Essay

auf diesen felsen

Jesus verkündigte das Reich Gottes und gekommen ist die Kirche“, bemerkte Alfred Loisy einmal. Ein Essay über die Anfänge des Christentums …

Den Texten des Neuen Testaments müssen wir uns in einer Art stratigraphischen Herangehensweise nähern, uns Schicht um Schicht vornehmen. (…) Auch wenn es die narrative Anlage einer Geschichte ist, so blicken wir doch auf etwas zurück, was einem Blick durch Wasser ähnelt: je tiefer es ist, desto undeutlicher der Grund.“

Paula Frederiksen in „Die Geburt des Christentums“ (von Gérard Mordillat und Jérôme Prieur 2003)

In dem traditionellen jüdisch-orthodoxen Umfeld, in dem er aufwuchs, war Jesus ein Tabu, über das nicht gesprochen wurde, erklärt der israelische Schriftsteller Amos Oz in einem Essay zu „Jesus und Judas“. Umso schockierter war er, schreibt Oz, als ihm sein Großonkel, der bekannte jüdische Historiker Joseph Klausner (1874-1958), dann erklärte, dass dieser Mensch, wie Jesus damals im neu gegründeten Israel nur genannt wurde, einer von uns sei – ein Jude: „Nach Klausners Ansicht“, bemerkt Oz in seinem Essay, „lebte Jesus von Nazareth als Jude und starb als Jude. Es kam ihm nicht im Traum in den Sinn, eine neue Religion begründen zu wollen. Nein, er war Jude – ein aufrührerischer Jude, ein nonkonformistischer Jude, ein leidenschaftlicher Kritiker des jüdischen religiösen Establishments seiner Zeit“, einer unserer größten Visionäre, wie Klausner ihm erklärte.

Oz wurde neugierig – und begann verbotenerweise das Neue Testament zu lesen. Dann allerdings stieß er auf die Geschichte über den Verrat des Judas – und wurde skeptisch: Warum sollte Judas einen Mann verraten, der in ganz Jerusalem wohlbekannt war? „Um ihn festzunehmen, brauchten sie nicht Judas zu bezahlen“, bemerkt Oz, „(i)n meinen Augen ergab das einfach keinen Sinn. Außerdem merkte ich sehr schnell, dass diesem Bericht nicht zu trauen war. Es war einfach eine jämmerlich schlecht geschriebene Story … mit einem typischen Schurken … hässlich, unsympathisch, gierig, verräterisch, betrügerisch – all diese negativen Attribute wurden dem armen Judas angehängt. Dann dachte ich: Kein verantwortungsvoller Herausgeber hätte diese Geschichte in den Evangelien stehen lassen: Es ist eine üble Geschichte (…) eine hässliche Geschichte, alles andere als harmlos. In meinen Augen hat keine andere jemals von Menschen erzählte Geschichte ein solches Ausmaß an Hass, Verfolgung und Mord entfesselt wie diese Geschichte über den Verrat …“

Für Oz ist klar, dass diese Geschichte vom Verrat am Anfang des christlichen Antisemitismus steht und das Verhältnis zwischen Juden und Christen verseuchte: „Um so etwas zu tun, muss man sehr, sehr böse, geradezu teuflisch sein, aber zugleich auch sehr, sehr mächtig. Und genau diese Kombination von Eigenschaften – niederträchtig, sündig, böse, teuflisch und dabei insgeheim sehr mächtig – war das gängigste antisemitische Klischee überhaupt in den vergangenen zweitausend Jahren.“ Aber warum überhaupt diese Geschichte, fragt sich Oz: „Was wäre schlimm daran gewesen, wenn Jesus nach seiner Taufe von Galiläa über Samaria nach Jerusalem gegangen wäre, den Weg zur Kreuzigung und Auferstehung – ohne einen Judas … Ich meine – hätte das der Geschichte geschadet, wäre sie damit weniger überzeugend gewesen? Nein.“

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Anders als im Christentum, für das Jesus natürlich von zentraler theologischer Bedeutung ist, spielt Jesus für jüdische Historiker wie Joseph Klausner nur insofern eine Rolle, als es ihm insbesondere auch darum ging, „den politischen oder gesellschaftlichen Status der Juden im christlichen Kontext der jeweiligen Zeit zu reflektieren“, wie Walter Homolka im Nachwort zu Oz` Essay schreibt.

Denn zu der Zeit, als Jesus stirbt, gibt es noch gar kein Christentum. Ein solches entsteht erst allmählich und insbesondere in der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem infolge der Niederschlagung eines jüdischen Aufstands durch die Römer im Jahr 70. Der Fall des Tempels – nicht der Tod Jesu, sondern er markiert den eigentlichen Wendepunkt in der Geschichte des Christentums und spaltet es in ein Vorher und Nacher: Ein Vorher, in dem Petrus lebt und vor allem Paulus, der zwischen den Jahren 50 und 60 seine Briefe schreibt, die damit als die ältesten von einem Christen geschriebenen Dokumente gelten. Ein Nachher, in dem die Evangelien geschrieben und später, zwischen 80 und 90 die Apostelgeschichte, die über die ersten Jahre der christlichen Bewegung berichtet, sowie schließlich um das Jahr 95 die Apokalypse des Johannes von Patmos über das Ende der Welt und das kommende Reich Gottes.

Damals bildete sich auch ein „normatives Judentum“, wie Homolka erklärt, und es „zeichnete sich immer stärker ab, dass Juden, deren Auslegung der Halacha von der Auffassung der Autoritäten abwich, zu Häretikern erklärt wurden. Frühe jüdisch-christliche Sekten, Gruppierungen, die allmählich immer mehr christologische Elemente in ihr Glaubensspektrum aufnahmen, gerieten zunehmend ins Visier dieser normativen Reaktion.“

Man muss sich die Entstehung des Christentums insofern als einen durchaus wechselseitigen Abspaltungsprozess vom Judentum vorstellen: Aus den eigenartigen Glaubensformen und Texten einer jüdischen Sekte, die die Römer für abscheulichen Aberglauben hielten, wird so das Christentum hervorgehen, eine neue Religion. Jesus stirbt, gekreuzigt durch die Römer unter Kaiser Tiberius (14-37), um das Jahr 30 noch als „König der Juden“ – dreihundert Jahre später aber wird sich Kaiser Konstantin (306-337) dann zum Christentum bekehren, das bald darauf sogar zur offiziellen Religion des Römisches Reiches werden und sich im gesamten Reich ausbreiten sollte. Rom hatte Jerusalem damit als Zentrum des Glaubens abgelöst – nun verstummte auch die jüdische Auseinandersetzung mit Jesus.

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Kaiser Konstantin (306-337), geboren im heutigen Niš in Serbien, ist der erste Kaiser, der sich zum Christen bekehren ließ. Konstantin regierte zunächst in Trier an der Mosel, damals noch Augusta Treverorum genannt. Als unter Kaiser Trajan (98-117) das Imperium seine größte Ausdehnung erreichte und die Legionen scheinbar unaufhaltsam vorwärts drangen, war Augusta Treverorum bereits eine bedeutende Stadt im Römischen Reich und stieg bis zum Ende des 3. Jahrhunderts sogar zu einer der Hauptstädte der von Diokletian (284-305) errichteten römischen Tetrarchie auf: Bis Anfang des 4. Jahrhunderts war das Römische Reich durch die zahlreichen Eroberungen zu einem Weltreich geworden, das inzwischen nicht mehr nur von Rom aus und auch nicht mehr von einem Menschen alleine regiert werden konnte, weshalb die Macht nun zwischen vier Kaisern aufgeteilt wurde. Und einer von ihnen residierte auch in der Stadt der Treverer.

Augusta Treverorum wurde als „zweites Rom“ bekannt – und Konstantins Vater regierte hier als einer der vier römischen Kaiser der Tetrarchie. Konstantin gelang es nach dem Tod seines Vaters und der Auflösung der Tetrarchie im Jahr 306 die Macht in einem eigentlich usurpatorischen Akt an sich zu nehmen und so die Kontrolle über Britannien und Gallien (später auch noch Hispanien) zu erlangen.

Nach der Machtübernahme läßt Konstantin die Stadt umgestalten: Von den zahlreichen Bauten, die die Römer in Trier bauen ließen – die berühmte Porta Nigra wurde bereits im 2. Jahrhundert errichtet, genauso wie das Amphitheater – überragt die von Konstantin errichtete kaiserliche Palasthalle, die erst später zur heutigen Basilika wurde, mit ihren dreißig Metern Höhe alle. Sie wurde im Jahr 310 vollendet und ist zu der Zeit der größte Hallenbau nördlich der Alpen – eine architektonische Machtdemonstration des Imperium Romanum. Unter dem Triumphbogen im Inneren stand der Thron des Imperators, hier hielt Konstantin Empfang – ein Mann, der nach noch mehr Macht strebte. Deshalb beschließt er im Jahr 312 aufzubrechen, um die Alleinherrschaft im Römischen Reich zu erringen. In Trier läßt er seine Frau und seinen Stiefsohn als Statthalter zurück.

Konstantin wurde zum alleinigen Herrscher im Römischen Reich, als er sich gegen seinen Rivalen Maxentius durchsetzen konnte. Maxentius regierte seit der Auflösung der Tetrarchie im Jahr 306 durch einen nie anerkannten Staatsstreich von Rom aus Italien und – wegen der Getreidelieferungen wichtig – die besetzten afrikanischen Gebiete (Africa).

Maxentius versuchte seine fehlende Legitimation durch die Unterstützung des Volkes auszugleichen, das heißt er bemühte sich darum, seine Macht durch eine tolerante Religionspolitik abzusichern. Aber auch Konstantin war darum bemüht, seinen Status religiös zu klären und berief sich dazu auf Apollo und auf den mit ihm verbundenen Kult des unbesiegten Sonnengottes („sol invicto comiti“) – noch bis in die 310er Jahre hinein ersetzt in der Ikonographie konstantinischer Münzen die Sonne seinen Kopf oder reicht ihm den Globus. Und auch eine so genannte Kongregationsmünze von Konstantin zeigt, wie er dem Sonnengott Apoll gleich in einer Quadriga gen Himmel fährt, von wo aus ihm eine Hand – die Hand Gottes – entgegen gehalten wird.

Schließlich kommt es im Jahr 312 zur Konfrontation zwischen den beiden Rivalen an der Milvischen Brücke nördlich von Rom. Zweifelsohne drohte Konstantin zu unterliegen – wäre Maxentius nur in der befestigten Stadt Rom geblieben. So aber wurde die Entscheidungsschlacht durch Ereignisse für Konstantin entschieden, die an sich unerklärlich sind: zum einen folgte Maxentius angeblich einer günstigen Prophezeiung, die ihn zum Angriff im offenen Gelände ermutigte – während Konstantin in einer Vision ein untrügliches göttliches Siegeszeichen erschien, das signum crucis. Das Kreuzzeichen enthielt das Christusmonogram (Chrismon) und besteht entsprechend aus den griechischen Anfangsbuchstaben von Christus: einem „X“ für „Chi“ über einem „P“ für „Ro“. Es steht für Gottes Anwesenheit, wird zum schützenden Feldzeichen – und so zieht Konstantin also im Namen Gottes, im Zeichen des Kreuzes, in den Kampf.

Das göttliche Zeichen erschien Konstantin angeblich als Vision – die aber erst von Eusebius von Caesarea (264-340) und Lactantius (250-325) nach dem Geschehen beschrieben wird. Die beiden Kirchenväter bestätigen, dass es wirklich ein signum crucis gewesen sei. Lactantius – Lehrer von Konstantins Kinder – schreibt von einem Traum, während Eusebius sehr viel später erst von einer Vision berichtet, dabei allerdings nur wieder gibt, was Konstantin ihm erzählt hat. Es bleiben also berechtigte Zweifel – und der Verdacht liegt nahe, dass diese Legende weniger Konstantins persönliche Überzeugung widerspiegelt, sondern aus politischem Opportunismus heraus entwickelt wurde, um die Christen hinter sich zu wissen. Die waren in Rom zwar deutlich in der Minderheit und stellten wohl nur etwa fünf Prozent der damaligen Bevölkerung, waren im Römischen Reich aber bestens miteinander vernetzt und organisiert.

Konstantin erhoffte sich von den im gesamten Vielvölkerstaat verteilten Christen eine stabilisierende Wirkung: Die innerchristliche Organisation erfolgte von Beginn an im Untergrund und insofern parallel zur staatlichen, die im Grunde auch eher eine Herrschaftsordnung darstellte. Einem eher schwach organisierten Staat steht so ein starkes christliches System gegenüber mit Synoden, der hierarchischen Struktur der Bischöfe innerhalb, aber auch zwischen den Gemeinden, und mit metropolitanen Strukturen bis hin zu christlichen Vororten, den späteren Patriarchaten. Das ist ein System, das in sich wesentlich stabiler ist als das römische Herrschaftssystem, das – abgesehen von den Angriffen auf seine äußeren Grenzen zu der Zeit – immer wieder auch von usurpatorischen Umsturzversuchen bedroht war.

Vor dem Hintergund einer ständigen politischen Unruhe ist es von Konstantin nicht unklug, seine Religionspolitik auf die Christen zu stützen: Eine Kommunikation ist mit ihrer Infrastruktur einfach – und so förderte er auch den Bau von Kirchen und Basilika, ließ sich doch über die Bischöfe auch die Bevölkerung gut kontrollieren.

Eine christliche Bekehrung bei Konstantin selbst erfolgte allerdings wohl nur allmählich: Auch im Jahr 320 lässt sich noch keine typische christliche Thematik in seiner Ikonographie ausmachen – langsam jedoch verschwinden die Verweise auf den Sonnenkult. „Christ“ aber wurde er erst am Totenbett – was damals jedoch auch üblich war, denn mit der Taufe (im Büsserhemd) wurden einem alle Sünden vergeben. Als Ungetaufter war er der Kaiser aller, als getaufter nur weniger. Außerdem konnte sich Konstantin, zum Christ getauft, von dem von ihm aus unbekanntem Grund befohlenen Mord an seiner Frau und seinem Stiefsohn reinwaschen, da er annahm, dass im Christentum alle Sünden getilgt werden könnten: Angeblich standen seine Frau und ihr Sohn in einem Liebesverhältnis zueinander. Der jung verheiratete Stiefsohn wird des Ehebruchs mit seiner Mutter, der Frau Konstantins, beschuldigt – ein Staatsverbrechen. So wird Konstantin der erste christliche Kaiser, der Sohn und Frau hinrichten läßt.

Eine klare Hinwendung zur christlichen Bildsprache in Zusammenhang mit Konstantin ist erst nach dessen Tod im Jahr 337 auszumachen. Das finstere Kapitel am Ende seine Lebens bleibt in christlichen Quellen hingegen unerwähnt.

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Für Joseph Klausner hat Jesus die Kirche nicht gegründet – und auch sonst nichts geschaffen, was konstitutionell die Grundlage dessen wäre, was dann zur Kirche wird. Er steht noch nicht einmal am Ursprung des Christentums, das heißt Jesus ist nicht der Begründer eines Schismas – also einer Glaubensspaltung innerhalb des Judentums –, sondern er hat sein Gottesbild innerhalb und für Israel gedacht: Jesus ist Jude und steht ganz innerhalb des Judentums, auch wenn er, wie vor ihm auch schon Johannes der Täufer, zur Erneuerung Israels und zur Neuinterpretation der jüdischen Überlieferung anregte – und auch zu einem neuen Gottesbild, das dem zornigen und strafenden Gott des Alten Testaments die Vergebung und Nächstenliebe gegenüberstellt.

Als Jesus stirbt, ist das für seine Gemeinde ein Schock – sie wissen nicht „Wohin?“, wie sie in Johann Sebastian Bachs Johannespassion verzweifelt rufen. Jesus` Hinrichtung am Kreuz, sein elendes Ende, bedeutete für seine Jünger den Zusammenbruch all ihrer Hoffnungen. Denn Jesus steht ursprünglich in einer prophetischen jüdischen Tradition, das heißt anfangs wurde in Jesus der Sohn Davids gesehen, der Messias Israels, mit dem man die Hoffnung verband, das Land von der römischen Besatzung zu befreien und das Königtum Israels wieder herzustellen. (In der Antike gibt es keine Trennung zwischen Religion und Politik.)

Das hebräische „Messias“ bezeichnet den „Gesalbten“ und wird später von den Evangelisten ins griechische „Christos“ („Gesalbter“) übersetzt, aus dem schließlich das latinisierte „Christus“ wurde. So erklärt zum Beispiel Johannes (1,41): „Wir haben den Messias gefunden! Messias heißt ‚der Gesalbte‘.“ „Christos“ bedeutet „derjenige, der geheiligt wurde“, aber auch einfach nur „der mit Öl benetzt wurde“, der „Pomadisierte“. Von ihm jedenfalls erhielten die nach der Zerstörung des Zweiten Tempels exilierten Juden, die „Christen“, ihren Namen. Zum ersten Mal so genannt wurden sie den Jüngern zufolge von römischen Behörden in Antiochia um das Jahr 35 – und da wurde die Bezeichnung „Christen“ wohl als Spottname benutzt: „Die Anhänger des Pomadisierten.“ Die Christen selbst bezeichneten sich bis ins 2. Jahrhundert jedoch nicht so.

Als Messias, Gesalbter, wird im Alten Testament (zum Beispiel in Jesaja 45,1) der von Gott eingesetzte „König der Juden“ als Nachfolger Davids bezeichnet (die Salbung mit Öl gilt schon lange als Ritus bei der Thronbesteigung eines Königs und wird noch heute bei Krönungen praktiziert – demnächst sicher auch wieder bei der Inthronisation von King Charles III.). Insbesondere seit dem historischen Propheten Jesaja, der um 740 vor Christus lebte, und der Zerstörung des Ersten Tempels 586 vor Christus durch die Babylonier sowie dem anschließenden Exil entstand die Erwartung eines Messias, eines zukünftigen Königs, der die Juden einen und von der Fremdherrschaft befreien werde und so das Reich David wieder herstellen werde.

Der Messias wurde lange nicht mit einer lebenden Person in Verbindung gebracht, sondern als Heilsbringer verstanden (zum Beispiel in den Psalmen 17 und 18). Erst mit der Besetzung Palästinas durch die Römer im Jahr 63 vor Christus taucht die Figur des Messias wieder auf – unmittelbar vor Jesus also und in Auseinandersetzung mit der römischen Besatzungsmacht. Nun wächst im jüdischen Volk die Hoffnung auf einen Befreier vom Römischen Reich.

Zu Lebzeiten jedoch wurde Jesus nie „Messias“ genannt. Es sind erst die Evangelisten, die die Messiasfigur mit Jesus neu besetzen – ohne ihn jedoch mit dem Messias im alttestamentlichen Sinn zu identifizieren. In den Evangelien erscheint Jesus vielmehr als ein endzeitlicher Prophet, losgelöst von nationalistischen, jüdischen Hoffnungen. Deutlich wird das am sogenannten Messiasbekenntnis des Petrus im Evangelium nach Matthäus (16,13-20): Hier antwortet Petrus Jesus auf die Frage: „Für wen haltet ihr mich?“ mit: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“, worauf ihn Jesus als „Felsen“ bezeichnet, auf den er seine Kirche bauen wird. „Dann befahl er den Jüngern, niemand zu sagen, dass er der Messias sei“, bemerkt Matthäus.

Der Messias-Begriff wird hier in einem christlichen Sinn umgedeutet: Jesus geht es, den Evangelien zufolge, nicht um die Wiederrichtung des alten Reich Davids oder eines irdischen Königreich Israel – er will nicht als Befreier von der römischen Besatzungsmacht auftreten, in diesem Zusammenhang verhängt er quasi eine Schweigepflicht –, sondern er will nach seinem Tod und seiner Auferstehung ein neues, göttliches Reich errichten, eben das Reich Gottes.

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Der jüdische Prophet, der die Errichtung des Reich Gottes erhofft und von den Römern gekreuzigt wird, hat mit dem späteren Christus der römisch-katholischen Kirche nur wenig gemein. Seine Anhänger haben unmittelbar nach der Kreuzigung auch gar nicht die Absicht, eine neue Religion zu gründen. Sie sind vielmehr Juden, die das Ende der Zeit, die Apokalypse, erwarten und die Wiederkunft ihres Messias: In jüdischen Kreisen bestand zu dieser Zeit die Hoffnung, dass Gott die bestehende Welt verwandeln werde – in eine Welt, in der Gott herrschen werde und in der sein treues Volk Israel eine zentrale Position haben wird, als wichtigstes Volk der Welt. Sie gehen dabei davon aus, dass die Welt voller Sünde sei und deshalb erst untergehen müsse, um von Gott neu geschaffen zu werden. Und das glaubt auch Johannes von Patmos, der das Buch der Apokalypse, auch Offenbarung genannt, geschrieben hat – das letzte Buch des Neuen Testaments.

Wohl kein Text hat die Vorstellungen vom Weltende so geprägt wie die Apokalypse des Johannes. Eigentlich heißt Apokalypse „Entschleierung“ oder eben „Offenbarung“ und kommt von „apo“ für „fern ab“ und „kalypto“ für „entschleiert“ („kalpyso“ heißt „Schleier“). Doch das erste Wort des griechischen Originals, „Apokalypse“, wurde zum Gattungsbegriff für alle Untergangsszenarien: Im Grunde bis in die Gegenwart hinein werden die rätselhaften Sprachbilder vom „Buch mit sieben Siegeln“, einem „Tausendjährigen Reich“ und von „Armaggedon“ aus der Apokalypse benutzt, um in Krisenzeiten Spekulationen vom angeblich nahen Weltende Geltung zu verschaffen – obwohl Jesus selbst noch davon ausging, dass auch die bestehende Welt in das Reich Gottes verwandelt werden kann.

In der Offenbarung des Johannes wird die Erde jedenfalls zum Schauplatz einer Endzeit-Schlacht zwischen Gut und Böse, bei der der Erzengel Michael mit den himmlischen Heerscharen gegen den „roten Drachen“, den Vertreter der kosmischen Kräfte des Satans, kämpft. Ein Kampf, der auch über das Schicksal der Menschen entscheiden soll – und an dessen Ende die Wiederkunft des Messias und der Beginn der himmlischen Stadt Jerusalem steht. In ihr wird Gott Gestalt annehmen und mit ihm kommt dann auch das Ende einer Zeit des Schreckens und „(k)eine Nacht wird mehr sein …“ Darüber hat Johannes eine Vision, das heißt in der Offenbarung selbst heißt es, dass Jesus sie empfangen habe und seinen Engel sandte, um sie ihm mitzuteilen. Johannes wird so auch zu einem Propheten, der Hoffnung macht darauf, dass am Ende doch Gott der Sieger der Geschichte sein wird.

