muscat“ hat sie sich als ein Kreuzungspartner erwiesen. Auf jeden Fall ist sie die am längsten kultivierte Rebsorte in Frankreich – wo sie wahrscheinlich schon von den Griechen in der Gegend um Marseille in der Provence eingeführt wurde, spätestens aber von den Römern bei Narbonne im Languedoc.

Die Beeren von Muscat Blanc sind klein und rund – und unterscheiden sich von den ovalen des Muscat d`Alexandrie. Anders aber als es der Name suggeriert, sind sie nicht weiß, sondern es gibt verschiedene Farbvarianten von hellen bis zu dunkelroten Beeren. Obwohl sich daraus kein Rotwein erzeugen läßt, so sorgt die unterschiedliche Pigmentierung doch dafür, dass die vielen Synonyme für die Rebsorte doch jeweils sehr verschiedene Beerenfarben bezeichnen. Während Muscat Blanc hierzulande eher „gelb“ ist, ist sie in Australien und Südafrika eher dunkler und wird entsprechend auch als „Brown Muscat“ bezeichnet. Gleichwohl wird aus ihr im australischen Rutherglen genauso gespriteter Süßwein erzeugt wie seit jeher in den Ländern am Mittelmeer.

Im Mittelmeerraum ist Muscat Blanc schon seit Jahrhunderten heimisch, hier fühlt sich die früh austreibende Sorte wohl. Und sie hat hier schon seit jeher eine Tradition als Rebsorte für die Herstellung von Süßwein. Bis ins 19. Jahrhundert zählte sie beispielsweise auch im Roussillon zur dominierenden Rebsorte – und zwar wohl schon seit dem 14. Jahrhundert und vor dem Auftauchen der Malvasia. Heutzutage jedoch spielt im Midi Muscat d`Alexandrie eine wichtigere Rolle, insbesondere bei den aufgespriteten Süßweinen, den sogenannten „vins doux naturels“, wie beim Muscat de Frontignan oder an der Südlichen Rhône beim Beaumes-de-Venises.

Aber nicht nur im Mittelmeerraum, sondern auch in zahlreichen anderen Weinbauländern werden praktisch nur süße Weine hergestellt, keine trockenen Varianten. Das gilt für portugiesischen Moscatel de Setúbal Roxo genauso wie für ungarische Tokajer aus Sárgamuskotály oder ursprünglich auch einmal Vin de Constance aus Südafrika. Und auch in Chile entsteht aus Muskateller kein trockener Wein, sondern die Rebsorte dient hauptsächlich zur Herstellung von Pisco.

Selbst in Griechenland, wo die Muscat Blanc ihren Ursprung hat, wird inzwischen vermehrt Muscat d`Alexandrie angebaut. Für den aufgespriteten, süßen Samos allerdings – er hat etwa 130 Gramm Restzucker und reift mehrere Jahre in Eichenholzfässern – wird Muscat Blanc verwendet. Süßwein hat in Griechenland ohnehin eine lange Tradition, neben Muscat gilt das insbesondere auch für Malvasia.

Hierzulande hingegen wird Muskateller trocken ausgebaut – Muscat Blanc allerdings wurde hier von der aromatischeren Sorte Morio-Muskat verdrängt. Gleichwohl zeigt das frühe Auftreten der Muscat Blanc schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts, dass es damals in Deutschland etwas wärmer gewesen sein muß und Frühjahrsfroste nicht so häufig waren. Das hat sich geändert – auch im benachbarten Elsass: auch dort dominierte jahrhundertelang Muscat Blanc, die für Pilzerkrankungen anfällige Rebsorte wurde aber inzwischen durch die weniger empfindliche Muscat Ottonel verdrängt. Ansonsten aber wird trockener Wein aus Muscat Blanc auch noch in der Steiermark in Österreich hergestellt und im Norden Sloweniens. In all diesen Regionen ist das Klima etwas kühler, wodurch Muscat Blanc eine würzige Aromatik entwickelt sowie eine frische Säure.

Der kleinbeerige Muscat Blanc ist nicht sehr ertragreich, was seinen Anbau einschränkt oder erklärt, weshalb er mitunter auch durch andere Arten ersetzt wird. Gleichwohl aber gibt es auch Regionen, wo er sich hält – wie beispielsweise im Piemont, wo Muscat Blanc à Petits Grains die älteste urkundlich erwähnte Rebsorte ist und vornehmlich Schaumwein aus ihm hergestellt wird. Hier, wie überhaupt in Italien, dominiert Muscat Blanc als „Moscato“ die Anbauflächen: etwa 13.000 Hektar des Landes sind mit Muskateller bepflanzt, davon liegen wiederum etwa 10.000 im Piemont, wo er fast zwanzig Prozent der Rebfläche belegt und zu süßem Asti Spumante oder Moscato d`Asti verarbeitet wird.

Muscat d`Alexandrie

Es war eine unbekannte Rebsorte aus Sardinien, Axina de Tres Bias, die der Kreuzungspartner für Muscat d`Alexandrie war, aus der wiederum zahlreiche andere Sorten wie beispielsweise Torrontés in Argentinien oder der insbesondere im Trentino verbreitete Moscato Rosa (Rosenmuskateller) entstanden sind. Der wird erstmals Ende des 19. Jahrhunderts erwähnt und erhielt seinen Namen weniger wegen seiner Roséfarbe, sondern insbesondere wegen seines ausgeprägten Rosen-Duftes – ist aber ausgesprochen anspruchsvoll im Anbau und noch empfindlicher und anfälliger für Krankheiten wie der Muscat Blanc, weshalb er außerhalb von Italien praktisch nicht angebaut wird.

Unabhängig vom Moscatel Rosa – der Muscat d`Alexandrie verträgt Hitze besser als der Muscat Blanc und bringt auch hohe Erträge. Vielleicht sind auch deshalb fast alle 10.000 Hektar Moscatel in Spanien mit Muscat d`Alexandrie bepflanzt, obwohl deren Weine im Vergleich mit dem Muscat Blanc doch etwas rustikaler und weniger subtil ausfallen. Ihr Kriterium ist eher Süße – weshalb er auch weniger für trockene Weine herangezogen wird, sondern insbesondere auch für die Süßweinherstellung, wie beispielsweise auf Sizilien beziehungsweise den umliegenden Inseln. Der süße, dunkle Moscato di Pantelleria ist hier nur ein Beispiel.

Muscat d`Alexandrie wird hier „Zibibbo“ genannt – gleichwohl deutet auch dieser Name auf einen afrikanischen Ursprung der Rebsorte, wenn auch nicht zwingend auf einen Ägyptischen: Der Name „Zibibbo“ leitet sich angeblich vom afrikanischen Kap Zibibb ab – das sich jedoch auf keiner Karte finden läßt. Allerdings bedeutet „zabib“ auf Arabisch „kleine Traube“ beziehungsweise „Rosine“ – der Name hat also vermutlich arabische Ursprünge. Und tatsächlich liegt die vom Scirocco windumtoste Vulkaninsel Pantelleria mit ihren fruchtbaren Böden auch gerade einmal sechzig Kilometer vom Kap Bon in Tunesien entfernt, während es nach Sizilien schon etwa hundert Kilometer sind. Dennoch gehörte das kleine Eiland zu Italien – von hier aus könnte sich die Bezeichnung also verbreitet haben. Aber obwohl sich Zibbibo respektive Muscat d`Alexandrie in ganz Süditalien verbreitet hat, wird – auf ganz Italien bezogen – nur etwa ein Drittel soviel mit dieser Muscat-Varietät angebaut, wie mit dem insbesondere im kühleren Norden dominierenden, insgesamt etwas hochwertigeren Muscat Blanc à Petits Grains.

Muscat Ottonel

Der Muscat Ottonel ist vielleicht von allen Muskatellern der am wenigsten charaktervolle, zumindest was seine Aromatik betrifft. Entstanden ist er Mitte des 19. Jahrhunderts an der Loire: Angeblich wurde die Sorte 1852 an einer Rebschulde dort aus einer Kreuzung mit Chasselas entstanden.

Muscat Ottonel läßt sich in eher kühlen Regionen grundsätzlich besser anbauen, da er früher reift als Muscat Blanc. Vielleicht ist er heute auch deshalb in Osteuropa beziehungsweise der Schwarzmeerregion verbreitet, aber auch in Österreich war er bis in die 1980er Jahre dominierend – bis kleine Bestände von Muscat Blanc entdeckt wurden, aus denen inzwischen die trockenen Weine in der Steiermark hergestellt werden.

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Gewürztraminer

Gewürztraminer ist eine der ältesten heute noch angebauten Rebsorten. Der Ursprung der charakteristisch nach Rosen duftenden und äußerst aromatischen Rebsorte geht vermutlich auf die Ortschaft Tramin (Termeno) in Südtirol zurück, wo sie bereits im 15. Jahrhundert nachgewiesen wurde. Zu dieser Zeit jedenfalls wurde Traminer – aus der der Gewürztraminer hervorging – im damals üblichen Mischsatz angebaut und als Messwein an die Klöster der Region geliefert. Einzelne historische Dokumente legen sogar die Vermutung nahe, dass Traminer hier bereits im 11. Jahrhundert angebaut wurde. Inzwischen allerdings wurde die Sorte dort von der schlichteren, aber wesentlich ertragreicheren Vernatsch (Schiava) verdrängt.

Der Gewürztraminer ist eine Mutation des Traminers und hat im Unterschied zu ihm nicht nur ein wesentlich ausgeprägteres Bukett, sondern auch rötlich gefärbte Beeren, weshalb Gewürztraminer manchmal auch „Roter Traminer“ genannt wird. In Frankreich hingegen wurde diese Mutante – wie auch der Muskateller, von dem die Bezeichnung kommt – als „Musqué“ beschrieben, was soviel bedeutet wie „nach Moschus duftend“ – wobei zahlreiche Rebsorten so bezeichnet wurden, unabhängig davon, ob sie nun nach Moschus dufteten oder nicht.

Im Vordergrund stand also weniger die Farbe, als die ausgeprägte Dufteigenschaft der Rebsorte – und allein darauf bezieht sich zunächst auch der deutsche Begriff „Gewürztraminer“, selbst wenn er darüber hinaus vielleicht auch Geschmacksassoziationen hervorgerufen haben mag. Unter diesem Namen jedenfalls wurde er in Deutschland erstmals 1827 vom Botaniker Johann Christian Metzger erwähnt, der die Rebsorte im Rheingau und unweit davon im rheinhessischen Oppenheim verortete. Hier läßt sich ihr Anbau bis zurück ins 16. Jahrhundert nachweisen.

Von den etwa 20.000 Hektar, auf denen Gewürztraminer heute weltweit angebaut wird, befindet sich die bedeutenste Fläche mit etwa 3.000 Hektar im Elsass, wo er „Gewurztraminer“ geschrieben wird und wo ihm neben Riesling, Muskateller und Pinot Gris eine gewisse Bedeutung zukommt. In Deutschland allerdings sind nur etwa 1.100 Hektar damit bestockt – nicht mehr im Rheingau, sondern inzwischen hauptsächlich in Baden und der Pfalz sowie in Sachsen -, was etwa 1,6 Prozent der Weißwein- oder 1 Prozent der Gesamtrebfläche hierzulande entspricht. In Südtirol selbst stehen gerade noch etwa 600 Hektar von ihm.

Der Grund dafür, dass Gewürztraminer nur so eine geringe Verbreitung gefunden hat, liegt darin, dass die ursprünglich ohnehin schon äußerst krankheitsanfällige und ertragsarme Rebsorte auch noch beachtliche Ansprüche an ihr Terroir – Boden, Lage und Klima ihres Standorts – stellt: So verträgt Gewürztraminer beispielsweise keine kalkhaltigen Untergründe, sondern fühlt sich auf „fetten“ Tonböden wohl. Außerdem bevorzugt die Rebsorte kühleres oder gemäßigtes Klima – bei zu hohen Temperaturen baut sie schnell ihre ohnehin schon nicht besonders ausgeprägte Säure ab. Im kühleren Klima hingegen kann sich der spätreifende Gewürztraminer seine milde Säure bewahren und hat dennoch genügend Zeit, sein reichhaltiges Aromenprofil aufzubauen, ohne zuvor schon seine pyhsiologische Reife und zu hohe Zuckerwerte erreicht zu haben.

Gleichwohl aber darf es auch nicht zu kühl sein, denn da die Rebsorte früh austreibt stellen Frühjahrsfröste eine erhebliche Gefahr dar. Gewürztraminer braucht insofern relativ warme Lagen in kühlen Klimata um einen guten Fruchtansatz gewährleistet zu haben – nicht zuletzt deshalb eignet sich in den nördlicheren Breiten daher meistens Riesling besser.

Hinzu kommt, dass Gewürztraminer anfällig ist für die im französischen „coulure“ genannte Verrieselung (gewöhnlich findet immer im Mai die Blüte und der Fruchtansatz bei der Rebe statt, wo aus jeder Blüte im Laufe des Sommers eine Traube wird, wenn sie befruchtet, das heißt bestäubt wurde und Hagel oder Regen das nicht verhindern. Klappt die Befruchtung jedoch nicht, spricht man von „Verrieselung“, bei der die Traubenbildung ausbleibt, was natürlich mit einer Ertragsreduktion verbunden ist) – und darüber hinaus auch für Pilzkrankheiten aller Art (seine ursprüngliche Anfälligkeit für Virenkrankheiten konnte allerdings durch die Selektion von widerstandsfähigen Klonen weggezüchtet werden).

Insbesondere aufgrund der Ertragsunsicherheit verzichten viele Winzer auf den Anbau von Gewürztraminer. Diejenigen allerdings, die bereit sind das Risiko einzugehen, gewinnen immer wieder auch sehr hochwertige Weine aus der Rebsorte. Sie zeichnen sich bisweilen durch ihre opulente Aromatik aus sowie eine kräftige, mitunter fast bis ins Kupferrot gehende Farbe – und sind bisweilen sehr extrakt- und körperreich, fast schon „ölig“. Ohne weiteres kommt bei ihnen auch ein Alkoholgehalt von 13 Volumenprozent oder noch höher vor. Ausgesprochen niedrig allerdings fällt dafür manchmal der Säuregehalt aus – weshalb bei Gewürztraminer streng darauf geachtet wird, dass nicht auch noch ein biologischer Säureabbau (BSA) stattfindet.

Im Elsass, wo der Traminer auch schon lange bekannt ist, entstehen ausgesprochen reife Weine von Gewurztraminer. Zwar werden sie bisweilen trocken ausgebaut, durch den geringen Säuregehalt muten sie bisweilen aber doch süßer an, als sie in Wirklichkeit sind. Allerdings werden hier auch Spätlesen („Vendages Tardives“) von der Rebsorte hergestellt und manchmal sogar Trockenbeerenauslesen („Sélecions des grains nobles“).

Auf den Tonböden in Haut-Rhin im südlichen Elsass erreichen die Weine von Gewürztraminer bei vergleichbarem Reifegrad gewöhnlich viel höhere Mostgewichte als bei Riesling. Dabei besitzen die Weine trotz ihres hohen Restzuckergehalt bisweilen auch hohe Alkoholwerte – was sie von Trockenbeerenauslesen hierzulande unterscheidet. Aber insbesondere daran erkennt man die außerordentliche Fähigkeit der Rebsorte, große Mengen Zucker aufzubauen, der gar nicht komplett vergoren werden kann. Nicht zuletzt deshalb haben die Weine auch eine lange Lebensdauer und sind enorm alterungsfähig.

Das Elsass ist zweifelsohne das wichtigste Anbaugebiet für den Gewürztraminer, ansonsten findet man noch jeweils geringe Rebflächen von ihm in der Schweiz, wo er als „Savagnin Blanc“ oder auch „Heida“ bekannt ist, sowie in Osteuropa. Auch in der Neues Welt wird Gewürztraminer angebaut, in Neuseeland und Australien beispielsweise, bisweilen ist es dort aber einfach zu warm für die Herstellung von Gewürztraminern mit ausreichend Säure – außer man liest so froh, dass sich sein duftend-reifer Charakter noch nicht entwickelt hat. So aber schmecken die Weine langweilig – ihnen fehlt dann die Komplexität reifer elsässischer Gewächse.

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Malvasia

Die englischen Plantagenets waren schon immer sehr weinaffin: Dass beispielsweise Weinbau in Bordeaux zum Erfolgsmodell wurde, hat seinen Ursprung darin, dass der englische Thronfolger Henri II. Plantagenet 1151 die Enkelin des Herzogs von Aquitanien, Alienor von Aquitanien, ehelichte. Durch diese Ehe geriet Bordeaux für etwa 300 Jahre unter englische Herrschaft – und mit ihr erst der Bordelaiser Wein nach England. Das war gewissermaßen der Anfang der Geschichte der Entwicklung des modernen Weinbaus im Bordelais.

Lange war es üblich, die Weine für die lange Schiffsreise nach England mit Branntwein aufzuspriten (ähnlich wie das heute beispielsweise bei Portwein gemacht wird) und damit überhaupt erst haltbar zu machen. Durch die Zugabe von Alkohol werden mikrobiologische Prozesse unterbrochen – aber auch die Gärung, sodass bisweilen nicht der ganze Zucker in Alkohol umgewandelt wird. Die exportierten Weine waren also durchweg süß. So war es auch mit den Weinen, die England seit den bis heute bestehenden Windsor-Verträgen von 1386 aus Portugal bezog – insbesondere auch von der 1419 von portugiesischen Seefahrern (wieder-)entdeckten Atlantikinsel Madeira.

Bis heute wird süßer Madeira hergestellt – und zwar auf Grundlage der weißen Rebsorte Malvasia (manchmal auch „Malvasier“ geschrieben). Süßer Madeira heißt deshalb immer noch „Malmsey“, nach dem englischen Begriff für Malvasia. Es ist also durchaus möglich, dass sich der wegen Hochverrat zum Tode verurteilte George Plantagenet (1449-1478), Bruder des englischen Königs Edward IV., als er sich bei der Wahl seiner Hinrichtungsart dafür entschied, in einem Fass Malvasia ertränkt zu werden, in einem Fass Malmsey aus Madeira starb …

George Plantagenets hatte die freie Wahl – und entschied sich der Legende nach für ein Fass vom „Wein der Könige“, wie man Malvasia damals nannte. Aber ob der Wein tatsächlich aus Madeira kam ist ungewiss – zu der Zeit dürfte dort noch gar kein Wein hergestellt worden sein (gespriteter ohnehin nicht). Wahrscheinlicher ist, dass ihn die Venezianer von einer ihrer griechischen Ägäisinseln nach England schifften: Wein war schon immer ein begehrtes Handelsobjekt im Mittelmeerraum, und da Venedig in der Zeit zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert die wichtigste Seemacht war, kontrollierte „La Serenissima“ , die Allerdurchlauchteste, auch den See- und damit den Weinhandel.

Von der engen Verbindung Venedigs zum Weinhandel und dessen Bedeutung zeugen noch heute etliche Straßennamen in der Stadt: „Riva del vin“ zum Beispiel, „Calle del Malvasia“ oder „Ponte de la Malvasia Vecchia“. Die „Riva del vin“, direkt an der Rialto Brücke gelegen, war gewissermaßen das Zentrum des Weinhandels in Venedig: Hier wurden Weine verschnitten, das war die Aufgabe der „Malvasiotti“, wie die Weinhändler damals genannt wurden, und in den Lagerhäusern dahinter gab es Küfer und andere Handwerker, die Geräte für die Weinproduktion herstellten. Meistens mußten die Fässer jedoch gar nicht umgeladen werden, sondern reisten auf denselben Schiffen weiter, auf denen sie in die Lagunenstadt gelangten, oft sogar bis nach England.

Bei den Straßennamen taucht immer wieder die Malvasia-Rebe auf. Und zwar auch deshalb, weil es sich bei „Malvasia“ um eine Chiffre für süße oder auch alkoholreiche Weine – für „Wein“ im allgemeinen – handelte. (Schon bevor der Arzt Arnaud de Villeneuve aus Montpellier die „mutage“, das heißt die Anreicherung des Traubenmostes mit destilliertem Alkohol und damit das Verfahren zur Herstellung süßer vin doux naturels entdeckte, war unter primitiven Methoden der Weinbereitung bei hohen Temperaturen eigentlich nur die Herstellung von süßen Weinen möglich.)

Malvasia selbst kann, wie in den meisten Fällen, weiß sein mit tiefer Färbung, es sind aber auch helle Rotweine darunter – auf jeden Fall Weine, die von den venezianischen Kolonien nach Venedig geliefert wurden. Insbesondere auf Kreta (damals noch „Candia“ genannt) und Zypern pflanzte man die Reben, die man in der Lagune nicht kultivieren konnte: Beide Inseln waren für Venedig wichtig, weil sie die Versorgung sicher stellten. Da der Seemacht ein ausreichend großes Hinterland fehlte, beutete es die Mittelmeerinseln aus, insbesondere mit Getreide und Öl – aber eben auch mit Wein.

Zypern kam erst 1489 durch dynastische Verbindungen zur Republik Venedig, Kreta (Candia) aber war bereits seit dem Jahr 1204 eine venezianische Kolonie und wurde von Anfang an auch, mehr als bei den anderen Kolonien, von Venezianern besiedelt, so dass um das Jahr 1500 etwa 200.000 Menschen auf der Insel lebten. Seit dem 14. Jahrhundert wurde Malvasia verstärkt über Kreta gehandelt und erhielt den Namen „Malvasia di Candia“. Die Insel wurde im Verlauf zu einem Schnittpunkt wichtiger Handelsrouten im Mittelmeer.

Wein war (neben Öl) das Hauptexportgut der Insel und kretischer Wein löschte auch nach der Übernahme der Herrschaft auf der Insel durch die Türken im Jahr 1536 (beziehungsweise endgültig im Jahr 1669) den Durst von Konsumenten im Niltal und der osmanischen Ägäis. Über die Ägäis regierte seit dem Tod Suleymans des Prächtigen im Jahr 1566 Sultan Selim II., der auch „Selim der Säufer“ genannt wurde – und obwohl der Konsum von Wein nicht im Einklang mit dem islamischen Gesetz steht, wurde er von einem Vertrauten, Joseph Nasi, der ein Monopol auf den Transport von Wein aus Kreta hatte, versorgt. (Nasi erhielt dafür den Titel „Herzog von Naxos“, das schon seit der klassischen Antike als Insel des Dionysos bekannt war.) Selbst die Ausbreitung des Islam setzte dem Weinanbau auf Kreta also kein Ende.

Die Straßennamen erinnern insofern an das einst weite Handelsnetz Venedigs: In ihrer Glanzzeit vom 13. bis zum 15. Jahrhundert herrschte die Republik über den gesamten östlichen Mittelmeerraum, sie war der Marktplatz, auf dem sich Orient und Okzident trafen – und auf dem auch der „Malvasia“ genannte Wein aus den besetzten Gebieten in Griechenland gehandelt wurde. Obwohl man wohl mehrere verschiedene Sorten handelte, die Rede ist von bis zu 18 Rebsorten, hat sich „Malvasia“ dabei als Synonym für alle gehandelten Weine durchgesetzt.

Schon damals also gab es unter dem Namen Malvasia zahlreiche Rebsorten – und das hat sich im Grunde bis heute nicht geändert: Mindestens 25 Rebsorten sind heute bekannt, in deren Namen sich irgendwie „Malvasia“ wiederfindet, gleichwohl sind sie nicht alle miteinander verwandt, sondern es handelt sich eher um einen ähnlichen Typus von süßem Wein, wie er sich in der Zeit des von Venedig dominierten Mittelalters herausgebildet hat – nicht um eine genetische Verwandtschaft.

Erstmals namentlich erwähnt wird „Malvasia“ 1326 in einem Gesetzestext, in dem Qualitätskriterien für den Wein geregelt wurden. Den Namen selbst hat der Malvasia vermutlich von der seit langem unter venezianischer Herrschaft stehenden Stadt „Monemvasia“ im Südosten des Peloponnes, von wo aus er den mediterranen Raum eroberte und bald überall angebaut wurde.

Schon zur Zeit des antiken Griechenlands gelangte Malvasia so beispielsweise nach Sizilien – und auch auf die Liparischen Vulkaninseln nördlich von Sizilien gelangten Rebstöcke. Die Weinkultur auf den Inseln hat antike Wurzeln und wurde bereits im fünften Jahrhundert vor Christus von griechischen Siedlern eingeführt – ob sie auch Malvasia mitbrachten ist allerdings unklar, obwohl es dort für die Rebsorte noch heute eine eigene „Denominazione di Origine (DOC)“ gibt, die Malvasia delle Lipari, die für ihren süßen Wein aus rosinierten Trauben der Rebsorte Malvasia di Lipari bekannt ist. Sie ist heute die bedeutendste Rebsorte der Insel, wurde aber erst im Mittelalter von den Venezianern hier angepflanzt. DNA-Untersuchungen haben inzwischen ergeben, dass dieser Klon, die Malvasia di Lipari, kretische Wurzeln hat und auch in Spanien, auf den Kanarischen Inseln (Lanzarote), auf den Balearen (Mallorca) und am Balkan vertreten ist. Überall dort wird heute noch süßer Wein aus Malvasia hergestellt – und so letztlich das Erbe des Malvasia aus der Zeit der venezianischen Seefahrer fortgeführt.

Noch immer verbindet man mit einem Malvasia heutzutage einen Süßwein – und in fast allen europäischen Weinbaunationen gibt es auch eine Tradition solcher Weine. Der Madeira ist dabei vielleicht noch etwas bekannter, aber auch zum Beispiel in der Basilikata, auf Sardinien (Malvasia Sarda), Korsika (Malvoisie de Corse), oder eben in Istrien (Malvazija) gibt es süße Malvasia-Varianten. Selbst der Vin Santo aus der Toskana wird, neben Trebbiano, aus Malvasia hergestellt. Und sogar in Rioja war Malvasia lange die wichtigste Rebsorte – aus ihr wurde Malvasía de Rioja hergestellt -, auch wenn sie seit geraumer Zeit von der frischeren und säurebetonteren Viura (Macabeo) als meistangebaute weiße Rebsorte verdrängt wurde.

So wie in Rioja sind süße weiße Malvasia inzwischen überall etwas aus der Mode gekommen – Süßweine überhaupt beinahe vom Verschwinden bedroht. Immer öfter wird Malvasia deshalb auch trocken ausgebaut, in der Toskana beispielsweise Malvasia Toscana als Landwein aus Galestro. Dieser Klon wird überall in Mittelitalien angebaut und traditionell mit Trebbiano verschnitten, der aufgrund seiner hohen Erträge fast noch beliebter ist als die Malvasia. Dennoch bildet Malvasia – meistens Malvasia di Candia – den typischen Bestandteil vieler italienischer Weißwein-Cuvées wie beispielsweise beim Frascati im Latium.

Gerade auch beim Frascati wird deutlich, dass Malvasia eine aromatische Rebsorte (Bittermandel) mit nur geringer Säure ist, was Wein aus ihr grundsätzlich anfällig macht für Oxidation. Malvasia sollte deshalb am Besten frisch getrunken werden – wie der Frascati in den römischen Tavernen. Vielleicht ist der Anbau der Rebsorte auch deshalb schon seit den 1970er Jahren rückläufig, jedenfalls wurde Malvasia in vielen Regionen in Italien seit dieser Zeit durch charaktervollere internationale Rebsorten ersetzt. Besonders deutlich war das in der Toskana zu beobachten, wo Weine aus internationalen Sorten (die sogenannten „Supertoskaner“) zeitweise erfolgreicher waren als Chianti.