Wesentlich ist die zeitliche Nähe dieses Endes: Es liegt nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer in der Vorsehung der Gläubigen, dass das Weltende bald eintrifft und sie nur in der letzten Phase leben. Es ist gleichsam der Glaube an das Ende der Geschichte – und diese Endzeitstimmung ist auch der Grund, weshalb die Evangelien überhaupt aufgeschrieben werden. Erst ab dem Ende des 1. Jahrhunderts geht diese Vorstellung dann langsam zu Ende, als der Weltuntergang trotz aller Prophezeiung noch immer nicht stattgefunden hat. Bis dahin allerdings glaubte man, dass die Offenbarung des Johannes bald eintreten werde.

Über den Verfasser der Apokalypse, Johannes, weiß man nicht viel. Man ist sich sicher, dass er Jesus nicht selbst gekannt hat, keiner der Apostel war, und auch nicht der Autor des Evangeliums nach Johannes. Identität und Herkunft des Johannes bleiben aber ungeklärt – ebenso, warum Patmos Schauplatz seiner Vision geworden ist. Zumindest weiß man, dass er in den Jahren 93 bis 95 von Ephesos aus auf die fünfzig Kilometer entfernte, fast menschenleere Insel in der östlichen Ägäis verbannt wurde. Von dem Tempel, der hier im ersten Jahrhundert gestanden hat, sind nur noch Bruchstücke übrig, die in ein im 11. Jahrhundert gebautes griechisch-orthodoxes Kloster verbaut wurden. Hier soll Johannes seine himmlische Vision gehabt haben.

Von dieser Vision ist Johannes überwältigt und er sucht jetzt nach Quellen und Begriffen um sie überhaupt ausdrücken zu können, das heißt er kann sich nur Ausdrücken mit Hilfe der Sprache der Propheten des Alten Testaments – im Rückgriff auf die Propheten Ezechiel und Daniel, wenn beispielsweise von den „vier apokalyptischen Reitern“, den Boten des Unheils, oder dem „Thronsaal mit 24 Thronen“ die Rede ist. Jedenfalls ist er mit jüdischer und apokalyptischer Literatur vertraut, wo Gott in der Geschichte handelt und auch alle Zukunft beherrscht – und genau darum geht es schließlich auch in der Apokalypse.

Johannes benutzt zwar die Sprache des Alten Testaments, bezieht diese Motive nun aber durchaus auf reale Ereignisse seiner Zeit – und so haben das wohl auch seine Zeitgenossen verstanden. Denn zur Zeit des Johannes wird Jerusalem, wo er mit ziemlicher Sicherheit ursprünglich lebte, zum Ausgangspunkt eines Aufstandes: Das Schicksal der Tempelstadt scheint eng mit dem Leben von Johannes verbunden gewesen zu sein, jedenfalls erhoben sich die Juden im Jahr 66 gegen die römischen Besatzer. Vier Jahre später fällt das Zentrum des jüdischen Glaubens – und mit der Plünderung und Zerstörung des Tempels und ihrer Vertreibung aus der Stadt wird dem Judentum nun auch seine zentrale Kultstätte geraubt. Die Rache der Römer zielt hier zweifelsohne auf die Vernichtung der jüdischen Identität.

Möglicherweise ist Johannes Augenzeuge dieser Ereignisse, auf jeden Fall aber steht er in der Tradition der Apokalypse Jerusalems und betrachtet sich als jüdischen Anhänger von Christus, der diese Geschehnisse prophezeit hat – ebenso wie das nahe Ende der Welt. Das Erlebnis könnte jedenfalls der Grund dafür sein, dass er sich nun als Prediger für das Christentum betätigt und an der Nordküste des Mittelmeers entlang nach Westen wandert. Er folgt dabei den Spuren von Paulus, der bei seinen Missionsreisen die römische Provinz Kleinasien mit der Hauptstadt Ephesus zu einem Zentrum des frühen Christentums gemacht hat, auch wenn die Christen noch eine unbedeutende Minderheit in der griechischen Stadt bilden.

Ephesus ist zu der Zeit eine reiche Handelsstadt – und erlebt gerade, wie das römische Reich nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstands in Jerusalem, ihren Höhepunkt. Hier muss die Erinnerung an den Untergang Jerusalems für die exilierten Juden verblassen – kein Ort eigentlich für den Prediger des Weltendes. Seine Vorstellungen werden hier auch keineswegs von allen geteilt. Überhaupt ist das Christentum in Ephesos nur marginal vertreten und ohne echte Bedeutung innerhalb der zahlreichen religiösen Strömungen dieser Zeit. Die Archäologie jedenfalls hat bislang keine Hinweise auf das Christentum in Ephesos zu der Zeit gefunden – Kirchen wurden im ersten Jahrhundert ohnehin noch nicht errichtet.

Dann aber bricht im Jahr 79 der Vesuv aus und zerstört Pompeji und Herculaneum – für Johannes ein untrügliches Zeichen für ein vernichtendes Gottesurteil gegen Rom und darauf, dass das Weltende nicht mehr fern sein kann. Aber nicht nur für Johannes: Im römischen Reich brodelte es schon seit längerem, sollten doch alle dem römischen Kaiser wie einem Gott huldigen. Die Kulttradition bildet im Römischen Reich gewissermaßen das Fundament der staatlichen Ordnung und eine Störung dieser Ordnung wurde, wie Pedro Barceló in „Die Alte Welt“ (2019) bemerkt, „als Angriff auf die etablierten gesellschaftlichen Wertvorstellungen“ begriffen. Christliche Praktiken und das Bekenntnis zum Christentum gelten, wie Barceló ausführt, seit Kaiser Nero (54-68), der als der erste Verfolger der Christen gilt, als flagitium, also als Straftatbestand.

Insbesondere in der Frage des so genannten Kaiserkults sind die Gläubigen gespalten, gilt er doch als Ausdruck politischer Loyalität. Johannes ist einer von denen, die ihn kategorisch ablehnen – für ihn wäre das quasi ein Verrat an Jesus. Gleichwohl, so Barceló, konnte die monotheistische Ausschließlichkeit des Christengottes „seine Anhänger nie von synkretistischen Ritualen abhalten, ebenso wenig, wie die bestehende Strafandrohung seitens des Staates die Ausbreitung des Christuskultes verhindert hat“.

So huldigen die reichen Bürger von Ephesos also dem Kaiser – und richten sich gewissermaßen ihr Leben in der römischen Welt ein. Die einen wollen ihr Leben im Diesseits bewältigen – und hier hat dann auch Johannes` Vision des nahen Weltendes keinen Platz –, die Anderen aber wollen ihre Seele für das Jenseits retten. So steht pragmatische „Kompromissbereitschaft gegen Glaubensstrenge“, wie Barceló schreibt.

Wahrscheinlich weil Johannes den Kaiserkult verweigerte, wurde er schließlich in der Regierungszeit von Kaiser Domitian (81-96) nach Patmos verbannt. Aber auch in der Verbannung hört er nicht auf zu predigen – und so entsteht dann hier auch der Text der Offenbarung. Allerdings konnte beziehungsweise durfte Johannes vieles nicht offen benennen, das heißt er musste seine Botschaft verschlüsseln. Johannes schreibt beispielsweise (18,18): „Wer Verstand hat, berechne die Zahl des Tieres, denn es ist die Zahl eines Menschen, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.“ Laut jüdischer Gematria, die sich mit der Mystik von Worten beschäftigt und jedem Buchstaben des Alphabets einen Zahlenwert zuordnet, hat der Name „Kaiser Nero“ genau diesen Zahlenwert von 666. Die Übersetzung des Zahlencodes ergibt also, dass mit dem Drachen Kaiser Nero gemeint ist.

In die Regierungszeit von Kaiser Nero (54-68) fällt der Brand Roms im Jahr 64. Um von dem Gerücht abzulenken, Nero selbst sei der eigentliche Urheber des Feuers, wird ein Sündenbock gesucht – und bald in den Juden-Christen gefunden. Für sie ist mit dem brennenden und in Rauch gehüllten Rom angezeigt, dass der letzte Tag gekommen sei – und es gibt Mutmaßungen darüber, dass sie sich aufgrund der „freudigen Erwartung“ des Endes der Welt und der Wiederkunft Christi überhaupt erst verdächtig gemacht hatten, zumal es von den wenigen Vierteln der Stadt, die von dem Feuer verschont blieben, gerade auch ihre waren. Die Apokalypse würde so erst die Argumente für ihre erste Verfolgung liefern.

Wie dem auch sei – jedenfalls ereifert sich Johannes dreißig Jahre später noch immer gegen die Römer und Kaiser Nero: Für Johannes ist Rom noch immer der Sitz des Gegners seines christlichen Gottes, des „Antichrists“, und irdische Macht die Verkörperung des Teufels – jener Bestie, die getötet werden muss. Insofern ist die Offenbarung des Johannes durchaus politisch – es ist der einzige Text im Neuen Testament der sich mehr oder weniger offen gegen die römischen Machthaber stellt und zum Widerstand gegen das römische Imperium aufruft, während alle anderen auf Ausgleich bedacht sind.

Darüber hinaus steht Johannes aber gleichzeitig auch unter dem Eindruck des Bruchs zwischen Juden und Christen nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. So bezeichnet er die „falschen“ Juden – jene, die Jesus nicht als Erlöser anerkennen – auch als „Satanssynagoge“. Dieser Begriff taucht bereits in den Qumran-Schriften, die vermutlich von den Essenern verfasst wurden, auf – und deuten auf die Auseinandersetzungen innerhalb des Judentums um den rechten Glauben hin: Denn schon die Essener, die „Frommen“, übten Kritik am Tempelkult der Phärisäer (Schriftgelehrten) in Jerusalem, weshalb sie sich ans Tote Meer, in die Nähe der Jordanmündung, zurückzogen.

Auch Johannes der Täufer stellt sich hier am Jordan bewusst außerhalb der Institutionen, obwohl er dem Evangelisten Lukas zufolge sogar Sohn eines Tempel-Priesters gewesen sein soll: Bei ihm tritt an die Stelle des Tempelkults ein Tauf-Ritus, der auch mit einem Heilsmotiv verbunden ist, nämlich mit der Vergebung der Sünden: Von allen rituellen Waschungen des Judentums unterscheidet sich die Johannestaufe als originäre Schöpfung des Täufers insbesondere dadurch, dass sie einen sündenvergebenden Charakter hat. Ihr Sinn, so Reinhard Meßner in seiner „Einführung in die Liturgiewissenschaft“ (2001), „besteht in der Gewährung von Heil bzw. in der Verschonung vor dem [Jüngsten] Gericht. Dies ist für den Täufer an die Umkehr als Rückwendung zur göttlichen Lebensordnung (der Thora) sowie an die Taufe gebunden, welche eine ‚Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden‘ (Mk 1,4) ist. Umkehr und Taufe schaffen in der letzten Zeit vor dem Einbruch Gottes Sündenvergebung; sie treten damit im Verständnis des Johannes offensichtlich an die Stelle der Versöhnungsriten im Tempel“, wo am Versöhnungstag (Jom Kippur) einem Widder als Sündenbock symbolisch die kollektiven Sünden auferlegt wurden, bevor er in die Wildnis geschickt wurde (heute kreisen orthodoxe Juden alternativ auch ein Sündenhuhn drei Mal um den Kopf).

An diese innerjüdischen Auseinandersetzungen schließt nun gewissermaßen auch der Verfasser der Offenbarung an, jedenfalls richtet er sie in Form von sieben Sendbriefen direkt an die Gemeinden. Briefe sind für das Urchristentum grundsätzlich ein ganz wesentliches Mittel der Kommunikation und nicht nur Paulus war hierin ganz fortschrittlich. Über die Briefe kann – über Zeit und Raum hinweg – eine Gemeinschaft im Glauben entstehen. Die Offenbarung des Johannes wird so letztlich auch zu einem Zeugnis für den Kampf um die „Gottesfürchtigen“ beziehungsweise die Konkurrenzsituation zwischen christlicher Gemeinde und jüdischer Synagoge.

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Unabhängig davon aber konnte die messianische Hoffnung mit Jesus` Tod am Kreuz für diejenigen, die an ihn glaubten, nur als gescheitert begriffen werden. Zwar predigte Jesus das Reich Gottes, das aber hat nie Gestalt angenommen – noch immer war Israel von den Römern besetzt. An ein himmlisches Reich Gottes dachten viele überhaupt gar nicht, sie konnten sich ein solches zumindest nur auf Erden vorstellen – auf dem Boden Israels, der von der Präsenz der römischen Besatzungsmacht endlich befreit wäre. Nicht zuletzt darum ging es auch den Jüngern. Lukas (24,19) beispielsweise schreibt in seinem Evangelium: „Wir aber hofften, er sei es, der Israel befreien werde.“ Befreien – das hießt damals ganz klar: der römischen Herrschaft in Judäa ein Ende zu machen. Und auch in der Apostelgeschichte (1,6) wird Jesus gefragt: „Wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel?“ Es wird erwartet, dass Gott mittels eines Gesandten Israel befreit.

Die Hoffnung im Judentum war die Herstellung einer Theokratie. Jesus selbst nahm eine abwartende Haltung ein, jedenfalls gibt es keinen Hinweis darauf, dass er gehofft hätte, tatsächlich über Israel zu herrschen und keine Quellen, die es erlauben würden Jesus` Wirken eine starke politische Bedeutung beizumessen (wenn Schriften das tun, sind sie alle nach Jesus` Tod entstanden). Sie alle deuten nicht darauf hin, dass Jesus die politische und militärische Befreiung Israels ein wichtiges Anliegen gewesen wäre oder besondere Bedeutung gehabt hätte, geschweige denn, dass er es als nötig erachtete, einen politischen und militärischen Aufstand zu organisieren. Das Reich, das er im Sinn hatte, war eben „nicht von dieser Welt“, wie ihn Johannes in seinem Evangelium (18,36) zitiert, weshalb Jesus eigentlich auch nicht im Widerspruch zum irdischen römischen Reich steht und Pilatus folglich auch keinen Grund hätte, ihn zu verurteilen – er findet keine Schuld an ihm. Die wird dann bekanntlich auch, insbesondere im Johannesevangelium, den Juden zugeschoben.

Den Evangelien zufolge hatte Jesus seinen Jüngern verheißen, dass sie das Reich Gottes gemeinsam erleben würden. Unmittelbar nach Jesus` Tod variieren nun die inneren Haltungen der Jünger, angesichts dieser Tatsache: Sie schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung – je nach Bericht. Denn unmittelbar nach der Kreuzigung herrscht unter ihnen Verwirrung: Für die Jünger ist unklar, weshalb der göttliche Wille durch den Tod Jesu am Kreuz ausgedrückt werden sollte, zumal das Reich Gottes nicht gekommen war. Und auch sonst hatte sich sein Tod ganz ohne Zeichen vollzogen – sieht man von der im Markusevangelium (15,38) geäußerten Metapher vom „zerrissenen Vorhang“ ab: Gemeint ist damit der Vorhang im Tempel in Jerusalem, der das Allerheiligste abtrennte. Der Riss soll bedeuten, dass Gott fortan nicht mehr dort wohnt – schließlich haben die Juden Jesus abgelehnt, verurteilt und hingerichtet. Deshalb habe Gott sich von ihnen zurückgezogen – und die endgültige Zerstörung des Tempels durch die Römer ist in diesem Verständnis dann nur die gerechte Strafe Gottes.

Schon unmittelbar nach der Verhaftung von Jesus in Jerusalem sind seine Jünger verängstigt aus der Stadt geflohen – nur wenige Frauen sind bei der Kreuzigung anwesend. Schon bald nach Jesus` Tod aber erscheint der Gekreuzigte dem Fischer Simon Bar Jona, Petrus genannt, dem Ältesten der Jünger und auch ihr Anführer. Er ruft daraufhin die Jünger wieder zu sich, die sich nun alle erst einmal in Jerusalem einfinden – und dort bald die gleiche Vision haben: Der Gekreuzigte ist von den Toten auferstanden – er ist tatsächlich der Messias. Damit haben sie nicht gerechnet: Die Nachricht von der Auferstehung Jesu trifft die Jünger völlig unvorbereitet.

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Vor dem Hintergrund der Erscheinungen wird in den nun entstehenden Texten aus dem historischen Jesus von Nazareth über Jesus Christus schließlich der am Kreuz gestorbene und auferstandene göttliche Christus. Adolf Holl spricht in diesem Zusammenhang in „Jesus in schlechter Gesellschaft“ (2002) von einem „Vergottungsprozeß“, in dem „womöglich der Erfolg der Religionen begründet (liegt), da sie den Gläubigen dahingehend entlasten, sich nicht mehr ernsthaft mit Jesus messen zu müssen: Er macht es möglich, viele neue Menschen dem Glauben zuzuführen, ohne ihnen die Komprommisslosigkeit der ursprünglichen Jüngerschaft zumuten zu müssen.“ Es bedarf dazu nur der Befolgung bestimmter – später von Priesterschaft beziehungsweise der katholischen Kirche vorgegebener – Regeln, durchaus keiner harten.

Wie Holl bemerkt setzt der Vergottungsprozess bereits mit Paulus ein, der dem historischen Jesus – anders als die Jünger, die im Grunde das selbe entbehrungsreiche Leben führten wie ihr Vorbild – selbst nie begegnet ist, und findet seine Fortsetzung in den später entstandenen Texten des Neuen Testaments. Die Evangelisten konstruierten zwar noch Beziehungen zum alttestamentarischen Messias, schufen darüber hinaus jedoch eine Jesusfigur, in der der historische, politische Jesus komplett getilgt war. Das gilt insbesondere für das zuletzt entstandene Johannesevangelium, wo aus dem Leben Jesu das Leben Jesus Christus – eine zur Legende verarbeitete Biografie – wird.

Beim Evangelisten Johannes wird der politische Aspekt des Messias-Begriffs abgeschwächt und der galiläische Jesus, Jesus von Nazareth, nach seiner Kreuzigung letztlich sogar zum universalen Christus umgeschrieben: Schon im ersten Kapitel seines Evangeliums wird Jesus zum enthistorisierten, entkörperten „Wort Gottes“ (1,1), zum „göttlichen Logos“ (1,3), später zum „Licht der Welt“ (8,12). Ist der Jesus bei den Synoptikern noch etwas menschlicher gezeichnet, wird er bei Johannes zur endgültig zur göttlichen Lichtgestalt.

Mit der Vergöttlichung betont Johannes die Königsherrschaft Jesu – und manifestiert so gleichzeitig die Trennung vom Judentum: Dem wenn sich seine Anhänger nicht in dem Glauben zusammengefunden hätten, dass Jesus Gott ist, könnte man heute nicht von einer christlichen Religion sprechen. Schon in den synoptischen Evangelien hieß es: wer ist das nur, dass ihm sogar Wind und Wellen gehorchen? (Markus 4,41 und Lukas 8,25) Das ist gewissermaßen der Kern – das ganze Christentum hängt davon ab: Dass das Wort, der Logos, in Jesus Fleisch wird und letztlich wieder Gott selbst.

Genau genommen entwickelte sich Jesus zwar innerhalb des Judentums – auch wenn man ihn für einen großen Häretiker des Judaismus hält –, die christliche Religion aber bildet sich ab dem Moment heraus, wo Menschen behaupten, Jesus ist Gott – also in dem Moment, wo ein Glaubensbekenntnis die Gottheit dieses Menschen Jesus anerkennt, verkündet und öffentlich bekennt. In diesem Moment entsteht etwas völlig Neues.

Die Entwicklung hin zu diesem Bekenntnis allerdings war keine lineare, sondern wurde über Jahrhunderte erörtert und stand noch auf den Konzilen des 4. und 5. Jahrhunderts auf der Tagesordnung. Die Verwendung der Wörter „kyrios“ („Herr“), im Gegensatz zu „theos“ („Gott“) bedurfte einer dauernden Differenzierung: In welchem Maße war Jesus Gott? In welchem Maße war er der Gottessohn? Es gab unterschiedlich Ansichten – jeder wollte ihn so oder so festlegen, ihn zum Mensch machen oder ganz und gar zu Gott. Aber keine Ansicht konnte sich ganz durchsetzen – und so akzeptierte man schließlich das Mysterium, dass er wohl beides ist.

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Als im Jahr 325 Streitigkeiten in der so genannten Ostkirche – ihre Ursprünge gehen auf die ersten christlichen Gemeinden und späteren Patriarchate in Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem zurück – ausbrechen, die die junge Christenheit sogar zu spalten drohen, beruft Kaiser Konstantin ein Konzil in Nicäa ein. Er tut das weniger, weil es ihm um die christliche Religion als Grundlage der ideologischen Einheit seines Reiches geht, sondern eher deshalb, weil er Einigkeit zwischen den Bischöfen braucht, die die Kirchengemeinden kontrollieren und so auch politische Stabilität garantieren. Und so sollen auf dieser ersten Versammlung, dem ersten ökumenischen Konzil, Unstimmigkeiten zwischen den Patriarchaten geregelt werden. Konstantin begreift sich als Garant der Ordnung – und macht die Kirchenangelegenheit damit zu einer Angelegenheit des Kaisers. Politik und Religion sind hier insofern noch miteinander verschränkt: Die Rivalität zwischen diesen christlichen Zentren beizulegen – das ist für Konstantin Kirchenpolitik. Es gibt von ihm deshalb auch nur eine Parole für das Konzil: Einigt euch!

Konstantin benutzte das Konzil, auf dem er als Kaiser eigentlich nichts zu suchen hatte, also um politischen Einfluss auszuüben: Für ihn steht die Einheit der Kirche im Vordergrund, die auch für sein Reich wichtig ist. Deshalb lud er auf seine Kosten alle 1.800 Bischöfe seines Reiches ein in seinen kaiserlichen Sommersitz in Nicäa, unweit von Konstantinopel – das Konstantin im Jahr 330 zu seinem neuen Hauptsitz macht. Konstantinopel verdrängt Rom so vom Rang einer Hauptstadt und entsprechend will es das Patriarchat dann auch zum offiziellen Sitz des des Christentums machen, weshalb es in den nächsten Jahrhunderten vehement versucht seine Vormachtstellung gegenüber den anderen vier Patriarchaten in Alexandria, Jerusalem Antiochia und vor allem Rom zu festigen. Vorerst aber geht es um das Konzil – und Konstantins Ruf folgen auch etwa 200 bis 300 Bischöfe und Dekane, vornehmlich aus den Ostkirchen, sowie zahlreiche Presbyten und Diakone, so dass schließlich etwa 2.000 Theologen an den zweimonatigen Debatten beteiligt sind.