Der Bedeutungsverlust von Malvasia in der Toskana wird auch daran deutlich, dass 2006 die Zugabe der Rebsorte zum Chianti verboten wurde, nachdem Malvasia seit Ende des 19. Jahrhunderts ein fester Bestandteil der sogenannten „Chianti-Formel“ war und dem Sangiovese beigemengt wurde, um dessen rauhen Tannine zu mildern. Dafür wird Malvasia heute wieder mehr für die Erzeugung von Vin Santo verwendet.

Es gibt aber auch Regionen, wo Malvasia wieder eine Neuentdeckung erfährt. Im Friaul, wo die Rebsorte durch venezianische Seefahrer von Griechenland aus in die Weinanbaugebiete Collio und Isonzo gelangt sein soll, wächst die Überzeugung, dass sich Malvasia aufgrund seiner floral-fruchtigen Aromatik durchaus hervorragend zur Herstellung von Naturwein eignet. Das gilt ebenso für die Romagna, wo aus ihr auch Schaumweine hergestellt werden. Verbreitet ist dort die Variante Malvasia Istriana, auf die bereits Dokumente aus dem 14. Jahrhundert verweisen. Auch sie hat ihren Ursprung im antiken Griechenland, von wo aus sie sich bis in die nördliche Adria verbreitet hat. Im Friaul wird sie von einigen Winzern zur Produktion von Orange Wine verwendet, indem sie die Malvasia lange mazerieren lassen. Diese Weine zeichnen sich dann durch eine typische, der Malvasia Istriana eigene, salzige Mineralität aus. Es gibt also durchaus noch spannende Entdeckungen zu machen mit dieser Rebsorte.

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Ugni Blanc (Trebbiano)

Selten nur ließt man ihren Namen auf einem Etikett – und dennoch sind über 120.000 Hektar weltweit man Ugni Blanc beziehungsweise mit Trebbiano, wie die Rebsorte in Italien genannt wird, bestockt. Allein etwa 78.000 Hektar sollen es in Frankreich sein, wo sie allerdings praktisch nie reinsortig ausgebaut, meistens noch nicht einmal zu Wein verarbeitet wird, sondern in den Brennblasen zu Cognac und Armagnac: Die große Rebfläche erklärt sich daraus, dass sich Ugni Blanc – ähnlich wie die Airén in Spanien – mit ihrem aromatisch eher neutralen („nichtssagenden“) Charakter und ihrer ausgeprägten Säure bestens für die Destillation hochwertiger Weinbrände eignet.

So erklärt sich, dass man in der Charente, unweit von Bordeaux, wo der Cognac entsteht, nach der Reblauskrise Ende des 19. Jahrhunderts Ugni Blanc als „Saint Émilion“ auf etwa 95 Prozent der gesamten Rebfläche angepflanzt hat. Bei Armagnac werden außer ihr auch noch Rebsorten wie beispielsweise Colombard verwendet. Überhaupt ensteht hier im Südwesten, wenn die Trauben nicht für den Weinbrand reserviert sind, mit dem Côtes de Gascogne auch noch ein frischer Weißwein von Ugni Blanc im Verschnitt mit Colombard, Sauvignon Blanc und Rolle (Vermentino).

Ihre hohe Bedeutung für die Weinbrandproduktion sagt eigentlich schon alles über die Rebsorte: hochwertige Weine lassen sich aus ihr eher nicht gewinnen. Darüber darf auch nicht hinwegtäuschen, dass man in der Gascogne aufgrund der sinkenden Nachfrage nach Sprituosen schon vor geraumer Zeit begonnen hat, Ugni Blanc als trockenen Wein Landwein herzustellen. Das ist in Frankreich aber auch schon der einzige nennenswerte Wein aus der Rebsorte.

Ganz anders die Situation in Italien, wo Trebbiano „überall wächst wie Brennessel“ (Jürgen Hammer) und als eine der ältesten Rebsorten des Landes gilt. Von dort aus kam die Rebsorte im 14. Jahrhundert überhaupt erst über die Grenze nach Frankreich, wo sie nach einem alten provenzalischen Dialekt als „Ugni Blanc“ benannt wurde. Es war die Zeit der Residenz der Päpste in Avignon – und mit dem katholischen Oberhaupt kamen nicht nur Leute wie die Eltern von Francesco Petrarca aus der Toskana in die Provence, sondern mit ihnen auch der Wein: der Trebbiano Toscano.

Wahrscheinlich wurden damals noch andere italienischen Rebsorten nach Frankreich importiert, es dürften aber vor allem die hohen Erträge und die für Südfrankreich außergewöhnlich frische Säure der Rebsorte gewesen sein, die zu ihrer Verbreitung beigetragen haben. Jedenfalls gelangte sie als „Ugni Blanc“ in das Languedoc und von dort aus schließlich über die Gascgogne auch in die Charente – und ist darüber hinaus auch in fast allen Appellationen an der Südlichen Rhône und in der Provence zugelassen.

Trotz der zahlreichen Varianten und Unterarten von Trebbiano in Italien besteht heute Gewissheit darüber, dass Ugni Blanc und Trebbiano Toscano genetisch identisch, also dieselbe Rebsorte sind. Nun ändert aber gerade das am schlechten Ansehen der Rebsorte nichts, im Gegenteil: fast immer, wenn Trebbiano Bestandteil eines Weines ist, kann man davon ausgehen, dass es sich dabei um ein eher schlichtes und wenig ausdruckvolles Gewächs handelt. Und das unabhängig davon, dass die Rebsorte in Italien mit etwa 55.000 Hektar fast neun Prozent der Rebfläche einnimmt und gleich in mehreren bekannten, etwas höherwertigeren Weinen wie Verdicchio, Orvieto, Frascati und Soave oder Lugana vorkommt sowie in den Abruz­zen. Dort und in der Romagna entstehen aus ihr sogar reinsortige Weine, wäh­rend sie ansonsten in über achtzig „Denominaziones di Origine (DOCs)“ nur im Verschnitt auftaucht (eine Zeit lang sogar im Chianti). Sie hatte ja von alters her genug Zeit, sich an die jeweiligen regionalen Bedingungen anzupassen …

Sieht man davon ab, das ihr mitunter aus unerklärlichen Gründen einzelne Triebe absterben (was in Australien als „The Dead Arm“ bekannt ist), ist Trebbiano eine unverwüstliche, wuchskräftige Rebe, die spät austreibt und so von etwaigen Spätfrosten eher selten betroffen ist. Bis auf Falschen Mehltau ist sie außerdem auch pilzresistent – was für hohe Erträge förderlich ist. Und tatsächlich erreicht Trebbiano ohne Mühe auch 150 Hektoliter pro Hektar, wenn man sie in ihrem Ertrag nicht bremst. Allerdings reift sie erst relativ spät aus, bisweilen erst im Oktober, was ihrer Verbreitung nach Norden natürliche Grenzen setzt. (In der relativ kühlen Charente liest man die Trauben bisweilen bevor sie voll ausgereift sind, wichtiger ist hier ohnehin die Säure. So ähnlich handhabt man es auch in Süditalien, dort allerdings, weil die Trauben schon früher ausgereift sind.)

Da sie auf wärmeres, nicht zu heißes Klima angewiesen ist, fühlt sich Trebbiano folglich in Mittelitalien am wohlsten. Sie erbringt dann meist gro­ße Trau­ben mit nicht allzugroßen Beeren her­vor, deren Schale – bei nahezu allen Unterarten von Trebbiano – ziemlich dünn ist und eher farbarm (sieht man von der in der Romagna gebräuchlichen, fast bernsteinfarbenen Unterart Trebbiano fiamma ab). Wie bei eigentlich allen im Übermaß produzierten Weine, verliert auch der ohnehin nicht sehr aromatische Trebbiano noch zusätzlich an Extrakt, Aroma und Ausdruckskraft – zeichnet sich dafür aber durch einen relativ geringen Alkoholgehalt und eine kräftige Säure aus.

Außer in Mittelitalien und im Südwesten Frankreichs gibt es in Argentinien etwa 2.500 Hektar mit Trebbiano sowie in nicht ganz solchem Umfang auch in Griechenland, Südafrika und – wie bereits angedeutet – Australien.

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Sémillon

Sémillon ist eine weiße Rebsorte aus Südwestfrankreich, benannt nach der Gemeinde Saint Émilion in Bordeaux, die im regionalen Dialekt „semeljun“ genannt wird. In der berühmten Ortschaft selbst hat die Rebsorte allerdings nie eine Rolle gespielt, dafür aber eine um so größere in Sauternes, wo sie bis ins 19. Jahrhundert praktisch exklusiv angebaut wurde, bevor sie sich auch in andere Regionen in der Umgebung und schließlich auch in die Neue Welt verbreitete – insbesondere auch nach Australien, wo sie ohne Accent aigu „Semillon“ geschrieben wird und neben dem Bordelais vielleicht ihr ihr wichtigstes Verbreitungsgebiet hat.

Sémillon wird weltweit inzwischen auf etwa 22.000 Hektar kultiviert, ungefähr 12.000 Hektar dieser Rebfläche befinden sich im Bordelais, wo die Rebsorte in Sauternes ihren Ursprung hat. Auch wenn ihre genaue Entstehung unbekannt ist, so wird sie hier doch im 16. Jahrhundert erstmals namentlich erwähnt. Gemeinsam mit Sauvignon Blanc werden hier aus ihr die vielleicht berühmtesten Süßweine überhaupt hergestellt: Sauternes und Barsac.

Rund vierzig Kilometer südlich von Bordeaux, am westlichen Ufer der Garonne die beiden Gemeinden Sauternes und Barsac, letzteres eine Appellation innerhalb von Sauternes. Beide sind bekannt für weiße Süßweine, erzeugt aus Sémillon, mit achtzig Prozent die wichtigste Sorte, ergänzt durch etwas Sauvignon Blanc und wenig Muscadelle. Sie wachsen hier auf 2.200 Hektar und werden von 200 Erzeugern hergestellt – der wichtigste ist sicherlich das Château d`Yquem. Die Legende besagt, dass der Besitzer des Weinguts 1847 etwas verspätet von einer Russlandreise zurückgekommen sei und deshalb noch nicht mit der Lese begonnen wurde. Fast alle Trauben waren aber bereits vom Edelschimmel (Botrytis cinerea) befallen – und so begann die ruhmreiche Geschichte der fortan als „Sauternes“ bezeichneten Süßweine.

Sauternes und Barsac liegen in einer Hügellandschaft am Nebenfluß Ciron. Der warme, fruchtbare Winkel Aquitaniens mit Böden von Kies, Sand, Kalk und Lehm, zeichnet sich durch seine Nebel aus, die sich an Herbstabenden entlang des Flüsschens bilden und bis nach Sonnenaufgang halten – ideale Bedingungen für die Entstehung von Botrytis cinerea. Das Ausmaß der Edelfäule ist allerdings von Jahr zu Jahr verschieden. In den Jahren mit wenig Botrytis wird deshalb auch das Verfahren der Passerillage angewendet um den Zucker in den Trauben zu konzentrieren (dazu werden die Zweige des Rebstockes geknickt, damit die Wasserzufuhr in die Trauben unterbrochen wird).

Für Sauternes ist Sémillon essentiell, weil sie wegen ihrer dünnen Schale besonders anfällig für Botrytis ist. Die Rebsorte ist eigentlich bequem im Anbau, da sie kräftig wächst, tiefgrünes Laub bildet und auch etwas später später blüht, was sie relativ unempfindlich für das Verrieseln macht. Das macht sie sehr ertragreich – allerdings ist sie aufgrund ihrer Dünnschaligkeit nicht resistent gegen unerwünschte Pilzkrankheiten. Ist die Gefahr des Fäulnisbefalls nach einer durchschnittlich langen Reifezeit aber abgewendet, kann Botrytis cinerea die Trauben gewissermaßen veredeln, indem der Pilz durch die dünne Haut eindringt und die Beeren rosinieren läßt. Dadurch schrumpft zwar die Mostausbeute der ansonsten – stets in Abhängigkeit vom Terroir – zu hohen Erträgen neigenden Rebsorte, aber ihr Zuckergehalt wird dadurch gleichzeitig konzentriert – ideal für die Herstellung von Süßwein.

Die Lese der edelfaulen Beeren erfolgt dann von Anfang September bis in den November hinein in mehreren Lesedurchgängen (großteils) von Hand. Ein Hektar ergibt etwa 1.500 bis 2.000 kleine Flaschen edelsüßen Weins. Die Vergärung anschließend erfolgt in neuen Barriques und kann aufgrund des hohen Zuckergehalts der Trauben bis zu drei Jahre dauern. Durch den Ausbau im Eichenholzfass wird die ohnehin schon tiefgoldene, bei ausgereiften Trauben beinahe rötliche Farbe der Sémillon noch zusätzlich intensiviert.

Sémillon ist ein wenig aromatischer, eher „fetter“ Wein, das heißt, in Sauternes sorgt sie für einen hohen Alkoholgehalt mit viel Restzucker (diese Kombination gibt es bei deutschen Süßweinen nicht), weshalb die natürliche Säure des Sauvignon blanc im Verschnitt für die Balance wichtig ist: Gewöhnlich weisen die Weine einen Zuckergehalt von 80 bis 120 Gramm pro Liter sowie einen Alkoholgehalt von 14 bis 15 Prozent auf, sind aber süß. Während Muscadelle in der Cuvée noch etwas exotische Aromatik beisteuert, wirkt die kräftige Säure des aromatischen Sauvignon Blanc ausgleichend – so entstehen ausgewogene Süßweine, die noch dazu extrem langlebig sind.

Ähnliche, aber nicht so hochwertige Süßweine – im schlichtestesten Fall werden sie, wie bei Portwein, einfach durch das Abstoppen der Gärung hergestellt – bringt Sémillon auch in der nahegelegenen Appellationen Cadillac hervor sowie, in etwas besserer Qualität, in Montbazillac in der Dordogne, wo Sémillon ansonsten auch noch in Bergerac verbreitet ist.

Abgesehen von Süßweinen entstehen im Bodelais aber auch noch trockene Weine von Sémillon das gilt insbesondere für die Anbaugebiete Graves und Entre-deux-mers. Allerdings wird er hier bisweilen immer mit Sauvignon Blanc verschnitten – der Sémillon inzwischen bei den Anbauflächen überflügelt hat. Außerdem ist auch noch Muscadelle Bestandteil der Cuvée – und formal dürfen auch noch bis zu dreißig Prozent von dem weniger charakatervollen Ugni Blanc (Trebbiano) dabei sein sowie von Colombard und anderen, nicht so verbreiteten Rebsorten enthalten. Gleichwohl dominiert in den hochwertigeren Weißweinen aus den beiden Appellationen üblicherweise Sémillon, wobei durch niedrige Erträge, alte Reben und den Ausbau in Eichenholzfäßern sehr körperreiche und langlebige Weine entstehen.

Obwohl Sémillon im Bordelais seit jeher mit Sauvignon Blanc im Verschnitt auftaucht, wird sie in Australien seit den späten 1990er Jahren auch mit Chardonnay cuvetiert – zu salopp so genannten „Sem-Chards“. Auch hier, ebenso wie in anderen Gegenden der Neuen Welt, liefert die ertragreiche Semillon mit ihrem „gewichtigen Charakter“ die Basis für derartige Verschnitte – unabhängig davon, dass es ihnen bisweilen vielleicht etwas an Aromatik fehlt (zumindest kommerziell hat sich der Verschnitt durchgesetzt). Ansonsten aber zeichnet sich Australien dadurch aus, dass hier auch reinsortige Semillons hergestellt werden.

Während Sémillon im Bordelais unverschnitten praktisch überhaupt nicht vorkommt, entstehen insbesondere im australischen Hunter Valley sehr eigenwillige, ausdrucksstarke und auch säurebetonte Semillons – die nicht umsonst auch den Beinamen „Hunter Valley Riesling“ bekommen haben. In dem Anbaugebiet in der Region in New South Wales, etwa 160 Kilometer nördlich von Sydney gelegen, herrscht eigentlich ein subropische, feucht-heißes Klima, dessen Temperaturen aber günstigerweise durch eine hohe Wolkendecke und Meeresbrisen etwas gemildert werden. Außerdem sind die Herbstmonate nass, wobei mehr als zwei Drittel der recht hohen jährlichen Niederschlagsmenge von 750 Millimeter in den ersten vier Monaten des Jahres fallen – zur Erntezeit. Für die Winzer ist das eine Plage, denn die Jahrgänge sind ähnlich wechselhaft wie im Burgund, und um das Auftreten von Fäulnis gerade auch bei Semillon zu vermeiden ist eine gutes Laubwandmanagement bei der wüchsigen Rebsorte unerläßlich.

Es ist aber insbesondere der Boden, auf dem der Ruf des Hunter Valley gründet, denn im Süden findet sich ein Streifen aus verwittertem Basalt, der die Wuchskraft der Reben natürlich hemmt und die oft sehr ausgeprägten mineralischen Nuancen in den Trauben konzentriert. Semillons gedeihen hier und in den tieferen Lagen auf weißem Sand und Lehm auf einzigartige Weise – und entsprechen mit ihrer mineralischen Aromatik und ihrer ausgeprägten Säure durchaus einem Riesling Kabinett hierzulande.

Obwohl die Anbaufläche von Sémillon bereits in den 1980er Jahren von Chardonnay und auch Sauvignon Blanc überholt wurde, hat er sich schon relativ früh – aus Südafrika kommend – im australischen Weinbau etabliert. Während die Rebsorte in Südafrika 1822 noch 93 Prozent der Rebfläche belegte und einfach mit dem Namen „Wyndruif“ („Weintraube“) belegt wurde, ist sie heute mit unter 1 Prozent der Anbaufläche fast schon der Bedeutungslosigkeit anheimgefallen.

Das aber ist in Australien anders: Neben den trockenen Semillons aus dem Hunter Valley kommen aus den bewässerten Regionen im Landesinneren auch Süßweine von Semillon, ähnlich wie in Sauternes, nur weniger hochwertig: Die Spezialität aus Riverina, dem größten Anbaugebiet New South Wales – ansonsten prädestiniert für die Massenproduktion – sind tatsächlich Botrytisweine auf Semillon-Grundlage. Im Herbst auftretender morgendlicher Dunst und Nebel fördern in dieser Region ganz im Westen der Region das Auftreten von Edelfäule – erstaunlich genug.

Neben seinen wichtigsten Standorten im Bordeaux und in Australien, findet man den Sémillon heute in nennenswertem Umfang in Chile und Argentinien mit etwa 2.000 Hektar, auch wenn sich die Bedeutung von Semillon dort in Grenzen hält. Das gilt auch für andere Länder wie beispielsweise Kroatien. Ansonsten wurde Sémillon Ende des 19. Jahrhunderts von Zionisten auch nach Israel gebracht und leistete dort einen wichtigen Beitrag zur Errichtung des modernen Weinbaus.

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Carmenère

Carmenère ist eine alte Rebsorte, die vermutlich aus einer natürlichen Kreuzung aus Cabernet Franc und einer inzwischen verschwundenen Rebsorte entstanden ist. Bis zur Reblauskatastrophe gegen Ende des 19. Jahrhunderts war sie im gesamten Südwesten von Frankreich weit verbreitet, insbesondere aber auch in Bordeaux. Gemeinsam mit Cabernet Franc begründete sie dort im Médoc bereits Anfang des 18. Jahrhunderts das Renommee der heutzutage berühmten Châteaux.

Das war einmal – denn die Rebsorte galt nach dem Auftritt der Reblaus in ihrer ursprünglichen Heimat als praktisch komplett ausgerottet. Auch deshalb, weil man bei den Neuanpflanzungen danach auf Carmenère verzichtete, die als ertragsarme Rebsorte galt, weil sie aufgrund ihrer empfindlichen Art nicht nur anfällig für Pilzerkrankungen war, sondern auch für die „coulure“ genannte Verrieselung (gewöhnlich findet immer im Mai die Blüte und der Fruchtansatz bei der Rebe statt, wo aus jeder Blüte im Laufe des Sommers eine Traube wird, wenn sie befruchtet, das heißt bestäubt wurde und Hagel oder Regen das nicht verhindern. Klappt die Befruchtung jedoch nicht, spricht man von „Verrieselung“, bei der die Traubenbildung ausbleibt, was natürlich mit einer Ertragsreduktion verbunden ist).

Obwohl die Rebsorte in Bordeaux offiziell noch immer zu den sechs zugelassenen roten Rebsorten zählt, kommt sie dort inzwischen praktisch nicht mehr vor. Die Reblaus vernichtete in Frankreich fast den gesamten Bestand der Rebstöcke des Carmenère.

Anders die Situation allerdings in Chile. Dort spielte Weinbau lange keine bedeutendere Rolle, bis sich reich gewordene Bergwerksbesitzer (Kupfererz) ab 1851 französische Önologen ins Land holten. Sie brachten nicht nur ihr Wissen, sondern auch französische Rebstöcke mit – neben den anderen ursprünglich in Bordeaux beheimateten auch Carmenère, für die das südamerikanische Land sozusagen der rettende Hafen war.

In Chile gab es aufgrund der isolierten Lage des Landes zwischen Pazifik und Anden nie eine Reblausplage – die Laus hat es nie über die Anden geschafft – und so existieren hier noch immer viele Direktträger, also Rebstöcke ohne amerikanische Unterlagsreben wie hierzulande inzwischen vorgeschrieben. Für einen neuen Weinberg setzt man einfach Stecklinge bestehender Reben in den Boden, ohne sie mit großem Zeit- und Kostenaufwand auf resistente Unterlagen zu veredeln. So gestaltete sich die Ansiedlung neuer Rebsorten wie der Carmenère als relativ unkompliziert.

Allerdings wurde die Rebsorte noch bis in die 1990er Jahre mit Merlot verwechselt! Das mag vor allem daran gelegen haben, dass sich die beiden Sorten äußerlich tatsächlich sehr ähnlich sind, sowohl hinsichtlich der Blatt- als auch der Traubenform. Gleichwohl jedoch hat Carmenère, anders als der höherwertige Merlot, rötlich gefärbte Blätter und ist eine ausgesprochen wuchskräftige Pflanze – die noch dazu drei Wochen nach dem Merlot ausreift.

Nicht zuletzt aufgrund der eigentlich doch recht deutlichen Unterschiede behaupten manche kritischen Stimmen, man habe die beiden Rebsorten aus finanziellen Gründen absichtlich verwechselt. Wie dem auch sei, 1994 jedenfalls stellten Ampelographen aus Montpellier anhand von Genanalysen zweifelsfrei fest, dass zahlreiche Weinberge in Wirklichkeit mit Carmenère bestockt sind. Die Trauer darüber dürfte in Chile nicht lange angehalten haben, begründet die Rebsorte heute mit 10.000 Hektar Rebfläche doch das Renommee des chilenischen Weinbaus: nirgends werden bedeutendere Weine aus Carmenère gekeltert als hier.

Der Name „Carmenère“ leitet sich vermutlich von Farbe „Karminrot“ ab, jedenfalls erbringt die Rebsorte ausgesprochen dunkle und wesentlich körperreichere Weine als jene von Merlot. Das allerdings nur, wenn Carmenère tatsächlich ausgereift ist, weshalb sich ihr Anbau in Regionen mit warmem Klima grundsätzlich lohnt – jedoch nur, wenn sie wiederum im Ertrag begrenzt wird. Es entstehen dann bisweilen im Barrique gereifte, gehaltvolle, aber gleichsam aromatisch komplexe Weine mit relativ wenig Säure und Tannin, aber voller dunkler Beerenfruchtigkeit und herben, rauchigen Noten. Andernfalls dominieren schnell Noten unreifer grüner Paprika den Wein – das gilt es zu vermeiden.

Unbestritten besitzt Chile die meisten und besten Rebflächen für Carmenère, ansonsten finden sich damit bestockte Weinberge in geringerem Umfang auch noch in Norditalien – während man sich in China langsam dafür zu interessieren beginnt.

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Reblaus

Als man 1868 die Ursache für die Verheerungen in den südfranzösischen Weinbergen identifizierte, hätte man keinen treffenderen Namen finden können: „Phylloxera vastatrix“, „verwüstende Laus“. Das war keine Übertreibung, sollten etwa fünfzig Jahre später doch etwa 2,5 Millionen Hektar Rebfläche allein in Europa von dem nur 1,5 Millimeter großen, gemeinhin „Reblaus“ genannten Insekt zerstört worden sein – fast achtzig Prozent aller Rebstöcke. Die Verwüstung war einzigartig und lange gab es vor ihr kein Entrinnen. Phylloxera vastatrix hätte den Weinbau damals beinahe beendet.

Die Reblaus ist ein komplexes Wesen, wobei man grundsätzlich zwischen einer Blatt- und einer Wurzelreblaus unterscheidet. Da praktisch alle Rebsorten hierzulande – sie stammen ausnahmslos von der Rebenspezies Vitis vinifera ab – an den Blättern resistent sind, ist für die Verwüstungen Ende des 19. Jahrhunderts ausschließlich die „Radicicola“, die Wurzellaus, verantwortlich. Von ihr geht alle Gefahr aus, da sie im Wurzelwerk das Leitgewebe schädigt und damit die Wasser- und Nährstoffzufuhr in den Rebstock. Einmal befallen, dauert es höchstens drei Jahre, bis die Pflanze abgestorben und somit letztlich vernichtet ist.

Fünf bis sechs Mal im Jahr legt die Wurzellaus etwa 600 Eier – und die Natur will es, dass es bei den Wurzelläusen nur sich selbst befruchtende Weibchen gibt. Gerade Geschlüpft überwintert die Reblaus erst einmal tief im Boden, bevor sie dann aber im Frühjahr mit ihrem Rüssel die Wurzeln ansticht und dabei ihren Speichel in das Gewebe des Rebstocks einbringt. Der reagiert darauf abwehrend, indem er knotig verdickte Wucherungen bildet, sogenannte „Wurzelgallen“, die bei dem harmloseren Befall des weichen Holzes in den Wurzelspitzen auch „Nodositäten“ genannt werden, wenn der Befall jedoch auch das ältere, härtere Holz betrifft „Tuberositäten“ – von denen die Reblaus aber gerade lebt, indem sie sie aufsaugen. Denn während die harten Wurzeln von dem Schädling nicht direkt angenagt werden können, ist das bei den weichen Wucherungen anders (die außerdem auch noch für die Eiablage dienen).

Tuberositäten sind für den Rebstock gefährlich, weil die Reblaus über sie tief in das Gefäßsystem eindringen kann und sich Infektionen, die schließlich für das Absterben des Rebstocks sorgen, in der Pflanze ausweiten können. Dem sind aber nicht alle Reben schutzlos ausgeliefert – denn im Unterschied zu den europäischen Rebsorten von Vitis vinifera sind die Wurzelstöcke von amerikanischen Rebenspezies gegen die Reblaus resistent: Auf dem nordamerikanischen Kontinent ist die Reblaus heimisch. Um zu überleben haben sich die Rebsorten dort, beispielsweise die Vitis cinerea, über Jahrmillionen an den Schädling angepasst und gelernt, die Plage abzuwehren, indem sie einen klebrigen Saft ausscheiden, der die Fresswerkzeuge der Laus verstopft.