Erst zwölf Jahre vorher wurde durch ein Toleranzedikt das Christentum als offizielle Religion des Römischen Reiches von Konstantin zugelassen. Einigen Bischöfen sah man die Verstümmelungen, die ihnen bei der letzten Christenverfolgung vor gerade einmal 15 Jahren zugefügt wurden, noch an – nun aber wurde insbesondere über die Dreieinigkeit von Christus, Gottvater und Heiligem Geist debattiert.

Auslöser für die Unstimmigkeiten in diesem Zusammenhang – und auch für das Konzil – war die inzwischen seit sieben Jahren im gesamten Mittelmeerraum diskutierte These des Presbyters Arius aus Alexandria (260-327), wonach Jesus dem Gottvater untergeordnet sei – er sei schließlich nur der Sohn und komme deshalb nach dem Vater. Er stellte damit die Frage, ob Christus Gott ist – und sich selbst gegen seinen Bischof und die Orthodoxie, der zufolge Jesus nicht der Erlöser sein könne, wenn er nur ein Geschöpf Gottes sei. Die Trinität frage nur nach dem Verhältnis von Heiligem Geist, Christus und Gottvater – sie stellt aber nicht die Frage, ob Gott verschiedene Existenzformen hat. Jesus sei vielmehr schon immer ein Teil Gottes gewesen und von diesem insofern auch nicht zu unterscheiden.

Auf dem Konzil wurde Arius verurteilt, aber es wurde auch klar, dass dringend ein Glaubensbekenntnis her musste – und so ließ Konstantin schließlich einen Kompromiss formulieren. In diesem so genannten Nicäischen Glaubensbekenntnis (Nicänum) heißt es über Jesus, er sei „gezeugt aus dem Wesen des Vaters und gezeugt und ungeschaffen, wesenseins mit dem Vater“. Jesus sei also nicht geschaffen worden, wie von Arius behauptet, sondern von Gott gezeugt worden (man verwendete dafür den Begriff „Homoousios“ für „von gleicher Substanz“, „von gleichem Wesen“). Von jetzt an stellte man den Sohn auf eine Stufe mit Gottvater – man machte ihn absolut wesensgleich. Entsprechend begreift man die Zeugung auch nicht im Sinne eines zeitlichen Nacheinander, sondern als einen ewigen Akt – eine ewige Zeugung. Schon am Anfang des Johannesevangeliums (1,1 und 1,14) heißt es: „Im Anfang war das Wort, der Logos“ und „das Wort, der Logos, wurde Fleisch“. „Christus“ als metaphysische Figur sei insofern immer schon da gewesen (vor dem historischen Jesus) – er sei deshalb vor aller Schöpfung.

Das müssen alle Bischöfe als Glaubensbekenntnis unterzeichnen. Nur 20 weigern sich und werden in der Folge exkommuniziert und in die Verbannung geschickt. Zu ihnen gehörte auch Arius. Er wird später, auf der Synode von Antiochia im Jahr 341, jedoch rehabilitiert und posthum wieder in die Kirche aufgenommen – schließlich gelang es ihm doch auch, Eusebius von Caesarea zu überzeugen, der dann wiederum Kaiser Konstantin kurz vor dessen Tod taufen wird.

In Nicäa ging es vor allem um das Verhältnis des Vaters zum Sohn, ein paar Jahrzehnte später wiederholte sich das Szenario um die Frage nach dem Wesen und der Aufgabe des Heiligen Geistes – seltsamerweise aber ohne die Trinität selbst in Frage zu stellen.

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Unmittelbar nach Jesus` Tod gab es noch keine Christen im heutigen Verständnis, sondern nur Juden, die offen bekennen: „Jesus ist Christus“, Jesus ist gestorben und auferstanden – er ist der Messias. Aber alle diese Kategorien sind zunächst noch ausschließlich jüdische Kategorien und die Christen insofern nur so genannte Juden-Christen. Insofern ist der Begriff „Christentum“ für das 1. Jahrhundert noch völlig anachronistisch – so etwas gab es damals noch nicht. Erst im 4. Jahrhundert kristallisiert sich die unterscheidbare und institutionalisierte Religion heraus, die man Christentum nennen kann. Gleichwohl wird dann erst das Glaubensbekenntnis, in Jesus den Christos zu sehen, den auferstandenen Jesus, die Kirche begründen.

Nach Jesus` Tod machte es den Jüngern der Glaube, dass er nicht tot, sondern auferstanden ist, möglich, die Krise zu bewältigen. In den ersten Glaubensbekenntnissen heißt es deshalb immer: er ist gestorben – und auferstanden. Der Glaube an die Auferstehung taucht allerdings erst allmählich auf: Jesus stirbt um das Jahr 30 in Jerusalem, die ältesten Dokumente die davon berichten stammen aus dem Jahr 50. Zu dieser Zeit schreibt Paulus seinen ersten Brief an die Thessaloniker (auch Thessalonicher genannt), dem weitere an andere christliche Gemeinden folgen, zwei davon auch an die Korinther.

In seinem ersten Korintherbrief schreibt Paulus (15,35-49), dass ein wiederauferstandener Körper nicht aus Fleisch und Blut sei – deshalb spricht er auch davon, dass der Körper Christi ein soma pneumatikon gewesen sei: ein geistiger Körper. Die etwas später, irgendwann zwischen den Jahren 70 und 100, entstandenen Evangelien widersprechen Paulus in diesem Punkt, denn nach dem jüdischen Verständnis dieser Zeit bilden Körper und Seele eine Einheit: Ohne Körper gibt es auch keinen Geist. Entsprechend wird der Leichnam von Jesus in den vier kanonischen Evangelien auch nicht als Geist dargestellt, sondern sein Körper trägt bei der Erscheinung bei den Jüngern die Stigma der Kreuzigung. In diesem Sinn betont beispielsweise Lukas (24,36-39) die physische Natur der Auferstehung und zitiert Christus mit den Worten: „Seht meine Hände und Füße: Ich selbst bin es. Fasst mich an und seht! Ein Geist hat kein Fleisch und keine Knochen, wie ihr es an mir seht.“

So gelingt es wohl, die Jünger, die noch zweifelten, wie Matthäus (28,16) berichtet, zu überzeugen – und auch den „Ungläubigen Thomas“, der dieser Begegnung nicht beiwohnte. Ihm erscheint Christus laut Johannes (20,27) sogar ein weiteres Mal und fordert ihn auf: „Leg deinen Finger hierher und schau meine Hände an, und streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Egal nun, wie der auferstandene Jesus den Jüngern erscheint – letztlich sind sich doch alle Evangelisten einig darin, dass Jesus nach seinem Kreuzestod auferstanden ist und es nur eine Frage der Zeit sei, bis er Wiederkehren werde und mit ihm das Reich Gottes: Seine Rückkehr geht mit dem Kommen der Gottesherrschaft einher, mit den letzten Dingen und dem Gericht halten. Eben darum heißt es in einem späteren Glaubensbekenntnis „er werde zur Rechten des allmächtigen Vaters sitzen, zu richten die Lebenden und die Toten“.

Dass Jesus jedenfalls auferstanden ist, beweist schon, dass er seinen Jüngern erschienen ist. Auch darüber berichtet Paulus im 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes (1. Kor. 15,5), wo er all diejenigen auflistet, denen Christus erschienen ist. Paulus gebraucht hier in Zusammenhang mit dem Osterereignis den Ausdruck „ophte“, was soviel bedeutet wie: „er ließ sich sehen“, „er wurde gesehen“. Was genau geschah, wird auch hier nicht klar, gleichwohl liegt hierin, in der Erscheinung des auferstandenen Jesus, ein Ursprung des Christentums.

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Der erste, dem Jesus als Auferstandener Paulus zufolge erscheint ist Jesus` Jünger Kefas, genannt Petrus („Kefas“ ist das aramäische Wort für „Fels“, „Pétros“ die griechische Übersetzung davon). Der Erste zu sein, dem der auferstandene Jesus begegnet ist – das verlieh Petrus eine besondere Autorität, das heißt von nun an scheint er zum Nachfolger Jesu und Oberhaupt der Kirche erhoben zu sein. Aber schon zu Lebzeiten soll Jesus, Matthäus zufolge (Mt. 16,18), gesagt haben: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Tore des Totenreichs werden sie nicht überwältigen.“

Der Fels wird hier gewissermaßen zur Verbindungsstelle zwischen den Welten. Indem er zu Petrus sagt: du bist Petrus, übersetzt der „Fels“, der „Stein“, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, greift Jesus auf eine Symbolik zurück, die mit dem Tempel von Jerusalem – und damit dem Judentum – in Verbindung gebracht wurde. Denn es ist wie bei jüdischen Darstellungen vom Tempel von Jerusalem, die besagen, dieser Tempel ruhe auf einem Felsen, und zwar einem kosmischen Felsen (even shetiyyah), als jenem Ort, wo Himmel und Hölle in Verbindung zueinander treten.

Die Formulierung bei Matthäus hat das Bild von Petrus geprägt als einem, der quasi die Schlüssel zum Reich Gottes erhält. In den anderen Evangelien hingegen fällt sein Porträt nicht ganz so schmeichelhaft aus – wo Petrus Jesus, wie im Evangelium von Johannes, drei Mal verleugnet. Ein Porträt von ihm lässt sich insofern schwerlich erstellen, gleichwohl wird er mitunter zu einer symbolischen Figur aufgeladen, die Jesus im Urchristentum fortsetzen wird – zunächst in Palästina als „Säule“ der Jerusalemer Urgemeinde, dann geht er wohl – wie spätere Quellen berichten – nach Antiochia, Korinth und in die Türkei, später vielleicht auch nach Rom, wo er Gründer der ersten Gemeinde gewesen sein soll und das Martyrium erlitten habe: Angeblich soll Petrus vor der Verfolgung durch Nero im Jahr 64 aus Rom geflohen sein. Vor der Stadt aber begenete er der Legende nach dem Auferstandenen, der ihm sagte: „Ich gehe nach Rom, um ein zweites Mal zu sterben“, woraufhin Petrus umgekehrt sei. Petrus soll in Neros Circus, dort, wo sich heute der Petersplatz befindet, gekreuzigt worden sein – und zwar auf eigenen Wunsch hin mit dem Kopf nach unten, um sich nicht anzumaßen wie Jesus zu sterben (deshalb bezeichnet man ein umgedrehtes lateinisches Kreuz auch als „Petruskreuz“).

Dass Petrus in Rom gewesen sein soll – das wird im Neuen Testament allerdings nicht erwähnt. Trotzdem führt die römisch-katholische Kirche das Papsttum auf die Tradition zurück, dass Petrus der erste Bischof von Rom gewesen sei – auch wenn es historisch gesehen im 1. Jahrhundert noch gar kein Monepiskopat gab und die christliche Gemeinde entsprechend auch nicht von einem einzelnen Bischof geleitet wurde. Dennoch leiten die römischen Bischöfe ihren Anspruch auf das Amt des Papstes im Petersdom von seiner Autorität ab.

Aber nicht nur, dass sich die Päpste als Nachfolger Petri bezeichnen – das römisch-katholische Christentum insgesamt wurde auf der Grundlage des Matthäusevangeliums aufgebaut, wo er Petrus als „Felsen“ bezeichnet, auf dem er seine Kirche bauen wird. Liest man dort allerdings weiter, stellt man fest, dass das, was Jesus im 16. Kapitel Petrus zusagt, er im 18. Kapitel auch den anderen Jüngern zuspricht. Selbst im Matthäusevangelium wird Petrus also nicht als einziges Oberhaupt auf einen Sockel gestellt – und so gründet die Geschichte der katholischen Kirche seit 2.000 Jahren eigentlich auf einem Missverständnis.

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Nach seinem Märtyrertod wurde Petrus irgendwo auf dem vatikanischen Hügel („mons vaticanus“) außerhalb der Stadtmauern von Rom begraben, dort, wo damals die Nekropolen in den weichen Tuffstein gegraben wurden. Schon bald wurde über dem vermeintlichen Grab von Petrus ein erstes Petrusmonument errichtet, eine kleine Kapelle, die für Pilger bereits im 2. Jahrhundert als Gedenkort fungierte und über dem später der Petersdom errichtet werden sollte. So entstand hier auf dem Hügel vor der Stadt also tatsächlich ein Ort, an dem Himmel und Totenreich miteinander in Verbindung treten – und der so an das jüdische even shetiyyah erinnert.

Der Gedenkort entstand, obwohl die christliche Religion zu dieser Zeit noch im Verborgenen praktiziert werden musste. Das änderte sich allerdings mit der Thronbesteigung von Kaiser Konstantin. Er erlässt 313 die Religionsfreiheit und lässt dann sogar Kirchen bauen, allen voran die Konstantinische Basilika, auch „Alt Sankt Peter“ genannt, auf dem vatikanischen Hügel – der mutmaßlichen Stelle des Petrusgrabes. Konstantin lässt auf der Nekropole mit Gräbern aus dem 2. Jahrhundert, aber auch noch älteren, die direkt auf Nero verweisen, das Fundament für die Basilika errichten – die dann im 16. Jahrhundert durch eine neue Basilika ersetzt wird, die sich noch heute über dem Petersplatz erhebt.

Die Konstantinische Basilika war etwa 100 Meter lang und damit seinerzeit die größte Kirche Roms. Die Apsis war mit einem riesigen Mosaik versehen, auf dem Jesus in der Mitte dargestellt war, neben ihm Petrus und Paulus, während sich am Boden der Apsis die Memoria befand – also die Gedenkstätte über dem Petrusgrab, an der Stelle, wo nach dessen Kreuzigung ein erstes Petrusmonument über der letzten Ruhestätte des Apostels errichtet wurde. Die Memoria ist der eigentliche Kern der Basilika – auf ihr gründet die Legitimation der päpstlichen Macht.

Die Memoria über dem Petrusgrab bestand aus einer Art Baldachin, der auf sechs Säulen ruhte, die noch heute erhalten sind und in der später neu errichteten Basilika verbaut wurden. Auf sie und auf ein marmornes Mausoleum, das zwischen den Säulen thronte, lief eine lange Sichtachse zu, wobei die Reliquie im marmornen Mausoleum die Achse bestimmt, auf der alle zukünftigen Altäre errichtet wurden – der erste entsteht dann im 7. Jahrhundert, hält aber den Eingang zum heiligen Grab darunter noch offen.

Nachdem sich das Christentum bis ins 7. Jahrhundert im gesamten Römischen Reich ausgebreitet hat, sich aber Konstantinopel als offizieller Sitz gegenüber Rom behauptet und seine Vormachtstellung auf der Grundlage des profitablen Orienthandels gefestigt hat, brauchte man in Rom einen ebenbürtigen Verbündeten, um sich gegenüber der Stadt am Bosporus zu behaupten. Man findet ihn in Karl dem Großen, noch bevor er zum Kaiser gekrönt wird. Er ist der mächtigste Herrscher seiner Zeit – und verbündet sich nun mit dem Papst.

Als im Jahr 799 auf den Papst Leo III. (795-816) ein Attentat verübt wird, sucht er Zuflucht bei Karl dem Großen. Seine Ankunft erfolgte zu der Zeit, als innerhalb des Frankenreiches bereits über die Übertragung der Kaiserwürde auf Karl nachgedacht wurde – und so sollten schließlich beide voneinander profitieren: der Papst findet einen mächtigen Schutzherrn – und krönt dafür Karl den Großen zum Kaiser. Die Zeremonie, die im Jahr 800 in der Konstantinischen Basilika stattfindet verändert die Ordnung der Welt, denn mit dieser Geste verleiht der Papst Karl dem Großen den Titel: Kaiser des Weströmischen Reiches. Damit markiert er offen den Bruch mit der Ostkirche in Form des Patriarchats Konstantinopel. Rom wird wieder Hauptstadt – die Hauptstadt des christlichen Westreichs.

Dieses Bündnis mit den Karolingern bringt dem Papst auch Schenkungen ein, die seinen Einfluss in Italien vergrößern. Immer mehr wird er zu einem Souverän mit echter weltlicher Macht und den damit verbundenen Verteidigungspflichten. So lässt Leo IV. (847-855) Mitte des 9. Jahrhunderts eine 12 Meter hohe Wehrmauer in Rom errichten, die drei Kilometer lang ist und von drei befestigten Toren durchbrochen wird, um die Basilika gegen Angriffe der inzwischen zur Gefahr für Rom gewordenen Sarazenen geschützt zu sein – die so genannte Leoninische Mauer. Durch sie entsteht die Civitas Leonina, die Leostadt. Sie besteht aus dem römischen Stadtteil Borgo, der damals noch außerhalb der Stadtmauern lag, und einem Großteil des – zur Versorgung der wachsenden Pilgerströme – immer stärker bebauten, nur etwa einen halben Quadratkilometer großen Gebiets um das Petrusgrab umfasste. Überreste der Mauer befinden sich heute im Westen der Vatikanstadt.

Der Papst residierte damals noch nicht auf dem vatikanischen Hügel, sondern im Lateranpalast innerhalb von Rom. Weil sich damals aber mehrere einflussreiche römische Familien um den Papstthron stritten, brauchte er einen Ort, an dem er besser geschützt ist. Nahe der Stadt, doch mit dem Tiber als natürlicher Barriere, bot sich der vatikanische Hügel an – allerdings fehlt noch ein Palast neben der Konstantinischen Basilika, der genügend Platz bot für die Kurie, also die Verwaltungsorgane des Papstes. Nikolaus III. (1277-1280 ) aus dem Geschlecht der Orsini gibt den Bau schließlich in Auftrag – und macht den Vatikan damit endgültig zu einem Ort der Macht.

Dieser Palast vom Ende des 13. Jahrhundert verbirgt sich heute im Zentrum der labyrinthischen Vatikanstadt, wo er – bis auf einen Turm – völlig verbaut und in andere Gebäude integriert wurde. Hier regiert der Papst nun abgeschottet vom weltlichen Leben im Kreise seiner Kardinäle, die ihn im Konklave gewählt haben. In dem neu errichteten befestigten Palast direkt neben der Konstantinischen Basilika behauptet das Papsttum seine politische Unabhängigkeit und manifestiert seine Macht – der Vatikan ist seither Sitz des Oberhaupts der katholischen Kirche. Von einer neuen Maurer geschützt wird der Palast noch um 20 Hektar Gärten ergänzt, die aus dem Vatikan ein regelrechtes Landgut machten.

Doch schon bald halten Nachfolgestreitigkeiten die Päpste dauerhaft von Rom fern. Sie weichen aus auf andere Residenzen im Kirchenstaat, zum Beispiel nach Orvieto, Perugia, Anagnia – und schließlich geht der Papsthof nach Avignon, wo die Wanderschaft 1305 endet. Ursprünglich geht es lediglich darum, durch die Wahl eines französischen Papstes, Clemens V. (1305-1314), den Zwist zwischen dem Papsttum und dem französischen König beizulegen. Doch politische Unruhen in Italien und Komplotte der einflussreichen römischen Familien zwingen auch Clemens` Nachfolger in Avignon zu bleiben. Letztlich regieren im Laufe des 14. Jahrhunderts insgesamt 9 Päpste von dem Palast in Avignon aus.

Verärgerte Reaktionen aus Rom lassen nicht auf sich warten: Bei jedem neuen Papst wird ein Botschafter nach Avignon entsandt, um zu versuchen, den Heiligen Stuhl wieder nach Rom zurück zu holen – denn das Schwinden der Macht schadet dem Ansehen der Stadt und mindert die Popularität des Vatikans. Mehr noch: Ohne einen Papst, der die Messe feiert, droht auch die Basilika zu verwaisen und in Vergessenheit zu geraten. Um weiterhin Pilger und Gläubige hierher zu locken, beauftragt man Giotto (1267/76-1337) damit, ein Triptychon mit Petrus an der Stelle des Papstes für den Hauptaltar der Konstantinischen Basilika zu schaffen. Petrus sollte so die physische Präsenz des Papstes ersetzen, der zu dieser Zeit nicht mehr in Rom weilte. Und es sollte die Pilger daran erinnern, dass sich hier das Grab des ersten Papstes befindet – und nicht in Avignon. Durch Giottos Werk behauptet die Basilika ihre Legitimität. Seine Symbolkraft wird so groß, dass sich die Päpste, als sie schließlich nach Rom zurückkehren, ein für alle Mal im Vatikan niederlassen und die nun fast 1.000 Jahre alte, baufällige Basilika renovieren lassen.

Mit dem Ende des Mittelalters erlebt Rom einen beispiellosen Aufschwung, von dem auch der vatikanische Hügel profitiert – die Renaissance. Im Jahr 1503 wird Guliano della Rovere zum Papst Julius II. (1503-1513) gewählt – er wird die Architektur des Vatikans nachhaltig prägen. Als erstes will er einen Palast errichten, der dem eines römischen Kaisers ebenbürtig ist. Mit dem Bau wird Donato Bramante (1444-1514) beauftragt, der für seine Kenntnisse der Antike bekannt ist. Er soll den Palast mit dem Belvedere verbinden – einer großen Villa auf dem Hügel gegenüber. Bramante entwirft für das ansteigende Terrain eine gewaltige Anlage aus Gärten, Terrassen und Galeriebauten – nach den Vorbild der Gärten antiker römischer Villen –, die das Gesicht des Vatikans grundlegend verändern wird. Aber auch diese Anlage ist heute kaum mehr zu erkennen und wurde durch drei Höfe ersetzt. Die Galerien allerdings bestehen noch heute – in ihnen sind heute die 26 vatikanischen Museen untergebracht.