So verursacht die Reblaus an amerikanischen Reben also keinen Schaden, jedenfalls ist dem Rebstock nichts anzumerken, weshalb auch die Gefahr lange unbekannt blieb – bis man Mitte des 19. Jahrhunderts einige Stöcke zu Kreuzungszwecken nach Frankreich importierte. Weil Amerikanerreben – sieht man von wenigen Ausnahmen wie beispielsweise Vidal ab – wegen ihrem sogenannten „Foxtone“, einer unangenehmen Geschmacksnote, als nicht wirklich zur Produktion reintöniger Weine geeignet galten, wollte man herausfinden, ob sich das durch Kreuzungen womöglich ändern ließe. Nun kam es aber, wie es kommen mußte: das Wurzelwerk der importierten Reben war von der Reblaus befallen – und das Verhängnis nahm seinen Lauf …

Je nach Quelle trat das Unheil erstmals 1858 in Arles in der Provence oder 1864 an der Südlichen Rhône in Erscheinung, wo man jedenfalls – ohne zunächst die Ursache dafür zu erkennen – bei den zahlreich abgestorbenen Rebstöcken feststellte, dass praktisch das gesamte Wurzelwerk verschwunden war. Das wurde bald überall beobachet: 1867 erstmals im österreichischen Klosterneuburg, 1871 in Portugal, 1874 erstmals in Deutschland auf dem Annaberg bei Bonn, 1875 in Italien, 1878 in Spanien et cetera. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war etwa drei Viertel der europäischen Rebfläche vernichtet – eine nie dagewesene Katastrophe für den Weinbau.

Die Zerstörungen waren so umfassend, dass man irritiert davon war, dass manche Gegenden wie beispielsweise die Camarque in der Provence von der Epidemie offensichtlich verschont blieben. Die Weinberge für den bekannten Sable de Camarque stehen hier auf sandigen Böden an der ehemaligen Küstenlinie – und als man endlich die Reblaus als Ursache für das massive Absterben der Rebstöcke anderswo ausmachte, wurde klar, dass sie in Sandböden nicht überleben kann. Auch hohe Gebirge wie die chilenischen Anden hindern die Reblaus offensichtlich an der Ausbreitung – und so gibt also natürliche Hindernisse für sie (während andere Länder wie Zypern oder Australien auf strenge Quarantänemaßnahmen setzten), gleichwohl hat es die 1870 in Frankreich gegründete „Kommission zur Bekämpfung der Reblauskrise“ unter dem Vorsitz von Louis Pasteur (1822-1895) nicht geschafft, ein synthetisches Mittel zur Ausrottung des Schädlings herzustellen – und so blieb es auch bis heute.

Dann aber entdeckte Jules Émile Planchon (1823-1888), der die Reblaus auch identifizierte und als „phylloxera vastatrix“ benannte, dass es eine andere Lösung für das Problem gab. Da amerikanische Reben von der Reblaus unbeschadet blieben, verwendete er sie als Unterlagsreben für die wertvolleren, in Europa verbreiteten Rebsorten von Vitis vinifera: Er propfte sie einfach auf deren Wurzeln – und tatsächlich: es funktionierte.

Bis aber tatsächlich alle befallenen Weinberge gerodet und neu bestockt werden konnten, mußten trotz des enormen Schadens erst einmal die vorhandenen Ressentiments gegen dieses neue Verfahren – „Veredelung“ genannt – beseitigt werden. Es sollte tatsächlich bis ins Jahr 1910 dauern, bis man begriff, dass sich durch die Wurzeln der amerikanischen Unterlagsreben qualitativ nichts am Wein ändert. Schließlich hängt der Geschmack allein von den Trauben respektive den Beeren ab – die Wurzeln und der Rebstock, verpfopft oder nicht, fungieren nur als Transportsystem für die aus dem Boden aufgenommenen Nährstoffe.

Während der Wein für den Sable de Camarque oder der von einigen Inseln in der griechischen Ägäis mitunter noch aus Trauben von wurzelechten Rebstöcken hergestellt wird, hat sich das Verfahren der Veredelung inzwischen überall durchgesetzt – und ist innnerhalb der Europäischen Union sogar gesetzlich vorgeschrieben. Und so geht man heute davon aus, dass etwa 85 Prozent aller Rebstöcke auf resistenten amerikanischen Unterlagsreben wurzeln.

Dabei war die Neubestockung Anfang des 20. Jahrhunderts natürlich mit enormem Aufwand und Kosten verbunden – und noch immer wird viel Zeit und Geld in die Erforschung der Reblaus gesteckt, denn die Gefahr ist nach wie vor nicht gebannt. Im Gegenteil: in den 1980er Jahren wurde den Winzern in Kalifornien eine Empfehlung der „University of California“ in Davis zum Verhängnis, die vorsah, die Bestockung neuer Rebflächen mit Merlot mit der Unterlagsrebe „AxR 1“ vorzunehmen. Der Klon allerdings erwies sich als nicht reblausresistent. Die Folge war ein Desaster – alle Rebstöcke mussten wieder gerodet werden – das sich auf hunderte Millionen Dollar belief.

In den 1990er Jahren ist in Nordamerika außerdem eine neue Reblaus-Variante („Biotypus B“) aufgetaucht, die zur Jahrtausendwende bereits die Nordinsel Neuseelands erreichte – und inzwischen auch die bedeutenderen Weinanbaugebiet auf der Südinsel erreicht hat. Man hatte hier jedoch genug Zeit, auf die Bedrohung zu reagieren, wobei der Fall zeigt, dass die Forschung an neuen Unterlagsreben weiterhin wichtig ist. Denn wie bei den Rebsorten gibt es auch bei den Unterlagsreben verschiedene Klone mit unterschiedlichen Eigenschaften, aus denen man – je nach Bodentyp und Bedrohung – wählen kann. So ist es letztlich allein der Forschung zu verdanken, dass für die bedrohten neuseeländischen Weinberge gezielt Unterlagsreben gezüchtet werden konnten, die auch gegen die neue Variante resistent sind.

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Pinotage

Südafrika ist das einzige Land in der gesamten Neuen Welt, das mit dem Pinotage eine ureigene Rebsorte besitzt. Allerdings ist der Pinotage erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden – als man langsam realisierte, dass sich Pinot Noir unter den warmen klimatischen Bedingungen am Kap der guten Hoffnungen nicht zufriedenstellend entwickelte und hinter den Erwartungen zurück blieb.

Das war bei Cinsault anders. Als man die Rebsorte um die Mitte des 19. Jahrhunderts hoffnungsvoll am Kap einführte, belegte man sie entsprechend mit dem Namen „Hermitage“, nach dem berühmten Wein von der Nördlichen Rhône – obwohl Cinsault dort überhaupt nicht angebaut wird. Wenn sie vielleicht auch ihrem Namen nie gerecht wurde – die gegen Hitze und Trockenstress ausgesprochen widerstandsfähige Rebsorte erwies sich ideale Besetzung für das Land um das Kap. Bis in die 1960er Jahre hinein entwickelte sich die „Hermitage“ jedenfalls zur meistangebauten Rebsorte in Südafrika.

Womöglich hat sich in Stellenbosch, dem Zentrum der südafrikanischen Weinbauforschung, der Weinbauprofessor Abraham Izak Perold 1925 gerade auch aufgrund der Hitzeresistenz der „Hermitage“ dafür entschieden, sie mit der zweifellos etwas höherwertigen, im Anbau aber etwas anspruchsvolleren Pinot Noir zu kreuzen. Aus dieser Kreuzung jedenfalls wurde der „Pinotage“ geboren – die erste und bisher einzige Rebsorte (von Vitis vinifera), die außerhalb Europas entstand.

Zunächst jedoch waren es nur wenige, noch namenlose Rebstöcke, die Perold in seinem eigenen Garten kultivierte. Erst sein Nachfolger in Stellenbosch, Charles Theron, begann in den 1930er Jahren mit der Vermehrung und Veredelung der neuen Rebsorte. Dazu propfte er die „Perolds Hermitage x Pinot“, wie er die neue Rebsorte nannte, aufgrund der gerade erst überstandenen Reblauskrise auf resistente Wurzelstöcke von amerikanischen Unterlagsreben. Bei der Vermehrung von Rebsorten durch Propfung werden ausgesuchte Äste von Rebsorten im Winter mit dem Stamm einer Unterlagsrebe verbunden und dann im Frühjahr im Boden eingepflanzt. Die Veredelung erfolgt, indem auf bereits vorhandene Rebstöcke eine Knospe oder ein Steckling (Reisig) der neuen Sorte gepfropft wird. Als so genügend Rebstöcke gezüchtet waren, erfolgten 1943 auch die ersten kommerziellen Anpflanzungen der neuen Rebsorte im Anbaugebiet Elgin. Weitere Selektionen und Veredelungsmaßnahmen führten schließlich zur heute bekannten Rebsorte.

Die neue Rebsorte fühlt sich besonders in Hanglagen und auf wasserspeichernden Böden mit hohem Ton– oder Kalkanteil wohl. Wie Pinot Noir treibt sie relativ früh aus und wie Cinsault reift sie auch früh – hat aber leider auch die Anfälligkeit für Pilzkrankheiten und Fäulnis von den beiden geerbt. Bleibt sie allerdings gesund, führt die neue Rebsorte (wie Cinsault) zu reichlichen Erträgen, wenngleich so auch ihre Weine eher nichtssagend werden. Wertvollere entstehen, wenn man den Ertrag mindert, beispielsweise durch die sogenannte Grünlese, wo man nach der Blüte und dem Fruchtansatz im Sommer einige Fruchtansätze wegschneidet, um die Qualität der verbliebenen Trauben zu verbessern.

Wein aus den neuen Trauben wurde erstmals 1941 gekeltert. Spätestens in der Folge der ersten Anpflanzungen ein paar Jahre später wurde klar, dass die neue Rebsorte unter der südafrikanischen Sonne einen relativ hohen Zuckergehalt ausbildet und damit ein hohes Mostgewicht, wodurch auch der Alkoholgehalt im Wein steigt. Bei eher gemäßigter Säure und moderaten Tanninen entwickelt sie aber auch eine ausgesprochen rotfruchtige Aromatik – deren Fülle aber zunächst nur bedingt Zuspruch erfuhr. Außerdem hatten die Weine eine charakteristische, an Lack erinnernde Note (Isoamylacetat), die ungewohnt war.

Der Erfolg der neuen Rebsorte war also zunächst bescheiden. Erst zu Beginn der 1960er Jahre wurde ihr Anbau intensiviert. Dabei traten zwei traditionsreiche Weingüter, „Bellevue“ und „Kanonkop„, besonders in Erscheinung – deren erste sortenreine Weine von „Perolds Hermitage x Pinot“ der neuen Rebsorte schließlich zum Durchbruch verhelfen sollte: Unter dem neuen, besser zu vermarktenden Namen „Pinotage“ wurde der Wein erstmals 1959 auf der „Cape Wine Show“ präsentiert – und übertraf auf Anhieb selbst renommierte Gewächse aus Cabernet Sauvignon, die damals den qualitativen Maßstab in Südafrika markierte.

Internationale Anerkennung fand Pinotage – das gilt jedoch für alle Weine aus Südafrika – erst nach dem Ende der Apartheid am 27. April 1994 und der Aufhebung der damit verbundenen Sanktionen gegen das Regime (das seit 1977 herrschte). Nach 400 Jahren Kolonialherrschaft hat sich die größte Weinbauregion Afrikas seither grundlegend verändert. Im Hinblick auf Pinotage bedeutet das, dass inzwischen immerhin etwa 7.000 Hektar Rebfläche mit der eigenen Rebsorte bestockt sind, was etwa sechs Prozent der 125.000 Hektar Gesamtrebfläche Südafrikas entspricht.

Pinotage wird reinsortig ausgebaut – sowohl in neuen Barriques gereift als auch im Stahltank in einer etwas schlankeren, kühleren Stilistik, die ans Beaujolais erinnert -, er wird aber auch als Verschnittpartner für den sogenannten „Cape Blend“ verwendet. Das ist eine Cuvée, in die neben der heimischen Pinotage auch internationale Sorten fließen, insbesondere Cabernet Sauvignon und Merlot aus Bordeaux, die beide seit den 1960er Jahren der Cinsault den Rang als meistangebaute Rebsorte am Kap abgelaufen haben. Insbesondere die „Cape Blends“ aus dem traditionsreichen Stellenbosch haben sich dabei internatinal einen Namen gemacht – schließlich ist hier auch das „Warwick Estate“ zu Hause, das 2000 den ersten „Blend“ machte.

So ist Pinotage inzwischen also aus Südafrika nicht mehr wegzudenken – auch wenn seine Anbaufläche durchaus noch ausbaufähig ist. Ansonsten ist die Rebsorte aber praktisch kaum verbreitet. Unwesentliche Bestände finden sich außerhalb des Landes noch im benachbarten Zimbabwe sowie in Neuseeland. Zuletzt begann man sich auch in Australien und Kalifornien für ihn zu interessieren – man kann also vielleicht, nicht nur am Kap, auf Gutes hoffen.

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Cinsault

Cinsault (auch „Cinsaut“ geschrieben) ist eine Rebsorte aus Südfrankreich, die dort auf etwa 20.000 Hektar angebaut wird. Da sie sich als ausgesprochen widerstandsfähig gegen Hitze und Trockenstress erwiesen hat, eignet sie sich besonders für warme, mediterrane Regionen – und ist deshalb auch überwiegend an der französischen Mittelmeerküste verbreitet. Hier herrschen ideale klimatische Bedingungen für die spät austreibende und relativ lang reifende Cinsault – obwohl sie früher ausreift als beispielsweise Grenache, an die sie mitunter erinnert.

Die Rebsorte ist zwar nicht leicht im Anbau und benötigt hohe Temperaturen um auszureifen, sie ist aber unempfindlich gegen Trockenheit und den ständig vom Mittelmeer landeinwärts wehenden Wind. Allerdings neigt Cinsault insbesondere auf kalkhaltigen Böden zu Rebkrankheiten – neben Blattkrankheiten ist dabei besonders das Holz des Rebstocks anfällig. Das ist wesentlich weicher und biegsamer als beispielsweise das kräftige Holz des knorrigen Mourvèdre und eignet sich nicht zuletzt deshalb aber für die Erziehung am Drahtrahmen und die maschinelle Lese.

Bleibt Cinsault trotz ihrer Anfälligkeit gesund, führt sie zu reichlichen Erträgen, wenngleich so auch ihre Weine eher nichtssagend werden. Wertvollere entstehen, wenn man den Ertrag der Rebsorte mindert, am Besten unter vierzig Hektoliter pro Hektar. Weine von Cinsault sind dann bisweilen milder, mit gemäßigter Säure, aber aromatischer als andere Rebsorten im Midi. Gleichwohl sind die rotfruchtigen Weine von Cinsault eher hellfarbig mit geringen Tanninen – weshalb sich die Rebsorte auch besonders für die Herstellung von Roséwein eignet. Cinsault spielt beispielsweise eine entscheidende Rolle bei den renommierten, oft reinsortig aus ihm bereiteten Rosés aus der Provence.

Abgesehen von einigen Rosés wird Cinsault nur selten sortenrein abgefüllt, sondern meistens mit anderen Rebsorten verschnitten. So ist sie beispielsweise ein Bestandteil der klassischen Cuvée des Languedoc, wo sie in praktisch jeder Appellation mit Syrah, Grenache, Mourvèdre und Carignan verschnitten wird – je nach Anbaugebiet in einem anderen Verhältnis zueinander. Und auch an der Südlichen Rhône dient sie praktisch nur als Verschnittpartner, beispielsweise als Bestandteil für den Châteauneuf-du-Pape.

Ihre größte Bedeutung hatte Cinsault wohl schon in den 1950er und frühen 1960er Jahren, als Algerien – damals noch eine französische Kolonie – bedeutende Mengen Wein erzeugte und sich dabei, neben Carignan, in besonderem Maß auch auf die ertragreiche Cinsault verließ, die auf einer Rebfläche von etwa 60.000 Hektar wuchs. Wie praktisch alle Weine aus Algerien diente auch Cinsault in Frankreich für den Verschnitt mit heimischen Rebsorten – zu der Zeit unter anderem auch, um Burgundern zu „Saft und Kraft“ zu verhelfen.

Die Bedeutung, die Cinsault heute noch immer im Maghreb hat (also in Tunesien, Algerien und Marokko, aber auch im Libanon) – in Marokko beispielsweise ist sie noch immer die meistangebaute Rebsorte -, hat sie in Südfrankreich schon lange verloren. Dabei ist sie eine alteingesessene Rebsorte des Midi, auch wenn sie erstmals 1829 namentlich erwähnt wurde – davor hieß sie noch, aus Gründen die nicht klar sind, „Marrouquin“. Dass sie ihren Ursprung aber in Südfrankreich hat, haben DNA-Analysen inzwischen zweifelsfrei ergeben.

Dennoch blieb Cinsault lange eine relativ unbedeutende Rebsorte in der Region. Erst nach dem Zusammenbruch des Markts für den bisher praktisch ausschließlich aus Algerien importierten Verschnittwein im Zuge der algerischen Unabhängigkeit 1962 wuchsen die Rebflächen insbesondere im Languedoc an – ähnlich wie beim Carignan. Als Cinsault in den 1970er Jahren schließlich offiziell in die Kategorie der „verbessernden“ Rebsorten aufgenommen wurde, verdreifachte sich ihre Anbaufläche in Frankreich. Im Languedoc sollte Cinsault die heute völlig unbekannte Sorte Aramon ersetzen sowie die heutzutage in Cuvées fast nur noch als „Färbersorte“ verwendete Alicante Bouschet.

Die Explosion der Anbauflächen in Südfrankreich seit dem Ende des Algerienkriegs führte dazu, dass die Europäische Union in zwei Programmen (1988 und 2007) neben Apulien auch im Languedoc Prämien für die Trockenlegung des europäischen „Weinsees“ bezahlte, mit der Folge, dass zehntausende Hektar Rebstöcke ausgehauen wurden („arrachage“ genannt) und die Anbaufläche so von über 400.000 Hektar auf die heutige Größe halbiert wurde.

Die Umstellung vom Massen- auf Qualitätsweinbau hat sich auch auf die Cinsault ausgewirkt. Ihre Bedeutung ging seither praktisch überall zurück, wenn auch nicht überall gleich. In Südafrika beispielsweise kommt ihr noch immer Bedeutung zu – allerdings eher, weil sie dort 1925 als Kreuzungspartnerin von Pinot Noir bei der Züchtung der einzigen eigenen südafrikanischen Rebsorte fungierte: der Pinotage – die ihren Namen dem Umstand verdankt, dass Cinsault in Südafrika mit dem Namen „Hermitage“, nach der berühmten Appellation an der Nördlichen Rhône, belegt ist, obwohl Cinsault dort überhaupt nicht angebaut wird.

In Südafrika war Cinsault bis in die 1960er Jahre hinein die meistangebaute Rebsorte, nachdem sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts dorthin gelangte. Inzwischen sind dort insbesondere die Rebsorten aus Bordeaux wichtiger geworden – Cinsault verfügt am Kap nur noch über eine Rebfläche von etwa 2.400 Hektar (bei einer Gesamtrebfläche von etwa 100.000 Hektar, ähnlich wie in Deutschland). Selbst Pinotage ist heutzutage in seiner Heimat geachteter als sie …

Und so bleibt das Hauptverbreitungsgebiet von Cinsault wohl weiterhin der Süden Frankreichs, sieht man von den Rebflächen im Maghreb ab und von den wenigen Weinbergen anderswo, beispielsweise in der Türkei.

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Cava

Schaumweine werden in Spanien „Cava“ genannt. Obwohl Cava – wie Champagner – mit dem traditionellen Flaschengärverfahren hergestellt wird, hat die Schaumweinproduktion in Spanien selber keine lange Geschichte, sondern begann erst Ende 19. Jahr­hun­derts. Fast alle Cava, nämlich 98,2 Prozent, werden dabei in Katalonien produziert – und hier insbesondere in Penedès, wo sich die Produktion vornehmlich rund um die Stadt Sant Sadurni d`Anoia konzentiert. Insgesamt sind es etwa 270 Weingüter in 159 Gemeinden, die Cava erzeugen.

Katalonien_Weinanbaugebiete

Spanischer Schaumwein wur­de ursprünglich nicht „Cava“ genannt, sondern nach sei­nem fran­zö­si­schen Pedant als „Cham­pán“ oder „Xam­pán“ bezeich­net. Da die Champagne den Begriff „Champagner“ sowie die Bezeichung „méthode champenoise“ für das traditionelle Flaschengärverfahren aber erst kurz zuvor schützen ließ, bestand man beim spanischen Beitritt zur Europäischen Union 1986 auf einer Namensänderung. Also nannte die Spanier ihn „Cava“ – nach den Kellern, in denen der Schaumwein auch gemacht wird.

Weine entstehen in Spanien gewöhnlich in einer der zahlreichen Bodegas. „Bodega“ nun bezeichnet ein ebenerdiges Gebäude – und genau dort, oberirdisch, lagern üblicherweise auch die spanischen Weine (es ist kein Zufall, dass Gustave Eiffel, bevor er den Eiffelturm errichtete, den ersten freitragenden Dachstuhl ohne Stützen ausgerechnet in Rioja konstruierte – und zwar für ein riesiges Fasslager in Haro zur Lagerung der damals neu eingeführten Barriques, die schließlich zum charakteristischen Merkmal traditioneller Riojas werden sollten).

„Cava“ hingegen bedeutet so viel wie „Keller“ und meint eine „unterirdische Kellerei“ – und das ist auch genau der Ort, wo der spanische Schaumwein in der Flasche mehrere Monate auf der Hefe reift. Hier herrschen konstant kühle Temperaturen – und damit ideale Bedingungen für den Reifungsprozess des Cava. Und genau dieser unterirdisch stattfindende Reifeprozess unterscheidet den Schaumwein auch von anderen spanischen Weinen.

Seit 1986 wird „Cava“ nun als „Denominación de Origen (DO) Cava“ geschützt – gleichsam auch als Verweis darauf, dass spanischer Schaumwein demselben Herstellungsprozess unterliegt wie Champagner, nachdem schon der direkte, namentliche Verweis auf das französische Pendant nicht mehr erlaubt ist. Denn da Cava zwar hauptsächlich in Katalonien, aber eben nicht nur dort, sondern auch in anderen Regionen (zum Beispiel in Valencia) hergestellt wird, ist mit der Bezeichnung „DO Cava“ kein Ursprungsgebiet mehr bezeichnet, sondern allein das Herstellungsverfahren: Wo „Cava“ draufsteht, ist ein in den unterirdischen cavas flaschenvergorener Schaumwein drin – unabhängig davon, aus welcher Region er kommt.

Damit der Schaumwein aber „Cava“ genannt werden darf, sind außer dem traditionellen Flaschengärverfahren noch einige andere Vorschriften zu beachten, die bereits bei der Pflanzdichte der Reben im Weinberg beginnt, wo pro Hektar maximal 3.500 Rebstöcke gepflanzt werden dürfen.

So sind für den Cava insgesamt zwar neun verschiedene Rebsorten zugelassen, verwendet werden aber praktisch nur folgende drei weißen:

  • Macabeo (Viura): steuert Säure und Frucht bei
  • Parellada: aus dem Hochland, für Eleganz und Mineralität
  • Xarel-lo: eine hochwertige Traubensorte, die Körper, Struktur und Farbe bringt sowie erdige und gelbfruchtige Aromen

Diese drei Rebsorten wachsen, wie auch die anderen, auf insgesamt etwa 33.000 Hektar – einer Rebfläche, die etwa jener der Champagne mit 34.000 Hektar entspricht – und überwiegend auf Kalk– und Lehmböden. Für sie ist ein Höchstertrag von 12.000 Kilogramm pro Hektar vorgeschrieben, wobei dann aus 150 Kilogramm Trauben höchstens 100 Liter Saft für den Grundwein gepresst werden dürfen.

Der Grund­wein für den Cava muss einen Alko­hol­ge­halt von 9,5 bis 11,5 Volumenpro­zent haben – für den fertigen Cava selbst sind dann zwischen 10,8 und 12,8 Volumenpro­zent vorgeschrieben sowie einen Säu­re­ge­halt von min­des­tens 5,5 Gramm pro Liter. Dabei ist eine Anreicherung des Grundweins vor der Gärung gesetzlich verboten und es wird bei ihm auch kein biologischer Säureabbau (BSA) gemacht, um die ohne geringe natürliche Säure der Trauben zu erhalten. All das deutet schon darauf hin, dass Cava letztlich nicht so säurebetont ist wie Champagner.

Es folgt nun die Zweitgärung des Grundweins – eben die traditionelle Flaschengärung -, wobei danach bei 20 °C min­des­tens 3,5 bar Druck in der Fla­sche sein. Anschließend verbleibt der Schaumwein in der Flasche auf der Hefe – er bildet dann eine für flaschenvergorene Schaumweine charakteristische Hefenote (Brioche): Cava muss mindestens neun Monate Hefekontakt haben und darf frühestens ein Jahr nach der Lese vermarktet werden darf. Besonders hochwertige Cavas lagern noch etwas länger: nach 18 Monaten dürfen sie den Zusatz „Reserva“ tragen, „Gran Reserva“ nach 30 Monaten.

Je nach Höhe der vor dem Verkorken zugegebenen Dosage unterscheidet man bei Cava folgende Geschmacksrichtungen:

  • Brut zero: ohne Zucker
  • Brut natu­re: 0 bis 3 Gramm Restzucker pro Liter
  • Extra brut: 0 bis 6 Gramm
  • Brut: 0 bis 12 Gramm
  • Extra sec­co: 12 bis 17 Gramm
  • Sec­co: 17 bis 32 Gramm
  • Dul­ce: mehr als 50 Gramm

Jährlich werden etwa 200 Millionen Flaschen Cava erzeugt (über 90 Prozent davon kommen allerdings von den beiden Unternehmen Codorníu und Freixenet, das sich mehrheitlich im Besitz der deutschen Sektmarke Henkell befindet). Damit ist Cava nach Prosecco und Champagner der meistverkaufte Schaumwein weltweit.

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Sekt

Für deutschen Schaumwein hat sich spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts der Begriff „Sekt“ herausgebildet. Seinen Ursprung hat das Wort dabei in einer Shakespeare-Übersetzung, die der Schauspieler Ludwig Devrient um 1825 verwendete. In einer bekannten Weinstube am Berliner Gendarmenmarkt soll er einen Champagner mit einem Zitat aus Heinrich IV. bestellt haben, wo Falstaff sagt: „Give me a cup of sack, roque. Is there no virtue extant?“. „Bring er mir sect, Schurke – ist keine Tugend mehr auf Erden?“, haben August Wilhelm von Schlegel und Johann Ludwig Tieck diese vierte Szene im zweiten Akt übersetzt.

Sir John Falstaff, die eigentliche Hauptfigur von Shakespeares Drama, trinkt gerne sack. Damit aber haben die Engländer keinen Wein, erst recht keinen Schaumwein, bezeichnet, sondern einen trockenen Sherry – wobei sich „sack“ aus dem Begriff „secco“ oder schlicht „sec“ für „trocken“ entwickelt haben könnte. Aus „Sec“ wurde „sack“, aus dem wiederum „Sekt“ wurde – obwohl damit eigentlich ein trockener Sherry gemeint ist. Dennoch wurde Devrient Champagner serviert – selbstverständlich -, trankt er den dort doch praktisch jeden Abend …

„Sekt“ wurde zu einem Synonym für „Champagner“ – und der Begriff verbreitete sich langsam. Zur amtlichen Bezeichnung für Schaumwein wurde er schließlich 1925, nachdem den deutschen Schaumweinherstellern die Verwendung des Begriffs „Champagner“ durch den Versailler Vertrag verboten wurde.

Schon damals war Deutschland vielleicht der wichtigste Schaumweinmarkt weltweit – heute ist er es zweifelsohne. Nirgends wird so viel Schaumwein getrunken wie hier. Und das, obwohl der Fiskus ordentlich mitverdient: 1,02 Euro Sektsteuer je Flasche, seit die Steuer 1902 vom Reichstag zur Finanzierung der Kriegsflotte von Kaiser Wilhelm II. eingeführt wurde. Etwa 350 Millionen Flaschen wurden hierzulande letztes Jahr getrunken, was pro Kopf und Jahr etwa 3,2 Liter entspricht oder etwa vier Flaschen – und einen „Piccolo“. Die nach den eifrigen Kellnerlehrlingen der damaligen Zeit benannte Flasche mit 0,2 Liter Inhalt wurde 1935 von Henkell als Marke eingetragen und inzwischen zum generischen Begriff für die Viertelflasche.

Die Nachkriegszeit – als das Leben langsam in die Gesellschaft zurückkehrte, die Menschen aber noch klamm waren – war die erfolgreichste Zeit für den Piccolo. Und wohl auch lukrativ für Henkell, das inzwischen selbst zu einer international agierenden Sektmarke geworden ist – eine der erfolgreichsten in Deutschland mit über einer Milliarde verkaufter Flaschen. Das Unternehmen hat in den 1960er Jahren nicht nur die bekannte Weinstube am Berliner Gendarmenmarkt übernommen, wo einst der Begriff „Sekt“ geprägt wurde, sondern unter anderem 2018 auch die Eigentümer-Mehrheit bei Freixenet, dem größten Produzenten für den spanischen Schaumwein Cava.

Sekt

Henkell produziert, wie einige andere bekannte deutsche Sektmarken auch, im industriellen Maßstab für den Massenmarkt – für die Discounter, über die heute sechzig Prozent des Weinabsatzes in Deutschland gemacht werden (Aldi ist der größte Weinverkäufer hierzulande). Praktisch alle dort angebotenen Sekte sind einfache, fruchtige, meist mit einer Dosage versüßte Schaumweine, die kostengünstig, ohne langen Hefekontakt im Tankgärungsverfahren hergestellt, unter Druck gefiltert und auf dem Fließband in die Flaschen abgefüllt wurden.

Selten wird bei diesen Schaumweinen angegeben, welche Rebsorten hier versektet wurden – noch nicht einmal, woher die Trauben kommen. Denn ist ein Schaumwein nur mit dem Begriff „Sekt“ etikettiert, kann das verwendete Traubenmaterial von überall her kommen – meistens aber anonym mit Tanklastern aus Italien, Frankreich oder Spanien.

Deutscher Sekt

Das allerdings ist bei „Deutschem Sekt“ anders: Denn seit 1986 ist gesetzlich festgelegt, dass „Deutscher Sekt“ ausschließlich aus deutschen Grundweinen hergestellt werden darf, wobei die Trauben dafür auch aus unterschiedlichen Anbaugebieten in Deutschland kommen können. Diese haben bei der Lese jedenfalls idealerweise etwa 80 Oechslegrade und einen hohen Säuregehalt – sowie beste Qualität, da Kohlensäure Geruch sofort in die Nase bringt und unsaubere Noten bei Sekt die Wahrnehmung insofern besonders stören.

Auch „Deutscher Sekt“ wurde – sofern nichts anderes auf dem Etikett angegeben ist – im Tankgärungsverfahren hergestellt. Liest man dort allerdings die Angabe „Flaschengärung“, wurde der Sekt mit dem Transvasierverfahren hergestellt – einer Verbindung von traditioneller Flaschengärung und industriellem Tankgärungsverfahren: Dabei wird der Sektgrundwein zunächst in der Flasche zweitvergoren, wobei der Sekt hier nicht – wie Champagner – zwölf Monate auf der Hefe liegt, sondern der Hefekontakt – die Autolysezeit – nur neunzig Tage beträgt und so praktisch keine charakteristischen Hefe- oder Briochenoten entstehen. Noch vor dem aufwändigen und zeitintensiven Rütteln und der Entfernung des Hefesatzes beim Degorgieren wird dann aber einfach alles von der Flasche in einen großen Drucktank umgefüllt („transvasieren“ bedeutet „umfüllen“) und dabei gefiltert. Anschließend wird der Sekt im Stahltank mit der Versanddosage aufgefüllt – und erst bei Bedarf wieder auf die Flasche gefüllt. So entsteht ein homogenes Produkt, das stets vergleichbar schmeckt – und bei dem zudem der Begriff „Flaschengärung“ auf dem Etikett verwendet werden darf (wenn auch nicht die Bezeichnung „traditionelle Flaschengärung“!)

Sekt bestimmter Anbaugebiete (Sekt b.A.)

Vom „Deutschen Sekt“ ist der „Sekt b.A.“ zu unterscheiden – ein Sekt, dessen Grundwein aus Trauben eines bestimmten der 13 Weinanbaugebiete in Deutschland hergestellt wurde, beispielsweise „Sekt b.A. Baden“. Außer der Herkunftsregion wird bei diesen Sekten manchmal auch noch die Rebsorte genannt, wobei hierzulande fast immer Riesling versektet wird, bisweilen aber gerne auch Elbling. „Sekt b.A.“ wird ausnahmslos aus Qualitätsweinen (Q.b.A.) hergestellt und unterliegt auch einer amtlichen Prüfung, bei der das kontrolliert und durch die Vergabe einer „Amtlichen Prüfnummer“ auf dem Etikett bestätigt wird.

Winzersekt

Aus Qualitätswein muss auch sogenannter „Winzersekt“ hergestellt werden – wobei dieser Begriff in Deutschland für Schaumweine vorbehalten ist, die nach dem traditionellen Flaschengärverfahren wie in der Champagne hergestellt wurden.

Winzersekte gibt es in Deutschland noch gar nicht so lange, besaßen doch die großen Sektkellereien bis in die 1970er Jahre das alleinige Recht zur Schaumweinherstellung. Dieses Monopol konnte erst durch einen rheinhessischen Winzer gebrochen werden, dem vor Gericht das Recht zugesprochen wurde, aus seinen Weinen bei einem Lohnversekter auch Schaumwein machen zu dürfen – wenn er die dafür fällige Sektsteuer entrichtet.

Die Novellierung des Weingesetzes auf der Grundlage dieses Urteils war der Anfang der „qualitativen Wende“ bei der Schaumweinherstellung in Deutschland: Es wurde festgelegt, dass die Trauben für den Sektgrundwein aus dem Weingut kommen müssen, das den Winzersekt vermarktet – versektet werden aber dürfen sie auch woanders. Schließlich hat nicht jeder Winzer auch noch das technische Equipment zur Sektbereitung in seinem Keller stehen. Nicht zuletzt deshalb gibt es hierzulande inzwischen etliche Sekthäuser, die die Weine eines Winzers für ihn versekten.

Weiters ist für einen Winzersekt – anders als bei einem industriell im Drucktank hergestellten Sekt – vorgeschrieben, dass er im traditionellen Flaschengärverfahren hergestellt und dabei mindestens – wie Crémant – neun Monate in der Flasche auf der Hefe verbleiben muss, bevor er degoriert und verkorkt werden darf. Bisweilen aber bleiben sie viel länger mit der Hefe in Kontakt, wodurch sich die für die Flaschengärung charakteristische Hefenote (Brioche) noch verstärkt.

Abgesehen von der traditionellen Flaschengärung und dem neunmonatigen Hefelager sind für Winzersekt auch mindestens zehn Volumenprozent Alkohol und 3,5 bar Überdruck vorgeschrieben – außerdem müssen Jahrgang und Rebsorte auf dem Etikett angegeben werden sowie auch das Geschmacksbild. Wie für alle Schaumweine lassen sich dabei folgende Geschmacksrichtungen bei Sekt unterscheiden, je nachdem wie hoch die Dosage ist, bevor die Flasche verkorkt wird (nach der Zweitgärung ist der Restzuckergehalt bei allen Sekten erst einmal niedrig):

  • brut nature (0 bis 3 Gramm Restzucker pro Liter)
  • extra brut (0 bis 6 Gramm)
  • brut (0 bis 12 Gramm)
  • extra trocken (12 bis 17 Gramm)
  • trocken (17 bis 32 Gramm)
  • halbtrocken (32 bis 50 Gramm)
  • mild (alles über 50 Gramm)

Der Winzersekt ist in Deutschland zweifelsohne der hochwertigste Sekt. Dass seine Bedeutung dabei kontinuierlich zunimmt, wurde zuletzt auch dadurch bestätigt, dass der „Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP)“ mit dem rheinhessischen Sekthaus Raumland 2020 erstmals auch eine reine Sektmanufaktur in seine Reihen aufgenommen hat und in diesem Zusammenhang sogar eigene Qualitätsstandards für die Schaumweinbereitung (VDP.Sekt.Statut) formuliert hat.

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Crémant

Crémant ist ein nach dem traditionellen Flaschengärverfahren hergestellter Schaumwein, der seinen Ursprung in der Champagne hat. Als „Crémant de Champagne“ bezeichnete man dort Schaumweine in einer etwas milderen Variante als Champagner – mit etwas weniger Kohlensäure und folglich mit nur etwa drei bar auch etwas weniger Druck, ähnlich wie beim Satèn heutzutage in der Franciacorta. Das allerdings hat sich in den 1980er Jahren grundlegend geändert …

Als Crémant gilt heute in Frankreich jeder außerhalb der Champagne erzeugte Schaumwein – und zwar deshalb, weil sich die Champagne vor etwa vierzig Jahren den Begriff „méthode champenoise“ für das Verfahren der traditionellen Flaschengärung bei der Herstellung eines Schaumweins schützen ließ. Nachdem die „Champagne“ bereits 1936 zu einer „Appellation d`Origine Protégée (AOP)“ wurde und damit zu eingem geschützten Ursprungsgebiet, sollte nun auch der Begriff „Champagner“ und das mit ihm verbundene Verfahren der „méthode champenoise“ ausschließlich Schaumweinen aus der klar abgegrenzten „Champagne“ vorbehalten sein – man erschuf eine teure Marke.

Um das Alleinstellungsmerkmal der „méthode champenoise“ für den Champagner zu stärken, verzichtete man darauf, den Begriff „Crémant“ ebenfalls zu schützen – der fortan also auch den anderen französischen Weinanbaugebieten offen stand als Bezeichung für ihre Schaumweine. Sieben Appellationen für Crémant entstanden in der Folge in Frankreich, wobei die bekanntesten sicherlich der „Crémant de Loire“ und der „Crémant d`Alsace“ sind. Ansonsten stellt man den Schaumwein auch in Bordeaux, im Burgund und im Jura her. Außerdem gibt es noch einen „Crémant de Limoux“ im Languedoc – und sogar in der Gegend zwischen nördlicher- und südlicher Rhône produziert man einen „Crémant de Die“.

Ihre Crémants bauten denselben Druck in der Flasche auf wie Champagner, nämlich fünf bar und mehr – und um dabei darauf hinweisen zu können, dass auch ihre Schaumweine – wie in der Champagne – flaschenvergoren sind, verwendeten sie einfach den Begriff „méthode traditionelle“. Darüber hinaus aber galten für die Herstellung eines Crémants auch noch andere Bedingungen, die zwar in jeder Appellation nochmal etwas unterschiedlich sein konnten, ansonsten aber schrieben sie vor:

  • Handlese
  • Ganztraubenpressung
  • Höchstertrag darf maximal 100 Liter Most-Ausbeute pro 150 Kilogramm Trauben erbringen
  • erste Gärung im Holzfass
  • traditionelle Flaschengärung („méthode traditionelle“)
  • Restzuckergehalt maximal 50 Gramm pro Liter
  • Schwefelung mit maximal 150 Milligramm pro Liter
  • Reifung mindestens 12 Monate, davon neun Monate auf der Hefe

Bis auf einen etwas kürzeren Hefekontakt (neun statt zwölf Monate) gibt es bei den Herstellungsvorschriften eigentlich keinen bedeutenden Unterschied zwischen Champagner und Crémant. Allein bei den erlaubten Rebsorten sind die Differenzen wesentlich – denn die sind nicht überall dieselben wie beim Champagner, sondern ändern sich von Region zu Region mitunter doch erheblich. Nicht zuletzt deshalb gibt es beim Geschmack auch deutliche regionale Unterschiede beim Crémant.

Dass die Bezeichnung „Crémant“ inzwischen sogar den Sprung über die französische Landesgrenze geschafft hat, liegt am traditionsreichen katalanischen Schaumweinhersteller „Codorníu“, der eigentlich durch seine Cavas – wie flaschenvergorene Schaumweine in Spanien genannt werden – bekannt geworden ist. 1994 erkämpte sich „Codorníu“ vor dem Europäischen Gerichtshof das Recht, einen seiner Schaumweine „Grand Crémant de Cordoníu“ zu nennen. Man entschied dort zugunsten der Katalanen, dass der Begriff „Crémant“ keine Herkunftsangabe ist, sondern lediglich ein Herstellungsverfahren, das ja überall einheitlich geregelt sei. Mit dem Urteil verankerte der Europäische Gerichtshof insofern auch die oben genannten Herstellungsbedingungen gesetzlich.

Obwohl es seither also möglich ist, Schaumweine auch außerhalb Frankreichs als „Crémant“ zu bezeichnen, praktiziert das – zumindest in Deutschland – kaum jemand. Überhaupt gibt es hierzulande erst seit 2009 gesetzliche Regelungen zur Verwendung des Begriffs: So darf die Angabe „Crémant“ zwar parallel zum Begriff „Sekt“ verwendet werden, allerdings nur in Verbindung mit dem Namen der Herkunftsregion, also als „Crémant Baden“ beispielsweise. Außerdem dürfen deutsche Crémants, dem Weingesetz entsprechend, höchstens 20 Gramm Restzucker pro Liter haben (in der Pfalz sogar nur 15 Gramm). Zu einer echten Alternative zum Sekt hat sich Crémant aus Deutschland dadurch aber noch nicht entwickelt – und zu einer echten Konkurrenz zu seinen französischen Pendants ohnehin nicht.

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Franciacorta

Franciacorta ist ein Schaumwein aus der Lombardei. Und zwar der erste in Italien, der mittels traditioneller Flaschengärung, hier „metodo classico“ genannt, hergestellt wurde. Das war tatsächlich erst 1961 – und es war der Önologe Franco Ziliani, dem das Verdienst zukommt, die Methode aus der Champagne hier eingeführt zu haben. Auch, weil Guido Berlucchi Vertrauen genug hatte, ihm seinen Keller dafür zur Verfügung zu stellen. Sie waren die ersten – inzwischen gibt es in der Region etwa 108 Schaumweinerzeuger.

Gemeinsam erzeugen die Hersteller von Franciacorta etwa zehn Millionen Flaschen jährlich. Das ist wenig, verglichen mit der gewaltigen Menge von 350 Millionen Flaschen in der Champagne – nämlich weniger als 1 Prozent der weltweiten Schaumwein-Produktion. Aber dafür steht hinter jedem Franciacorta sozusagen auch immer ein Winzer: Das Weingut Berlucchi beispielsweise kauft zwar auch Trauben von anderen Weinbauern zu, die insgesamt eine Rebfläche von etwa 400 Hektar bewirtschaften, kultiviert aber auch selbst 100 Hektar mit eigenem Personal.

Auf insgesamt 2.800 Hektar Rebfläche wächst der Wein für Franciacorta – weniger als ein Zehntel der Anbaufläche der Champagne. Sie befindet sich in einer Landschaft in der Lombardei, nach der der Schaumwein auch benannt ist – der Franciacorta. Sie befindet sich in der Gegend südlich des Lago d`Iseo, wo die Alpen über die sanft hügelige Region zur weiten Po-Ebene hin abfallen. Noch während der letzten Eiszeit dehnten sich in der Franciacorta Gletscher aus, die das Landschaftsbild bis heute prägen. Denn die Reben wachsen hier auf eiszeitlichen Moränenhügeln, die vor vierzig Millionen Jahren enstanden sind, als sich die Alpengletscher in die Ebene vordrängten, das Geröll vor sich herschiebend. Nicht zuletzt deshalb finden sich hier heute auch Böden mit einem hohen Mineralanteil.

Als die Gletscher schmolzen, vor etwa 10.000 Jahren, gaben sie nicht nur das Gestein frei, das seither verwittert, sondern durch den Gletscherrückzug entstanden auch die Flüsse und Bäche sowie, ähnlich wie beim Bodensee nördlich der Alpen, die zahlreichen Seen der Lombardei – wie etwa den Lago d`Iseo, ein typischer Gletschersee.

Die Flüsse transportierten wiederum Gestein aus den Alpen herab und schufen so wasserdurchlässige Schwemmlandböden, die für den Weinbau deshalb geeignet sind, weil die Reben hier gezwungen sind, sehr tief zu wurzeln, um an die notwendigen Nährstoffe zu gelangen. Je anstrengender sich das für die Rebe darstellt, desto weniger Trauben bildet sie, die aber dafür konzentrierter und extraktreicher sind.

Anders als in der Champagne mit den kalkhaltigen Kreideböden des Pariser Beckens, die zu ausgesprochen mineralischen und auch säurereichen Weinen führen, verhelfen die Böden der Franciacorta zu wesentlich fruchtigeren Weinen mit einer deutlich moderateren Säure. Das liegt daran, dass das Klima in der Franciacorta insgesamt zwar kühl ist, aber immer noch warm genug, damit die Trauben ausreifen. Andererseits können sie genügend Säure aufbauen durch die kühlen nächtlichen Temperaturen aufgrund der Alpennähe – die aber wiederum auch vom wärmespeichernden Lago d`Iseo abgemildert werden, der für ein relativ warmes Mikroklima sorgt.

All das führt dazu, dass die Grundweine für den Franciacorta zwar eine zurückhaltendere Säure haben, die jedoch wird durch jene gewisse Reife und Fruchtsüße ausbalanciert, die die Weine für den Champagner nicht haben und die man dann vielleicht mittels Dosage zu kompensieren versucht. Hinzu kommt, dass sich in der Champagne inzwischen auch zunehmend die Klimaerwärmung bemerkbar macht, die dazu führt, dass insbesondere Chardonnay immer früher gelesen wird, um Frische und Säure (trotz fehlender Reife) zu erhalten. Mitunter beginnt man damit bereits in den ersten Augusttagen. Darunter leidet jedoch die für jeden Wein wesentliche Spannung zwischen Süße und Säure noch zusätzlich. Nicht zuletzt deshalb war dieser Lesetermin früher auch undenkbar – während man anderersseits in der Franciacorta schon immer im August gelesen hat, da hier die klimatischen Bedingungen für bereits ausgereiftes Traubenmaterial sorgen.

So betrachtet war es in den 1950er und 1960er Jahren, als Franco Ziliani aus der Champagne zurück in die Franciacorta kam, geradezu visionär, die bis dahin ausgesprochen bescheidene Weinproduktion auf Schaumwein umzustellen. Dabei war ihm und Berlucchi wohl klar, dass es wesentlich unkomplizierter ist, aus den vorhandenen Trauben ausgezeichnete Schaumweine zu machen, als daraus konkurrenzfähige Stillweine herzustellen. Außerdem ist Mailand keine achtzig Kilometer entfernt: Mode, Werbung, Geld … die Zeit war reif für einen eigenen Schaumwein!

Ein erster Erfolg zeitigte sich schon 1967, als der „Pinot Franciacorta Brut“ in den Status einer geschützten Ursprungsbezeichnung erhoben wurde, die „Denominazione di Origine Controllata (DOC)“. Die DOC-Vorgaben für die Herstellung sahen unter anderem ein Hefelager von mindestens 18 Monaten für den Schaumwein vor, und dass die verwendeten Rebsorten auf dem Etikett angegeben werden. Zugelassen sind dabei Pinot Nero (Spätburgunder), Chardonnay und mit maximal fünfzig Prozent in der Cuvée auch Pinot Bianco (Weißburgunder) – sowie seit 2017 außerdem auch noch eine alte autochthone Rebsorte aus der Gegend um Brescia: Erbamat. Die wenig aromatische weiße Sorte galt bis auf wenige Rebstöcke als praktisch ausgestorben, wurde aber in den letzten zehn, fünfzehn Jahren für den Franciacorta wiederentdeckt.

Bis zu zehn Prozent darf Erbamat zum Franciacorta beisteuern, in der Praxis aber spielt sie derzeit noch eine weit geringere Rolle bei der Cuvetierung des Schaumweins. Allerdings könnte die Bedeutung von Erbamat in der Zukunft zunehmen, denn sie zeichnet sich gegenüber den anderen zugelassenen Rebsorten dadurch aus, dass sie wesentlich später reift und noch dazu eine von Natur aus ausgeprägte Säure besitzt. Das sind im Hinblick auf die sich auch in der Franciacorta immer deutlicher abzeichnende Klimaerwärmung entscheidende Vorteile.

Bis in die 1970er Jahre hatte sich der Franciacorta einen Namen gemacht – und zwar gerade nicht als reiner Aperitifwein (wie vielleicht Prosecco). Mehrere heute bekannte Weingüter wie Bellavista oder Cavalleri folgten Berlucchi bei der Schaumweinproduktion – und selbst Ca` del Bosco („Haus im Wald“) tat einen Schritt heraus aus dem Dunkel in die mondäne Welt. Auch sie investierten in den Folgejahren massiv in den Ausbau unterirdischer Keller, ausgestattet mit modernster Technik. All diese teuren Investitionen haben sich aber gelohnt – wobei fast neunzig Prozent aller hergestellten Franciacorta in Italien selbst getrunken werden (etwa achtzig Prozent davon in der Gastronomie) und entsprechend nur etwa zehn Prozent in den Export gehen, aber mit steigender Tendenz.

1995 schließlich wurde der Franciacorta in den Status einer „Denominazione di Origine Controllata e Garantita (DOCG)“ erhoben. Die DOCG-Vorgaben sehen genau festgelegte Lagen innerhalb der Anbauzone für die Reben vor. Die einzelnen Rebsorten werden dabei separat angebaut, wobei Bewässerung auch in den inzwischen anhaltenden Trockenperioden im Sommer (noch) nicht zugelassen ist. Für die Handlese ist außerdem vorgeschrieben, dass pro Rebstock maximal zwei Kilo Trauben gelesen werden dürfen, was die meisten Winzer aber ohnehin nicht erreichen: geht man davon aus dass eine Traube etwa 100 Gramm wiegt könnten pro Rebstock 20 Trauben gelesen werden, selten sind es aber mehr als zehn.

Nach der Lese werden die einzelnen Rebsorten separat vergoren und erst im Anschluss miteinander cuvetiert. Manchmal werden Grundweine für Franciacortas bis zu fünf Monate in alten Eichenfässern ausgebaut (Ca` del Bosco praktiziert das zum Beispiel) – das ist jedoch nicht vorgeschrieben. Wird das gemacht, geht es gerade nicht darum, dass der Wein Aromen vom Holz aufnehmen soll, sondern allein um die komplexere Reifung beim Holzfassausbau aufgrund des geringen Sauerstoffeintritts durch die Poren.

Üblicherweise wird der Grundwein jedenfalls frühestens sieben Monate nach der Lese mit Hefe und Saccharose versetzt und schließlich für die Zweitgärung in die Flasche abgefüllt – wo er dann die nächsten Monate verbleibt. Beim langen Kontakt des Weines mit den bei der Zweitgärung abgestorbenen Hefekulturen – man bezeichnet diesen Hefekontakt auch „sur lie“ („auf der Hefe“) – kommt es zur sogenannten Autolyse, das heißt es bildet sich beim Franciacorta eine für die traditionelle Flaschengärung charakteristische Hefenote heraus, die bisweilen nach Brioche schmecken kann.

Nicht zuletzt auch deshalb sind für den Franciacorta Zeiten vorgeschrieben, die er auf der Hefe verbleiben muss. Folgende Reifezeiten bei Franciacorta sind vorgesehen:

  • Für einen Franciacorta DOCG sind mindestens 18 Monate Hefelager vorgeschrieben,
  • bei einem Franciacorta Rosé, der aus mindestens 25 Prozent Pinot Nero bestehen muss, sind es 24 Monate,
  • dreißig Monate sind es mindestens für einen Franciacorta Millesimato, bei dem mindestens 85 Prozent der Trauben eines Jahrgangs „1.000 Tage“ auf der Hefe liegen müssen und
  • eine Franciacorta Riserva muss mindestens fünf Jahre auf der Hefe bleiben, bevor sie degorgiert werden kann.

Abschließend wird der Franciacorta gegebenenfalls noch mit einer Dosage versehen (die bisweilen niedriger ist als in der Champagne, weil der Grundwein schon etwas reifer ist) und verkorkt. Je nach Dosage werden dann folgende Geschmacksrichtungen bei Franciacorta unterschieden:

  • Dosaggio Zero (0 bis 3 Gramm Restzucker pro Liter)
  • Extra Brut (0 bis 6 Gramm Restzucker)
  • Brut (6 bis 15 Gramm)
  • Extra Dry (12 bis 20 Gramm)

Franciacorta können in allen Geschmacksrichtungen hergestellt werden – bis auf eine Besonderheit, den Franciacorta Satèn, den es nur als „Brut“ gibt. Für ihn sind nur die zugelassenen weißen Rebsorten erlaubt, meistens aber beschränkt man sich ohnehin komplett auf Chardonnay. Im Rahmen des traditionellen Flaschengärverfahrens sind für den Satèn dann mindestens zwei Jahre Hefekontakt vorgeschrieben.

Der Begriff „Satèn“ ist ein lombardischer Dialektausdruck, der soviel wie „seidig, samtig“ bedeutet – und bezieht sich insbesondere auf den angenehm milden, „cremigen“ Eindruck, den der Schaumwein auf der Zunge hinterläßt. Dieser milde Eindruck kommt daher, dass der Franciacorta Satèn gegenüber den fünf bis sieben bar beim klassischen Franciacorta mit einem geringeren Kohlensäuredruck von nur etwa vier bis fünf bar zweitvergoren wurde (das heißt, dem Grundwein wurde weniger Saccharose und Hefe beigegeben). Das führt zu einer weniger aggressiven Kohlensäure im Wein und einer zurückhaltenderen Perlage, wodurch der Satèn letztlich auch etwas weniger schäumt („Mousseux“) – und dadurch insgesamt der etwas geschmeidigere Franciacorta ist.

Der Franciacort Satèn ähnelt insofern dem Crémant, der ursprünglich in der Champagne entstand und dessen Bezeichnung dort für mildere Varianten des Champagners verwendet wurde, die etwas weniger Druck hatten – und entsprechend auch etwas kohlensäureärmer waren. Nichtsdestotrotz haben sie sich neben dem Champagner durchgesetzt – und ähnlich ist es auch beim Satèn, der mittlerweile sogar das größte Wachstumssegment in der Weinwelt Franciacortas bildet.

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Prosecco

Etwa achtzig Kilometer nördlich von Venedig, im Veneto, liegt das Ursprungsgebiet und die Heimat des Prosecco. Inmitten einer idyllischen Hügellandschaft wächst hier der Wein für den Prosecco aus der Rebsorte Glera. Die Weingärten dafür liegen oberhalb der weiten venezianischen Po-Ebene und schmiegen sich eng an das Dolomitenmassiv im Norden. Die Region macht schon einen etwas alpinen Eindruck mit ihren steilen und kargen Abhängen, auf denen die Reben wachsen. Der Boden ist ein durchlässiger lehmiger Kalkboden und bildet einen idealen Untergrund für Reben, während die Fallwinde aus den Bergen für kühle Nächte in der mediterranen Gegend und für ausreichend Säure und Frische in den Trauben sorgen.