Hier befindet sich auch die Laokoon-Gruppe, die Julius II. von einem römischen Funktionär erworben hat, der die Skulptur bei Arbeiten in seinem Weinberg entdeckte und ausgraben ließ. Der absolute Realismus der Laokoon-Gruppe aus dem ersten Jahrhundert vor Christus wurde in der Renaissance zum Maßstab für die Künstler dieser Zeit – allen voran für Michelangelo (1475-1664), der darin ein Vorbild für seine Körperstudien findet. Julius II. wünscht diese in Stein gehauene Unsterblichkeit aber auch bei sich selbst – und gibt bei Michelangelo ein riesiges Grabmal in Auftrag – dann jedoch beansprucht drei Jahre später plötzlich ein anderes Projekt das Vermögen des Vatikans und Michelangelo wird unerwartet freigestellt. Der Papst will nämlich von Donato Bramante eine neue Basilika bauen lassen, die den Status Roms als Hauptstadt des Christentums untermauern soll. Bramante schlägt dem Papst eine Basilika in Form eines griechischen Kreuzes vor, mit einer Zentralkuppel umgeben von vier weiteren Kuppeln. Er fügt hinzu: „Ich nehme das Gewölbe des Pantheons und hebe es auf die Bögen der Konstantinischen Basilika.“ Das Pantheon, im 1. Jahrhundert vor Christus gebaut, besitzt die größte Kuppel der Antike – das Symbol der Erhabenheit römischer Baukunst. Der Papst ist nach einigen Änderungen mit Bramantes Plan einverstanden, man fügt aber noch ein Mittelschiff hinzu. 1506 feiert man die Grundsteinlegung.

Um die gigantische Basilika, den späteren Petersdom, zu finanzieren, führt Julius II. den Ablass ein und verspricht allen, die den Bau finanziell unterstützen, die Vergebung ihrer Sünden. Während der Bauarbeiten wird die nahe gelegene Sixtinische Kapelle erschüttert. Sie gehörte zum mittelalterlichen Vatikanpalast und war schon damals ein wichtiges Gebäude, weil sich die Kardinale hier zum Konklave versammelten, um den Papst zu wählen. Die Wandgemälde, unter anderem von Botticelli (1445-1510), bleiben zwar unbeschädigt, durch die Decke aber zieht sich ein Riss – der neu verspachtelt und vor allem bemalt werden muss. Für diese Arbeit gelingt es dem Papst ein weiteres Mal Michelangelo zu engagieren, trotz dessen Widerwillen nach dem Fiasko mit dem Grabmal. Er willigt ein, die Decke der beschädigten Sixtina auszumalen. Vier Jahre lang arbeitet er ganz allein daran – und breitet schließlich die gesamte Geschichte des Christentums an der Decke aus, die Genesis, also die Schöpfung, komplettiert das Leben Jesu auf den Wandfresken aus dem 5. Jahrhundert. Am Vorabend von Allerheiligen 1512 wird die Sixtinische Kapelle schließlich mit einer Messe eingeweiht – und alle sind begeistert.

Dann aber veröffentlicht Martin Luther 1517 seine 95 Thesen und beschuldigt die Kirche der Götzenanbetung und der Korruption, vor allem aber der Monetarisierung des Seelenheils durch den Ablasshandel. Es ist die Geburtsstunde des Protestantismus. Die neue Konfession des Christentums breitet sich wie ein Lauffeuer aus und erreicht die meisten Länder des Heiligen Römischen Reiches und Skandinaviens. 1533 bricht zudem England mit dem Katholizismus und gründet die Anglikanische Kirche, mit dem Calvinismus kommt die Bewegung auch nach Frankreich. Der Vatikan ist in Zugzwang. Also gibt Papst Clemens VII. (1523-34) ein neues Altarfresko für die Sixtinische Kapelle in Auftrag – und Michelangelo schafft neben dem Deckenfresko auch noch das Wandgemälde „Das Jüngste Gericht“ hinter dem Altar, wie um daran zu erinnern, dass jenseits allen Theologenstreits Gott über Gut und Böse richtet.

Während der Protestantismus jeden Tag neue Anhänger gewinnt, verlieren sich die Pilger auf ihrer Suche nach dem Grab des Heiligen Petrus im heillosen Chaos der riesigen Baustelle für die neue Basilika. Wie soll man auf einer solchen Baustelle die heilige Messe feiern? Zumindest steht das, leider angeschlagene, Hauptschiff der alten Konstantinischen Basilika noch. Durch eine Mauer von der Baustelle getrennt, geht hier das religiöse Leben weiter. Das Ergebnis ist eine seltsame Hybrid-Struktur: halb Rohbau, halb Ruine. Das liegt daran, dass seit Bramantes Tod ständig die Entwürfe wechseln. So kommt es, das 1546 gerade einmal die vier Hauptpfeiler, der südliche Wandelgang und zwei Deckengewölbe fertiggestellt sind – von einer Kuppel aber ist noch nichts zu erahnen. Ein Schandfleck in der ewigen Stadt – gleich neben den Ruinen des Palatins und des Kolosseums. Deshalb soll der 72jährige Michelangelo nun Ordnung in die Angelegenheit bringen und den Bau fertigstellen.

Im Jahr 1547 wird Michelangelo Bauleiter der Basilika und bleibt es 17 Jahre lang bis zu seinem Tod 1564. Er zeichnet neue Pläne mit radikalen Änderungen: er verringerte die Dimension des Gebäudes, indem er die geplanten Chorgänge entfernte und den Bau nach oben hin öffnete. Vor allem aber beschloss er, das gesamte Gebäude außen mit Travertinstein zu verkleiden, einem weißen Kalkstein, der seit der Antike für Prestigebauten verwendet wird. Der Bau schreitet nun endlich voran – insbesondere auch, weil sich Michelangelo selbst um unscheinbare Details persönlich kümmert. Aber er ist jetzt 88 Jahre alt, hat 13 Päpste überlebt – und wird das Bauende des Petersdoms nicht mehr erleben. Bei seinem Tod fehlt immer noch die gewaltige Kuppel. Allerdings hat er zuvor ein Modell herstellen lassen, das von Filippo Brunelleschis (1377-1446) Technik beim Bau des Doms in Florenz inspiriert ist. Dennoch sollten weitere 24 Jahren vergehen, bis die Kuppel in Rom fertiggestellt ist. Erst 1590, mehr als 75 Jahre nach Baubeginn, erlebt die Basilika Sankt Peter im Vatikan ihre Krönung. Die Kuppel des Petersdoms wird zum Vorbild für die Kuppeln aller späteren Kirchenbauten.

Wenige Jahre nach der Fertigstellung des größten Sakralbaus der Welt werden die Reste der Konstantinischen Basilika abgetragen und an dieser so geschichtsträchtigen Stelle entsteht neuer Raum, den man alsbald mit einem Langhaus bebaut, wodurch aus der neuen Kirche ein Reliquiar der alten wird. Und auch der Petersplatz wird nun in eine riesige Bühne für die Auftritte des Pontifex maximus umgebaut, die entsprechend ausgestattet werden muss. Bereits 1586 – als die Kuppel fertig ist – wird hier mit einem Großaufgebot an Männern und Pferden ein gewaltiger Obelisk aufgestellt, unter dem Petrus gekreuzigt worden sein soll. Damit hat der Platz, dort, wo sich einst Neros Circus befand, in dem neben Petrus auch zahlreiche andere Christen gefoltert wurden, sein Symbol. Aber erst ein Jahrhundert später wird er zur berühmtesten Sichtachse der Welt, dank des Werks von Gian Lorenzo Bernini (1598-1680), der den Petersplatz mit 284 Säulen säumte, die von der Fassade des Petersdoms her kommend den Petersplatz halbkreisförmig in zwei vierreihig angeordneten Kolonnaden gewissermaßen zu umarmen scheinen. Bernini war es auch, der für den Großteil der prunkvollen barocken Innenausstattung des Petersdoms mit dem Baldachin über dem Petrusgrab verantwortlich zeichnet – und so die Theatralisierung des Glaubens auf die Spitze trieb.

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Obwohl der Vatikan heute Sitz der katholischen Kirche ist und Rom schon bald Jerusalem als religiöses Zentrum abgelöst hat, ist unklar, wie das frühe Christentum hierher gelangte – wie es sich überhaupt ausgebreitet hat. Es gibt hierzu keine präzisen Quellen – nur das Neue Testament: Um das Jahr 50 schreibt Paulus mehrere Briefe an verschiedene Gemeinden, die für die ältesten Dokumente des Neuen Testaments gehalten werden (von den 14 veröffentlichten Briefen sind aber wohl nur sieben echte Briefe von Paulus). Geschrieben wurden sie zwischen dem Jahr 50 (1. Thessalonicher) und 56/57 (Römerbrief), der Philipperbrief womöglich auch erst im Jahr 62. Dann folgt das Markusevangelium im Jahr 70 und Lukas, der sowohl ein Evangelium geschrieben hat als auch, zwischen 85 und 90, die Apostelgeschichte.

Alle diese Texte entstehen erst ein oder zwei Generation nach der Kreuzigung und sie geben nur einen fragmentarischen, lückenhaften Überblick – sie liefern keine durchgehende Geschichte –, auch wenn sich Lukas um Kontinuität bemüht und die Apostelgeschichte deutlich als Fortsetzung seines Evangeliums zu erkennen ist. Man verfügt jedoch über keine anderen Quellen um zu rekonstruieren, was sich gleich nach Jesus` Tod ereignet hat. Folglich weiß man beispielsweise nicht, wie das Evangelium von Jerusalem nach Alexandria gelangte, ob es womöglich Pilger waren, die aus Jerusalem zurück kamen. In keiner Quelle steht, wer die Gemeinden in Rom, Alexandria, Ephesos oder Antiochia gegründet hat. Fest steht nur, dass es überall da, wo es zuvor jüdische Synagogen gab, später auch christliche Gemeinden geben wird. So wird sich zum Beispiel in Antiochia, dem Sitz des römischen Statthalters in Syrien, eine Gemeinde bilden, die von entscheidender Bedeutung war für die weitere Entwicklung des christlichen Glaubens. Aber mit Christentum hatte das noch nichts zu tun, denn es handelte sich damals noch um Juden, die den Glauben an den Messias annahmen – um Juden-Christen also, Christen im Sinne von „Jünger Jesu“, nicht um Anhänger einer Religion, die Christentum heißt. Es gibt zu dieser Zeit noch kein autonomes Christentum.

Unklar ist auch, warum die Jünger des Nazareners, die selbst aus der Provinz in Galiläa stammen, nach der Kreuzigung nach Jerusalem zurück kehren – eine Stadt, in der sie sich nicht auskennen, weil sie höchstens Mal zu Pessach hier sind. Zumal ihnen hier noch immer die Gefahr der Verhaftung droht. Es ist möglich, dass sie tatsächlich dem Ruf von Petrus gefolgt sind – auf jeden Fall aber müssen sie sich hier versteckt halten. Aber dass sie da sind – das verweist darauf, dass sie wohl auf die bald bevorstehende Apokaylpse spekulieren: Für die Jünger war klar, dass Jerusalem der Ort sein musste, an dem sich das von Jesus gepredigte Reich Gottes realisieren würde. Entsprechend sind sie hier, weil sie Jesus bei seiner Wiederkunft empfangen wollen.

Die Erwartung dieser Wiederkunft und Gegenwart Gottes – auch Parusie genannt –, des Reich Gottes, ist so groß, dass niemand in der Gemeinde mehr arbeitet, keiner mehr Kinder bekommt – und sich alles auf diese Verheißung ausrichtet. „Marana Tha!“, „Herr mein Meister, komm doch!“ – alle warten nur noch auf die Rückkehr. Die Erwartung der Parusie, des Endes der Zeiten, war im Urchristentum allgegenwärtig – als stünde es unmittelbar bevor. Aber offensichtlich geschieht diese Rückkehr nicht so bald …

Als klar war, dass das Ende nicht so bald kam, stand man nicht nur vor einem Glaubensproblem, sondern auch vor einem wirtschaftlichen, weil inzwischen die Mittel für den Lebensunterhalt ausgegangen waren. Und so musste dieses Modell bald aufgegeben werden, das heißt von nun an musste man eine andere Existenzform in Betracht ziehen um das Ausbleiben der Parusie auch auf Dauer umzusetzen. Für die weitere Entwicklung hin zum Christentum hatten die Veränderungen in dieser Zeit eine wichtige Bedeutung. Adolf Holl bemerkt im Hinblick auf die Änderung des Existenzmodells der ersten Gemeinde in Jerusalem: „Neben dem Vergottungsvorgang in der Vorstellungswelt der Christen ist der Wandel im Versammlungsgefühl konstitutiv für die katholische Kirche.“

Als das Reich Gottes ausbleibt stellte sich die Frage, warum es nicht kam? Gleichzeitig galt es, sich auf eine längere Wartezeit einzurichten und damit alles ein wenig zu systematisieren – Kirchen organisieren, ein System der Verantwortlichen, der Hierarchien und gewissen Solidaritäten schaffen. So geht es im Grunde auch allen Sekten, die ihre Hoffnungen nicht unmittelbar verwirklicht sehen und sich deshalb auf Dauer einrichten müssen. Hat eine Sekte das Ende der Zeiten prophezeit – wie beispielsweise die Zeugen Jehovas, die ihre Hoffnungen allerdings nicht auf die Parusie richten (die sei bereits 1914 erfolgt, als Jesus die Herrschaft im „Köngreich Gottes“ übernommen habe), sondern sie glauben an die Wiederherstellung eines irdischen Paradieses, nachdem vorher alle Nicht-Gläubigen in der Endschlacht von Harmagedon vernichtet wurden –, und es bleibt aus, dann gibt es zwei Möglichkeiten: entweder löst sie sich auf, oder aber sie rückt noch enger zusammen, indem sie sich mit einem Autoritäts- und Schutzmechanismus ausstattet, der sie Fortbestehen lässt.

Im Urchristentum hat das noch nichts mit der Organisation durch verschiedene geistliche Ämter zu tun, die am Ende des 1. und Anfang des 2. Jahrhunderts vorzufinden sind. Aber schon jetzt wird unterschieden zwischen den Predigern, den Propheten und jenen, die verwalten oder das geistliche Leben organisieren. Insofern lässt sich hier durchaus von einem ersten Organisationsstadium im Hinblick auf die später institutionalisierte Kirche sprechen. Und vielleicht auch in diesem Sinn taucht nun im im 5. Kapitel der Apostelgeschichte erstmals der Begriff „Kirche“ für die „Gemeinde“ auf, die sich bis dahin immer nur als „Gemeinschaft“ („Kommunion“) bezeichnete. Allerdings ist dabei noch Vorsicht geboten.

Die Apostelgeschichte ist auf griechisch verfasst und das entsprechende Wort für „Kirche“ lautet „ekklesia“. Es bezeichnet jede Art von „Zusammenkunft“ oder „Versammlung“ – und man kann diesen Begriff nicht so ohne weiteres mit „Kirche“ in unserem heutigen Verständnis übersetzen (oder wie im französische mit „eglise“). Das verleiht dem Begriff eine institutionelle Bedeutung, die er im 1. Jahrhundert so definitiv noch nicht hatte oder haben konnte. Adolf Holl bemerkt in diesem Zusammenhang: „Ist da die Kirche oder erst einmal eine Anzahl von Gemeinden ohne eine zentrale Institution – und das ist Kirche doch: nicht eine Vielzahl von Gemeinden, sondern Menschen, die das gleiche sagen, lesen und die gleichen Regeln akzeptieren. So weit ist es noch nicht.“

Etymologisch betrachtet hatte der Begriff „ekklesia“ außerhalb seiner Verwendung im Neuen Testament keinerlei institutionelle Bedeutung. In der griechischen Bibel bezeichnet der Begriff dann die versammelte Gemeinde Israels – und außerdem bezeichnete das selbe Wort in der griechischen Welt die Gemeinschaft der freien Männer, die innerhalb einer Stadt ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. So verbreitet sich dann die Meinung, dass mit dem Begriff „ekklesia“, „Kirche“, das Wesen der Gemeinde bestens wiedergegeben sei. Und so findet das Wort dann auch Eingang in die christliche Sprache und wird von einem bestimmten Zeitpunkt an bevorzugt verwandt. Nach und nach setzt sich der Begriff jedenfalls durch, um die Gemeinde der Christen in Abgrenzung zur jüdischen Synagoge zu bezeichnen.

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Als Jesus um das Jahr 30 starb, konnte niemand voraussehen, dass seine Anhänger wenige Jahrzehnte später in ihm den Mensch gewordenen Gott sehen würden. Keiner von ihnen konnte ahnen, dass Jesus nicht wiederkehren und sich das Weltende immer weiter hinausschieben, dass letztlich statt des erwarteten Reich Gottes die Kirche kommen sollte. Das war auch nie in Jesus` Absicht: Das Reich Gottes, das er im Sinn hatte, unterschied sich wirklich ganz und gar von der Kirche, die sich dann im 2. Jahrhundert immer weiter institutionalisierte und ritualisierte.

Für Adolf Holl ist ganz klar, dass das nicht im Sinne Jesu war – der sich zeitlebens gegen das Priestertum stellte, deren kultische Tätigkeit zudem auch stets an einen heiligen Ort, einen Tempel, gebunden ist: Im Neuen Testament bedeutet „Priester“, wie Holl ausführt, „Kultdiener“ – man verwendet hierfür den griechischen Begriff „hiereus“ von „hieros“, „heilig“, der später dann auch dem Begriff der „Hierarchie“ zugrunde liegt: auch dieser Begriff stammt aus dem altgriechischen und wurde zusammengesetzt aus „hieros“ und „archē” für “Führung, Herrschaft” – und bezog sich zunächst lediglich auf die Religion, wo es als „hierarchia“ die Reihenfolge der sich abwechselnden Hohe- beziehungsweise Tempelpriester in Jerusalem bezeichnete.

Ursprünglich gab es im Judentum keine Priester: Zur Zeit Abrahams waren die Juden noch kein Volk, sondern Nomaden, und hatten entsprechend auch noch keine Ämter. Sie beteten und opferten ihrem Gott auf Altären, die sie vielleicht auf irgendeinem Felsen in der Nähe errichteten oder auf aufgeschichteten Steinen – wobei ihr Gott, darauf macht Adolf Holl aufmerksam, noch nicht „Jahwe“ war wie dann für Moses, sondern noch „El“, wie für die Wüstenbewohner im Sinai. Erst in Ägypten wurde aus dieser priesterlosen Gesellschaft ein Volk – und für dieses richtete der Gott Jahwe dann auch Ämter ein, die noch in der Person des Moses vereint sind: Er hat die Leitung inne, ist Prophet und Priester. In der Leitung wird ihm dann Josua folgen (Dtn. 34,9), diesem die Richter, dann Saul, David und die Könige, die ihr Amt dann erstmals vererben. Mose war auch der unvergleichliche Prophet (Dtn. 34,10), und Gott versprach ihm: „Einen Propheten wie dich will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen“ (Dtn. 18,18) – und zwar immer wieder, denn dieses Amt ist nicht erblich.

Das Priestertum jedoch ist das erste Amt, das aus dem allumfassenden Amt des Moses ausgegliedert wird – als er seinen älteren Bruder Aaron zum „Hohepriester“ weihte (Ex. 28,1) und mit ihm seine Söhne zu „Priestern der zweiten Ordnung“ (2. Kön. 23,4). Die dritte Ordnung kam den Leviten zu, die beim Gottesdienst assistieren beziehungsweiste „dienen“ (Num. 18,2) sollten. Für sie galt: „Damals sonderte der Herr den Stamm Levi aus, damit er die Lade des Bundes des Herrn trage, vor dem Herrn stehe, vor ihm Dienst tue und in seinem Namen den Segen spreche“ (Dtn. 10,8–9). Die nach Gottes Anweisungen gebaute Bundeslade enthält die Steintafeln mit den Zehn Geboten und ist bis heute das Symbol für den Bund Gottes mit dem Volk Israel. Die Leviten wurden von Gott zu jenem Priesterstamm berufen, der die Bundeslade während des Auszuges aus Ägypten und während der Landnahme Israels trägt – und so Gott inmitten des Volkes präsent halten soll, ihm gegebenenfalls auch die Leviten liest. Für alle aber gilt: Priester sind „Diener des Altars“ (Joel 1,13) und sprechen den Segen über das Volk, nachdem sie Gott geopfert haben.

Um 930 vor Christus errichtet König Salomo dann ein Heiligtum für die Bundeslade, obwohl Gott Samuel zufolge (2. Sam. 7,4-6) schon zu David gesagt hat: „Du willst mir ein Haus bauen, damit ich darin wohne? Ich habe nicht in einem Haus gewohnt … bis auf den heutigen Tag, ich bin umhergezogen in einem Zelt als Wohnung.“ Nun aber wird auf einem Felsen in Jerusalem ein erster Tempel errichtet – der dann allerdings von den Babyloniern im 6. Jahrhundert vor Christus zerstört wird. Erst nach der Heimkehr aus dem babylonischen Exil, etwa sechzig Jahre später, wird ein neuer Tempel gebaut. Nun etabliert sich „eine schriftkundige Priesterkaste mit starkem politischen Einfluß“, wie Holl schreibt. Und so blieb es auch bis zur Zeit Jesu – nur das Herodes um 20 vor Christus den Tempel neu errichtet hatte.

Die ritualistische Religiosität im Tempel, in deren Zentrum das Opfer steht, besonders an Pessach – „die beherrschende Idee ist der Kult“, schreibt Holl, „auf ihn hin ist alles angelegt“ –, steht schon früh in der Kritik. Bereits im 8. Jahrhundert vor Christus etwa bemerkt der Prophet Hosea (6,6): „Denn an Treue habe ich Gefallen und nicht an Schlachtopfern und an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern!“ Das Misstrauen gegen Kult und Ritual im Tempel, das auch von anderen Propheten geäußert wird, wird nun im Neuen Testament aufgegriffen. Allein schon, dass Jesus in Bethlehem zur Welt kommt, zeigt das Oppositionelle, wie Holl ausführt: „Denn nicht in Jerusalem wird Jesus geboren …, sondern in Bethlehem, und die erste Nachricht davon ergeht an die Hirten auf freiem Feld, keineswegs sprechen die Himmlischen zur Priesterschaft im Tempel zu Jerusalem.“

Jesus übernimmt die alttestamentarische Kritik an der priesterlichen Tempel-Religion – und man stellt ihn nach seinem Tod auch in die Tradition eines Gottes, der keinen Tempel braucht. Auf ein Jerusalem ohne Tempel, ein Reich Gottes ohne Priester, verweist dann ein letztes Mal die die Apokalypse des Johannes.