Veneto_Weinanbaugebiete

Bewirtschaftet wird das traditionsreiche Rebland dabei von Weinbauern mit kleinen Parzellen, oft nur wenige Hektar oder noch kleiner, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie verarbeiten die Ernte nicht selbst, sondern verkaufen sie gewöhnlich an Kellereien, die die Trauben zu Prosecco weiterverarbeiten. Diese Prosecco-Händler haben sich hier auf dem Land niedergelassen, nachdem Venedig seit dem Ende des 15. Jahrhunderts seinen jahrhundertelangen Einfluss im Mittelmeerraum zu verlieren begann. Zu dieser Zeit entdecken die großen Patrizier-Familien der Handelsmetropole Venedig das Hinterland, die Terra ferma, und begannen das Brachland systematisch zu kultivieren und zu bewirtschaften. Das ist auch der Beginn des Weinbaus im Veneto.

Während die Weinproduktion schon wesentlich älter ist, wird der Schaumwein Prosecco im Veneto erst seit dem Jahr 1876 produziert. Seit diesem Jahr kommt eine Methode zur Anwendung, die sich „Metodo Italiano“ oder „Metodo Martinotti“ nennt und von Antonio Carpenè als „Metodo di Spumantizzayone Conegliano Valdobbiadene“ eingeführt wurde. Bei dieser Methode der Schaumweinbereitung handelt es sich um eine Alternative zur traditionellen Flaschengärung – nämlich um eine sogenannte Tankgärung: Bei diesem Verfahren findet nach einer sanften Abpressung und dem Ausbau des Grundweins im Stahltank, die Zweitgärung nicht in der Flasche, sondern in einem geschlossenen Drucktank statt, in dem die Kohlensäure gefangen wird. Danach wird der Schaumwein dann direkt, ohne langen Hefekontakt (zwar mindestens einen, bisweilen aber höchstens zwei Monate), gefiltert und unter Druck auf die Flasche abgefüllt.

Durch die Verwendung der Tankgärungsmethode bei der Herstellung von Prosecco gibt es aber entscheidende Unterschiede zwischen Prosecco und Champagner:

  • Anders als bei der traditionellen Flaschengärung findet zwar auch bei Prosecco eine zweite Gärung des Grundweines statt, allerdings nicht mit Hefekontakt in der Flasche, sondern in einem geschlossenen Drucktank.
  • In diesem Stahltank wird die Gärung etwas früher als bei Champagner durch Kühlung unterbrochen, dadurch wird nicht der ganze Zucker in Alkohol umgewandelt, weshalb der Prosecco auch etwas süßer schmeckt.
  • Anschließend wird dann nach wenigen Wochen die Hefe, die die zweite Gärung in Gang gesetzt hat, herausgefiltert und der Prosecco abgefüllt – es findet also kein monatelanger Hefekontakt wie bei Champagner statt. Entsprechend schmeckt man bei Prosecco auch keine Hefe- oder Briochearomen.
  • An die Stelle der Briochenoten durch die Hefe treten bei Prosecco praktisch nur die Aromen des Grundweins aus der Glera-Traube, insbesondere Aromen von grünem Apfel und Melone.
  • Durch das Kühlen und Filtern des Prosecco – und da üblicherweise auch kein biologischer Säureabbau (BSA) beim Grundwein durchgeführt wurde – wird versucht, die frisch-fruchtigen Aromen der Glera-Traube zu bewahren.
  • Neben diesem frisch-fruchtigen Charakter hat Prosecco typischerweise auch immer etwas mehr Süße als Champagner oder Sekt.

Mit der von Carpenè eingeführten „Metodo Italiano“ werden neben echten Schaumweinen – sogenannten Spumante mit mindestens 3,5 bar Druck – auch nur leicht perlende Versionen – Frizzante mit weniger Kohlensäure und einem geringeren Druck zwischen 1 und höchstens 2,5 bar – erzeugt werden. Weil außerdem die zweite Gärung bei Spumante etwas länger dauert, ist auch die Perlage viel feiner und der Schaum cremiger und langanhaltender als bei einem Frizzante (dennoch darf bei Frizzante, anders als bei Perlweinen, keine Karbonisierung erfolgen). Am offensichtlichsten ist der Unterschied zwischen Frizzante und Spumante beim Verschluss – der nur bei einem Spumante immer, wie bei einem Champagner, aus einem pilzförmigen Korken besteht, der aufgrund des höheren Drucks in der Flasche mit einem Drahtgeflecht („Agraffe“) gesichert ist.

Das ursprüngliche Kernland des Prosecco liegt in der Provinz Treviso zwischen den Orten Conegliano und Valdobbiadene. Die Trauben für den Prosecco wachsen hier auf einer Rebfläche von etwa 7.500 Hektar in einer von den Venezianern als „la marca gioiosa“ („freudvolle Gegend“) genannten Region, jedoch auf steilen Kalksteinhängen, weshalb man auch von „viticultura eroica“, „heldenhaftem Weinbau“, spricht. Jedenfalls gehören die hügelige Landschaft und der mit ihr verbundene Weinbau seit 2018 zum UNESCO-Kulturerbe – entsprechend ist auch das Anbaugebiet geschützt als DOCG Conegliano-Valdobbiadene. Zu ihm gehören insgesamt 15 Gemeinden mit etwa 180 Kellereien.

Die Region zwischen den Ortschaften Conegliano und Valdobbiadene ist die ursprüngliche Heimat des Prosecco, entsprechend wurde sie auch mit dem höchsten italienischen Prädikat als „Denominazione di Origine Controllata e Garantita (DOCG)“ („kontrollierter und garantierter Ursprung“) ausgestattet. Denn die Reben hier profitieren von den kühlen Nächten in der Region, in denen sie die für Schaumweine grundsätzlich wichtige Säurestruktur aufbauen können. Zudem schreiben die DOCG-Regularien eine strenge Begrenzung der Erntemengen vor, damit nur wertvollstes Lesegut für die Herstellung des Prosecco verwendet wird.

Hier, an den Hängen des Bergs Cartizze in Valdobbiadene, wächst auch der vielleicht spannenste, jedenfalls aber der hochwertigste Prosecco: der DOCG Prosecco Superiore di Cartizze. Er wächst auf einem 107 Hektar großen Gebiet nahe Valdobbiadene, wobei die Reben auf einem steilen Hang aus Mergel, Sandstein und Lehm stehen, der sich wie ein Amphitheater krümmt, in dessen Kessel sich die Sonne fängt und dafür sorgt, dass die spät reifenden Trauben genügend Licht und Wärme bekommen. Die Einzellage Cartizze ist die begehrteste Lage innerhalb des riesigen Prosecco-Gebietes. Auf etwa fünf Prozent der Fläche wird hier weniger als ein Prozent der Erntemenge erzeugt: Es sind die besten Trauben, die die Region hervorbringt.

Cartizze wird fast ausschließlich „Dry“ ausgebaut – ansonsten unterscheidet man aber folgende Geschmacksrichtungen bei Prosecco, wobei „Extra Dry“ vielleicht die verbreiteste ist:

  • Brut Nature: 0 bis 3 Gramm Restzucker pro Liter
  • Extra Brut: 0 bis 6 Gramm Restzucker pro Liter
  • Brut : 0 bis 12 Gramm Restzucker pro Liter
  • Extra Dry: 12 bis 17 Gramm Restzucker pro Liter
  • Dry (sec, secco, asciutto, trocken): 17 bis 32 Gramm Restzucker pro Liter
  • Medium Dry (demi sec, halbtrocken): 32 bis 50 Gramm Restzucker pro Liter
  • Dolce (süss): über 50 Gramm Restzucker pro Liter

Wie Cartizze bezeichnet auch der DOCG Prosecco Superiore Rive einen Lagenprosecco. Er muß aus einer einzigen von insgesamt 43 Gemeinden kommen und wächst auf steileren Hängen als der Cartizze. Sowohl für den Rive als auch den Cartizze sind, anders als bei den anderen Prosecco, traditionelle Flaschengärung vorgeschrieben!

Eine weitere DOCG neben Conegliano-Valdobbiadene ist die DOCG Prosecco Colli Asolani (oder Asolo Prosecco). Auch hier nimmt Glera mit 85 Prozent den Hauptbestandteil ein, daneben wird Chardonnay und Pinot Nero (Spätburgunder), sowie Weiß- und Grauburgunder verwendet.

Neben all diesen hochwertigen Schaumweinen – Prosecco wird heutzutage nicht mehr nur in seiner Ursprungsregion produziert, sondern in einem ausgedehnten Gebiet, das sich über Venetien bis ins Friaul erstreckt. „Prosecco“ war lange der Name für eine Rebsorte, zum Schutz vor Plagiaten änderten die Produzenten im Jahr 2009 den Namen der verantwortlichen Rebsorte jedoch in „Glera“ und registrierten deren ursprünglichen Namen „Prosecco“ als Bezeichnung für das Weinanbaugebiet: „Prosecco“ ist also seither nicht mehr der Name einer Traubensorte, sondern bezeichnet das Produktionsgebiet – das in diesem Zusammenhang auf Gebiete im Friaul erweitertet wurde. Von dort stammt auch der neue Name „Glera“: Er fungierte im Friaul schon immer als Synonym und stammt von einer kleinen Region in der Nähe von Triest, in der auch eine Ortschaft existiert, die „Prosecco“ heißt. Wein wurde dort schon seit den Römern produziert (sie nannten die Ortschaft „Pucinum“ und den Wein „vinum Pucinum“) – aber „Prosecco“ dürfen die Winzer der Region ihren Schaumwein erst neuerdings nennen.

Mit der Gesetzesänderung von 2009 verhinderte man, dass „Prosecco“ auch in anderen Regionen hergestellt werden kann, denn seither darf der Schaumwein nur noch unter den oben geschildeten kontrollierten Bedingungen (sanfte Abpressung des Grundweins und Vinifikation in Stahl, Tankgärungsverfahren mindestens dreißig Tage lang) in neun genau umrissenen Provinzen erzeugt werden, die zur „Denominazione di Origine Controlata (DOC)“ („Geschützter Ursprung“), aufgewertet wurden: Treviso, Belluno, Vicenza, Padua, Venezia, Trieste, Gorizia, Udine und Pordenone. Das bedeutet, dass nur noch der Most von Glera-Trauben aus diesen neun Provinzen zu „Prosecco“ verarbeitet werden darf, wobei die DOC Prosecco dieses Gebiet komplett umfasst.

Entsprechend kommt nur noch etwa ein Viertel der Prosecco-Produktion heutzutage aus dem ursprünglichen Kernland des Prosecco in der Provinz Treviso – der weitaus größere Teil kommt inzwischen aus flacheren Regionen: den weiten Ebenen des Veneto und seit 2009 eben auch aus dem benachbarten Friaul. Solche Prosecco sind meistens nicht nur von minderer Qualität, sondern haben kaum noch eine kulturelle Bindung zu dem begrenzten Anbaugebiet, aus dem sie ursprünglich stammen. Dennoch wurde auf Anpflanzungen in der Ebene nicht verzichtet. Das liegt im insbesondere im Erfolg des Schaumweins begründet.

Lange war Prosecco außerhalb der Region unbekannt, dann aber wurde er über Venetien hinaus bekannt und inzwischen werden über 300 Millionen Flaschen jährlich verkauft – mehr als Champagner. Auch der amerikanische Markt für Prosecco boomt in den letzten Jahren, seit Primo Franco Ende der 1970er-Jahre begann, als erster dort aktiv Marketing für den Schaumwein zu betreiben. Aber nicht nur dort ist Prosecco bereits in allen gesellschaftlichen Ebenen angekommen, sondern auch hierzulande, repräsentiert er für viele von uns doch wie kaum etwas anderes ein typisches Lebensgefühl beziehungsweise venezianische Lebensart. Während Champagner oder Sekt doch eher noch mit dem besonderen, edlen Anlass verbunden werden, hat sich Prosecco längst als unkomplizierter und günstiger Aperativwein durchgesetzt – mengenmäßig jedenfalls liegt er weit vor deutschem Sekt.

Dem nicht genug, gibt es seit 2021 außerdem auch noch einen DOC Prosecco Rosé. Dabei handelt es sich um einen im Tankgärungsverfahren hergestellten Spumante, der genau wie der normale DOC Prosecco auch aus mindestens 85 Prozent Glera bestehen muss, die restlichen 15 Prozent und auch die Farbe steuert Pinot Nero bei, also die hierzulande als Spätburgunder bekannte Rebsorte. Abgesehen davon, dass der Prosecco Rosé immer ein Schaumwein (Spumante) sein muss, ist auch vorgeschrieben, dass die Trauben des Grundweins aus einem Jahrgang stammen müssen. Deshalb handelt es sich bei ihm auch immer um einen sogenannten „Millesimato“, einen Jahrgangsprosecco – der darüber hinaus nur in den Geschmacksrichtungen von Brut Nature bis Extra Dry – mit maximal 17 Gramm Restzucker pro Liter also – erhältlich ist.

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Flaschengärung

Auch wenn es noch alternative Verfahren zur Schaumweinbereitung gibt – traditionell werden Schaumweine im Flaschengärverfahren hergestellt. Anders als beispielsweise beim Verfahren zur Herstellung eins PetNats, wo die Gärung eines Weines einfach in der Flasche zu Ende geführt wird, handelt es sich bei der traditionellen Flaschengärung um eine Um- oder Zweitgärung eines bereits fertigen Weines (Grundwein), den man durch Zugabe von Saccharose und Hefe ein zweites Mal in der Flasche zur Gärung bringt, wobei man die dabei entstehende Kohlensäure bei einem Druck von mindestens 3,5 bar in der Flasche „gefangen“ hält. (Ist auf dem Etikett übrigens nur „Flaschengärung“ angegeben, ist der Schaumwein nicht nach dem traditionellen Verfahren vergoren, sondern mit dem sogenannten Transvasierverfahren hergestellt worden.)

Ihren Ursprung hat die traditionelle Flaschengärung in der Champagne, das heißt, nur hier darf sie als „méthode champenoise“ bezeichnet werden, auch wenn dieses Verfahren inzwischen ebenso zur Herstellung anderer Schaumweine wie etwa Sekt, Crémant, Cava oder Franciacorta sowie manchmal auch für Lambrusco verwendet wird – nicht aber für Prosecco.

Die traditionelle Flaschengärung wurde nach verbreiteter Meinung um das Jahr 1680 vom Benediktinermönch Dom Pérignon „erfunden“. Einer anderen Erzählung folgend waren es im Jahr 1531 Mönche der zwischen Carcassone und Limoux im Languedoc gelegenen Abtei St. Hilaire, die entdeckten, daß ihre Stillweine, die sie im Winter eingelagert hatten, im darauffolgenden Frühling eine leichte Kohlensäure entwickelt hatten: Die Gärung, die aufgrund der kühlen Wintertemperaturen zum Stillstand gekommmen ist, setzte im Frühling wieder ein und in den geschlossenen Fässern hat sich die entstandene Kohlensäure in der Flüssigkeit gelöst.

Erst etwa 150 Jahre später soll Dom Pérignon der Abtei St. Hilaire einen Besuch abgestattet haben und das dort erworbene Wissen in die Champagne gebracht haben, wo er das Verfahren aber entscheidend weiterentwickelt hat.

Die Herstellung eines Schaumweines mittels der traditionellen Flaschengärung („méthode champenoise“) sieht heutzutage folgenden Ablauf vor:

  • Keltern / Pressen
  • Grundwein (Erste Gärung)
  • Komposition / Assemblage
  • Flaschenabfüllung und Fülldosage
  • Zweite Gärung und Reifung (Hefelager)
  • Rütteln
  • Degorgieren
  • Versanddosage
  • Verkorkung
Keltern / Pressen

Bei der Ernte in der Champagne werden die Trauben von Hand gelesen und jede Rebsorte getrennt gepresst. Bei der Handlese werden von durchschnittlich etwa 8.000 Rebstöcken pro Hektar circa 10.400 Kilogramm Trauben geerntet, woraus letztlich ein Ertrag von etwa 66 Hektoliter pro Hektar gewonnen wird. Bei der Pressung in der Kelter dürfen aus einer „Marc“ (das sind 4.000 Kilogramm, was dem Fassungsvermögen der Presse in der Champagne entspricht) nur 2.550 Liter Most gewonnen werden (das sind 102 Liter aus 160 Kilogramm Trauben).

Für die Herstellung von Champagner ist dabei Ganztraubenpressung (mit Stiel und Stengel) vorgeschrieben, weil sie es ermöglicht, verschiedene Phasen während des Kelterns beziehungsweise sogenannte „Pressfraktionen“ zu unterscheiden: Der erste Saft aus der Presse ist der beste Champagner und wird Cuvée genannt (20,5 Hektoliter). Er ist am reinsten, die letzten fünf Hektoliter heißen Taille und sind sehr zuckerhaltig, enthalten aber weniger Säure. Ausserdem enthält die Taille reichlich Mineralsalze (insbesondere Kalium) und Farbstoff. Will man einen Rosé herstellen, werden die Trauben ein bis drei Tage mazeriert, das heißt die Schalen werden in der Maische liegen gelassen, um die in der Beerenhaut gespeicherten Farbstoffe zu lösen.

Grundwein (Erste Gärung)

Gewöhnlich wird der ausgepresste Saft (Most) mit Schwefeldioxid (SO2) vor Oxidation geschützt (geschwefelt wird mit etwa sechs bis zehn Gramm pro Hektoliter). Anschließend wird der Saft vorgeklärt um einen fruchtigen und aromatisch reinen Wein zu haben. Es folgt die alkoholische Gärung – in der Champagne in kleinen Holzfässern (sogenannte „pièces champenoises“ mit einem Fassungsvermögen von 205 Liter nehmen kleine Sauerstoffmengen auf und machen den Wein runder und vollmundiger), oder – wie meistens – im Stahltank (mit 25 bis mehrere 100 Hektoliter Fassungsvermögen). Der Most wird dabei gegebenenfalls chaptalisiert, wobei der Alkoholgehalt am Ende elf Volumenprozent Alkohol nicht überschreiten darf.

Idealerweise haben die Trauben für den Grundwein einen geringeren Zuckergehalt, denn die zweite Gärung in der Flasche erhöht den Alkoholgehalt um 1,2 bis 1,3 Volumenprozent. Ausserdem sind hohe Säurewerte gut für einen erfrischenden Stil (dafür sorgt insbesondere das relativ kühle und feuchte Klima in der Champagne, sieht man davon ab, dass sich die Klimaerwärmung dort inzwischen deutlich bemerkbar macht). Die Gärung selbst dauert zwei Wochen und findet bei 18 bis 20 Grad Celsius statt. Anschließend wird gegebenenfalls ein biologischer Säureabbau (BSA) bei 18 Grad Celsius vorgenommen und der Wein anschließend geklärt („vin clair“).

Komposition / Assemblage

Nach einigen Monaten ist die Erste Gärung abgeschlossen. Aus den klaren Weinen kann jetzt die „Assemblage“, das heißt der hierzulande auch „Cuvée“ genannte Verschnitt gemacht werden (auch bis zu fünfzig Prozent aller Reserveweine werden daraus gemacht). Bei der Produktion von Rosé-Champagner spricht man von „Vermählung“. Hier sind für die Herstellung neben den beiden üblichen Verfahren der Mazeration (12 bis 72 Stunden) und des Saignée-Verfahrens auch fünf bis zwanzig Prozent Rotweinanteil bei der Assemblage erlaubt.

Soll ein Jahrgangswein erzeugt werden (ein sogenannter „Millésime“), ein „Blanc des Blancs“, ein „Cuvée de Prestige“ et cetera? – das muss jetzt entschieden werden. Anschließend wird die Cuvée eine Woche bei Minus vier Grad Celsius kältestabilisiert zur Verhinderung von Weinstein beziehungsweise -kristallen. Diese Stabilisierung ist bei Champagner besonders wichtig. Anschließend wird der Wein erneut geklärt.

Flaschenabfüllung und Fülldosage

Nach der Zusammenstellung der Cuvée wird der Grundwein auf Flaschen abgefüllt. Dabei wird eine sogenannte „Fülldosage“ aus Zucker, Reinzuchthefe und Hilfsstoffen im Verhältnis von 20 bis 24 Gramm pro Liter zugefügt, sodass eine Zweitgärung in der Flasche stattfindet, sich der Alkoholwert aber nur um maximal 1,5 Volumenprozent erhöht. Dieser Vorgang wird „Tirage“ genannt und darf frühestens am 1. Januar des neuen Jahres erfolgen. Nach der Abfüllung wird die Flasche mit einer Kronkapsel abgedichtet.

Zweite Gärung und Reifung

Die Zweite Gärung in der Flasche dauert sechs bis acht Wochen, in deren Folge eine lange Reifezeit in einer der sich über eine Länge von 250 Kilometer erstreckenden unterirdischen Weinkeller der Champagne, in denen idealerweise konstante zwölf Grad Celsius herrschen.

Beim Ausbau und der Reifung in der Flasche bilden sich sogenannte tertiäre Aromen (man kann bei der Weinverkostung Aromen unterscheiden die während der Gärung entstanden sind oder danach sowie eben sogenannte tertiäre, die bei der Reifung entstehen). So dringt zum Beispiel immer etwas Sauerstoff in die Flasche ein – wichtiger aber ist, dass beim langen Kontakt des Weines mit den sich bei der Zweitgärung abgestorbenen Hefekulturen – man bezeichnet diesen Hefekontakt auch als „sur lie“ („auf der Hefe“) – zur sogenannten Autolyse kommt, das heißt, es bildet sich beim Schaumwein eine für die traditionelle Flaschengärung charakteristische Hefenote heraus, die bisweilen insbesondere nach Brioche schmecken kann.

Nicht zuletzt auch deshalb sind für Schaumweine Zeiten vorgeschrieben, die sie auf der Hefe verbleiben müssen. Bei Champagner sehen die gesetzlichen Bestimmungen folgende Reifezeit vor

  • Fünfzehn Monate bei jahrgangslosen Champagnern (zwölf Monate „sur lie“, das heißt auf der Hefe, und drei Monate in der Flasche)
  • Drei Jahre sind es bei Jahrgangschampagnern, die deshalb auch „Millésime“ genannt werden („Millésime“ leitet sich her von „1.000 Tage“, was etwa drei Jahren entspricht)
  • Mehrere Jahre sind es bei „Prestige Cuvées“ aus den besten Weinen eines Champagnerhauses

Nach der Reifung wird dann wieder geklärt.

Rütteln

Durch das Rütteln der Flaschen in sogenannten Rüttelpulten – 1816 erfunden von Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin, bekannter als „Witwe Clicquot“ („Veuve Clicquot“) – soll das Hefedepot in der Flasche langsam zum Flaschenhals und zum Kronkorken wandern beziehungsweise sich dort absetzen. Rütteln heißt hier: die Flaschen von links nach rechts drehen und auf den Kopf stellen, was traditionell von Hand gemacht wird. Der sogenannte „Rémeur“ („Rüttler“) schafft 40.000 Flaschen pro Tag von Hand, wobei der ganze Prozess sechs Wochen dauert. Beschleunigt werden kann das durch Automatisierung mit sogenannten „Gyropaletes“, in denen sich je 500 Flaschen befinden und mit denen der ganze Prozess auf eine Woche verkürzt werden kann.

Bei der Reifung auf der Hefe kommt es zur Hefeautolyse und zur langsamen Oxidierung durch den Sauerstoff, der über den Verschluss in die Flasche eindringt. Tertiäre Aromen bilden sich: blumige, fruchtige bei Jungen Schaumweinen; Reife Früchte, die später in Kompott und Trockenfruchtaromen übergehen und schließlich in Unterholz bei reiferen.

Degorgieren

Am Ende der Reifung erfolgt das Degorgieren beziehungsweise Enthefen. Dabei wird der Flaschenhals in eine Gefrierlösung (von Minus 16 bis Minus 27 Grad Celsius) getaucht und die Flasche anschließend geöffnet: der Druck von 4,5 bis 5 bar (eine Glasflasche hält bis zu acht bar aus), der sich während der Zweiten Gärung in der Flasche gebildet hat sorgt dafür, dass der Hefepropf herausknallt (ein Nebenprodukt der Gärung ist Kohlendioxid, das in der Flasche gefangen bleibt).

Ab 3 bar Überdruck in der Flasche ist in Deutschland eine Schaumweinsteuer zu entrichten – und zwar abhängig vom Alkoholgehalt im Endprodukt: bis sechs Volumenprozent Alkohol sind 51 Euro pro Hektoliter fällig, ab sechs Volumenprozent 136 Euro pro Hektoliter. Das bedeutet 1,36 Euro auf den Liter umgerechnet oder 1,02 Euro pro Flasche, die der Fiskus erhält.

Versanddosage

Beim Degorgieren spritzt immer etwas Wein heraus, der nun mittels einer sogenannten Versanddosage („Liqueur de Dosage“) ersetzt wird. Diese Dosage besteht aus Rohrzucker, wobei sich der Zuckeranteil nach dem gewünschten Schaumwein– beziehungsweise Champagnertyp richtet. Von trocken bis süss lassen sich folgende Geschmacksrichtungen unterscheiden:

  • zero dosage / brut nature / pas dosé / dosage zero (ohne Versanddosage, maximal drei Gramm natürlicher Restzuckergehalt pro Liter)
  • Extra Brut (0 bis 6 Gramm Restzucker pro Liter)
  • Brut (0 bis 12 Gramm)
  • Extra Sec / Extra dry (12 bis 17 Gramm)
  • Sec (17 bis 32 Gramm)
  • Demi-Sec (32 bis 50 Gramm)
  • Doux (ab 50 Gramm).
Verkorkung

Direkt nach der Dosage wird der Schaumwein verkorkt. In der Champagne muss auf dem Korken die Angabe „Champagne“ und gegebenenfalls der Jahrgang vermerkt werden. Darauf kommt eine Metallkappe („Capsule“) und ein Drahtkorb („Muselet“), die sogenannte „Agraffe“, sowie eine Folienkappe („coiffe“). Dann wird die Flasche nochmal kurz geschüttelt („Poignettage“), damit sich die Dosage gut mit dem Schaumwein verbindet.

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Blaufränkisch (Lemberger)

Die Rebflächen für Blaufränkisch steigen seit Jahren kontinuierlich an – weltweit sind sie in den letzten zwanzig Jahren um etwa dreißig Prozent auf nun insgesamt etwa 18.000 Hektar angewachsen. Der größte Teil davon liegt in den Donauländern Deutschland, Österreich und Ungarn, wo die Blaufränkisch „Kékfrankos“ genannt und auf etwa 8.000 Hektar angebaut wird. In Deutschland hingegen ist sie auch als „Lemberger“ beziehungsweise „Blauer Limberger“ bekannt – und hier insbesondere in Württemberg verbreitet, wo sie einen Anteil von 14 Prozent am Rebsortenspiegel hat und ein Großteil der insgesamt 1.900 Hektar der Rebsorte in Deutschland stehen.

Blaufränkisch ist eine Kreuzung zwischen der Blauen Zimmettraube und dem Weissen Heunisch und hat ihren Ursprung wohl in den Weingärten am unteren Donaulauf. Die genaue Herkunft dieser Sorte ist jedoch bis heute nicht ausreichend geklärt – obwohl es so scheint, dass Karl der Große (742-814) sie hierzulande einführte. Er jedenfalls teilte die Rebsorten nach der Eroberung Galliens in höherwertige fränkische, die er von dort mitbrachte, und gemeine hunnische ein, wobei sich die mittelalterliche Bezeichnung „fränkisch“ nicht auf „Frankreich“ bezieht, das es damals noch gar nicht gab, sondern auf die historische Region „Franconia“, das heutige Franken (in Italien heißt die Blaufränkisch „Franconia“). Aus der Vermehrung der fränkischen Varietäten könnte sich dann der Blaufränkisch weiterentwickelt haben – obwohl ihm die Bezeichnung „Blaue Frankentraube“ erst im 18. Jahrhundert zugewiesen wurde (ursprünglich trug wohl der Tauberschwarz diesen Namen) und er offiziell sogar erst seit 1875 „Blaufränkisch“ heißt, als eine internationale Kommission den Sortennamen verbindlich festlegte.

So bedeutend die Rebsorte im historischen Franken vielleicht einmal gewesen sein mag – heutzutage wird sie dort praktisch gar nicht mehr angepflanzt. Stattdessen kommt sie, nachdem sie bereits nach dem Dreissigjährigen Krieg von dem noch heute existierenden Weingut „Graf Neipperg“ hierher gebracht wurde, praktisch nur noch in Württemberg vor, wo etwa 1.750 Hektar mit ihr bestockt sind. Vielleicht auch in Abgrenzung zu Franken wird die Rebsorte hier aber nicht „Blaufränkisch“, sondern „Lemberger“ genannt – eine Bezeichung, die auf die Ortschaft Lemberg in der ehemals zum Habsburgerreich gehörigen historischen Region Stajerska (Untersteiermark) in Slowenien verweist, von wo aus die ersten Rebstöcke der „Lembergerrebe“ 1877 nach Deutschland verkauft wurden. Auch die alternative Bezeichnung „Blauer Limberger“ verweist auf eine Ortschaft in Österreich, Limberg in Niederösterreich, von wo aus Blaufränkisch gegen Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls wieder nach Deutschland exportiert wurde, nachdem er dort lange vergessen war.

Die Rebsorte wird also inzwischen zwar wieder in Deutschland angebaut, Weine aus der Lembergerrebe erreichen aber doch selten das Niveau der österreichischen Blaufränkisch. Und obwohl in Ungarn mehr Kékfrankos wächst als anderswo, hat die Rebsorte in Österreich eine höhere Bedeutung für den Weinbau als in den anderen Donauländern. Etwa zwanzig Prozent der Rotweinfläche sind hier mit Blaufränkisch bestockt, das sind etwa 3.200 Hektar. Im Burgenland, speziell im Mittelburgenland und an den warmen Ufern des Neusiedlersees am Leithaberg sowie am Eisenberg in Südburgenland, ist sie die wichtigste Rebsorte. Bedeutend ist sie aber auch am Spitzerberg im Carnuntum in Niederösterreich. Überall hier wird Blaufränkisch reinsortig ausgebaut, ist aber auch ein beliebter Kreuzungspartner beispielsweise für Zweigelt (der selbst unter anderem von Blaufränkisch abstammt).

In Österreich dominiert Zweigelt zwar bei der Anbaufläche, im Hinblick auf die Qualität aber führt kein Weg am Blaufränkisch vorbei. Sie gilt dort als höchstgeschätzte Rotwein-Sorte – wohl wegen der Eleganz und des geschmacksprägenden Einflusses des Terroirs: Anders als Zweigelt reagiert Blaufränkisch sensibel auf die Bodenbeschaffenheit und spiegelt diese bisweilen deutlicher im Geschmack wieder. Nicht zuletzt deshalb wird sie auch gerne als „burgundische“ Rebsorte beschrieben. Jedenfalls wird Blaufränkisch heutzutage nicht mehr opulent vinifiziert, sondern ganz nach burgundischem Vorbild steht ihre Eleganz im Vordergrund, ihre Säure und das Tanningerüst sind die entscheidenden Faktoren.

Wenn es insgesamt darum geht, das Terroir herauszuarbeiten, wird auch der Boden wichtig. Dass Blaufränkisch auf den Boden reagiert, auf dem er steht, wird zum Beispiel deutlich, wenn man die Weine von zwei burgenländischen Appellationen miteinander vergleicht: In der Eisenberg DAC („Districtus Austriae Controllatus“), ganz im Süden Burgenlands, stehen engzeilige, kleine Parzellen in 280 bis 450 Meter Höhe. Im Spätsommer ist es hier heiß, aber nachts kühlt es ab und von bewaldeten Hügeln weht auch tagsüber ein frischer Wind, was sich gut auf die Säureentwicklung in den Beeren auswirkt. Die Würze und feingliedrige, präzise Frucht der Blaufränkisch stammt hier aber mit Sicherheit auch von den eisenhaltigen Böden. Im Unterschied dazu stehen die Weine aus der Leithaberg DAC am Neusiedlersee im Norden Burgenlands, wo österreichweit mit am striktester und stärksten auf das Terroir geachtet wird: Blaufränkisch profitiert hier vom warmen pannonischen Klima und dem positiven Einfluss des Steppensees, insbesondere aber auch vom Leithagebirge, dessen Boden aus Schiefer und Kalk besteht, der für weniger fruchtige, dafür aber für ausgesprochen mineralisch-kreidige Weine sorgt.

Grundsätzlich ist Blaufränkisch relativ anspruchslos was den Boden angeht. Sie gedeiht auf tiefgründigen, lehmigen Böden genauso wie auf solchen mit einem hohen Anteil an Kalk. Um aber ihre Qualitäten herausarbeiten zu können, sollte man sie eher auf nährstoffarmen, kargen Böden pflanzen, um ihr natürliches Wachstum etwas einzugrenzen beziehungsweise sie im Ertrag etwas zu mindern. Sie neigt sonst dazu, ihre Intensität zu verlieren.

Um gut auszureifen sollte die früh austreibende und spät reifende Rebsorte in warmen, windgeschützen Lagen mit südlicher Ausrichtung gepflanzt werden, da sie ansonsten von Spätfrosten bedroht ist. Auch wenn sie insgesamt eher wuchskräftig ist, so neigt sie bei zu kalten Temperaturen während der Blühphase doch zur Verrieselung (gewöhnlich findet immer im Mai die Blüte und der Fruchtansatz bei der Rebe statt, wo aus jeder Blüte im Laufe des Sommers eine Traube wird, wenn sie befruchtet beziehungsweise bestäubt wurde und Hagel oder Regen das nicht verhindern. Klappt die Befruchtung jedoch nicht und bleibt die Traubenbildung aus, spricht man von „Verrieselung“, was natürlich mit geringeren Erträgen verbunden ist). Außerdem ist Blaufränkisch anfällig für Pilzerkrankungen – und stellt so insgesamt doch recht hohe Ansprüche an die klimatischen Bedingungen ihres Standorts.

Kann Blaufränkisch aber voll ausreifen, zeichnet sie sich durch intensive Aromen von dunklen Beeren, schwarzen Kirschen und eine pfeffrige Würze sowie durch eine präsente, kräftige Säure aus. Wegen seiner dicken Schale besitzen die Weine von Blaufränkisch durchweg einen hohen Gerbstoffgehalt, wodurch sie aber auch lange lagerfähig werden. (Bei lange in der Flasche gereiften Weinen können sich die Tannine mit den Farbstoffen des Weins verbinden, ausfallen und sich als Depot am Flaschenboden absetzen. Der Blaufränkisch sollte dann dekantiert werden.) Bisweilen versucht man, die deutlich wahrnehmbaren Tannine durch den Ausbau des Weines im Barrique harmonisch einzubinden. Insgesamt entstehen so kraftvolle, komplexe, aber dennoch elegante Weine – nicht umsonst wird Blaufränkisch dabei manchmal auch mit einer kräftigen Beaujolais-Crus verglichen (in Bulgarien heißt Blaufränkisch vielleicht auch deshalb noch immer „Gamé“ – nach der im Beaujolais vorherrschenden Rebsorte Gamay).

Als Kékfrankos wird Blaufränkisch auf etwa 8.000 Hektar auch in Ungarn angebaut – nirgends so viel wie dort. Und sie ist auch die im Land selbst am häufigsten angepflanzte Sorte, nicht zuletzt, weil sie ein großes Potential birgt, da sie mit ihrer kräftigen und frischen Säure der pannonischen Hitze entgegenwirkt. Deshalb wird die Rebsorte fast überall in Ungarn angebaut, wobei sich die ungarischen Weine aus Kékfrankos in der jüngeren Vergangenheit qualitativ mächtig weiterentwickelt haben.

Die wichtigsten Anbaugebiete für hochwertige Kékfrankos liegen am südlichen Ufer des Neusiedlersees in Sopron – wo traditionell auch etliche österreichische Winzer (grenzüberschreitend) tätig sind -, am Balaton (Plattensee) sowie in den südlich gelegenen Weinanbaugebiet Szekszárd und Villány.

Kékfrankos bedeutet übrigens „blauer Franke“ und spielt auf die Zeit Napoleons an. Der Legende nach bezahlte dieser seine – auch durch Ungarn ziehenden, stets durstigen – Truppen mit der inoffiziellen Währung der sogenannten „roten Francs“, die weniger Wert waren als die offiziellen „blauen Francs“. Die ungarischen Weinbauern wußten das und ließen sich angesichts der hohen Nachfrage nicht billig abspeisen, sondern sich ihren Wein teuer bezahlen. Der aber kam so zu seinem Namen – eben „Kékfrankos“.

War die Nachfrage also damals schon hoch, so erfreut sich Blaufränkisch heute sogar noch steigender Beliebtheit. Man findet ihn inzwischen, zumindest in einigen Parzellen, in zahlreichen Anbaugebieten weltweit. Kleinere Rebflächen von ihm gibt es beispielsweise in der Slowakei, in Tschechien oder Bulgarien, aber auch in Kanada, der Schweiz sowie in Australien stehen einige mit Blaufränkisch bestockte Weinberge.

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Primitivo (Zinfandel)

Nach der Entstehung der Republik Kroatien vor etwa dreißig Jahren – als der moderne, privatisierte Weinbau überall im Land seinen Anfang nahm – ist insbesondere der Anbau einer Rebsorte quasi explodiert: der Tribidrag. Ever heard of Tribidrag?

„Tribidrag“ ist ein Synonym für die „Crljenak-Kastelanski“-Traube, die „Rote Traube von Kastela“, einer kleinen Stadt nahe Split und Ursprung der Rebsorte, die man wohl eher unter dem Namen „Primitivo“ beziehungsweise „Zinfandel“ kennt. Den Namen „Zinfandel“ bekam die „Crljenak-Kastelanski“ wegen einer Fehllieferung aus dem Habsburgerreich nach Amerika: Eine Lieferung mit Wein aus der kroatischen Rebsorte wurde irrtümlich als „Zierfandler“, eine Rebsorten-Spezialität aus Österreich, beschriftet und dann im New Yorker Hafen als „Zinfandel“ entziffert.

Missverständnis über Missverständnis – bis schließlich über DNA-Analysen in den 1990er Jahren festgestellt wurde, dass die Zinfandel mit der in Apulien beheimateten „Primitivo“ identisch ist, von der aus man wiederum die Verbindung nach Dalmatien zog. (Unter dem Namen „Kratosija“ ist die Rebsorte auch in Montenegro und Nord-Mazedonien verbreitet.) Mittlerweile gilt als gesichert, dass die Rebsorte aus Kroatien kommt und über Italien den Weg in die USA und insbesondere nach Kalifornien fand, von wo aus sie international bekannt wurde.

Unter dem Namen Primitivo wird sie in Italien erstmals 1799 erwähnt – und heute hauptsächlich in Apulien angebaut. Dort wird sie traditionell im westlichen Salento kultiviert, vor allem auf den kalk– und eisenhaltigen Böden in Manduria, ihrer vielleicht bekanntesten Herkunft: Primitivo di Manduria DOCG.

Ihren Namen hat sie aufgrund des Umstands erhalten, dass sie selbst für italienische Verhältnisse früh ausreift, nämlich bereits im August. Ihre Bezeichnung ist ein Verweis auf diese relativ frühe Reife der Traube im Vergleich zu anderen süditalienischen Sorten, bedeutet „„primeuve“ doch nichts anderes als „frühe Traube“ im Sinne von „als erste reifend“. Später wandelte sich der Name dann in „Primitivo“. Die Rebsorte ist jedenfalls eine spätreifende Sorte und insofern ideal geeignet für ein warmes, mediterranes Klima – und folglich auch für alle genannten Anbaugebiete. Als wuchskräftige Pflanze fühlt sie sich insbesondere auch auf kargen Böden mit einer guten Drainage wohl. Sie kann dabei aber unter Trockenstress leiden – und ist andererseits bei zu viel Feuchtigkeit anfällig für Pilzerkrankungen und Fäulnis.

Eine Besonderheit der Rebsorte ist – ähnlich wie bei Chenin Blanc – der unterschiedliche Reifegrad der einzelnen Beeren innerhalb einer Traube: die Beeren reifen unterschiedlich aus, sodass sich reife und weniger reife Beeren in einer Traube bisweilen nebeneinander befinden. Deshalb sind mehrere Lesedurchgänge von Hand nötig, um unreife Trauben nicht mitzulesen, was natürlich sehr aufwändig ist.

Außerdem verwandeln sich reife Trauben – anders als bei Cabernet Sauvignon, mit dem er manchmal verglichen wird – relativ schnell in Rosinen, wenn sie nicht zügig geerntet werden. Nicht zuletzt deshalb sind für die Rebsorte zwar warme, aber nicht zu heiße Bedingungen perfekt – idealerweise etwas in der Höhe (wo Mourvèdre vielleicht nicht mehr ausreifen würde), wo die Witterung etwas kühler ist und sich der Wachstumsverlauf dadurch etwas verlangsamt. In Kalifornien praktiziert man das nördlich des warmen Napa Valley, wo die für Feuchtigkeit empfindliche Zinfandel, beispielsweise in der Appellation Dry Creek Valley, an den Bergflanken oberhalb der Nebellinie angepflanzt ist, wo sie von den kühleren Temperaturen profitiert.

Bleibt die Rebsorte zu lange zu viel Wärme ausgesetzt, bildet sie zum Beispiel beim Primitivo di Manduria in den vielen Sommerstunden Apuliens durch die Fotosynthese sehr viel Zucker auf, der dann während der Gärung in hohe Alkoholwerte metabolisiert (umgewandelt) wird. Oftmals jedoch hat die Rebsorte schon so viel aufgebaut, dass nicht der gesamte Zucker umgewandelt wird. Die Weine bleiben folglich süss. Das ist früher durchaus öfter passiert – so ist etwa der Primitivo Dolce naturale DOCG entstanden.

Heute liest man zwar früher, dennoch entstehen aus Primitivo fruchtige, körper- und alkoholreiche Weine, die kaum Säure aufweisen (insbesondere die vielen Landweine, die als IGT Puglia vermarktet werden). Etwas weniger wuchtig, dafür etwas würziger und aromareicher sind sie, wenn Primitivo im Ertrag reduziert wurde und aufgrund des Ausbaus im Barrique, der auch etwas weiche Tannine beisteuert. Mitunter werden Primitivo auch mit etwas Malvasia Nera verschnitten, durch den insbesondere florale Noten hinzukommen. Grundsätzlich sind die kellertechnischen Methoden und Möglichkeiten bei den zahlreichen Genossenschaften in Apulien zwar nicht so ausgefeilt wie in den vielen modernen „Wineries“ in Kalifornien, dennoch werden auch hier mitunter charaktervolle Weine gemacht.

Zinfandel wird heutzutage überwiegend in Kalifornien kultiviert, wo sie auf etwa 13.000 Hektar wächst und aus ihr sowohl kraftvolle, komplexe Weine hergestellt werden, als auch – in der Masse – eher schlichte (sogar halbtrockene Rosés, „White Zinfandel“ und „Blush Zinfandel“ genannt, findet man). Folgt man dem Historiker Charles Sullivan, wurde die Rebsorte 1825 unter den oben geschilderten Umständen in den USA eingeführt – und war bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Ostküste bekannt, zumindest erfuhr sie in den 1840er und 1850er Jahren Aufmerksamkeit in landwirtschaftlichen Publikationen. Um 1860 taucht sie dann auch in Kalifornien auf, vermutlich weil Stecklinge von der Ost- an die Westküste gelangten. (Folgt man hingegen den Angaben eines Rebschulbesitzers aus San José, wurde die Rebsorte 1852 unter dem Namen „Black St. Peters“ direkt aus Frankreich nach Kalifornien importiert.)

An der Westküste hat der Zinfandel schnell ein Renommee als ertragreiche Rebsorte gewonnen und sich im kalifornischen Weinbau etabliert, wo er den 1848 ausgebrochenen Goldrausch gewissermaßen begleitete. Galt Zinfandel aber um die Jahrhundertwende noch als der kalifornische „Claret“ („Bordeaux„), verlor er diese Wertschätzung dann im 20. Jahrhundert und wurde zum Massenwein – ihm widerfuhr dasselbe Schicksal wie dem Shiraz in Australien, der dort zur selben Zeit die meistangebaute Rebsorte wurde: Auf Qualität wurde weniger geachtet, oft wurde er auch in zu warmen und eigentlich ungeeigneten Lagen angepflanzt – Hauptsache, die Erträge waren hoch.

Das hat sich inzwischen geändert, das heißt, es gibt inzwischen auch ein Bewußtsein dafür, dass man mit Zinfandel feine Weine machen kann, wenn der Standort geeignet ist und man die Erträge entsprechend reduziert. Es bleibt abzuwarten, wohin die Entwicklung geht, jedenfalls wird die Rebsorte nicht nur in Kroatien wieder vermehrt angebaut, sondern erfährt in Kalifornien genauso zunehmendes Interesse wie inzwischen auch in Australien oder Südafrika.

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Carignan

Carignan ist eine dunkle, kräftige Rebsorte, die vornehmlich im französischen Midi verbreitet ist – und hier insbesondere im Languedoc. Ihren Ursprung aber hat Carignan tatsächlich in Spanien, vermutlich in der Gegend um die Ortschaft Cariñena in der Provinz Aragón, von wo aus sie sich ab dem 12. Jahrhundert zunächst nach Rioja ausbreitete und schließlich praktisch im gesamten Mittelmeerraum. In Rioja wird die Rebsorte „Mazuelo“ genannt, nach der Ortschaft Mazuelo de Muñó in der benachbarten Provinz Burgos, auf der iberischen Halbinsel gebräuchlicher aber ist die Bezeichnung „Cariñena“ nach dem vermeintlichen Anfang ihrer Verbreitung.

Obwohl die Rebsorte also ziemlich sicher aus Aragón stammt, wird sie dort, am Alta Ebro, praktisch nicht mehr verbreitet angebaut – in dem Wein der nach ihr benannten Appellation Cariñena ist sie sogar noch nicht einmal die bestimmende Rebsorte (sondern Garnacha). Stattdessen wird die Rebsorte in Spanien – abgesehen von Rioja – heutzutage hauptsächlich in Katalonien kultiviert, das heißt im Priorat und den umgrenzenden Weinanbaugebieten.

In Katalonien ist Cariñena die mit Abstand häufigste Rebsorte. Aber Weinbau im Priorat ist aufwändig: die Weinberge liegen in einem hügeligen Gebiet im Landesinneren in bis zu 900 Meter Höhe und auf steilen, vulkanischen Hanglagen mit dem „llicorella“ genannten Boden aus dunkelbraunem Schiefer und glitzerndem Quarzit. Der speichert die dringend notwendige Wärme in den kühlen Nächten und auch noch ausreichend Wasser – was bei einem jährlichen Niederschlag von kaum 400 Millimeter wichtig ist. Allerdings lassen der geringe Nährstoffgehalt und mitunter das Alter der Reben nur geringe Erträge zu (teilweise nur zwölf Hektoliter pro Hektar bei einer Rebdichte von durchschnittlich 5.000 Stöcken pro Hektar). Deshalb sind Weine aus dem Priorat grundsätzlich teuer.

Das ist in Südfrankreich anders: Im Midi hat Carignan vor sechzig Jahren die heutzutage völlig unbekannte Rebsorte Aramon als meistangebaute Rebsorte verdrängt, als man darum bemüht war, die im Juli 1962 durch die Unabhängigkeit Algeriens hinterlassene Lücke bei ertragreichem Verschnittwein aufzufüllen. In Algerien wuchs Carignan damals auf etwa 140.000 Hektar – nun sollte die von den heimgekehrten Algerienfranzosen, den sogenannten „pieds-noirs“ („Schwarzfüßen“) bereits im kolonisierten Maghreb angebaute Rebsorte auch massenhafte Verbreitung im Languedoc finden.

Das Ende des Algerienkriegs war in Südfrankreich gewissermaßen der Beginn einer wahren Explosion des Weinbaus – die schließlich dazu führte, dass die Europäische Union in zwei Programmen (1988 und 2007) neben Apulien auch im Languedoc Prämien für die Trockenlegung des europäischen „Weinsees“ bezahlte, mit der Folge, dass zehntausende Hektar Rebstöcke ausgehauen wurden („arrachage“ genannt) und die Anbaufläche so von über 400.000 Hektar auf die heutige Größe halbiert wurde. War Carignan in den 1960er Jahren in Frankreich noch die meistangebaute Rebsorte, liegt sie heute, was ihre Rebfläche anbelangt, hinter Merlot, Grenache, Syrah und Cabernet Sauvignon.

Obwohl Carignan spät austreibt und dadurch in kühleren Klimata seltener von Spätfrosten betroffen wäre, wird er praktisch nur in wärmerem Klima angebaut, weil er auch ausgesprochen spät reift. Carignan braucht insofern eine warme, mediterrane Umgebung – und zwar auch deshalb, weil er für eine Vielzahl von Rebkrankheiten anfällig ist, insbesondere auch für Fäulnis (nicht zuletzt deshalb war es insbesondere auch Carignan, der zur Entwicklung und weiten Verbreitung der Agrarchemieindustrie im südfranzösischen Weinbau ab den 1960er Jahren beitrug).

Dass Carignan trotz seiner Anfälligkeit dennoch verbreitet angebaut wurde, liegt daran, dass er beträchtliche Erträge von 200 Hektoliter pro Hektar und mehr bringt und sich insofern ideal zur lange gewinnbringenden Herstellung von Masserzeugnissen eignete. Und das, obwohl er für die maschinelle Bearbeitung insofern eigentlich ungeeignet ist, als dass sich die Trauben nur sehr widerständig von den Reben lösen (bei der maschinellen Lese wird der Rebstock mechanisch gerüttelt, woraufhin die Trauben abfallen). Carignan wird jedoch auch meist nicht am Drahtrahmen, sondern wächst in Buschform, was zur Handlese zwingt.

Wie in Rioja, wo Tempranillo und Garnacha den Wein dominieren und die dunkelhäutige Mazuelo nur als farbintensiver, säure- und tanninreicher „grober Klotz“ (David Schwarzwälder) für den Verschnitt fungiert, wird Carignan auch im Languedoc selten sortenrein gekeltert. Stattdessen wird er hier in größerem Umfang insbesondere als Verschnittwein für die vielen Cuvées der Region angebaut. Weine aus den zahlreichen Appellationen der Region sind praktisch immer Verschnitte von Grenache, Syrah, Mourvèdre, Cinsault und eben auch Carignan – und zwar in jeder Appellation anders beziehungsweise in einem anderen Verhältnis zueinander. Dabei bringt Carignan – die besser mit der Hitze zurecht kommt als beispielsweise Grenache, die manchmal etwas zu fruchtig- und alkoholbetont ausfällt – auch hier reichlich Säure, Tannin und Farbe in die Cuvées ein – aber praktisch kaum Aroma oder Charme, wird er im Ertrag nicht reduziert.

Um seine ausgepägten herben Tannine und seine geringe Aromatik auszugleichen, erfolgt bei Carignan hier im Midi oft eine „Máceration Semi-Carbonique„, bei der grundsätzlich ein geringerer Alkoholgehalt und wesentlich weniger Phenole beziehungsweise Tannine erzeugt werden, aber dafür fruchtigere, schlichtere Weine als bei der traditionellen Maischegärung.

Ansonsten aber versuchen inzwischen zunehmend mehr Winzer, auch reinsortige, lagerfähige Carignans herzustellen – dann allerdings fast durchweg aus alten Reben in besten Lagen und mit geringen Erträgen. Nicht selten werden solche Carignans, wie beispielsweise auch im Priorat, aufgrund ihres hohen Tanningehalts im Barrique ausgebaut, wo sie sich bisweilen auch als außerordentlich entwicklungsfähig erweisen (lagerfähig sind sie ohnehin). Im Priorat entstehen so wuchtige und muskulöse Weine, die in der Regel dunkelrot und tanninstark sind – und oft mit Aromen französischer Eiche (während man im übrigen Spanien gerne auf die günstigere amerikanische Eiche setzt).

So erlebt Carignan also gerade eine Art Wiederentdeckung – und das nicht nur im Priorat oder Languedoc, sondern auch in Südafrika oder Südamerika entstehen immer mehr Weine aus teils uralten Weinbergen. In Chile beispielsweise stehen im ältesten Anbaugebiet des Landes, Valle del Maule, in der Subregion Valle Central ganz im Süden, alte Carignan-Reben. Da der Niederschlag hier etwas höher ist als weiter nördlich in Santiago und es insgesamt etwas kühler ist, setzt man anstatt auf Masse darauf, das Potenzial der alten, bewässerungsfrei in kleinen Trockenrebbau-Parzellen als Buschreben kultivierten, ertragsarmen Carignan-Bestände auszuschöpfen.

Als „Carignano“ ist die Rebsorte darüber hinaus aber auch noch in Italien verbreitet, wo sie beispielsweise auf Sardinien eine eigene Appellation hat: Im heißen und trockenen Sulcis-Gebiet, einer Insellandschaft im Südwesten der Insel, wird der DOC Carignano del Sulcis gemacht, ein relativ tannin- und alkoholreicher Wein. Der Ertrag der sehr alten Carignan-Buschreben gilt mit 105 Hektoliter pro Hektar dabei durchaus noch als akzeptabel.

Neben Katalonien und dem Languedoc ist Sardinien sicherlich eine der vielversprechensten Regionen für Carignan. Ansonsten finden sich Bestände von ihm noch in Anbaugebieten mit wärmerem Klima in der ganzen Welt wie zum Beispiel etwa in Israel, dem Libanon oder Australien – und sogar in Polynesien.

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Mourvèdre

Mourvèdre gehört zu den autochthonen Rebsorten des westlichen Mittelmeerraums. Wahrscheinlich gelangte sie bereits im 6. Jahrhundert mit den Phöniziern nach Spanien, wo sie zunächst den Namen „Monastrell“ erhielt, der sich vom spanischen „Monasterio“ für „Kloster“ herleiten dürfte. Wie hierzulande hatten nämlich auch in Spanien die Klöster lange eine entscheidende Bedeutung für den Weinbau – und so wundert es nicht, dass es auch ein katalanischer Mönch war, der die Rebsorte 1381 als wichtigste Rebsorte Valencias bezeichnete (neben dem Bobal).

Heute nimmt Monastrell in Spanien mit über 100.000 Hektar Anbaufläche (was der in etwa der Gesamtanbaufläche Deutschlands entspricht!) den vierten Platz im Rebsortenspiegel ein. In den herkunftsgeschützten „Denominaciónes de Origen (DO)“ der spanischen Levante, insbesondere in Valencia, Jumilla und Yecla, ist sie eine der verbreitetsten Rebsorten – und wird dort reinsortig oder im Verschnitt mit Bobal angeboten. Während man in den 13.000 Hektar Rebfläche der flacheren Küstenregion der DO Valencia die Weine mitunter noch traditionell in Tonamphoren, sogenannten „Tinajas“ ausbaut, versucht man im kargen Hochland der DO Yecla hinter Alicante, in der Provinz Murcia, insbesondere aber in der wichtigsten Appellation für Monastrell, der DO Jumilla, der „tintigen“ Rebsorte moderne, elegantere Aspekte abzuringen. Denn gewöhnlich erbringt der dickschalige Monastrell körperreiche Weine mit viel Tannin und Alkohol bei eher geringer Säure (weshalb er mitunter auch mit Bobal verschnitten wird). Von der Aromatik her dominieren reife Brombeeren.