Paradoxerweise aber verwirklichen dann die Juden nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer genau das, was Jesus vorgeschwebt haben mag: eine priesterlose Religion. „Es ist nämlich eine historische Tatsache, dass die Juden nach 70 n. Chr. keine Priester mehr kennen“, bemerkt Holl, sondern nur noch den Rabbi – und der hat keine kultische Funktion mehr, wie noch die Tempelpriester. Adolf Holl bemerkt allerdings, dass es auch „ein ziemlich starkes Argument dafür (gibt), daß die ersten Christen tatsächlich eine Auffassung vertraten, die der herkömmlichen Tempel- und Priesterfrömmigkeit den Rücken kehrte: die frühen christlichen Gemeindevorsteher … hatten keinerlei sakrale Funktionen inne; ihre Leitungsaufgabe ähnelte sehr der eines jüdischen Vorstehers irgendwo in einer Gemeinde des damaligen Mittelmeerraumes.“

Schon gegen Ende des 1. Jahrhunderts ist unter den frühen Christen allerdings auch schon die gegenläufige Tendenz zu beobachten. Holl bemerkt in diesem Zusammenhang: „In einem Brief des römischen Christenvorstehers Clemens aus dem Jahre 96 n. Chr. ist allbereits von einer kultischen Hierarchie die Rede … obwohl es dann noch eine Weile dauerte, bis sich der christliche Vorsteher in Rom endlich den althergebrachten Würdenamen eines pontifex maximus zulegen konnte, also den Titel eines altrömischen Hohenpriesters. Auch dauerte es mehrere hundert Jahre, bis die Christen in großem Umfang Tempel zu bauen begannen und der dazugehörige Klerus die vorhandenen Positionen der staatlich anerkannten Priesterschaft besetzte.“

In der Ausgestaltung seiner Ämter greift das Christentum auf das dreistufige aaronitische Priestertum des Alten Testaments zurück, das heißt von „Priestern“ (hiereis) wollte man ganz am Anfang in Bezug auf die Amtsträger der Kirche noch nicht sprechen, man bevorzugte den Begriff „Presbyter“, der sich vom altgriechischen Wort „presbýtero” für „Älterer” herleitet. Damit bezeichnete man das Leitungsamt der frühen Christengemeinden – aus dem sich dann im 2. und 3. Jahrhundert das Amt des Priesters in der zweiten Ordnung des dreistufigen Weihesakraments entwickelte, sowie das des Diakons auf der dritten und das des Bischofs auf der ersten Stufe.

Dass diese Entwicklung hin zu einer institutionalisierten Kirche aber relativ zügig verlief – das zeigt ein Brief von Ignatius von Antiochien an die Kirche in Smyrna: Darin (Smyrn. 8,1) wird deutlich, dass sich, abgesehen von Propheten und Aposteln, die Ämterstruktur der Kirche bereits im Jahr 110 voll ausgebildet hat: Neben den Presbytern (Priestern) unterscheidet man hier im Hinblick auf das Weihesakrament auch schon Episkopen (Bischöfen) und Diakonen (Assistenten). Es ist diese Ämterstruktur, die sich dann in den christlichen Kirchen im Westen und Osten durchsetzen wird.

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Unmittelbar nach der Kreuzigung versammeln sich die Jünger Jesu in Jerusalem. Von der Jerusalmer Gemeinde in dieser Zeit berichtet die Apostelgeschichte des Neuen Testaments. Lukas vermittelt dort den Eindruck, auch noch Wochen nach Jesus` Tod seien die Jünger alle noch hier – und er beginnt damit, dass der auferstandene Jesus seinen Jüngern erscheint, die ihm nur eine einzige Frage stellen (1,6): „Herr, wirst du noch in dieser Zeit deine Herrschaft wieder aufrichten für Israel?“ Wann wird das Königreich Israel zurückkehren? Das ist gewissermaßen – in den Augen des Verfassers – die ursprüngliche Erwartung der Jünger, die Ausgangssituation. Danach wird aber versucht, neue Prioritäten zu setzen – und in gewisser Weise ist die ganze Apostelgeschichte dieser Verschiebung der Prioritäten – und einer Neuinterpretation der neuen Zeit – vorbehalten.

Fünfzig Jahre nach der Kreuzigung, als Lukas die Apostelgeschichte verfasste, war klar geworden, dass das Reich Gottes auf Erden nicht zurückkehren wird, denn es hätte das Reich Israel mit einschließen müssen. Doch auch noch Jahre nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer konnte man diese eschatologische Hoffnung nicht loswerden – dann aber formuliert der Verfasser der Apostelgeschichte doch noch einen Ausweg: Lukas verschiebt den Fokus weg vom Ende der Geschichte, der Apokalypse, in die Geschichte selbst hinein. Denn in seiner Antwort auf die Frage der Jünger verkündet der Auferstandene (1,7-8) Lukas zufolge: “Euch gebührt es nicht, Zeiten und Fristen zu erfahren … Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über auch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein“. Es sind dies die einzigen Worte, die der Auferstandene in der ganzen Apostelgeschichte spricht – und genau das ist auch Lukas` Absicht: Denn wenn schon das Reich Gottes nicht in Sicht ist, so hält das eschatologische Szenario zumindest doch die Hoffnung bereit, die Gabe des Heiligen Geistes zu empfangen. So vollzieht Lukas die Verschiebung vom historischen, echten Reich hin zu einem sehr viel geistigeren Reich Gottes auf Erden, von dem der auferstandene Christus zeugt.

Hatten die Jünger bis dahin vielleicht auf eine Befreiung von der römischen Besatzung und eine politische Wiederherstellung Israels gehofft, verkündet er nun ein gänzlich anders Programm: die Erfüllung besteht hier in einer vom heiligen Geist beseelten Zeugenschaft des auferstandenen Christus. Und tatsächlich heißt es des weiteren (2,1-4): „Als nun die Zeit erfüllt und der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren sie alle beisammen an einem Ort. Da entstand auf einmal vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie sassen; und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich zerteilten, und auf jeden von ihnen liess eine sich nieder. Und sie wurden alle erfüllt von heiligem Geist und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie der Geist es ihnen eingab.“

Sogleich macht sich die Gemeinde, Lukas zufolge, auf und verkündet gewissermaßen als erste Tat die Auferstehung Christi all denjenigen, die sich wegen des großen jüdischen Pilgerfestes Schawuot um das Jahr 30 zu Pfingsten in Jerusalem aufhalten. Nach jüdischer Vorstellung hat Moses auf dem Berg Sinai nicht allein die schriftliche Thora erhalten, sondern auch ihre mündliche Auslegung – und so steht Schawuot für die „Gabe der Thora“. Das christliche Pfingsten hingegen steht für den Heiligen Geist, der über die Jünger Jesu gekommen sein soll – auch hier wird insofern ein ursprünglich jüdisches Fest gewissermaßen christianisiert, wie auch das jüdische Pessach zum christlichen Ostern umgedeutet und neu inszeniert wird.

Nach der Apostelgeschichte fegte also ein Sturm über die versammelten Gläubigen – der heilige Geist – der es ihnen erlaubte zu reden und predigen, „wie der Geist es ihnen eingab“. Dieses so genannte Pfingstereignis gilt genau deshalb auch als Ausgangspunkt für das missionarische Wirken der Jünger. Es entspricht gewissermaßen dem letzten Auftrag des Auferstandenen an die Jünger am Ende des Matthäusevangeliums, wo es heißt (28,18-20): „Und Jesus trat zu ihnen und sprach: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden. Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe. Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Der auferstandene Jesus gibt seinen Jüngern hier den entscheidenden Auftrag, nämlich zu missionieren und zu taufen – ein zentraler Punkt im Christentum, der es außerdem vom Judentum unterscheidet, wo es keine Missionstätigkeit gibt. Die in diesem Auftrag eingearbeitete Taufformel „… auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes“ ist tatsächlich auch der erste Beleg für die Trinität. Sie ist aus den Taufritualen der ersten Christen entstanden und wurde auf mehreren Synoden diskutiert und von der katholischen Kirche schließlich in der elften Synode von Toledo im Jahr 675 als Dogma festgelegt.

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Sieht man von der Apokalypse des Johannes ab – je jünger die Texte des Neuen Testaments sind, desto weniger stark wird die Dringlichkeit einer Wiederkunft Christi: Paulus erwartet sie noch zu seiner Lebenszeit, im Markusevangelium (13,1ff) heißt es dann, dass die Zerstörung des Tempels den Zeitplan Gottes einläuten würde, als ein Zeichen dafür, dass die Parusie unmittelbar bevorstünde. Und Matthäus und Lukas war bereits klar, dass die Zerstörung des Tempels kein Zeichen für seine Rückkehr bedeutet, weil sie auch eine Generation später immer noch ausbleibt. Sie mussten also die Überlieferung noch ein bisschen verändern. Mit dem Johannesevangelium schlägt die Theologie schließlich in eine ganz andere Richtung um. Deshalb kann man sagen: Je mehr Zeit vergeht, desto mehr schwindet die Erwartung. Das „bald“ in „das Königreich wird bald kommen“, muss notwendig anders definiert werden. Lukas tut das mit dem Pfingstereignis in der Apostelgeschichte: Den Jüngern, die vielleicht auf ein befreites Israel gehofft hatten wird hier etwas anderes verheißen, nämlich die Erfüllung durch den Heiligen Geist – durch ihn wird sich das Reich Gottes auf Erden realisieren.

Jesus war überzeugt, das Gottesreich würde sich noch zu seinen Lebzeiten offenbaren – deshalb kümmerte er sich nicht um seine Nachfolge. Diese Frage stellt sich erst nach seinem Tod – wobei eine Institutionalisierung hin zur Kirche durchaus nicht in seinem Interesse war. Im Neuen Testament sagte er, der gute Hirte, deshalb zu Petrus, dass er Christi Herde weiden solle (Joh 21,15–19), „und nachdem er dies gesagt hatte, sagte er zu ihm: Folge mir!“ Petrus wird so – wenn schon nicht zu seinem Nachfolger – zum Stellvertreter Christi.

Seit Beginn an beruft sich die römisch-katholische Kirche auf den Heiligen Petrus. Im Jerusalem der Jahre 30-40, unmittelbar nach der Kreuzigung, ist diese Geschichte allerdings unvorstellbar: Zwar wird auch hier Petrus als eine „Säule“ der Gemeinde genannt – aber die Bedeutung als Jesus` Nachfolger schreibt ihm nur das Matthäusevangelium zu, die anderen Evangelien schweigen diesbezüglich. Paulus schreibt in seinem zweiten Korintherbrief dann, dass Jesus nicht allein in Petrus, sondern auch in den Aposteln und deren Nachfolgern „Stellvertreter“ habe, die „an Christi statt“ (2. Kor 5,20), in persona Christi sein Amt ausüben. Mit ihm rücken also die Apostel als Gemeindeleiter in den Fokus – während die Apostelgeschichte nun einen ganz anderen Weg einschlägt und Jesus` Familie in den Vordergrund rückt, insbesondere dessen Bruder Jakobus. Aber hatte Jesus tatsächlich einen Bruder?

In den Evangelien gibt es zu Jesus` Familie unterschiedliche, sich auch widersprechende Aussagen. Laut Markus und Matthäus aber hatte Jesus Geschwister. Bei Markus fragen sich die Leute in Nazareth (6,3): „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria, der Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon, und leben nicht seine Schwestern hier bei uns?“ Und ähnlich heißt es bei Matthäus (13,55): „Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heisst seine Mutter nicht Maria, und sind nicht Jakobus, Josef, Simon und Judas seine Brüder? Und leben nicht alle seine Schwestern bei uns?“

Zum Problem für das christliche Bewusstsein werden die Geschwister Jesu erst in dem Augenblick, in dem Maria zur ewigen Jungfrau erklärt wird und die Doktrin von der wundersamen Empfängnis des Gottessohnes entsteht. Dass es aber so sein muss, dass eine „Jungfrau“ den Gottessohn gebärt – das hatte schon der erste große Prophet Jesaja vorhergesagt (7,14): „Die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären.“

Jahrhundertelang werden sich die Theologen nun mühen, das Unerklärliche zu erklären, dabei berichtet Markus, dessen Evangelium als das älteste gilt, überhaupt nichts davon, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde. Offensichtlich wusste er davon gar nichts. Die These von der lebenslangen Jungfräulichkeit konnte aber zum katholischen Dogma werden auf der Grundlage von anderen Texten aus dem 1. Jahrhundert, wo man mit der Jungfräulichkeit Marias wohl Jesus Geburt in das Davidische Umfeld platzieren wollte – deshalb auch der Versuch, Bethlehem als Geburtsort festzulegen, denn dem Alten Testament zufolge stammt David aus Bethlehem und auch der von den Juden erwartete Messias muss aus dem Haus David respektive aus Betlehem stammen.

Dass diese These aber einfach so übernommen wurde – das sagt viel über den theologischen Standpunkt zur Sexualität in der katholischen Kirche im 4. und 5. Jahrhundert aus, der Zeit also, in der die Doktrin formuliert wurde. So schreibt beispielsweise Augustinus (354-430) in seinen Bekenntnissen (Confessiones), dass die „Dünste aus dem Sumpf fleischlicher Begierde“ den „heiteren ruhigen Glanz der Liebe“ verfinstern und dass Schönheit nicht mit der „Lust dieser Augen meines Fleisches“, sondern nur „im Innersten“ wahrnehmbar sei. Darüber hinaus beschreibt er in seinem Gottesstaat (Civitas Dei) das Ideal einer beherrschbaren Sexualität, die dann von der Kirche als offizielle Sexualethik übernommen wurde: Schon im Paradies hätten Adam und Eva dem in der Genesis formulierten göttlichen Auftrag „Seid fruchtbar und vermehrt euch“ gehorchen müssen, doch erst mit dem Sündenfall sei die Begierde, die Lust, geweckt worden. Bis dahin erfolgte der Geschlechtsverkehr leidenschaftslos, und das männliche Glied „würde das Zeugungsfeld besät haben gerade so wie der Bauer die Saat ins Feld sät“. Entsprechend sei er in der Ehe legitim, weil die Menschen dort zeugen, ohne die „beschämende Wollust“ gekannt zu haben, denn auch die „Schamglieder“ wären mehr vom „Willen“ als von der „Lust“ beherrscht worden.

Das Maria Jesus unbefleckt empfängt ist die eine Sache, dass sie aber ewig Jungfrau bleibt – das ist eine spätere Entwicklung. Es gibt verschiedene theologische Ansätze, zumindest die Möglichkeit einer jungfräulichen Geburt einzuräumen. So hat man zum Beispiel darauf verwiesen, dass die Formulierung im Markusevangelium (6,3), Jesus sei ein „Sohn von Maria“ auch darauf hinweisen könnte, dass der Vater von Jesus unbekannt war, da zu jener Zeit die Leute gewöhnlich als die Söhne ihrer Väter bezeichnet wurden („Ben …“). Das ist eine andere These zum Verwandtschaftsgrad zwischen Jakobus und Jesus, nämlich dass Jesus das uneheliche Kind Marias sei. Nach dieser Legende ist Jesus Sohn eines römischen Soldaten namens Panthera.

Ende des 2. Jahrhunderts ist das so genannte Protevangelium des Jakobus (das womöglich ursprünglich Mariä Geburt hieß) entstanden, wo angedeutet wird, dass Josef Witwer gewesen sei und – als er Maria kennenlernte – bereits Kinder gehabt habe, die dann zu Jesus Halbgeschwistern wurden und nicht zu Kindern Marias.

Eine weitere Lesart hat sich gegen Ende des 4. Jahrhunderts durch den Heiligen Hieronymus (347-420) entwickelt, der die Bibelexegese stark geprägt hat: Er glaubt, die Brüder Jesus seien die Kinder einer anderen Maria, Jakobus also der Vetter von Jesus. Das ist zwar kaum glaubhaft – trotzdem blieb er es in der Überzeugung der Katholiken bis heute. Man kann das damit erklären, dass die Evangelien zwar auf Griechisch verfasst, aber zutiefst von einer semitischen Kultur geprägt sind. Und im Hebräischen meint „Bruder“ angeblich nicht unweigerlich eine biologische Verwandtschaft, sondern nur: „naher Verwandter“, wie eben der Vetter.

Für den Historiker allerdings gibt es keinen Grund, den Begriff „Bruder“ anders zu interpretieren, als im herkömmlichen Sinne. Denn im Griechischen gibt es für Vetter ein eigenes Wort. Außerdem bestätigt auch Paulus, das Jakobus der „Bruder des Herrn“ sei. Hätte er von einem Vetter sprechen wollen, hätte er dafür wohl auch das entsprechende Wort verwendet. Man muss also davon ausgehen, dass diese Brüder wirklich (biologische) Brüder waren und nicht nur im weiteren Sinne verwandt. Und das bestätigt im weiteren Sinne auch Jakobus` Zugehörigkeit zum Judentum.

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Die ältesten Papyrusrollen des Neuen Testaments befinden sich Genf, London und Dublin. In einer der ältesten Versionen des Korintherbriefes zählt Paulus alle auf (1. Kor. 15,5-8), denen Jesus als Auferstandener erschienen ist – und unter ihnen war auch Jakobus. Keine andere Stelle im Neuen Testament verweist darauf, nur diese Stelle in Paulus` Korintherbrief. Das zeigt, dass Jakobus bei den Evangelisten keine bedeutende Rolle zugesprochen wird, das heißt Jakobus wird in den später geschriebenen Evangelien nicht weiter erwähnt. Ein paar Jahrzehnte zuvor allerdings ist er bei Paulus, auch im Brief an die Galater (1,19), noch extrem wichtig. Und auch in der Apostelgeschichte des Lukas taucht Jakobus auf – und zwar als eine der herausragenden Figuren der ersten Gemeinde in Jerusalem, die er in der Anfangszeit leitet.

Die Urgemeinde ist kurz nach Jesus Tod, noch zu Lebzeiten von Jakobus, Petrus und den Jüngern, von der Hoffnung getragen, dass das Reich Gottes, das heißt ein von der römischen Besatzungsmacht befreites irdisches Reich, unmittelbar bevorstehen würde. Aber alle streiten sie darüber, wem in dieser neuen Weltordnung Bedeutung zukommen sollte – es ging um die höchsten Ämter. Dass die Rolle des Jakobus in den Evangelien verschwiegen, in der Apostelgeschichte hingegen so betont wird, zeugt jedenfalls von den Machtkämpfen innerhalb der Gemeinde Jesu zu dieser Zeit.

Folgt man der Apostelgeschichte – das wird in den Evangelien nicht gesagt – versammelt sich die christliche Gemeinde Jerusalems schon bald nach Jesus` Tod um Jakobus. Seine Herrschaft beginnt Lukas zufolge dabei zeitlich mit dem plötzlichen Verschwinden von Petrus, dem ersten Leiter der Gemeinde. Es bleibt unklar ob durch Tod oder Exil – fest steht nur, dass Petrus zuvor, in den beiden ersten Jahrzehnten nach Jesus` Tod – dafür sprechen mehrere Texte –, das Oberhaupt der Gemeinde war. Warum er aber verschwindet, bleibt offen, das heißt in der Apostelgeschichte (12,1-16) wird plötzlich sein Ende erzählt: er sei verhaftet worden und in einem Gefängnis, aus dem er von einem Engel befreit wird, dann „ging (er) hinaus und begab sich an einen anderen Ort“. Das kann bedeuten, dass er fortan unablässig reist – oder er aber gestorben ist. Auf jeden Fall taucht er in Jerusalem nicht mehr auf – und damit ist dann auch der Weg frei für Jakobus: Er wird nun zum Oberhaupt der Jerusalemer Gemeinde, also gewissermaßen zu deren Bischof.

Jakobus sollte die Gemeinde bis zu seiner Ermordung im Jahr 62 leiten – und wird in dieser Zeit mitunter sogar „Bischof der Bischöfe“ genannt, womit er über Petrus stünde. Der Apostelgeschichte zufolge tritt er so gewissermaßen eine Art dynastische Nachfolge Jesu an – letztlich jedoch haben sich dann doch die Apostel durchgesetzt, das heißt das demokratische System der Wahl des Oberhaupts, was sich im Fall des römischen Papstes auch bis heute erhalten hat. Adolf Holl bemerkt in diesem Zusammenhang, dass damit auch beachtliche gesellschaftliche Kräfte freigesetzt wurden: Wie schon Jesus durch sein Evangelium der Nächstenliebe „das Mehrheitsgesetz der sozialen Hierarchie“ durcheinander geworfen hat, so habe sich mit der Wahl des Papstes auch in der kirchlichen Hierarchie des Mittelalters „erstmals ein Prinzip durchgesetzt, das in anderen Kulturen bisher praktisch überhaupt nicht vorzufinden war: der soziale Aufstieg aufgrund persönlicher Leistung“, wobei dieses Prinzip schon früh durch Korruption aufgeweicht wurde.

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Nach dem Ausbleiben der Apokalypse muss sich die Gemeinde in Jerusalem umorganisieren. Zu den Machtkämpfen zwischen Jakobus und den Aposteln auf Führungsebene kommen nun auch die ersten Spannungen und Konflikte innerhalb der Urgemeinde: Obwohl Lukas in der Apostelgeschichte – die erst ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen verfasst wurde, aber die einzige Quelle zur Situation in der Jerusalemer Gemeinde ist – grundsätzlich versucht, eine friedvolle Stimmung zu zeichnen, wird nun plötzlich doch von Auseinandersetzungen berichtet. Lukas schreibt (6,1): „In diesen Tagen aber, als die Jünger zahlreicher wurden, kam es dazu, dass die Hellenisten unter ihnen gegen die Hebräer aufbegehrten …“

Die Hebräer sind wohl die Apostel mit aramäischem Hintergrund, während die Hellenisten von der griechischen Kultur geprägt sind. Jerusalem war zur Zeit der Kreuzigung von Jesus eine jüdisch-hellenistische Stadt: 40 Prozent der Ossuarieninschriften (insgesamt sind 280 erhalten) sind in griechischer Sprache. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung hatte Griechisch als Muttersprache – es handelte sich bei ihnen größtenteils um Rückkehrer aus der Diaspora in die Heilige Stadt, die sich zum neuen Glauben bekehrt haben.

Womöglich kam es zwischen beiden Gruppen zu Konflikten aufgrund sprachlicher Unterschiede, die dazu führten, dass man zwei verschiedene Gottesdienste abhalten musste, was entsprechend auch zu zwei verschiedenen Gottesdienstgemeinden führte. Doch die kulturelle Kluft verbirgt die Sicht auf andere Gegensätze zwischen den beiden ungleichen Netzwerken: Wie Lukas berichtet (6,1), begehren die Hellenisten deshalb auf, „weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung vernachlässigt wurden“. Es ging also um den sozialen Dienst der Urkirche – und der Vorwurf der Hellenisten an die Apostel war insofern ganz praktischer Natur: sie sollten sich weniger um die „Verkündigung des Wortes Gottes“ und mehr um die praktischen Belange der Gemeinde kümmern. Aus diesem Grund wurden nun sieben Vertreter der hellenistischen Gemeinde, unter ihnen Stephanus, von den Aposteln als Diakone eingesetzt: Sie sollten sich fortan um eine gerechte Verteilung der Lebensmittel kümmern – wie das heute von der Diakonie verrichtet wird.