Nicht zuletzt aufgrund ihrer frühen Verbreitung in der Region um Valencia gilt die Rebsorte als ursprünglich spanische, gleichwohl jedoch dürfte sie unter ihrem französischen Namen „Mourvèdre“ bekannter sein. Dabei hat auch er seinen Ursprung in Spanien, denn seit jeher wird aus der Rebsorte hergestellter Wein über den Hafen in Murviedro, einem Ort in der Nähe von Sagunt in der Region Camp de Morvedre bei Valencia, nach Frankreich verschifft. Der Hafen wurde hier also namensgebend für die Rebsorte – und das gilt auch für den in Australien gebräuchlichen Namen für Mourvèdre, der dort „Mataro“ genannt wird, nach der Hafenstadt Mataró bei Barcelona, auch wenn unklar ist warum genau. Jedenfalls gibt es auf dem fünften Kontinent damit bestockte Rebflächen, genauso wie in den USA, insbesondere in Kalifornien, oder auch Südafrika.

Mourvèdre gilt zwar als robuste, aber anspruchsvolle Rebsorte im Hinblick auf ihre Anforderung an Wärme und Wasserversorgung, weshalb ihre Anbauflächen global betrachtet auch eher ab-, als zunehmen. Denn abgesehen davon, dass Mourvèdre ohnehin keine ertragreiche Rebsorte ist, braucht er ein warmes beziehungsweise heißes Klima, um aromatisch voll auszureifen – und dabei verhältnismäßig lange -, ist andererseits aber wenig genügsam und auf eine ausreichende Wasserversorgung dringend angewiesen. Nicht umsonst gibt es für Mourvèdre den Merkspruch: „Er liebt das Gesicht in der Sonne und die Füße im Wasser“.

Mourvèdre erweist sich insofern also als recht schwierig und anspuchsvoll im Anbau – und liefert am Ende doch nur eher geringe Erträge. Er treibt zwar spät aus, hat aber auch eine enorm lange Reifephase (er reift beispielsweise eine Woche später als Carignan und sogar einen Monat nach dem Gutedel), an deren Ende er unbedingt warme Temperaturen und Trockenheit braucht. Deshalb reift er perfekt im heißen und trockenen Klima von Jumilla, wo sich Monastrell an alle möglichen Bodenarten angepasst hat und aufrecht und kräftig wächst, weshalb er hier bisweilen in der traditionellen Buschform erzogen wird. Er ist aber umgekehrt bei Feuchtigkeit und Kälte anfällig für vielerlei Rebrankheiten wie etwa Echten und Falschen Mehltau. Nicht zuletzt deshalb läßt er sich in der Hitze und Sonne Spaniens sicherlich einfacher kultivieren als in den kühleren Weinbaugebieten Südfrankreichs, wo die Rebsorte ein weiteres Verbreitungsgebiet an der Mittelmeerküste zwischen den Pyrenäen und der Provence gefunden hat.

Man geht davon aus, dass die Rebsorte bereits im 16. Jahrhundert über die Grenze nach Frankreich kam (als das Roussillon noch zum Königreich Aragón gehörte), wo sie heute in Languedoc-Roussillon, an der Südlichen Rhône, insbesondere aber auch in der Provence eine bedeutende Rolle spielt. Auf immerhin 10.000 Hektar wächst Mourvèdre hier – bedeutend weniger als in Spanien, was jedoch an den klimatischen Bedingungen liegt: Mourvèdre braucht die Hitze, schon Höhen von 300 Meter können in der Provence deshalb zu Reifeproblemen führen. Gleichwohl hat er sich in der Enklave Bandol etabliert und wird hier sogar reinsortig ausgebaut.

Die Provence ist sicherlich die mediterranste Weinregion in Frankreich, gleichwohl braucht es auch hier warme Sommer, damit Mourvèdre ausreifen kann. Viele Rebflächen in der Region liegen allerdings in den Alpenausläufern im Norden und damit zu hoch für den Anbau der kälteempfindlichen Rebsorte. Das ist an der Küste anders, sodass Mourvèdre hier, trotz einer der längsten Reifezeiten überhaupt, voll ausreifen kann. Entsprechend findet sich die Rebsorte hier in einigen Appellationen – die bedeutendste ist zweifelsohne Bandol östlich von Marseille. (Wie die Rebsorte, aus der er besteht, ist auch der Wein benannt nach dem Hafen aus dem er verschifft wurde.) Im Anbaugebiet Bandol wird auf kieferngesäumten Terrassen Wein auf circa 1.500 Hektar angebaut, wobei Mourvèdre mindestens die Hälfte eines Bandols ausmachen muß, ansonsten kommen noch Cinsault und Grenache hinzu.

Die kleinen Terroirs für Mourvèdre in der Appellation sind recht unterschiedlich, wobei der meiste Wein in den „restanques“ genannten Terrassen angebaut wird. Bandol wurde hier traditionell nie in Barriques ausgebaut – die meisten Weine reifen in großen Foudres. So entstehen dunkle, körperreiche Weine mit kraftvollen Tanninen, die Flaschenreifung brauchen. Bandol sind nach einer Reifezeit von sechs bis sieben Jahren trinkreif – diese Zeit braucht der kräftige Wein aber, um seine mit einer vollmundigen Kräuterwürze unterfütterten Brombeeraromen zu entfalten.

Auch an der Südlichen Rhône wächst Mourvèdre, die Region ist jedoch so etwas wie die nördliche Randklimazone für die Rebsorte, in der sie gerade noch so auswächst). Mourvèdre dient hier vor allem als Verschnittpartner für Grenache und Syrah – und bildet insofern das „M“ in den in Australien salopp „GSM“ genannten Cuvées. Grenache bringt Frucht und Körper in diese Weine, Syrah Farbe und Mourvèdre Tannin. Der bekannteste Wein mit einem Mourvèdre-Anteil an der Südlichen Rhône dürfte aber der Châteauneuf-du-Pape sein.

Wie an der Rhône, wird Mourvèdre üblicherweise auch im Languedoc verschnitten – je nach Appellation in einem unterschiedlichen Verhältnis mit Syrah, Grenache, Cinsault und Carignan. Einige wenige Erzeuger bieten ihn mittlerweile aber manchmal auch reinsortig an. In Languedoc-Roussillon sind über 5.300 Hektar mit der Rebsorte bepflanzt – auch hier reift Mourvèdre aber nur in den wärmsten Lagen voll aus.

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Weinverkostung

Seit 1969 bemüht sich der international tätige Wine & Spirit Education Trust (WSET) mit Hauptsitz in London in der Ausbildung um ein systematisches Verkosten von Weinen nach einem strukturierten und methodischen Ansatz, der weltweit standardisiert ist. Dadurch soll einerseits eine gewisse Objektivität bei der Beurteilung von Wein gewährleistet und andererseits subjektive Geschmackseindrücke vergleichbar werden. Es geht darum, auf der Basis eines weltweit standardisierten Beurteilungsschemas Fähigkeiten zu entwickeln hinsichtlich der Weinbeschreibung – um dann auf dieser Basis einen Gesamteindruck zur Diskussion stellen zu können und Verkostungseindrücke auch intersubjektiv überprüfbar zu machen.

Dadurch, dass die Antwortmöglichkeiten mit Ausnahme der Beschreibung der Aromen (hier geht es um die Identifikation von Aromen, die eher von der Frucht, der Verarbeitung oder der Reifung und Lagerung herrühren) vorgegeben sind, wird gewissermaßen auch eine universale Weinsprache eingeführt, die die Vergleichbarkeit der Geschmackseindrücke garantieren soll. Es geht hier nicht um die Vergabe von Punkten, sondern darum, eine internationale Sprache für die Vergleichbarkeit von Weinen zu entwickeln.

Die Weinverkostung hat in der Ausbildung des WSET einen hohen Stellenwert und ist gleichbedeutend mit dem theoretischen Wissen über Wein(e) und Anbaugebiete. In diesem Sinn: studieren geht nicht über probieren …

Verkostungsschema

Das Verkostungsschema des Wine & Spirit Education Trust für das „Level 3“ (WSET Level 3 Systematisches Verkosten von Wein SAT ®) sieht folgendermaßen aus, das heißt beschrieben werden sollen folgende Eigenschaften eines Weins:

  • Optischer Eindruck
    • Klarheit (klar – trüb)
    • Farbtiefe (blass – mittel – tief)
    • Farbton:
      • grüngelb – zitronengelb – goldgelb – bernsteingelb – braun
      • Hellrosa – lachsfarben – orange
      • purpurrot – rubinrot – granatrot – braunrot – braun
    • Andere Eindrücke (z.B, Schlieren/Tränen, Depot, Perlage, Bläschen)
  • Geruch
    • Reintönigkeit (sauber – unsauber)
    • Intensität (verhalten – mittel (-) – mittel – mittel (+) – ausgeprägt)
    • Aromaausprägung: primär, sekundär und tertiär (siehe unten)
    • Entwicklungsstadium (jugendlich – erste Reifenoten – voll gereift – müde/Höhepunkt überschritten)
  • Geschmack
    • Süße (trocken – fast trocken – halbtrocken – halbsüß – süß – üppig)
    • Säure (niedrig – mittel (-) – mittel – mittel (+) – hoch)
    • Tannin (niedrig – mittel (-) – mittel – mittel (+) – hoch)
    • Alkohol (niedrig – mittel – hoch)
    • Körper (schlank – mittel (-) – mittel – mittel (+) – voll)
    • gegebenenfalls Mousse (fein – cremig – aggressiv)
    • Geschmacksintensität (zart – mittel (-) – mittel – mittel (+) – ausgepägt)
    • Geschmacksausprägung: primär, sekundäre und tertiäre Aromen (siehe unten)
    • Abgang (kurz – mittel (-) – mittel – mittel (+) – lang)
  • Gesamteindruck
  • Qualitätsbeurteilung
    • Qualität (fehlerhaft – schwach – durchschnittlich – gut – sehr gut – hervorragend)
    • Trinkreife/Reifungspotenzial (zu jung – kann getrunken werden, hat aber noch Reifepotential – jetzt trinken: ist nicht für Alterung oder weitere Lagerung geeignet – zu alt)

Im Gegensatz zu Geschmacksstoffen sind Aromastoffe Duftstoffe, die natürlich nicht auf der Zunge, sondern von Rezeptoren auf einer kleinen Fläche im oberen Nasenhöhlen-Raum, wo sich die Sinneszellen des Geruchssinns in der Riechschleimhaut befinden, als Geruch wahrgenommen werden. Mit ihrem Geruchssinn ist die menschliche Nase der Zunge beziehungsweise dem Gaumen zwar überlegen, beim Schmecken und Verkosten jedoch vermischen sich die im Gehirn empfangenen Geschmacks- und Geruchseindrücke zu einem Gesamteindruck, sodass der definitive Ursprung nicht mehr auszumachen ist. Beim Geschmack handelt sich im weiteren Sinn insofern um einen retro-nasalen Prozess, das heißt, die Geschmacksempfindung ist ein komplexes Geschehen sowohl des gustatorischen Geschmacks- als auch des olkfaktorischen Geruchssinns.

Dennoch geht es bei der Weinbeschreibung zunächst um das Aussehen und den Eindruck in der Nase (um das Bukett des Weines), erst danach um die Beschreibung von Aromen und Geschmacksnoten am Gaumen – aufgeteilt in primäre, sekundäre und tertiäre Aromen. Es geht dabei darum, dem Wein fünf passende Aromen zuzuordnen – und natürlich können sich die Aromen in der Nase am Gaumen wiederholen. Weist der Wein Aromen aus der Weinbereitung (sekundäre Aromen) oder bereits Reifenoten (tertiäre Aromen) auf, sollten diese gegebenenfalls durch die Angabe eines sekundären beziehungsweise eines tertiären Aromas identifiziert werden:

I. Primäre Aromen und Geschmacksnoten (die Aromen und Geschmacksnoten aus der Traube und aus der alkoholischen Gärung)

Zentrale Frage: Sind die Aromen

  • fein oder intensiv?
  • einfach oder komplex?
  • allgemein oder klar abgegrenzt?
  • frisch oder gekocht?
  • unreif, reif oder überreif?

Aromengruppen:

  • Floral (Akazie, Geißblatt, Kamille, Holunderblüte, Geranie, Blüten, Rose, Veilchen)
  • Grüne Früchte (Apfel, Stachelbeere, Birne, Birnendrops, Quitte, Traube)
  • Zitrusfrüchte (Grapefruit, Zitrone, Limette – Saft oder Schale?, Orangenschale, Zitronenschale)
  • Steinobst (Pfirsich, Aprikose, Nektarine)
  • Tropische Früchte (Banane, Litschi, Mango, Melone, Passionsfrucht, Ananas)
  • Rote Früchte (Rote Johannisbeere, Preiselbeere, Himbeere, Erdbeere, rote Kirsche, schwarze Pflaume)
  • Schwarze Früchte (Schwarze Johannisbeere, Brombeere, Heidelbeere, schwarze Kirsche, schwarze Pflaume)
  • Getrocknete/gekochte Früchte (Feige, Backpflaume, Rosine, Sultanine, Kirschwasser, Marmeladigkeit, gebacken, Fruchtkompott, Fruchtkonserve)
  • Krautig (grüne Paprikaschote, Gras, Tomatenblätter, Spargel, Schwarze Johannisbeerblätter)
  • Kräuterwürzig (Eukalyptus, Minze, medizinisch, Lavendel, Fenchel, Dill)
  • Scharfe Gewürze (schwarzer/weisser Pfeffer, Lakritze)
  • Andere (Feuerstein, nasse Steine, nasse Wolle)

II. Sekundäre Aromen und Geschmacksnoten (aus der Weinbereitung nach der Gärung)

Zentrale Fragen: Stammen die Aromen von

Aromengruppen:

  • Hefe bzw. Hefesatz, Autolyse (Biskuit, Brot, Toast, Brioche, Brotteig, Käse)
  • BSA (Butter, Käse, Sahne)
  • Eiche (Vanille, Gewürznelke, Muskatnuss, Kokosnuss, Karamellbonbon, Toast, Zedernholz, Holzkohle, Rauch, Schokolade, Kaffee, Harz)

III. Tertiäre Aromen und Geschmacksnoten (aus der Reifung)

Zentrale Fragen: Zeigen die Aromen

  • absichtliche Oxidation?
  • Fruchtentwicklung?
  • Flaschenreife?

Aromengruppen:

  • Absichtliche Oxidation (Mandel, Marzipan, Haselnuss, Walnuss, Schokolade, Kaffee, Toffee, Karamell)
  • Fruchtentwicklung Weißwein (getrocknete Aprikose, Marmelade, getrockneter Apfel, getrocknete Banane etc.)
  • Fruchtentwicklung Rotwein (Feige, Backpflaume, Teer, getrocknete Brombeere, getrocknete Preiselbeere etc., gekochte Brombeere, gekochte rote Pflaume etc.)
  • Flaschenreife Weißwein (Benzin/Petrolnote, Kerosin, Zimt, Ingwer, Muskatnuss, Toast, nussig, Pilze, Heu, Honig)
  • Flaschenreife Rotwein (Leder, Waldboden, Erde, Pilze, Wildbret, Tabak, vegetabil, feuchtes Laub, fleischig, Bauernhof)
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Cabernet Franc

Fast 33.000 Hektar sind in Frankreich mit Cabernet Franc bepflanzt, trotzdem zählt die rote Rebsorte hierzulande wohl eher zu den weniger bekannten Rebsorten. Und das, obwohl sie zu den ältesten bekannten überhaupt gehört und gerade auch in Bordeaux seit langem heimisch ist. Dabei hat Cabernet Franc hier an der Gironde gar nicht Ursprung, sondern stammt aus dem Baskenland, dem Grenzgebiet zu Spanien, von wo aus er ins Bordelais und im 11. Jahrhundert weiter an die Loire gelangte. Dort wird er 1534 auch zum ersten Mal erwähnt, allerdings noch unter dem Namen „Breton“, nach dem Abt, der sie hier einführte – nicht, weil das Weinanbaugebiet der Loire doch teilweise auch zur Bretagne gehört.

Von der Loire stammen die bekanntesten sortenreinen Weine von Cabernet Franc, seit sich Kardinal Richelieu im 17. Jahrhundert persönlich für die Rebsorte einsetzte. Das gilt insbesondere für die beiden Appellationen Chinon und Bourgueil in Anjou-Touraine, wo die früh blühende und reifende Sorte gut an die Bedingungen angepaßt ist: Chinon ist geprägt von sandigen, kieseligen Böden am südlichen Ufer der Loire – hier entsteht ein eher leichter, frisch-fruchtiger und früh trinkreifer Chinon mit wenig Tannin, während an den Südhängen am nördlichen Ufer der Loire, in Bourgueil, KalkTon-Böden vorherrschen, die für mehr Körper, Struktur und Tannin sorgen und wo leicht mineralische Cabernet Francs entstehen, die bisweilen in großen Eichenholzfässern ausgebaut werden.

Cabernet Fanc hat sehr kleine Beeren mit einer dünnen Schale, die in einem engen Zeitfenster ihre optimale Reife erlangen. Für die Winzer ist das mitunter eine Herausforderung – für die Lese bleibt dann oft nicht viel Zeit. Liest man ihn jedoch zu früh, hat er noch grasige Noten, nach dem idealen Lesezeitpunkt allerdings verliert er schnell an Geschmack. Dass Cabernet Francs an der Loire aber ausreift, beweist, dass die Rebsorte an sich robust ist und eher weniger Ansprüche an das Klima stellt: Zwar bevorzugt er ein ausgeglichenes und eher gemäßigtes Klima, kommt aber auch mit den kühleren Temperaturen an der Loire gut zurecht. Gleichwohl braucht Cabernet Franc dann zur Sonne hin exponierte Hanglagen, um voll ausreifen zu können.

Er entfaltet dabei auf kargen kalk– und sandhaltigen Böden sein intensivstes Aroma. Das heißt Weine von Cabernet Franc haben bisweilen wenig Körper und Tannin, aber eine gut ausgeprägte Säure und lebhafte, fruchtige und florale Noten bei voller Reife, die er auf warmen Böden mit guter Entwässerung erlangt. Ansonsten können aber auch kräuterige Aromen hervortreten. Insgesamt handelt es sich bei Cabernet Francs meist um ausgesprochen elegante Weine – auf jeden Fall im Vergleich zu Cabernet Sauvignon.

Cabernet Franc entstand ursprünglich aus einer natürlichen Kreuzung wilder Reben – und ist selber aber, laut moderner DNA-Analysen, Kreuzungspartner bei der Entstehung gleich zweier bedeutender Rebsorten, in deren Schatten er heute steht: Merlot und Cabernet Sauvignon. Kein Wunder also, dass sich das andere Hauptanbaugebiet für Cabernet Franc neben der Loire in Bordeaux befindet.

In Bordeaux wird Cabernet Franc gewöhnlich verschnitten. Sieht man von wenigen Weinen wie beispielsweise dem Château Cheval Blanc ab, spielt er dabei gewöhnlich eine untergeordnete Rolle. Das heißt, im Verbund mit Cabernet Sauvignon und Merlot leistet Cabernet Franc einen wesentlichen Beitrag zu Farbgebung, Struktur und Komplexität der bekannten Weine des Bordeaux. Ansonsten ist er typischerweise etwas leichter und hat zugänglichere Fruchtaromen als seine beiden Verwandten, sowie kräuterhafte Aromen, die man ansonsten eher in unreifem Cabernet Sauvignon finden würde.

Trotz seines Schattendaseins in Bordeaux fühlt sich Cabernet Franc auch hier, wie an der Loire, mit den kühleren und feuchteren Gegebenheiten insbesondere am rechten Gironde-Ufer (im Libournais, also in St. Émilion und Pomerol) wohl. Er treibt gewöhnlich bereits eine Woche vor dem Cabernet Sauvignon aus und reift entsprechend auch früher voll aus. Dadurch ist er eher trinkfertig als Cabernet Sauvignon, dafür aber auch heller in der Farbe und leichter im Tanningehalt, insgesamt etwas schlanker.

In Frankreich spielt Cabernet Franc, abgesehen von Bordeaux und der Loire, noch eine wichtige Rolle in den Regionen Cahors, Madiran und Fronton in Sud-Ouest. Durch seine anspruchslose Art eignet sich die ertragreiche Rebsorte – er liegt etwa vier Mal über dem von Cabernet Sauvignon – eigentlich auch gut für den Anbau in Deutschland, tatsächlich finden sich hierzulande aber nur 110 Hektar, auf denen Cabernet Franc wächst. Größere Flächen nimmt er ansonsten noch im Nordosten Italiens ein, in Friaul, sowie in Spanien, insbesondere aber auch in der sogenannten Neuen Welt, wo sich jeweils wenige hunderte Hektar in Australien, Neuseeland, Kanada, Uruguay und sogar Brasilien befinden.

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Tauberschwarz

Der Tauberschwarz ist eine urfränkische Sorte, die ihre Heimat im Taubertal hat – im bayrischen Steigerwald. Die Rebsorte bringt Weine hervor, die geschmacklich durchaus mit einem Spätburgunder vergleichbar sind – zumal sie bisweilen, wenn man sie zuvor im Ertrag begrenzt hat, oft sogar als Dritt- oder Viertbelegung im Barrique reifen, wo ihre rotfruchtigen Aromen noch mit etwas würzigeren ergänzt werden.

Allerdings ist die Bezeichnung „Tauberschwarz“ insofern etwas irreführend, als dadurch womöglich die Erwartung auf einen tiefdunklen Rotwein geweckt wird, was allerdings nicht zutrifft: Da sich die Farbpigmente beim Rotwein stets in der Beerenhaut befinden, der Tauberschwarz aber eher „dünnhäutig“ ist, kann daraus auch nur ein heller Wein gekeltert werden. Zur Stabilisierung ihrer von Natur aus ganz und gar nicht schwarzen, sondern geradezu lichten Farbe sollte er deshalb auf jeden Fall, wenn schon nicht im Barrique, so zumindest im Holzfass ausgebaut werden.

Um auszureifen benötigt Tauberschwarz nach Süden, zur Sonne hin exponierte, steile Lagen. Deshalb, und wegen des dichten Wuchses seiner Triebe, ist Tauberschwarz eine relativ arbeitsintensive Rebsorte – jedenfalls etwa doppelt so aufwändig wie Spätburgunder.

Auch wenn seine ursprüngliche Herkunft unklar ist, gilt der Tauberschwarz als eine der ältesten Rotweinsorten des Taubertals, wo er traditionell seit dem 16. Jahrhundert angebaut wird – seit damals ist die Rebsorte in Franken heimisch und insbesondere für die Flusslandschaft um die Tauber und den Vorbach inzwischen sogar fast identitätsbildend.

Der Tauberschwarz wurde um 1559/60 als namenlose Rebe hier angepflanzt und hat sich zunächst als „Blaue Frankentraube“ in der Region verbreitet. Im 16. Jahrhundert wurde der Tauberschwarz, dem man eine heilende Wirkung bei Verdauungsproblemen zuschrieb, noch als Teil des „Huntschs“ angebaut – eines Weines, der, anders als der „Frentsch“, nicht dem Zehnt unterlag und im Mischsatz angebaut wurde. Die Unterscheidung zwischen „huntschen“ beziehungsweise „hunnischen“ und höherwertigen „frentschen“ beziehungsweise „fränkischen“ Rebsorten geht auf Karl den Großen (742-814) zurück: Als „fränkisch“ gelten dabei jene Rebsorten, die er nach der Eroberung Galliens mit nach Deutschland brachte – wobei sich die Bezeichnung „fränkisch“ nicht auf „Frankreich“ bezieht, das es damals noch gar nicht gab, sondern auf die historische Region „Franconia“, das heutige Franken -, während die „hunnischen“ ihren Namen den damals gefürchteten „Hunnen“ zu verdanken haben. Der „Huntsch“ war als „Gemischter Satz“ insofern ein Wein, dessen Traubenmaterial aus verschiedenen weniger bedeutsamen Rebsorten bestand, die aus einem Weingarten stammten und gemeinsam verarbeitet wurden, um die Chancen zu erhöhen, bei einem witterungs- oder krankheitsbedingten Ausfall einer Rebsorte nicht die komplette Ernte zu verlieren.

Erstmals als „Tauberschwarz“ erwähnt wurde die Rebsorte in einem Dekret des Hochstifts Würzburg aus dem Jahr 1726, in dem von einer „Tauber schwarze Weinbergsfexer [Rebe]“ gesprochen wird – während gleichzeitig die ursprüngliche Bezeichnung „Blaue Frankentraube“ fälschlich dem „Blaufränkisch (Lemberger)“ zugeordnet wurde. Übernommen wurde der Name „Tauberschwarz“ jedoch bereits zum Beispiel in den „Fränkischen Sammlungen von Anmerkungen aus der Naturlehre“, einer Nürnberger Zeitschrift, die in den Jahren zwischen 1757 und 1768 erschien.

In der Zeit um 1830 hatte der Weinbau im Taubertal flächenmäßig seine größte Ausdehnung – und der Tauberschwarz war, neben dem Gutedel und dem Silvaner, mit die wichtigste Rebsorte der Region für die nächsten Jahrzehnte. Dann allerdings ist sie durch Rebflurumlegungen in den 1950er Jahren fast ausgestorben – weil zahlreiche Mischsatzanlagen in dieser Zeit gerodet wurden. Das heißt, 1959 galt der Tauberschwarz angesichts der Flurbereinigungen und des generellen Rückgangs des Weinbaus im Taubertal als ausgestorben – bis man entdeckte, dass in einer Parzelle im Ebertsbronner Weinberg etwa 400 Rebstöcke überlebten.

Auf der Basis dieses Fundes versuchte man dann zu Beginn der 1960er Jahre in der staatlichen Forschungseinrichtung Weinsberg, die beinahe verloren gegangene Rebsorte durch Züchtung wieder zu beleben – und 1987 wurde schließlich der Antrag auf Eintragung in die Sortenliste gestellt, auf die 1994 die Registrierung des Klones „We 600“ folgte. Seither ist der Tauberschwarz wieder für den Anbau zugelassen.

Seit der ersten Neuanpflanzung der Rebsorte 1996 in Röttingen sind die Rebflächen für Tauberschwarz wieder auf heute zwölf Hektar angewachsen, auf Tauberfranken entfallen dabei annähernd vier Hektar. Die Rebsorte wächst hier im fränkischen Teil des Taubertals auf Muschelkalkboden, der mit weißen Quarzadern durchzogen ist, dem sogenannten Feuerstein (Flint). Das ist ungewöhnlich – und gibt der ohnehin interessanten Rebsorte nochmal einen Funken Spannung zusätzlich.

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Gemischter Satz

Die Legende besagt, dass Karl der Große (742 bis 814) an einem eiskalten Frühjahrsmorgen von seiner Pfalz in Ingelheim (in Rheinhessen) über den Rhein blickte und bemerkte, dass nur auf dem Johannisberg der Schnee bereits geschmolzen war, woraufhin er unverzüglich Anweisungen gegeben haben soll, dort Weinreben zu pflanzen. Das war der Beginn des Weinbaus im Rheingau. Und auch der im 12. Jahrhundert aus dem Burgund eingewanderte Benediktinerorden sollte die besondere Eignung des Johannisberg für den Weinbau erkennen, insbesondere für den Anbau von Riesling. Denn 1720 bestockten sie den gesamten Berg damit – und bepflanzten damit erstmals einen kompletten Weingarten mit einem „reinen Satz“ aus einer einzigen Rebsorte.

Bevor die Benediktiner in ihrer Abtei auf dem Johannisberg die 294.000 Riesling-Rebstöcke setzten, war es im deutschen Weinbau üblich, dass verschiedene unterschiedliche Reben als „Mischsatz“ beziehungsweise „Gemischter Satz“ auf einer Fläche zusammen kultiviert wurden. Man unterschied dabei nicht zwischen einzelnen Rebsorten, sondern eine vielfältige Auswahl wurde einfach wild durcheinander gemischt in einem Weinberg gepflanzt. Ein „Gemischter Satz“ ist insofern ein Wein, der aus dem Traubenmaterial verschiedener Rebsorten gekeltert wurde, die aus einem Weingarten stammen und gemeinsam verarbeitet wurden.

Grund dafür war früher der witterungs- oder krankheitsbedingte Ausfall einer Rebsorte im relativ kühlen und feuchten Klima Deutschlands: Durch den Anbau verschiedener Sorten unter gleichen Bedingungen wollte man die Chancen erhöhen, bei ungünstigen Witterungsverhältnissen wie zum Beispiel Frost oder dem Befall mit einer Pilzkrankheit nicht die komplette Ernte zu verlieren. Die gemeinsame Anpflanzung unterschiedlicher, jeweils mehr oder weniger aromatischer, krankheitsresistenter oder ertragssicherer Rebsorten erhöhte die Chancen, dass zumindest manche von ihnen ausreifen und der Wein dadurch eine gewisse Mindestqualität hatte, auch wenn das Ergebnis geschmacklich jedes Jahr anders ausfallen konnte. Es verringerte jedenfalls das Risiko eines Gesamtausfalls.

Gewöhnlich wurden deshalb bis zu sieben Rebsorten mit unterschiedlichen Reifezeitpunkten (früh- bis spätreifend) oder auch unterschiedlichem Säuregrad gemischt angepflanzt, wobei diese je nach Anbaugebiet variierten. Unabhängig davon aber war das Ergebnis dann überall meistens ein hellroter Wein, da auch zwischen weißen und roten Sorten nicht unterschieden wurde – ähnlich wie bei einem Rotling heutzutage, bei dem Rot- und Weißwein-Trauben gemeinsam gekeltert oder vinifiziert werden (nach diesem Prinzip werden der Badisch Rotgold in Baden, Schillerwein in Württemberg oder Schieler in Sachsen gemacht).

Gleichwohl hat der „Gemischte Satz“ nichts mit einer „Cuvée“ beziehungsweise einem „Verschnitt“ („Assemblage“) gemein, werden bei einer Cuvée doch separat gepflanzte Rebsorten aus unterschiedlichen Weinbergen oder Weinbergslagen miteinander gekeltert (man spricht dann auch von einer „Mischgärung“) oder verschnitten (beim Verschnitt werden separat vergorene Weine zusammengemischt). Und schmeckt ein „Gemischter Satz“ jedes Jahr anders, erfolgt die Zusammenstellung einer Cuvée gerade auch im Hinblick darauf, jedes Jahr einen geschmacklich gleichbleibenden, wiederkennbaren Wein zu machen.

Während die Herstellung von Cuvées inzwischen aber eine weit verbreitete Praxis geworden ist, gibt es heutzutage kaum noch Weinberge in Deutschland, in denen ein Mischsatz angelegt ist. Der Grund dafür liegt insbesondere in der Reblauskrise Ende des 19. Jahrhunderts, die zur Folge hatte, dass praktisch alle Anbauflächen komplett neu bestockt werden mußten. Dabei brachten die Winzer – wie schon die Benediktiner am Johannisberg – ihr über Jahrhunderte gesammeltes Erfahrungswissen darüber mit ein, welche Rebsorte sich für einen bestimmten Standort besonders eignet – entsprechend wurde nun auch reinsortig, das heißt im „reinen Satz“ bestockt.

Mit der reinsortigen Bestockung der Weinanbauflächen sollten im Mischsatz angelegte Weinberge beinahe verschwinden – sieht man von wenigen Ausnahmen insbesondere in Franken ab, die als „Alter Fränkischer Satz“ zumindest bis in die 1970er Jahre überlebten, als die Weinlandschaft im Zuge der Novellierung des Weingesetzes und der damit verbundenen Flurbereinigung neu geordnet wurde.

Der „Alte Fränkische Satz“ bestand traditionell aus mehreren klassischen und fränkischen Rebsorten wie Grüner, Gelber, Roter und Blauer Silvaner oder dem historischen Heunisch. Dabei unterschied man schon seit Karl dem Großen (742-814) bei der jeweiligen Sortenzusammenstellung zwischen edlem „vinum francium“, auch „Frentsch“ genannt, und dem gemeinen „vinum hunicum“, auch „Huntsch“ genannt (man unterschied also, anders gesagt, zwischen „fränkischen“ Rebsorten und „hunnischen“, die man gelegentlich auch „welsche“ nannte, wie beispielsweise den „Welschriesling“). Als „fränkisch“ gelten dabei jene Rebsorten, die Karl nach der Eroberung Galliens mit nach Deutschland brachte, während die „hunnischen“ ihren Namen den damals gefürchteten „Hunnen“ zu verdanken haben. Entsprechend wurde der höherwertige „Gemischte Satz“ als „Frentsch“ bezeichnet, der bis nach Frankreich gehandelt wurde, allerdings auch dem Zehnt unterlag. Der „Huntsch“, aus weniger bedeutsamen Rebsorten wie beispielsweise dem Tauberschwarz, war davon hingegen befreit – er durfte von den Weinbauern („Häcker“) frei von Abgaben angeboten werden.

Der „Alte Fränkische Satz“ wurde traditionell in Buscherziehung kultiviert, wobei die Fruchtruten an einen Holzpfahl gebunden wurden und über den Winter zum Schutz vor Frost aber im Boden eingegraben wurden. Die Reberziehung war also aufwändig – und so ging man auch in Franken zunehmend dazu über, reinsortig Riesling und Silvaner anzupflanzen, was den alten Mischsatz nach und nach verdrängte. Spätestens die Flurbereinigung in den 1970er Jahren bedeutete auch für ihn praktisch das Ende – der „Alte Fränkische Satz“ hat fortan nur noch in Lagen der sogenannten „zweiten Kategorie“ überlebt, die keinen Veränderungen unterworfen waren.

Heutzutage wird in Franken vereinzelt wieder ein „Fränkischer Satz“ mit typischen Rebsorten des Anbaugebiets angeboten. Allein, der Begriff „Gemischter Satz“ darf hierfür nicht verwendet werden, das heißt, er darf nur auf dem Rückenetikett angeführt werden. Das hat damit zu tun, dass sich Österreich den Begriff „Gemischter Satz“ 2009 schützen ließ. Seit dieser Zeit ist der Begriff innerhalb der Europäischen Union ausschließlich für Weine aus der „Alpenrepublik“ zugelassen, wo der „Gemischte Satz“ etwa drei Prozent der Gesamtrebfläche ausmacht, was etwa 1.400 Hektar entspricht. Neben Gebieten in der Steiermark sowie im Carnuntum und im Wagram sticht dabei insbesondere Wien hervor, wo der „Wiener Gemischte Satz“ seit 2013 sogar eine eigene Appellation ist.

Der „Wiener Gemischte Satz“ ist die einzige DAC („Districtus Austriae Controllatus“) in Wien. Gleichwohl zeigt er die Bedeutung des Weins in der österreichischen Metropole an: Wohl keine andere Hauptstadt der Welt ist dem Wein so verbunden wie Wien – sie gilt als einzige Hauptstadt mit Weinbau. Es gibt hier 610 Hektar Weinberge, allein 180 Hektar davon entfallen auf den „Gemischten Satz“. Nicht zuletzt dürfte dazu Kaiser Joseph II. beigetragen haben, indem er 1784 mit der sogenannten „Zirkularverordnung“ die Voraussetzungen für den bis heute geschätzten Heurigen schuf: Es erlaubte jedermann, seinen selbsterzeugten Wein „zu verkaufen und auszuschenken“. Und der typische, traditionell bei einem Heurigen ausgeschenkte Wein ist nun einmal der „Gemischte Satz“.

Die Wiener Weinberge überziehen die umliegenden Hügel der Stadt bis hinauf zum Wienerwald. Wien mit seinen Großlagen Bisamberg, Kahlenberg, Nussberg und Georgenberg (zu den besten Einzellagen zählen sicherlich der Nussberg am Südufer der Donau und der Bisamberg am Nordufer) liegt dabei im Einfluss des pannonischen Klimas und auch die Donau trägt in ihrer Funktion als Klimaregulator ihren Teil zu den guten klimatischen Verhältnissen bei. Der Boden besteht aus Löss, Schiefer und Kalk. Hier wächst der „Wiener Gemischte Satz DAC“, für den es – anders als für den anderen bekannten „Gemischten Satz“ in Österreich: den „Steirischen Mischsatz“ – bestimmte, genau definierte weinrechtliche Vorgaben gibt. Das heißt, laut DAC-Regularien muss der „Wiener Gemischte Satz“ aus mindestens drei, aus einem gleichen Weingarten stammenden Rebsorten bestehen, wobei die Hauptrebsorte maximal 50 Prozent, die Dritte mindestens 10 Prozent haben muss. Weiters ist vorgeschrieben, dass der Wein ein Verschnitt aus verschiedenen Weißwein- und bis maximal 15 Prozent Rotweinsorten sein darf.

Der „Wiener Gemischte Satz“, der auch der traditionelle „Wiener Heurige[nwein]“ ist, zeichnet sich insbesondere durch seine Komplexität und vielfältige Aromen aus. Das gilt auch für andere Mischsätze in Europa, insbesondere aus solchen Regionen mit vielen autochthonen Rebsorten wie beispielsweise dem Dourotal in Portugal, wo die Rebstöcke für die sechs für Portwein zugelassenen Rebsorten bisweilen noch immer im Mischsatz angelegt sind. Ansonsten sind Mischsätze auch noch im Languedoc üblich, in Ungarn oder auf Sizilien – und sogar im Burgund gibt es eine eigene, etwa 430 Hektar große Appellation an der Côte d`Or dafür: die AOP Bourgogne Passe-Tout-Grain für Weine aus Gamay und Spätburgunder.

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Viognier

Von der Rebsorte Viognier entstehen goldgelbe, hocharomatische, körperreiche Weißweine mit einer öligen Textur und intensiv duftenden, floralen Noten und solche reifer Aprikose, Pfirsich und Mango. Weine von Viognier sind eher säurearm, aber alkoholstark – sie besitzen häufig hohe Alkoholwerte von 13,5 bis 14,5 Volumenprozent, da die Trauben ihre charakteristische Aromatik erst sehr spät bei schon sehr hohen Zuckerwerten entwickeln. Vollreif kann Viognier insofern hohe Oechslegrade erreichen, baut dabei aber seine Säuren rasch ab, weshalb der Lesezeitpunkt wichtig ist, damit die Weine nicht zu alkohol- und körperreich ausfallen.

Nicht zuletzt aufgrund ihrer Aromatik ist Viognier sicherlich eine der spannendsten Weißweinsorten überhaupt – die Winzer aber haben das Problem, dass sie anfällig für Rebkrankheiten ist, insbesondere für Echten Mehltau, was bei der ohnehin nicht sehr ergiebigen Rebsorte dann noch mit erheblichen zusätzlichen Einbußen verbunden ist. Die Rebe war zwar früher in der Gegend südlich von Lyon ziemlich stark verbreitet und wächst auch seit Jahrhunderten an der Nördlichen Rhône, wo vermutlich auch ihre Heimat liegt – in Condrieu oder in Ampuis, wo Viognier erstmals 1781 urkundlich erwähnt wird; Wegen seiner schwachen Erträge gingen die Bestände allerdings kontinuierlich zurück, sodass die Rebsorte in Zusammenhang mit der Reblauskrise Ende des 19. Jahrhunderts beinahe verschwand.

Danach fand Viognier lange keine Beachtung und war deshalb sogar kurz davor, komplett vergessen zu werden. Nur noch 14 Hektar waren 1968 an der Nördlichen Rhône zu verzeichnen – in den drei Appellationen Condrieu, Château Grillet und in noch geringerem Umfang Côte Rôtie, wo sie jedoch nur in Weine von Syrah mit bis zu 20 Prozent zugegeben wird, was den Weinen mehr Struktur und farbliche Stabilität geben soll (womöglich auch etwas zusätzliche aromatische Intensität), auch wenn das heute kaum noch praktiziert wird.

Dann aber erlebte die Rhône mit ihren kraftvollen Weinen in den 1980er Jahren einen Aufschwung, von dem auch Viognier profitieren sollte. Rasch entwickelte sich der Bestand – der in Frankreich bis zum Jahr 2015 insgesamt auf über 6.300 Hektar anwuchs, der überwiegende Teil davon an der oberen Rhône. In den Appellationen Condrieu und Château Grillet am Oberlauf der Rhône ist der Viognier jedenfalls die einzig zugelassene Rebsorte. Vor allem in Condrieu werden dabei zweifelsohne die hochwertigsten (aber auch teuersten) Weine von ihm produziert.

Das Renommee der Weine aus der AOP Condrieu hat sicherlich zum Aufschwung von Viognier beigetragen. Viognier wird hier mitunter im Barrique ausgebaut – nichtsdestotrotz sind die Weine nicht wirklich lagerfähig und sollten noch frisch getrunken werden, wenn ihre duftig-aromatischen Qualitäten noch ausgeprägt sind und sich die von Natur aus etwas zurückhaltende Säure noch etwas von ihrer Frische bewahrt hat.

In Condrieu, wie überhaupt an der Rhône, verursacht der Mistral seit jeher Probleme beim Anbau von Viognier, weshalb Anpflanzungen nur an windgeschützten Standorten erfolgen sollten. Da Viognier schon früh austreibt, besteht außerdem auch immer das Risiko, dass er Frühjahrsfrösten zum Opfer fällt. Allerdings ist die Rebsorte relativ unempfindlich gegen Trockenheit, das heißt, wenn Viognier vor Wasserstress bewahrt wird, ist er sogar eher für warme, als für kühlere Regionen wie die Nördliche Rhône geeignet. Ausgereift schützt ihn hier allerdings seine relativ dicke Beerenhaut gegebenenfalls auch vor Fäulnis.

Seiner Widerstandsfähigkeit gegen Trockenheit verdankt der Viognier, dass er nicht nur an der Rhône, sondern auch auch im Languedoc seit Anfang der 1990er Jahre vermehrt gepflanzt wird. Gab es vor 1989 nicht einen einzigen Rebstock von ihm in Südfrankreich, entstanden Anfang der 1990er Jahre schon eine ganze Reihe duftiger, leichter sortenreiner Viognier-Weine – und zwar aus Beständen, die von anderen Rebsorten umververedelt worden waren -, die allerdings nicht die Komplexität der Weine aus seiner Ursprungsregion erreichten.

In Deutschland hingegen war die Rebsorte lange überhaupt nicht zu finden. Aufgrund der zunehmenden Klimaerwärmung beginnt man jedoch, Viognier auch hierzulande anzupflanzen – immerhin 23 Hektar waren 2020 schon damit bestockt. Ansonsten sind es derzeit weltweit etwa 12.000 Hektar, auf denen Viognier angebaut wird. Anpflanzungen findet man in Kalifornien und anderen Regionen der USA, sowie in Australien und Neuseeland, aber auch in Südafrika und sogar in Uruguay.

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Syrah (Shiraz)

Etwa 180.000 Hektar sind weltweit mit Syrah bestockt, obwohl eigentlich erst seit den 1990er Jahren ein wachsendes Interesse an dieser Rebsorte zu bemerken ist. Lange war nicht klar, welchen Ursprung Syrah hat, inzwischen aber gilt als gesichert, dass Syrah von der Nördlichen Rhône kommt, wo er 1781 auch erstmals als „Sira“ erwähnt wird. Auch heute noch gilt die Rhône als bekanntesten Anbaugebiet für die Rebsorte, wo die hochwertigsten Weine von ihm wohl in den Appellationen Côte Rôtie und Hermitage an der Oberen Rhône entstehen.

Syrah ist eine ertragreiche Rebsorte, die spät austreibt, aber auch ausreift. Seine Beeren sind dann – ähnlich wie bei Cabernet Sauvignon – klein, dick und dunkel und ergeben Weine mit vollem Körper, gut strukturierter Säure und reichlich Tannin. Sie sind in der Regel dunkelrot, zeigen in der Nase florale Noten (Veilchen) und haben Aromen von schwarzen Früchten sowie manchmal auch schwarzem Pfeffer. Die tiefen, dunklen, dichten Qualitäten werden jedoch beeinträchtigt, wenn seine Erträge nicht reduziert werden oder er zu lange am Stock bleibt – Syrah verliert dann viel von seinem Aroma und seiner Säure.

Gerade an der Nördlichen Rhône, aber auch in anderen Regionen, muss dabei sehr darauf geachtet werden, wo Syrah angebaut wird, denn er wächst hier am äußersten Rand der Klimazone, wo die Südexpostion für die Reife von Syrah entscheidend ist. Weiter nördlich beziehungsweise in einem zu kühlen Klima reift er nicht mehr aus und entwickelt dann auch unangenehme kräuterige Noten.

Der Stil des Syrah hängt also sehr vom Klima ab, in dem er heranreift – je weiter im Norden, desto besser sind zur Sonne hin exponierte Südhänge wie eben beispielsweise Côte Rotie („gerösteter Hang“). Verantwortlich dafür, dass an der Nördlichen Rhône zu 95 Prozent Syrah angebaut wird, ist neben der Südexpositoin der meisten Weinberge dabei insbesondere die Nachtkälte, denn sie wirkt sich positiv auf die Säureentwicklung des Syrah aus. Der Syrah von hier ist deshalb auch überhaupt nicht mit einem Syrah aus dem Barossa Valley in Australien zu vergleichen, wo er „Shiraz“ genannt wird und wo es natürlich viel wärmer ist, weshalb der Wein von dort auch alkoholhaltiger, körperreicher und „marmeladig“ ist.

Gegenüber einem Shiraz ist ein Syrah von der Rhône idealerweise eleganter und hat bisweilen eine gut strukturierte Säure, ist aber auch würziger und tanninreicher, adstringierender. Das hat damit zu tun, dass man den Tresterhut während der Maischegärung immer wieder von Hand mit einem Stössel untertaucht („Pigeage“), um viel Extraktion zu erreichen. Syrah-Weine werden hier gewöhnlich nicht im Barrique ausgebaut, denn größere Holzfässer ermöglichen schlankere Weine. Eine feinere Tanninstruktur versucht man dann durch eine verlängerte Mazeration nach der Gärung zu erreichen.

Manchmal wird auch ein geringer Anteil der weißen Rebsorte Viognier beigemengt, was den Weinen mehr Struktur und farbliche Stabilität geben soll (womöglich auch etwas zusätzliche aromatische Intensität). Bis zu zwanzig Prozent sind erlaubt, allerdings wird das heutzutage kaum noch praktiziert. Ohnehin kann die Gesamtkonzentration an Farbpigmenten in Syrah-Trauben bis zu 40 Prozent höher liegen als bei der dunklen Carignan. Nicht zuletzt auch deshalb ist Syrah grundsätzlich gut geeignet für längere Reifezeiten – die er bei den hohen Säure- und Tanningehalten der Weine von der Rhône mitunter auch braucht.

Syrah verlangt, um voll zur Reife gelangen zu können, ein warmes Klima, und das setzt seiner Verbreitung von vornherein Grenzen. Gleichwohl hat die Rebsorte ihren Weg auch in die sogenannte Neue Welt gefunden, wobei außerhalb Frankreichs wohl nirgends mehr Rebflächen mit Syrah bestockt sind als in Australien: Er ist hier mit etwa 45.000 Hektar Anbaufläche (insbesondere in Hunter Valley, McLaren Vale und Barossa Valley) die am meisten angebaute Rebsorte, wobei Barossa Valley als Wiege des australischen Shiraz gilt – berühmte Weine wie etwa Henschkes „Hill of Grace“ sind hier entstanden. Angefangen hat aber alles mit James Bushby, einem Einwanderer aus dem schottischen Edinburgh, der die Rebsorte 1832 in Australien einführte.

Inzwischen wird Shiraz in den meisten Regionen großflächig kultiviert. Wo es heiß ist, etwa im Hunter Valley, oder zumindest warm, wie im Barossa Valley, können körperreiche, intensiv fruchtige Rotweine entstehen mit geschmeidigen, weichen Tanninen und deutlichem Eichenholzeinfluß. Anders als an der Nördlichen Rhône, wo fast ausnahmslos reinsortige Syrah entstehen, wird Shiraz in Australien allerdings oft mit Cabernet Sauvignon verschnitten, der im Wein dann die weiche Rolle – wie Merlot in einem Bordeaux – übernimmt.

Im Unterschied zu den Winzern an der Rhône sind die australischen „Winemaker“ völlig frei von Einschränkungen durch gesetzliche Vorgaben oder alte Traditionen: der Önologe ist der einzig bestimmende Faktor der Produktion – und auch das Terroir spielt oft nur eine untergeordnete Rolle. Nicht zuletzt deshalb wird Shiraz hier bisweilen – anders als an der Rhône – relativ rasch in Barriques aus amerikanischer Eiche vergoren und gerät körperreich mit deutlicher Fruchtbetontheit und hohem Alkoholgehalt. Andererseits aber erzeugen manche Winzer inzwischen auch Shiraz-Weine in einem ähnlichen Stil wie an der Rhône, das heißt mit sanfter Extraktion und indem sie versuchen, viel Alkohol durch eine frühere Lese zu vermeiden. Ihre Weine sind zurückhaltender, schlanker und pfefferwürziger – wie in den kühleren Regionen des Landes (Geelong beispielsweise).

Sieht man von den alten Buschreben in Barossa Valley ab – Syrah ist windempfindlich und braucht eigentlich Unterstützungssysteme während der Wachstumsphase. Deshalb wird er an der vom Mistral durchtosten Nördlichen Rhône traditionell einzeln am Pfahl erzogen, während ansonsten moderne Drahtrahmensysteme zur Reberziehung verwendet werden. Dieses System ist aber mit Aufwand und Kosten verbunden, weshalb es erst relativ spät, in den 1980er Jahren, auch an der Rhône eingeführt wurde.

Noch länger hat es im Languedoc gedauert – weshalb Syrah dort eine eher neue Rebsorte ist, die sich zwar perfekt für das heiße mediterane Klima hier eignet, aber erst etabliert wurde, als man mit der Umstellung des Weinbaus von Quantität auf Qualität begann: Ähnlich wie im süditalienischen Apulien, hat die Europäische Union in zwei Programmen – 1988 und 2007 – auch in Südfrankreich Prämien für die Trockenlegung des europäischen „Weinsees“ bezahlt, mit der Folge, dass zehntausende Hektar Rebstöcke ausgehauen wurden („arrachage“ genannt) und die Anbaufläche so von über 400.000 Hektar auf die heutige Größe halbiert wurde. Gleichzeitig aber hat man damit begonnen, neue, hochwertigere Rebsorten wie eben Syrah auf den noch bestehenden Rebflächen anzubauen.

Inzwischen hat Syrah in ganz Südfrankreich einen enormen Zuwachs erlebt, sodass allein im Languedoc etwa 44.000 Hektar mit ihm bestockt sind, insbesondere in den Départements Gard und Hérault. Syrah wird dort als „Verbesserungssorte“ betrachtet, die den Weinen mehr Struktur verleiht, und dient deshalb als offizieller Verschnittpartner für Grenache, Mourvèdre, Carignan und Cinsault in praktisch allen Appellationen.

Auch an der Südlichen Rhône hat die Rebsorte inzwischen ein höheres Renommee – vor allem in der Appellation Châteauneuf-du-Pape -, allerdings wird sie auch hier hauptsächlich als Verschnittpartner für Grenache, Mourvèdre und Cinsault verwendet. Das gilt auch für die Provence, wo sie in der Kombination mit Cabernet Sauvignon an australische Weine erinnert.

Außerhalb von Europa – und abgesehen von Australien – wird Shiraz in Südafrika angebaut, geringere Bestände finden sich aber auch in Kalifornien, Washington, Neuseeland (in Hawke`s Bay auf der Nordinsel) oder Chile (San Antonio).

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Grenache (Garnacha)

Grenache gehört zu den am meisten angebauten Rebsorten weltweit, ihre Heimat aber hat sie im westlichen Mittelmeerraum – in Südfrankreich und Spanien, wo sie „Garnacha“ genannt wird. Man nimmt an, dass die Garnacha ihren Ursprung in Aragón in Nordspanien hat. Von den dortigen Weinanbaugebieten am Oberen Ebro (Campo de Borja, Calatayud, Carinena und Somontana) verbreitete sie sich zunächst ins benachbarte Rioja sowie nach Navarra aus, schließlich insbesondere ins Languedoc-Roussillon und an die Rhône. Und auch nach Sardinien, wo Grenache „Cannonau“ genannnt wird. Die Sarden selbst verweisen darauf, dass die Rebsorte von Spanien aus auf die Insel gelangte, als Sardinien zwischen 1297 und 1713 unter der Herrschaft des Köngreichs Aragón stand – wie übrigens auch das Roussillon vier Jahrhunderte lang bis 1659.

Grenache treibt früh aus und hat, da sie spätreifend ist, eine relativ lange Wachstumsperiode. Deshalb muss sie in warmen oder heißen Klimata angebaut werden – sie ist dafür widerstandsfähig gegen Trockenheit. Grenachebeeren sind groß und dünnschalig, haben wenig Tannin und Säure, dafür aber einen hohen natürlichen Zuckergehalt. Entsprechend alkoholreich sind ihre Weine – man kann zweifellos davon ausgehen, dass die Grenache hinter der Forderung nach einem Mindestalkoholgehalt von 12,5 Volumenprozent beim AOP Châteauneuf-du-Pape an der Südlichen Rhône steht, einem der alkoholreichsten Weine überhaupt. So verhältnismäßig süss Grenache ist – wird sie aber auf kargem Boden streng geschnitten, also im Ertrag reduziert, und läßt man sie voll ausreifen, kann sie durchaus sehr konzentrierte, würzige Rotweine hervorbringen, die lange ausgebaut werden müssen.

Bei Grenache ist Mazeration – also Maischekontakt – vor der Gärung üblich, um Geschmacks- und Farbstoffe zu extrahieren, bevor der Alkoholgehalt durch die Gärung ansteigt. Auch hier können ganze Trauben zugefügt werden wie bei Pinot Noir. Für Premiumwein von Grenache benutzt man offene Gärbehälter, vollzieht eine sanfte Pigeage der Maische (hierbei wird der Tresterhut, der sich bei der Gärung wegen der aufsteigenden Kohlensäure immer wieder auf der Maische absetzt, kontinuierlich mit einem Stössel untergetaucht) und versucht die Tanninstruktur durch die zusätzliche Mazeration nach der Gärung zu stärken. Grenache reift in großen Gebinden und bisweilen unter Holzeinfluß – was sich durch würzige Noten auch im Aroma der Weine widerspiegelt. Ansonsten ist Grenache gewöhnlich körperreich mit weichen Tannine