Schon bald jedoch wirkten diese Diakone nicht mehr nur innerhalb der Gemeinde, sondern in der weiteren Umgebung auch als Evangelisten (Apg. 8,26-40). Stephanus jedenfalls wird von den Aposteln zunächst als Diakon eingesetzt, beginnt dann aber – wie die Apostel – als Prediger des Evangeliums außerhalb der Gemeinde tätig zu werden: Er tritt als christlicher Propagandist in den Diaspora-Synagogen in Jerusalem auf – und das stößt natürlich auf Widerstand seitens der jüdischen Priester dort. Schon bald eskaliert der Konflikt zwischen den Juden und den frühen Christen.

Die Synagoge in Jerusalem ging immer mehr auf Abstand zur christlichen Gemeinde. Sie wollte nicht, dass die Christen mit den Juden gleichgestellt wurden und das ihnen der gleiche Sonderstatus zukäme, den das Judentum als religio licita („erlaubte Religion“) im Römischen Reich genoss. Und es ist durchaus vorstellbar, dass es zu Denunziationen durch Mitglieder der Synagoge kam, die von dieser Vereinbarung profitierten. Jedenfalls wird Stephanus verleumdet und es kommt zur Anklage gegen ihn – die an jene gegen Jesus im Markusevangelium (14,58) anschließt, das heißt Lukas übernimmt diese Anklage nun in der Apostelgeschichte: Offenbar hat auch Stephanus unzulässige Kritik am Tempelkult geübt. Der Vorwurf in der Apostelgeschichte diesbezüglich lautet (6,13): „Dieser Mensch hört nicht auf, Reden zu führen gegen diesen heiligen Ort und gegen das Gesetz. Wir haben nämlich gehört, wie er gesagt hat: Dieser Jesus von Nazaret wird diese Stätte zerstören und die Bräuche ändern, die Mose uns überliefert hat.“ Stephanus diskutiert demzufolge mit den Juden über den Tempel und das Mosaische Gesetz – und setzt nun zu einer langen Verteidigungsrede an, die darin mündet, dass der von einem „vor Zorn rasenden und mit den Zähnen knirschenden“ jüdischen Mob gesteinigt wird (Apg. 7,54-59).

Die Steinigung von Stephanus soll um das Jahr 40 stattgefunden haben – und gesteinigt wurde laut dem jüdischen Historiker Flavius Josephus im Jahr 62 auch Jakobus. Der galt zunächst eigentlich als streng gläubiger Jude, einer, der sich an die Gesetze Mose und die Thora hielt. Allerdings wollte der Gang der Geschichte damals, dass von den Gesetzen Mose abgerückt wird. Das tat Jakobus wohl auch, dennoch wurde er als Oberhaupt der Gemeinde in Jerusalem, die anfangs die christliche Welt dominierte, zunehmend wie ein Fossil als anachronistische Figur wahrgenommen. Außerdem gewann die Kirche von Rom immer mehr Einfluss – und ihr Schutzpatron war insbesondere auch Petrus. Schließlich hat er posthum seine Identität komplett eingebüßt, als man aus dem Bruder Jesu seinen Vetter machte – und er also zu einem Opfer der fortschreitenden Ablösung vom Judentum wurde, die die Kirche vollzog.

Trotz des schleichenden Machtverlusts innerhalb der frühchristlichen Gemeinde soll Jakobus auf betreiben des letzten Hohepriesters des Zweiten Tempels, Ananus ben Ananus, der in ihm einen potentiellen Konkurrenten gesehen habe, hingerichtet worden sein. Seither ist er unter dem Namen „Jakobus der Gerechte“ bekannt, das heißt: dem Recht treu ergeben, als einer, der die religiösen Regeln strikt einhält – ein Asket. Die christliche Überlieferung integriert später auch einen Brief von ihm in den Kanon des Neuen Testaments, während sie sich ansonsten paradoxerweise darum bemüht, die Erinnerung an Jakobus vergessen zu machen.

Das ist bei Stephanus anders – aus dem gewissermaßen eine Kopie von Jesus gemacht wird, nicht allein was die Tempelkritik anbelangt. Denn auch der Tod des Stephanus wird zu einer Wiederholung der Leidensgeschichte Jesu gemacht, und zwar durch die beiden Sätze: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (7,60), was eine Analogie von Jesus` „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ ist, und mit „nimm meinen Geist auf“ (7,59), was Jesus` „Ich gebe meinen Geist in deine Hände“ entspricht. In der Apostelgeschichte wird das Martyrium des Stephanus, die Steinigung, insofern zu einer Wiederholung der Passionsgeschichte. Das läßt Jesus im Nachhinein als ersten Märtyrer erscheinen, während Stephanus das erste christliche Martyrium zugestanden wird – im Grunde aber das zweite. Die Bedingungen des Christentums werden so von der lukas`schen Theologie jedoch auf der Grundlage einer Legende entwickelt – was schließlich zu gravierenden theologischen Differenzen zwischen Hellenisten und Hebräern führt, das heißt, dass die Hellenisten in Jerusalem versuchen die Figur des Jesus mit Hilfe von Stephanus` Martyrium für sich in Beschlag zu nehmen, endet in einem ersten Bruch innerhalb der frühchristlichen Bewegung.

Nach der Steinigung des Stephanus kommt es aber nicht nur zu einem theologischen Bruch innerhalb des Urchristentums, sondern auch zu einem großen Schlag gegen die Gemeinde in Jerusalem insgesamt. In der Apostelgeschichte schreibt Lukas (8,1) in diesem Zusammenhang: „An jenem Tag nun kam eine grosse Verfolgung über die Gemeinde in Jerusalem. Alle wurden versprengt über das ganze Land, über Judäa und Samaria, nur die Apostel nicht.“

Eine Verfolgung der christlichen Gemeinde konnte nur von den Priestern oder den Pharisäern ausgehen – also von der jüdischen Seite. Es handelt sich hier also um eine Christenverfolgung seitens der Juden von Jerusalem. Es ist die erste große Verfolgung (Nero war wohl derjenige, der die Christen erstmals systematisch verfolgen ließ), der die Urgemeinde ausgesetzt ist – und vor allem die griechischsprachigen Frühchristen zerstreuen sich nun im gesamten Römischen Reich. Seltsamerweise sind es die Apostel, die bleiben, obwohl doch vernünftigerweise sie zuerst hätten fliehen müssen. So jedoch gewähren sie, die der Thora verbundenen Juden-Christen, die beständige Fortdauer des Christentums in der Heiligen Stadt.

Die Situation in Jerusalem beruhigt sich dann in der Folge – während die vertriebenen frühen Christen für die Verbreitung des Christentums in der Diaspora sorgen werden. Sie ziehen nach Judäa und Samaria, wie es heißt, aber auch nach Rom und Antiochia in Syrien, wo Markus in der Zeit um das Jahr 70 vermutlich sein Evangelium schreibt, insbesondere an nicht-jüdische Christen gerichtet. In Antiochia entsteht zwanzig Jahre später auch das Matthäusevangelium, das dem Judentum am nächsten steht. Lukas verfasst sein Evangelium zur selben Zeit, aber womöglich in Rom. Jedenfalls lässt er dort die Missionsreise von Paulus enden und schreibt in diesem Zusammenhang von „Wir“ – als ob er persönlich mit ihm unterwegs gewesen wäre. Das zuletzt erschienene Evangelium stammt von Johannes und ist um das Jahr 100 in Ephesos entstanden. Auch er schreibt, wie die Synoptiker, in griechisch mit aramäischem Einschlag und spricht von einem „Augenzeugenbericht“. Es waren deshalb womöglich Jünger, die seinen Lebensbericht aufzeichneten.

Egal, wohin die ersten Christen ins Exil gingen – überall beginnen sie nun ihre Missionsarbeit. Zunächst dürften das noch ungläubige Juden sein, die sie zum Evangelium bekehren, rasch aber breitet sich die Missionierung aus und sprengt damit den traditionell ausschließlich jüdischen Rahmen. Die nun zum Christentum Bekehrten waren mehrheitlich so genannte Proselyten, also bekehrte Heiden. In diesem Zusammenhang nun tritt in der Apostelgeschichte auch erstmals Paulus prominent in Erscheinung.

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Paulus wird vermutlich um das Jahr 5 im syrischen Tarsus geboren (das heute in der Türkei liegt), und zwar als Jude. Sein Vater gibt ihm den hebräischen Namen Saul (lateinisch Saulus) – nach dem ersten biblischen König Israels. Doch er bekommt wohl schon bei der Geburt noch einen weiteren Namen – und zwar den römischen: Paulus. Denn er ist zwar Jude, aber von Geburt an auch römischer Bürger. Aus Saulus wird insofern also nie ein Paulus – er ist schon von Geburt an Beides.

Paulus spricht Griechisch, die Weltsprache seiner Zeit, und wird streng nach der Heiligen Schrift, der Thora, erzogen, dem jüdischen Gesetz: 613 Vorschriften gibt es in den fünf Büchern Mose – genau 248 Gebote und 365 Verbote. Paulus lernt sie alle, verinnerlicht sie: Das Gesetz ist für ihn gewissermaßen die Norm des Lebens – wie auch für die anderen Pharisäer, denen er sich anschließt. Sie sind eine besonders fromme jüdische Bewegung, deren Anhänger strenger als andere nach dem Gesetz leben und die Reinheitsvorschriften, die eigentlich nur für die Priester im Tempel gelten, selbst auch einhalten wollen.

Wie viele andere Juden hofft Paulus auf den Messias, einen von Gott „Gesalbten“, der das Volk Israel aus der Knechtschaft befreit. Die Propheten haben ihn angekündigt, diesen Nachfolger des Königs David aus Betlehem. Obwohl er ihm nie begegnet – Paulus ist etwa 30 Jahre alt, als Jesus stirbt – muss es ihm als strenggläubigem Juden geradezu absurd vorgekommen sein, dass ausgerechnet ein Gekreuzigter der Messias sein soll. Er hält das wohl für eine Anmaßung – jedenfalls wird er in dieser Zeit zu einem strenggläubigen „Christenverfolger“, wie er später selbst in seinen Briefen schreibt.

Dann allerdings ändert sich sein Leben plötzlich dramatisch: auf dem Weg nach Damaskus umstrahlt ihn völlig unvermittelt ein Licht – in der Apostelgeschichte heißt es dazu (Apg. 9,1–19): „Als er unterwegs war, geschah es, dass er in die Nähe von Damaskus kam, und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht vom Himmel; er stützte zu Boden und hörte eine Stimme zu ihm sagen: Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Er solle in die Stadt gehen, dort werde ihm gesagt, was er tun solle. Es ist das so genannte Damaskuserlebnis – der Augenblick, in dem er vom Saulus zum Paulus wird, vom fanatischen Christenverfolger zu einem an Christus glaubenden „Apostel der Völker“, wie er selbst sagt. Allerdings schreibt er in seinen Briefen ansonsten merkwürdig wenig über diese Berufung, nur, dass er „Jesus unseren Herrn“ gesehen habe (1. Kor. 15,8-9): „Zuallerletzt aber ist er auch mir erschienen, mir, der Missgeburt. Ich bin nämlich der geringste [„Paulus“ heißt „der Geringste“] unter den Aposteln, der es nicht wert ist, Apostel [„Gesandter“, „Bote“] genannt zu werden, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe.“

Paulus verstand sich aufgrund dieser Vision als einen Kraft göttlicher Offenbarung auserwählten Apostel, obwohl er als einziger dieser Apostel Jesus selbst nie persönlich begegnet ist. Die Auszeichnung „Apostel“ wurde bislang nur jenen zuteil, die Jesus kata sarca kannten (Gal. 4,23), also Jesus als Gestalt von Fleisch und Blut. Paulus verweigert sich dieser Hierarchie – und fühlt sich dabei in keinster Weise den Jüngern Jesu unterlegen: Als letztem sei der Auferstandene auch ihm erschienen, so sei er berufen worden (Gal. 1,1). Durch die mystische Begegnung mit dem Auferstandenen (1. Kor. 9 und 15) fiele ihm eine mindestens gleichwertige Autorität zu.

Jedenfalls wird er nach seiner Wandlung nicht nur Missionar, sondern empfindet sich auch als die unmittelbar von Gott eingesetzte Autorität für die Verkündigung des Evangeliums. In Jerusalem hingegen, so berichtet es Lukas in der Apostelgeschichte (9,26) „fürchteten ihn (alle) und glaubten (ihm) nicht, dass er sein Jünger sei“. Für Paulus jedoch war Jesus auch kein Vorbild, wie er es für die Jünger ist, die versuchen ihm nachzuleben. Er interessierte sich nicht dafür, wie sich Jesus verhielt oder was er dachte und sagte, sondern wichtiger war ihm, welche Rolle Jesus im göttlichen Plan einnahm: Für ihn war unwichtig, ob Jesus „einer der unseren“ war, wie noch der jüdische Historiker Jospeh Klausner in „Jesus von Nazareth“ (1930) betont, sondern für ihn zählte vor allem, dass Christus für unsere Sünden starb und am dritten Tag von den Toten auferstanden ist und das er kam, um die Erlösung zu bringen – er wurde von Gott gesandt, um die Menschheit zu erlösen.

Nur vier Mal verweist Paulus auf die Worte des Herrn (1. Kor. 7,10; 9,14; 11,23-25 und 1. Thess. 4,16-17) und in allen Fällen stimmen sie nicht genau mit dem überein, was man aus den Evangelien kennt. Man hat daraus abgeleitet, dass Paulus über keine Biographie von Jesus verfügte, aber er interessierte sich schlichtweg nicht für das irdische Leben Jesu – das sei nicht der Kern der christlichen Botschaft (wenn er sagt, dass seine Gegner einen „anderen Jesus predigen“, wie in 2. Kor. 11,4, bezieht er sich vermutlich genau darauf). Mit der Zeit entwickelte Paulus so seine eigene Theologie – immateriell und körperlos gewissermaßen – und allein sie war ihm wichtig.

Tatsächlich hat sich das, was man heute orthodoxes Christentum nennt, erst im Laufe der folgenden Jahrhunderte herauskristallisiert. Aber dieses Christentum ist ein fundamental von Paulus geprägtes Christentum – eines, das insbesondere Abstand nimmt von der jüdischen Gestalt Jesu, der historischen Figur, die es bei Paulus nicht gibt. Jesus wird hier zum Christus, also zu einer göttlichen Persönlichkeit, die nicht mehr viel mit der Gestalt des Propheten und des Messias zu tun hat. Schon mit Paulus setzt insofern also jener Vergottungsprozess ein, den Adolf Holl als konstitutiv für die weitere Entwicklung des Christentums bezeichnet hat – nicht erst mit Johannes, dem Verfasser des vierten Evangeliums.

Noch allerdings hat sich diese neue Religion nicht durchgesetzt, und so trifft Paulus ein paar Jahre nach der Erscheinung, wohl im Jahr 36, einige Leute in Jerusalem, die Jesus noch persönlich kennengelernt haben. Unter ihnen ist auch die wichtigste Person des frühen Christentums: Petrus. Er bleibt 15 Tage bei ihm und Jakobus in Jerusalem, bevor er weiter wandert nach Antiochia, der vielleicht bedeutendsten Gemeinde außerhalb des Heiligen Landes zu dieser Zeit. In Antiochia – das nur Juden offen steht – leben zu der Zeit etwa 500.000 Menschen – es ist die erste Stadt, in der die Bezeichnung „Christen“ („Christianoi“) aufkommt, und auch Paulus sollte dort seine eigentliche religiöse Sozialisation erfahren. Auch wenn Paulus später als maßgeblich für die Entwicklung des Christentums angesehen wird – erfiunden hat er es insofern nicht.

Von den Christianoi in Antiochia wird Paulus als Apostel anerkannt und schließlich von der Gemeinde als Missionar ausgeschickt – und zwar zu den Nicht-Juden, den heidnischen Römern, die nach ihrer Bekehrung Proselyten genannt werden. Er selbst deutet seine Stellung als eine Art Pendant zur Rolle des Petrus als Apostel der Juden: als Missionar der nicht-jüdischen Völker des Mittelmeerraumes, als Apostel der Nichtjuden. In dieser Funktion wird Paulus seine unverwechselbare Identität entfalten – und dabei in 20 Jahren etwa 16.000 Kilometer zurück legen.

Das Römische Reich verfügt zu dieser Zeit über etwa 300.000 Soldaten, die den brüchigen Frieden im Reich sichern – das macht Paulus ausgedehnten Missionsreisen überhaupt erst möglich. Er missioniert und gründet Gemeinden in Philippi und Thessaloniki, Galatien und Korinth, einige Zeit bleibt er in Ephesos. Überall stiftet Paulus ein Bewusstsein einer neuen christlichen Identität – insbesondere auch durch seine Briefe an die Gemeinden: 7 authentische haben sich im Neuen Testament erhalten (Römer, 1. und 2. Korinther, Galater, Philipper, 1. Thessalonicher, Philemon) – sie sind somit die ältesten Worte, die von einem Christen erhalten sind, geschrieben wohl in den Jahren 50 bis 56.

Das letzte, was man von Paulus aus seinen Briefen erfährt, ist, dass er nach einem weiteren Besuch Jerusalems nach Rom aufbrechen will, um von dort nach Spanien weiterzureisen. Doch dazu kommt es nicht mehr, den er wird vorher im Tempel verhaftet und dem römischen Statthalter in Caesarea vorgeführt. Dreimal tritt in den folgenden zwei Jahren der Hohe Rat der Juden vor römische Instanzen und fordert den Tod des Paulus, doch stets ohne Erfolg. Nach römischem Recht hat er kein Verbrechen begangen – und so wollten die Römer ihn denn auch eigentlich aus der Haft entlassen, schließlich aber wird er, aufgrund seines römischen Bürgerrechts, nach Rom an das kaiserliche Gericht überstellt.

Die Apostelgeschichte berichtet nun von einem zweijährigen Arrest – dann bricht sie jedoch ab. Wann und wie Paulus umkommt, bleibt unklar, es wird aber ein Märtyrertod wie bei Petrus vermutet: Einer Version zufolge soll Paulus um das Jahr 64 nach mit dem Schwert geköpft worden sein. Das wäre zumindest nicht unrealistisch, denn tatsächlich ließ Nero nach dem Brand von Rom die für schuldig befundenen Christen so umbringen. Nach einer anderen Version soll er jedoch – gemeinsam mit Petrus – gekreuzigt worden sein.

Obwohl beide, Paulus und Petrus, als gemeinsame Gründer der Gemeinde Roms gelten, wird doch eher Petrus allein zugeschrieben, erster Bischof Roms gewesen zu sein. Auf ihn berufen sich jedenfalls die Päpste. Paulus aber ist es, der das Christentum in der Welt verbreitet – es mit einem universalen Anspruch verbindet. Und genau diese Universalität reklamiert dann auch die Kirche für sich, indem sie sich den Titel „katholisch“ gibt, der aus dem griechischen „katholikós“ entlehnt wurde und eben „umfassend“, „das Ganze betreffend“ bedeutet.

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Paulus` Briefe gehören zu den wichtigsten Texten des Neuen Testaments – allein schon deshalb, weil Paulus ein Zeitgenosse von Petrus und den Aposteln war. Von den 14 Briefen aber, die in katholischen Fassungen des Neuen Testaments Paulus zugeschrieben werden, stammen jedoch nicht alle auch von ihm selbst: Mindestens einer wurde von jemand anderem geschrieben, nämlich der Brief an die Hebräer – den protestantische Ausgaben nicht zu Paulus` Briefen zählen. Hinzu kommen weitere drei Briefe, die fast allgemeingültig nicht Paulus zugeschrieben werden: die Briefe und Pastoralbriefe an Titus und Timotheus. Bleiben also noch zehn, auf die man sich mehr oder weniger umstritten geeinigt hat, das heißt, eigentlich sind es nur sieben, die einstimmig als authentische Briefe von Paulus anerkannt sind: die Briefe an die Römer und Galater, der erste an die Thessaloniker, die beiden an die Korinther, an die Phillipper und an Philemon.

Paulus` Briefe entstanden fast eine Generation vor den Evangelien – sie sind die ältesten Zeugnisse über die Ursprünge des Christentums, die uns zur Verfügung stehen. Aber Paulus stirbt noch, bevor im Jahr 66 in der Provinz Judäa der Aufstand der Juden gegen die Römer ausbricht. Die Revolte wird von Kaiser Titus (39-81) niedergeschlagen. Im Jahre 70 fällt Jerusalem – und der Zweite Tempel wird in Brand gesteckt und zerstört. Etwa 20 oder 30 Jahre später wird dann der Text geschrieben, der von den Anfängen der christlichen Bewegung berichtet und es erstmals auch erlaubt, Paulus` Briefe und seine Missionarstätigkeit in einen chronologischen Rahmen zu stellen – die Apostelgeschichte. Sie bezieht sich ab dem 9. Kapitel immer wieder auf Paulus, widerspricht ihm in ihren Aussagen allerdings auch immer wieder. Es ist sogar möglich, dass der Verfasser der Apostelgeschichte gar nichts von Paulus` Briefen wusste oder wissen wollte.

Lukas, der als Verfasser der Apostelgeschichte gilt, schreibt insbesondere auch deshalb, weil er ein lineares Bild der Ursprünge geben will – das dann die Geschichte des Christentums während der nächsten 2.000 Jahre bestimmen wird, als seine Schriften einen kanonischen Status erhalten. Dabei schreibt Lukas nicht – wie der römische Historiker Publius Cornelius Tacitus (58-120) es eigentlich für einen Geschichtsschreiber fordert – ohne Tendenz, das heißt Lukas schreibt klar mit einer christlichen Gesinnung.

Die heute bekannte Apostelgeschichte existiert in einer Fassung, in der sie ab etwa 160 verwendet wird. Es erstaunt aber, dass der Bericht von Lukas über die Ursprünge der christlichen Bewegung in der Gemeinde in Rom zwischen 140 und 170 unbekannt ist, obwohl sie zweifelsfrei auch schon lange vorher geschrieben wurde und nicht erst jetzt quasi erfunden wurde. Man ist sich ziemlich sicher, dass Lukas sie nach seinem Evangelium verfasste, zwischen den Jahren 80 und 90.

Lukas hat beide Texte – das Evangelium und die Apostelgeschichte – ursprünglich wohl als ein Werk verstanden, als Geschichte von Jesus und jene von Paulus, und bestätigt damit, dass die christliche Identität sich nicht jenseits von Jesus und Paulus begreifen lässt. Lukas ist der Erste, der das so sagt – einen handschriftlichen Beweis aber dafür, dass die beiden Texte ursprünglich ein gemeinsames Werk bildeten, gibt es nicht. Und insofern auch keinen direkten Beweis dafür, dass Lukas auch tatsächlich der Autor der Apostelgeschichte ist, auch wenn es daran nur wenig Zweifel gibt und die zahlreichen sprachlichen Übereinstimmungen zwischen den beiden Texten nur ein weiteres deutliches Indiz dafür sind.

Der historische Stellenwert der Apostelgeschichte ist zwiespältig, das heißt, einerseits ist sie, neben den Briefen, die einzige Quelle für die Ursprünge des Christentums, andererseits aber stimmen die Informationen leider nicht immer mit den Zeugnissen überein, die Paulus in seinen Briefen über sich selbst gibt. Die Briefe von Paulus wiederum genießen innerhalb des Neuen Testaments die größte Glaubwürdigkeit – aufgrund ihres Alters und der Nähe zu den ersten Gemeinden. Aber die Bedeutung von Paulus tritt erst später zutage, als seine Briefe im 2. Jahrhundert zusammengestellt und verbreitet werden und sich die Frage der Trennung zwischen Judentum und Christentum stellt. Und in diesem Zusammenhang tritt dann insbesondere ihr theologischer Wert in den Vordergrund. Wenn es aber darum geht, ob es sich hierbei um ein historisches Dokument handelt oder um Literatur ist die Antwort eindeutig: Alles, was im Neuen Testament zu lesen ist, wurde für die Veröffentlichung überarbeitet. Deshalb lässt sich nie mit Gewissheit sagen, was nun stimmt und was nicht – und deshalb sind die Briefe von Paulus genauso wie die Apostelgeschichte auch keine historische Chronik der Ereignisse, sondern eben Literatur.

Für Lukas ist Paulus insbesondere deshalb wichtig, weil er an ihm die Kontinuität in der Entwicklung des Christentums von den jüdischen Ursprüngen in Jerusalem bis nach Rom, das Jerusalem dann als Zentrum des Christentums ablöst, nachzeichnen kann. Wichtig ist für ihn dabei die Geschichte der christlichen Mission: von der ersten Predigt Petrus` in Jerusalem bis zu Paulus` Predigt in Rom, wo er mit der Bemerkung schließt, dass die Juden „nicht wollen, dass ich sie heile. So sei euch denn kundgetan: Das Rettende, das von Gott kommt, ist zu den anderen Völkern gesandt worden, und die werden hören“ (Apg. 28,27-28). Paulus besiegelt hier gewissermaßen, dass das Christentum endgültig universell geworden ist und seinem jüdischen Ursprung entwachsen. Gleichwohl aber ist Lukas als Verfasser der Apostelgeschichte auch klar, dass das frühe Christentum am Übergang zum 2. Jahrhundert doch auch davon geprägt ist, dass es innerhalb der jüdischen Welt nicht wirklich erfolgreich ist – und das insbesondere auch aus dem einfachen Grund, weil Jesus am Kreuz gestorben ist.

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Mit Abstand betrachtet, ist Paulus jemand, über den wir aufgrund der Quellenlage am meisten Informationen haben – so erscheint er uns zwangsläufig bedeutsamer als andere wichtige Personen der urchristlichen Bewegung, Diese Bedeutung aber wird in der Apostelgeschichte noch zusätzlich unterstrichen. Lukas bemächtigt sich hier der Figur des Paulus und inszeniert sie gewissermaßen als die zentrale Figur der Urkirche beziehungsweise der christlichen Bewegung in ihrem Ursprung. Das liegt auch daran, dass er – bei aller Widersprüchlichkeit zwischen Apostelgeschichte und Briefen – ein Schema, das Paulus selbst in der Rhetorik seiner Briefen etabliert hat, unhinterfragt übernimmt: es ist das Schema des Vorher – Nachher, und es ist genau dieses Schwarz – Weiß, das die ganze Geschichte historisch unglaubwürdiger, aber literarisch vielleicht interessanter macht. Am deutlichsten wird das beim Damaskuserlebnis beziehungsweise bei der Verwandlung vom Saulus zum Paulus, die ja gewissermaßen der dramatische Kern der ganzen Biographie ist: Allen Erwartungen zum Trotz erwähnt Paulus nämlich an keiner Stelle seiner Briefe diese Episode, in der er dem Judentum abgeschworen hätte. Im Galaterbrief wird die Berufung des Paulus beziehungsweise die Bekehrung des Saulus nur ganz kurz erwähnt – während Lukas das Damaskuserlebnis und die damit verbundene Wandlung vom Saulus zum Paulus unhinterfragt in der Apostelgeschichte übernimmt und gleich drei Mal erwähnt (9,1-9; 22,6ff und 26,12ff), jedes Mal mit nur geringfügigen Abweichungen.

Indem er selbst sich als Sünder darstellt, konnte Paulus Gottes Werk – das sein Leben grundlegend veränderte – noch mehr herausheben. Dass er selbst sich jedoch gar nicht als Sünder begriff, sondern als gläubigen Juden – das verrät er in einer Stelle in seinem Galaterbrief (1,13-14), wo er schreibt: „Ihr habt ja gehört, wie ich einst als Jude gelebt habe. Unerbittlich verfolgte ich die Gemeinde Gottes und suchte sie zu vernichten. Und in meiner Treue zum Judentum war ich vielen Altersgenossen in meinem Volk weit voraus, habe ich mich doch mit ganz besonderem Eifer für die Überlieferungen meiner Väter eingesetzt.“ Als Sünder bezeichnet Pauls sich erst in dem Moment, wo er selbst zum Christ wird – und schließlich macht auch die vorchristliche Tradition aus ihm diesen Sünder.

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Etwa 13 Jahre nach den ersten Treffen mit Petrus, wohl im Jahr 48, wandert Paulus erneut nach Jerusalem, um ein grundlegendes Problem zu klären: Paulus war den christlichen Gemeinden in Judäa unbekannt und betrieb seine Mission außerhalb Palästinas in der jüdischen Diaspora – und das wohl ausgesprochen erfolgreich, wenn man Lukas glauben darf. Gehör findet er dabei zunehmend auch unter den Proselyten – das aber ist vor allem unter den aramäischen Juden in Jerusalem, vor allem den anderen Aposteln, nicht unumstritten. Nach einem Zwischenfall unter jüdischen und nicht-jüdischen Christen in Antiochia beruft Jakobus, der die Jerusalemer Gemeinde zu dieser Zeit leitet, deshalb eine Versammlung der Gemeindevertreter Antiochias ein, zu der auch Paulus als Gesandter der Kirche Antiochias kommt. Im 15. Kapitel der Apostelgeschichte und im 2. Kapitel des Galaterbriefs wird über diese „Apostelkonzil“ (manchmal auch „Apostelkonvent“) genannte Versammlung berichtet: Es soll die grundlegende Frage geklärt werden, ob jemand Jude sein und das Mosaische Gesetz wahren muss, bevor er Christ werden kann, oder ob auch unbeschnittene Heiden getauft werden dürfen?

Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen – die in der syrischen Stadt Antiochia ihren Ausgang nahmen und, ähnlich wie schon beim Konflikt zwischen Stephanus und den Aposteln, eine ganz praktische Ursache hatten: In Antiochia lebte eine große jüdische Gemeinde, und man stellte sich die Frage, wie das Nebeneinander von statten gehen sollte. Die Synagoge besteht in dieser Anfangszeit des Christentums aus drei Kreisen: zunächst der engere Kreis der rechtmäßigen Juden (von Geburt an), um sie die Proselyten (die von einer nicht-jüdischen, also heidnischen Mutter abstammen, aber den jüdischen Glauben samt aller Bräuche ganz angenommen haben) und schließlich die Gottesfürchtigen am Rand.

Nun gibt es damals noch gar keine Messe – die Gemeinde aber ist hier noch eine Tischgemeinschaft: Es gibt das eucharistische Mahl, das gemeinsam geteilt wird. Gefeiert wird das Mahl des Herrn – und genau an diesem Punkt entsteht nun das Problem: Juden und Nicht-Juden zusammen in einer Tischgemeinschaft – das ist unmöglich. Denn entweder es sind alle Juden und essen koscher, oder keiner ist Jude. Beides gleichzeitig geht nicht. Man behalf sich damals mit einem erstes Speisegesetz, wie es bereits im Alten Testament formuliert wurde, das man als eine Art Mindeststandard anwendete – das grundsätzliche Problem aber war damit nicht gelöst.

Lukas beschreibt in der Apostelgeschichte den zentralen Punkt um den gerungen wurde: Jesus ist Jude, auch seine Jünger sind Juden – ihr Horizont scheint sich ohnehin ganz auf Israel zu beschränken – und in der Apostelgeschichte (10,42) werden ihm die Wort in Mund gelegt, dass die Apostel nur zum Volk Israel sprechen sollten. Nach Jesus` Tod jedoch gehen seine Anhänger, zunächst vorsichtig, dann aber immer entschlossener, auch auf die Heiden zu – gemäß dem Evangelium von Matthäus (28,19), wonach die Jünger „zu allen Völkern“, also (auch) den Heiden, gehen sollen und so gewissermaßen eine universelle Mission haben.

Insbesondere für die Apostel stellt sich die Frage, warum man sich nicht damit begnügte, den Glauben an Jesus nur unter den Juden zu verbreiten? Weshalb predigte man auch zu den Nicht-Juden? Schließlich werde schon beim Propheten Jesaja im Alten Testament genau darüber gesprochen: er hat die Erwartung, dass sich am Ende der Zeiten alle Völker sammeln und Israel anschließen werden – nun aber wird die Missionierung der Heiden bereits vor dem Zeitenende von Leuten wie Paulus vorangetrieben.

Es gab unzweifelhaft seit jeher eine jüdische Missionierung – nur so läßt sich die Tatsache erklären, dass bereits um das Jahr 50 etwa 10 Prozent der Bevölkerung des römischen Reiches Juden waren. Es gab also etwa 6 Millionen gläubige Juden und das Judentum war insofern auch keine geschlossene Gesellschaft mehr. Und das trotz Beschneidungsitual, das sicher einige Männer davon abgehalten hat – und sie wiederum sehr empfänglich gemacht haben dürfte, für eine Verkündigung, die diesen Akt nicht mehr notwendig machte.

Aber je mehr Heiden nun in die christliche Gemeinde eintraten, umso ausgeprägter wurden die nicht-jüdischen Merkmale der Gemeinde – desto mehr entfernte sich das Christentum vom Judentum. Diese Spaltung verursachte letztlich die Auseinandersetzungen, die dann insbesondere auch in einen Konflikt zwischen Paulus und den Aposteln gipfeln. Für Paulus ist die Spaltung durch das jüdische Gesetz verursacht, die den Nicht-Juden gewissermaßen aufgezwungen werden – weshalb er die Idee eines neuen Weges vertritt: und das ist der Glaube.

Paulus begeht erst in dem Augenblick auf, wo das Gesetz als Voraussetzung für das Heil betrachtet wird. Er akzeptiert die Thora unter dem Aspekt, dass sie das Verhalten ethisch reglementiert – aber sie dürfe keine Bedeutung als Weg zum Heil haben. Im Zentrum seiner Argumentation steht die Erlöserbotschaft: Wenn im Tod Jesu eine Heilsdimension liegt, so gibt es keinen anderen Weg zur Erlösung als durch den Glauben. Paulus predigte damit etwas völlig Neues, nämlich dass Jesus Gottes Sohn, und nicht nur der Erlöser des jüdischen Volkes, sei. Er war der Erlöser aller, er ist für die Erlösung der ganzen Menschheit gestorben. Und die Heiden können insofern auch gerettet werden, ohne zwangsläufig Juden werden zu müssen – sie müssen nur an Jesus als den wahren Sohn Gottes, den Erlöser, glauben. Dadurch erlangten sie die Gnade Gottes als Voraussetzung für ein Leben in Freiheit – und die Hoffnung auf ein ewiges Leben in der Herrlichkeit Gottes, Amen.

Paulus gilt als Gründer des nicht-jüdischen Christentums – einem, das sich nicht mehr an das jüdische Gesetz hält und das dann ab Mitte des 2. Jahrhunderts seine spezifische Ausrichtung erfahren wird. Es ist allerdings unklar, ob Paulus selbst an ein solches, unabhängiges Christentum glaubte, das heißt er hat im eigenen Verständnis vermutlich eher das Judentum innerhalb der römischen Welt umgestaltet, als dass er bewusst eine neue Religion gegründet hätte. Er selbst hat jedenfalls nie mit dem Judentum gebrochen – und lebte vermutlich sogar nach dem jüdischen Gesetz, das er doch so deutlich verurteilt, weil es einem doch die Freiheit nimmt, wie er im Römerbrief schreibt. Erst durch Jesus` Tod sei man „frei geworden vom Gesetz“ (Röm. 7,6) und so gilt (1. Kor. 6,12): „Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“

Aber selbst wenn Paulus das Judentum nur reformieren wollte, so hat seine Theologie doch zu einem Bruch zwischen Juden und Christen geführt, der mit Stephanus begann und nun endgültig besiegelt wird. In seinem ersten Korintherbrief (1. Kor. 6,19) schreibt Paulus davon, dass der „Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist“. Wenn jeder Einzelne Gott beziehungsweise den göttlichen Geist bereits in sich trägt, braucht es den Schöpfergott des Alten Testaments nicht mehr. Und wenn der Leib der Ort ist, an dem Gott weilt – dann ist es nicht der Tempel in Jerusalem. Entsprechend ist es auch, anders als im traditionellen Judentum, gar nicht mehr so wichtig in Jerusalem zu sein – und es geht insofern auch gar nicht mehr um die Herkunft oder Abstammung. Stattdessen wird für Paulus gewissermaßen die ganze Welt zum Heiligen Land.

Es kommt zum Bruch in der christlichen Bewegung – und das Apostelkonzil endet damit, dass das Missionsgebiet aufgeteilt wird. Tatsächlich wird das Apostolat des Paulus anerkannt, das heißt er soll künftig für die Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden, die Unbeschnittenen, zuständig sein. So beginnt mit ihm gewissermaßen die Missionierung der Welt – und gegen Ende des 3. Jahrhunderts werden bereits 10 Prozent der Bevölkerung des Römischen Reiches Christen sein, bevor sich das Christentum bis ins 7. Jahrhundert als offizielle Religon ganz durchsetzen wird.

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Paulus hat keine religiösen Abhandlungen verfasst, seine Theologie entwickelt sich in seinen Briefen an die Gemeinden. Ungefähr ein Jahr nach dem Apostelkonvent in Jerusalem schreibt er seinen ersten Brief – an die Thessaloniker. Man hält diesen Brief für den ältesten Text des Neuen Testaments und datiert ihn auf das Jahr 50 oder 51. Der Brief gilt als authentisch, enthält aber drei Verse, in denen sich ein so heftiger Angriff gegen die Juden äußert, dass sie auch ein Jahrhundert später geschrieben worden sein konnten – zu einem Zeitpunkt, als die Spaltung zwischen Judentum und Christentum dann bereits vollzogen war. Nur so erklärt so erklärt sich vielleicht die Stelle (Thess. 2,14), in der es gegen die Juden gerichtet heißt: „Denn ihr, liebe Brüder und Schwestern, seid dem Beispiel der Gemeinden Gottes gefolgt – der christlichen Gemeinden in Judäa –, da ihr von euren Mitbürgern dasselbe erlitten habt wie sie von den Juden. Diese haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten, sie haben uns verfolgt, sie missfallen Gott und sind allen Menschen feind, weil sie uns daran hindern, den Völkern das Wort zu verkündigen, das ihnen Rettung brächte; so machen sie unentwegt das Mass ihrer Sünden voll. Aber schon ist der Zorn über sie gekommen in seinem vollen Ausmass.“

Diese antisemitische Passage, wonach die christlichen Prediger daran gehindert würden zu missionieren, passt in ihrer Polemik weder in den Brief, noch zu Paulus. Gleichwohl stützte sich jahrhundertelang die theologische Begründung des christlichen Antisemitismus insbesondere auch auf diese drei Verse aus dem Brief des Paulus an die Thessaloniker. Sie sind zwar schon in den ältesten Handschriften zu lesen, trotzdem lässt sich der Verdacht nicht vermeiden, dass diese eine im Nachhinein vollzogene Interpolation ist, dass man sie also später hinzugefügt hat.

Ein Indiz dafür, das diese Passage anachronistisch ist und erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts verfasst wurde, ist der darin erwähnte Zorn Gottes, der schon über die Juden gekommen sei. Denn eigentlich wird der ohnehin nur alttestamentarisch bedeutsame Zorn Gottes in der christlichen Auslegung mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 in Verbindung gebracht. Und wenn dem so ist – dann kann diese Passage nicht von Paulus stammen, der zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben ist. Unabhängig davon aber zeigt diese Passage noch einmal in aller Deutlichkeit an, dass die Trennung zwischen Judentum und Christentum inzwischen endgültig erfolgte.

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Paulus ist sicherlich die entscheidende Figur in der Frühphase der Konsolidierung des Glaubens und der sich darauf entwickelnden Kirche – noch mehr als Petrus, die erste „Säule“ der christlichen Gemeinde in Jerusalem nach der Kreuzigung Jesu. Dabei war Paulus nicht der erste, der christliche Gemeinden gegründet hat. Bereits vor ihm sorgten griechisch sprechende Urchristen für die Verbreitung des Glaubens – und auch die Gemeinde in Rom existierte bereits als Paulus und Petrus dorthin gingen. Paulus ist insofern also keineswegs der Gründer der christlichen Bewegung, aber sicherlich eine ihrer wichtigsten Figuren.

Gleichwohl steht auch Paulus in der Nachfolge einer hellenistischen Tradition – er führt die Mission des Christentums in Antiochia weiter, in der er seine christlich-religiöse Sozialisation erfahren hatte. Er ist also nicht der erste, was Lukas als Verfasser der Apostelgeschichte übrigens auch betont. Antiochia ist in der Frühphase wichtig, daneben aber gibt es auch noch andere Strömungen im Christentum dieser Zeit – am bedeutendsten ist vielleicht das noch von Petrus geprägte jüdische Christentum in Jerusalem, das Paulus in Antiochien vorausgeht, sowie das johanneische Christenum auf der Grundlage des vierten Evangeliums und schließlich auch die Sprüche Jesu, die in den Evangelien von Lukas und Matthäus zusammengestellt wurden.

Paulus gehört insofern zu einer umfassenderen Konstellation des Christentums in ihrem Ursprung. Dass seine Theologie dann aber doch sinnbildlich für die christliche Identität wird, vor allem im lateinischen, das heißt dem römisch-katholischen Christentum, liegt vor allem daran, dass man ihm im Nachhinein eine beträchtliche Bedeutung zugesprochen hat – als man im 2. Jahrhundert das Vorhaben entwickelte, nach und nach einen verbindlichen Korpus an christlichen Texten zu erstellen. Dieser Kanon sollte dann die Glaubensregeln der Kirche bilden.

Ein erster solcher Korpus wird von Marcion (85-160) erwähnt, der Anfang des 2. Jahrhunderts als Theologe in Rom wirkt – bevor er sich mit der christlichen Gemeinde überwirft und nach der Exkommunikation seine eigene Kirche gründet, die sich verbreitet und dann drei Jahrhunderte lang bedeutsam bleiben wird.

Marcion durchbricht womöglich als erster jene Synthese, die Polykarp von Smyrna (81-167) mit der Herausgabe der Evangelien um das Jahr 120 bewirkt hat, indem er Paulus` Briefe zusammen mit dem Evangelium von Lukas – und zwar nur mit diesem Evangelium, obwohl zu dem Zeitpunkt auch schon die anderen bekannt waren. Aber er war der Meinung, nur Lukas und Paulus hätten die Botschaft Jesu verstanden – die Apostel hingegen gar nicht. Das war revolutionär, denn bis dahin war noch niemand so weit gegangen, zu behaupten, Jesus` Botschaft sei nur in bestimmten Texten zu finden.

Bis zu Marcion entstammte die Matrix des Christentums und die Elemente ihrer Offenbarung allein aus der hebräischen Bibel, das heißt dem Alten Testament. Das gesamte Konzept von Messias, Erlösung und Auferstehung ist durch und durch jüdisch. Neben der Verständigung auf einen Kanon christlicher Texte musste nun also auch der Status dieser jüdischen Überlieferung neu bestimmt werden. Marcion denkt dabei schon paulinisch, das heißt er geht von einem Gegensatz zwischen dem alttestamentarischen Gesetz (Thora) und dem neuen Evangelium, der „frohen Botschaft“, aus: Die Vorstellung eines zornigen, strafenden Gottes ist ihm zufolge unvereinbar mit den neuen Anschauungen – das seien Offenbarungen eines Gottes, der als liebender, barmherziger Gott handelt, wie Jesus ihn beschreibt – aber eben auch Paulus.

Bereits bei Marcion wird Paulus zur wichtigsten Figur für das Christentum nach Jesus – und dann in der Folge für manche so bedeutend, dass er eher als Jesus selbst als eigentlicher Begründer des Christentums gilt. Als Paulus` Briefe ab dem Ende des 2. Jahrhunderts für das Neue Testament zusammengestellt werden, ist er jedenfalls nicht mehr nur der Gründer der paulinischen Mission, sondern der Gründer des Christentums insgesamt. Dabei darf man seine Briefe nicht so lesen, als hätte Paulus selbst sie auch so geschrieben – denn eigentlich liest man sie nur in der Form, wie sie dann auf der Grundlage verschiedener Vorlagen des Korpus im 2. Jahrhundert abgeschrieben wurden. Marcion selbst erwähnt einen Korpus von 10 Briefen – und da er davon ausging, dass die Briefe des Paulus verfälscht seien, hat er sie auch in seinem Sinne überarbeitet herausgegeben, das heißt Marcion erstellte einen von allen Bezügen zum Judentum bereinigten Kanon von Paulus – und auch von Lukas.

Nach dem Fall des Tempels im Jahre 70, als die Zahl der Nicht-Juden in den Gemeinden wächst, wird die Beziehung zum Judaismus problematisch. Für eine Minderheit bleibt der christliche Glaube eine von vielen Formen des Judentums, für eine Mehrheit aber wird das Christentum zu einer neuen Religion, die definitiv mit dem Judentum bricht – was Marcion allen voran als erster vertritt. Er glaubte dabei, dass bereits Paulus eine neue, eigenständige Religion gepredigt, die sich völlig vom Judentum unterschied – so wie sich Gott und Vater von Jesus völlig von dem Gott des Judentums unterscheidet.

Die Anhänger von Jesus im 2. Jahrhundert sollten ihm zufolge also die Texte des Alten Testaments vergessen, denn mit Jesus sei eine ganz neue Religion entstanden – und so schuf er gewissermaßen das erste Neue Testament, das heißt Marcion definierte den Begriff „Neues Testament“ , das er dem Alten Testament gegenüberstellt. Indem Marcion aber den Gott der Christen vom Alten Testament ablöst begeht er eine Häresie – und das ist auch der Grund dafür, dass er von der Kirche ausgeschlossen wird.

Was seine definitive Ablehnung des Judentums betraf, so war Marcion der radikalste oder konsequenteste christliche Theologe des 2. Jahrhunderts. Seine Theorien werden die Entwicklung des Christentums entscheidend beeinflussen. Im Gegensatz zu Marcion aber wird die Kirche sich als eigentliche Erbin der jüdischen Überlieferung definieren, das heißt das Neue Testament in der Fassung des Marcion wurde von ihr nie autorisiert, schließlich ging es hier auch um eine kulturelle Definition des Christentums, ein gemeinsames Bewusstsein und eine doktrinelle Autorität, die von den Bischöfen ausgehen sollte.

Zum ersten veröffentlichten christlichen Kanon, der um das Jahr 160 herausgegeben wurde, gehören die Briefe von Paulus dann aber genauso wie die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Apokalypse. Andere Texte allerdings bleiben bis ins 4. Jahrhundert umstritten – Apokryphe, nicht-kanonische Schriften, machen zu der Zeit etwa das Zehnfache des Neuen Testaments aus. Das Neue Testament in seiner heutigen Form wurde dann aber tatsächlich erst im Jahr 1545 vom Trentiner Konzil angenommen. Erst damit war der Kanon offiziell abgeschlossen.

***

Im Jahr 66 bricht in Judäa, Galiläa und Samaria der jüdische Aufstand gegen Rom aus. Im Jahre 70 setzen die Truppen des Titus den Tempel in Jerusalem in Brand und plündern ihn. Das Judentum muss sich nun, da sie um ihren heiligsten Ort gebracht wurde, völlig neu konstituieren. So entstand das rabbinische Judentum, wie man es heute kennt – und das Christentum. In den beiden folgenden Jahrzehnten zwischen 70 und 90 folgten dann die großen Auseinandersetzungen zwischen Juden- und Christentum. Diese Konflikte endeten damit, dass die christlichen Gemeinden die Synagoge verlassen haben oder aus ihr ausgeschlossen wurden.

Der definitive Bruch findet jedoch erst mit dem zweiten jüdische Aufstand in den Jahren von 132 bis 135 statt, den der jüdische Militärführer Bar Kochba („Sternensohn“) anführt – und an dem die Christen dann überhaupt nicht mehr teilnehmen, offenbar begehren sie schon keine irdische Macht mehr. In dem Aufstand kommt zum letzten Mal eine jüdisch-messianisch Hoffnung zum Ausdruck – er wird aber niedergeschlagen und endete damit, dass der römische Kaiser Hadrian den Tempel nun vollständig schleifen ließ und den Juden verbot, dauerhaft in Jerusalem zu leben. Das hatte Folgen für das rabbinische Judentum, verlagert sich die jüdische geistige Elite nun doch nach Galiläa und Mesopotamien. Dort wird sich ein neu organisierendes Judentum um die Pharisäer herausbilden, zu dem das Christentum dann nicht mehr gehören wird. Die Christen aber – sie dürften den gescheiterten Aufstand ohnehin als das Ende des auserwählten Volkes gedeutet haben.

Historisch gesehen müssen sich die Christen jetzt selbst organisieren – auch wenn man sich das Christentum ohne das Judentum als Fundament noch gar nicht vorstellen kann. So dreht sich denn nun auch die sich entfaltende Auseinandersetzung der Christen mit dem Judaismus um die legitime Interpretation des gemeinsamen Erbes, des Alten Testaments: Um das Jahr 150 tritt in Rom Justin der Märtyrer (100-165), ein frühchristlicher Apologet und einer der ersten Kirchenväter, in Erscheinung. Er stammt aus Nablus und ist einer der ersten christlichen Theologen nicht-jüdischer Herkunft. Justin schreibt, also wollte er im Namen der Christen die Römer überzeugen, das Christentum endlich als unabhängige Religion anzuerkennen – und den Juden gegenüber bemerkt er, dass sie die Thora nicht richtig interpretierten. So argumentiert Justin anhand einer Übersetzung der Septuaginta, dass im 96. Psalm stünde: „… verkündet bei den Völkern“, was man aber auch mit „Heiden“ übersetzen könne. Außerdem unterstellte er den Juden, bei dem Satz „der Herr ist König vom Baum“ die Worte „vom Baum“ gestrichen zu haben – wobei er schon mit einer falschen Übersetzung in der Hand argumentiert. Schließlich hieße es bei Jesaja außerdem auch nicht, dass die „Jungfrau“ ein Kind empfangen würde, sondern nur „junge Frau“ et cetera. Justin behauptet also, die Thora sei gefälscht – und will so die Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum begründen.

Gegenüber einer allegorischen Bibelauslegung wie im Judaismus praktiziert Justin eine typologische Auslegung: alle Texte des Alten Testaments werden von ihm auf Christus bezogen, zumindest aber auf die christliche Wirklichkeit – die sakramentalen und kirchlichen Sachverhalte. Das ist gewissermaßen schon bei Paulus so, wenn er zum Beispiel im ersten Korintherbrief die Ereignisse im Buch Exodus so interpretiert, als ob darin bereits die christliche Taufe „unserer Väter“ beschrieben werde, wenn es heißt, dass sie „unter der Wolke waren, alle durch das Meer hindurchzogen und alle in der Wolke und im Meer auf Mose getauft wurden“ (1. Kor. 10,1). zufolge sei das christliche Sakrament der Taufe hier bereits im Alten Testament angekündigt ist. Das gelte auch für die Eucharistie (10,3): „Alle assen dieselbe geistliche Speise, und alle tranken denselben geistlichen Trank“, er fügte nur das Wort „geistig“ hinzu.

So beginnt schon mit Paulus eine Auslegung des Alten Testaments, die dann bei Justin zur radikal-typologischen Bibelauslegung wird, wo alles auf Christus bezogen wird – und das Judentum insofern auf Nichts gründe. Justin reklamiert so gewissermaßen das gesamte jüdische Erbe für sich und behauptet, dass das jüdische Erbe vollkommen im Christentum aufgegangen sei. Aber Justin – und nach ihm auch Irenäus (140-202), Bischof von Lyon und ebenfalls einer der Kirchenväter – vertreten hier eine äußerst heikle Position, indem sie sich einerseits gegen Marcion stellen, in erster Linie aber natürlich gegen die Juden.

Justins bekannteste Schrift ist sicherlich „Dialog mit Tryphon“, wo er einen Rabbiner namens Tryphon erfindet und ein fiktives Streitgespräch inszeniert, in dem das gerade entstehende Christentum mit dem Judentum konfrontiert wird. Er schreibt hier (43,1 und 2): „Wie nun der Anfang der Beschneidung mit Abraham, der Anfang des Sabbats, der Opfer, Gaben und Feste mit Moses gegeben war und – nach gegebenen Beweisen – der Grund dieser Verordnungen in der Hartherzigkeit eures Volkes lag, so fanden sie notwendig nach dem Willen des Vaters ihr Ende und Ziel in Christus, dem Sohne Gottes, der durch die Jungfrau aus dem Geschlechte Abrahams und dem Stamme Juda und David geboren war, und der – wie verkündet wurde und wie die Prophezeiungen darlegen – als ewiges Geschlecht und als Neuer Bund für die ganze Welt kommen sollte. Wir, die wir durch Christus zu Gott gelangt sind, haben nicht fleischliche Beschneidung erhalten, sondern eine geistige, welche Enoch und seinesgleichen beobachtet haben; da wir Sünder gewesen waren, haben wir sie in der Taufe durch Gottes Barmherzigkeit erhalten, wozu allen in gleicher Weise die Möglichkeit gegeben ist.“

Man hat es hie mit einer starken Neutralisierung der Alten Testaments zu tun: Durch Christus gehen wir auf direktem Wege zu Gott und brauchen das Alte Testament nicht mehr. Dass Justin – das orthodoxe Christentum insgesamt – aber dennoch daran festhält hat mehrere Gründe: Zunächst einmal ist das die erste Heilige Schrift. Ein weiterer Grund war sicherlich, dass neben andern auch die Marcionisten diesen Text ablehnten. Sie lenkten das Christentum in eine Richtung, der Justin nicht folgen wollte – und deshalb betont: das Alte Testament ist unser Text. Schließlich – und das war sich kein zu unterschätzender Grund – hielt man daran fest, weil es in der römischen Welt denjenigen, die den Status der Gesetzlichkeit des Christentums, den Status der religio licita (gesetzliche, zugelassene Religion) anstrebten, nur von nutzen ist, wenn man tiefverwurzelte, historische Bindungen nachweisen konnte. Denn für die Römer musste eine anerkannte Religion ihre historischen Wurzeln haben.

Für die römische Elite ist das Christentum zu dieser Zeit nichts als ein Aberglaube – der sich zum einen durch seine irrationale Natur charakterisiert, aber auch durch seine mangelnde Verankerung beziehungsweise fehlende Tradition. Anders als das Judentum hat es keine lange Geschichte – und wird auch nicht mit einem Land in Verbindung gebracht wie Judäa bei den Juden. Außerdem sind die Juden seit jeher Teil der Gesellschaft und mussten, aus Respekt vor ihrem Gott, auch nicht am Kaiserkult teilnehmen: Für die Römer ist die Religion Politik, es gibt keine Trennung zwischen Religion und Staat. Entsprechend auch ist die religiöse Geste auch immer schon eine politische Geste, das heißt die römische Religion ist eine Praxis mit genau festgelegten Ritualen, durch die eine Verbindung mit den Gottheiten hergestellt und deren Schutz erlangt wird. Aber es gibt keinen Inhalt, keinen Glauben.

Im 2. Jahrhundert stellten die Christen im Römischen Reich eine eigene Kategorie dar: Sie sind keine alte Stammesreligion – und darüber hinaus noch nicht einmal von ihrer alten Kultgemeinschaft, dem Judentum, abgefallen. Man kann davon ausgehen, dass die Römer das Christentum zunächst als eine Bewegung innerhalb des Judentums begriff. Dann allerdings wird diese Bewegung allmählich an ganz spezifischer Eigenständigkeit gewinnen. Das wird deutlich, wenn in Zusammenhang mit Nero von „Christen“ gesprochen wird und sich insofern ein Bewusstsein herausgebildet hat, dass sich eine eigene Gruppe gebildet hat.

Das Wort „Christen“ beziehungsweise „Christianus“ ist eine lateinische Wortbildung, bei dem an das griechische „Christ“ ein lateinisches Suffix gehängt wird. Das geschah in der römischen Zeit gegen Ende der Herrschaft von Caligula (37-41) und zu Anfang der Herrschaft von Claudius (41-54) und sollte die messianisierenden Juden bezeichnen, die ihren Impuls von einem gewissen „Christ“ bezogen. Messianismus aber unter dem Motto „Das Weltende steht bevor“ galt als kriminell, aufrührerisch – entsprechend war die Bezeichnung „Christianoi“ bereits für die Anhänger in Antiochien eine Bezeichnung für „Kriminelle“ (Apg. 11,26). Und dabei blieb es zunächst.

Justin und die Theologen des 2. Jahrhunderts befinden sich in einer konfliktträchtigen und paradoxen Situation: Sie erheben Anspruch auf das Erbe Israels, wollen ihren Nutzen daraus ziehen, und gehen in einer scharfen Polemik all die Juden an, die sich dem Christentum nicht anschließen wollen. Gleichwohl verweist diese Polemik darauf, dass der Abspaltungsprozess noch immer nicht wirklich abgeschlossen war – bis ins 4. Jahrhundert aber verschoben sich die Auseinandersetzungen der Christen dann zunächst sowieso mehr hin zu den Römern.

***

Vieles deutet darauf hin, dass sich das Christentum im 2. Jahrhundert allmählich im Römischen Reich verbreitete – von den Städten ausgehend auf das Ländliche. Zu Beginn des 3. Jahrhunderts gibt es im Mittelmeerraum wichtige Zentren des Christentums, vor allem im östlichen Raum: Jerusalem, Antiochien und eine beachtliche Zahl von Gemeinden (dann auch mit Bischöfen) in Kleinasien, Ephesos zum Beispiel. In Ägypten ist heute nur Alexandria bekannt, an der nordafrikanischen Mittelmeerküste gab es ansonsten aber auch noch eine bedeutende Niederlassung in Kathargo. Vereinzelte christliche Gemeinden gibt es auch in Spanien und Frankreich – das unumstrittene Zentrum des christlichen Glaubens aber ist zu dieser Zeit bereits Rom.

Überall im Römischen Reich stellten christliche Praktiken und das Bekenntnis zum Christentum seit Nero (54-68) einen Straftatbestand dar – allerdings sollte der Staat nach einer Weisung des späteren Kaisers Trajan (98-117) nicht allzu inquisatorisch sein, das heißt Rechtsstaatlichkeit und nicht Gewaltanwendung sollte das Auftreten der Institutionen bestimmen. So konnten die Beschuldigten ihre Unschuld einfach durch den Vollzug einer Opferhandlung beweisen. Die Behörden durften auch nur dann aktiv werden, wenn eine begründete Anzeige vorlag, wobei der Denunziant bei einer Falschanzeige vor Gericht sogar die Höchststrafe riskierte. Sein Schicksal lag somit in der Hand des Angeklagten – der seine Unschuld durch den einfachen Vollzug des Opfers beweisen konnte, jedenfalls sah man das Opfer als einen Akt der Solidarisierung mit der politischen Gemeinschaft – als ein Bekenntnis zum Imperium.

Trajan sah in den Christen offenbar weder eine ernsthafte Herausforderung der römischen Religion, noch eine den Staat zersetzende Kraft. Von einer von Märtyrern triefenden Opferungsgeschichte des Christentums kann ohnehin keine Rede sein: Dass die katholische Kirche erst im Konzil von Karthago (418) klären wird, welche Form der Busse man von den Verrätern abverlangen sollte, zeigt, dass die Sache offensichtlich nicht dringend war. Christen, die das Kultopfer hingegen verweigerten, erhielten sofort die Absolution, wie zum Beispiel Origenes (185-254), an dem Rom ein Exempel statuierte. Zwar überlebte Origenes die Folter, starb dann aber wohl an den Folgen. Insgesamt aber war die Zahl der Märtyrer wohl gering.

Nicht der römische Staat hatte Angst vor den Christen, sondern die christlichen Theologen zeigten sich beunruhigt durch die ungebrochene Attraktivität der traditionellen Religionspraktiken (auch die Apokalypse des Johannes, die oft als Indiz für eine Christenverfolgung gedeutet wurde, sollte wohl den inneren Zusammenhalt der Gemeinden stärken). Pedro Barceló bemerkt dazu in „Die Alte Welt“ (2019): „Die monotheistische Ausschließlichkeit des Christengottes konnte seine Anhänger nie von synkretistischen Ritualen abhalten, ebenso wenig, wie die bestehende Strafandrohung seitens des Staates die Ausbreitung des Christuskultes verhindert hatte.“

Anders als das Judentum war das Christentum aber eben keine alte Stammesreligion – und insofern hätte eine Anerkennung des Christentums auch eine neue Konzeption von Politik von den römischen Kaisern verlangt. Seit Augustus (63 v. Chr. – 14 n. Chr.) stellte der Kaiserkult eine bewährte Form der Kommunikation dar: Weil der römische Kaiser als Gott galt, gebührte ihm nach traditioneller Anschauung kultische Anbetung, womit das herrschende politische System stabilisiert wurde. Götterkult und Kaiserkult verschmolzen zum Staatskult. Ihrer Loyalität versicherten sich die Kaiser durch den Vollzug des Opferrituals.

Schließlich aber endete die Verfolgung der Christen ohnehin gänzlich nach dem grausigen Schicksal von Kaiser Valerian (253-260), dem nach einem gescheiterten Feldzug gegen die Sassaniden in Gefangenschaft die Haut abgezogen wurde. Frühchristlichen Autoren erschien das als eine gerechte Strafe Gottes für die Vergehen Valerians gegen die Christen, die er in den Jahren 257 und 258 verfolgen ließ. Dessen Sohn Gallienus stellte die Verfolgung jedenfalls ein – und einen Religionsfrieden her, der die nächsten vierzig Jahre anhalten sollte.

In dieser Phase konnte sich der christliche Glaube ungehindert ausbreiten, dann aber wuchs offenbar die Notwendigkeit, die Suche nach unverzichtbaren himmlischen Beschützern voranzutreiben, weshalb man ab dem Jahr 303 unter Diokletian (284-305) wieder begann, die Christen zur althergebrachten Reichsreligion zurückzuführen – und die Verfolgungsmaßnahmen in diesem Zusammenhang wieder verschärfte. Aber die Verfolgung brachte auch Märtyrer hervor – und damit wurden auch Vorbilder für die christliche Selbstbehauptung geliefert.

Der Begriff „Märtyerer“ kommt aus dem griechischen und bedeutet „Zeuge“, jemand, der sich für seine Sach opfert. Schon früh wurden Juden zu Märtyrern – und hier, in der hellenistischen Zeit, liegen auch die Wurzeln für das Märtyrertum. Im Judentum kannte man allerdings noch kein eigenes Wort für jemanden, der durch sein Opfer seinen Glauben bezeugt: Die Juden unterscheiden nicht zwischen Körper und Geist, das heißt sie leben in ihrem Leib, dem man nicht entkommen kann – wohingegen das Christentum nun von der Vorstellung lebt, dass Jesus auferstanden ist und auch nach seinem Tod weiterlebt.

Das Phänomen des freiwilligen Märtyrertodes geht wahrscheinlich auf Bischof Ignatius von Antiochia zurück: In einem seiner Briefe nach Rom, wo er um das Jahr 115 getötet wird, wird zumindest zum erstem Mal der Wert des Märtyrers als solcher gewürdigt (ohne dass er den Begriff Märtyrer verwendet hätte): Für ihn heißt Christ sein, Märtyrer sein – weil man dadurch Christus ähnlich ist. Im Standhalten der Qual demonstriert der Märtyrer die Überlegenheit Gottes über die menschliche Macht – in Wirklichkeit sei er dann der Bezwinger und nicht das Opfer.

Das Toleranzedikt des Galerius im Jahr 311, das auch von Konstantin (306-337) und Licinius (308-324) in Nikomedia und Mailand 313 bestätigt wurde, markiert dann aber schon bald das eigentliche Ende der Christenverfolgungen im Römischen Reich. Das Edikt wurde im Namen aller damals regierenden Kaiser herausgegeben und tolerierte die freie Religionsausübung, womit die Christen erstmals auch von der Verpflichtung zum Kaiserkult befreit waren.

Aufgrund der Verfolgungsedikte seiner Vorgänger musste Konstantin mit der Realität eines religiös geteilten Reiches umgehen, weshalb er gegenüber der heidnischen Bevölkerung auch weiterhin das Amt des Pontifex maximus versah – und der traditionelle Kaiserkult wurde auch weiterhin nicht verboten. Mit Konstantin setzte sich aber auch das Christentum im Römischen Reich durch – ohne schon zur offiziellen Staatsreligion zu werden. Und obwohl sie offiziell vom Kaiserkult befreit waren, gebührte dem zum Christentum neigenden Kaiser, aus christlicher Perspektive, Verehrung, weil er die christliche Gemeinde beschützte und den öffentlichen Vollzug des Gottesdienstes ermöglichte.

Man weiß nicht viel über die frühen christlichen Sakralräume – aber dass die in der Anfangszeit wirkenden Gemeindeleiter allmählich von einer hierarchisch gegliederten Klerikerschicht abgelöst werden, die schließlich auch das Bischofsamt durchsetzten. Ursprünglich spontan organisierte Gemeinden erhielten nun eine Neuregelung der Leitungsfunktionen und schließlich auch der Kirchenordnung. Dabei setzte sich auch eine um den Bischof kreisende Messliturgie durch, die das Gotteshaus neu strukturierte.

In der Zeit des Religionsfriedens nach Valerian verwandelte sich auch das Gotteshaus: die basilica (ursprünglich ein römisches Markt- und Gerichtsgebäude) wurde zum Prototypen des christlichen Kultraumes, auch im öffentlichen Raum. Die Begriffe Kirche (ekklesia), Basilika (basilica) oder Kathedrale (von der cathedra des Bischofs abgeleitet) sind Ergebnis einer historischen Entwicklung.

Mit der Machtübernahme Konstantins verschieben sich dann die religionspolitischen Koordinaten noch einmal: Christliche Basiliken wurden nun gestiftet, die Kirche von Abgaben und Steuern befreit. Mit Konstantin ersetzt dann das Kreuz in den neu errichteten Kirchengebäuden auch den alten Fisch als Symbol der Urkirche: „Fisch“ heißt auf griechisch „Ichthys“ – den Anfangsinitialien von: Iesous (Jesus) CHris (Christus) Teon (Gottes) HYios (Sohn) Soter (Erlöser). Die unter Konstantin erlassenen Gesetze räumten außerdem dem Klerus sehr weitreichende Privilegien ein – Häretiker aber verlieren ihre bürgerlichen Rechte.

Die häufige Präsenz des kaiserlichen Hofes in den Basiliken wertete diese auf und verlieh den Gottesdiensten zusätzlichen Glanz, dadurch aber ergab sich auch die Notwendigkeit, den Platz des Kaisers in der Kirche zu präzisieren: Eine sich stets verfeinernde Liturgie – womit auch der Klerus (insbesondere der Bischof) unverzichtbar wurde, wobei die Nutzung des christlichen Sakralraumes protokollarische und theologische Kriterien zugleich befolgte – sowie die Prachtentfaltung der Rituale und der Gotteshäuser verwandelten die ursprünglich bescheidenen Orte in Monumente der gesellschaftlichen Selbstdarstellung.

Schon bei den bereits christlich sozialisierten Nachfolgern Konstantins war ein Rückzug von der traditionellen Kultpraxis bei gleichzeitiger Intensivierung der kaiserlichen Präsenz bei den christlichen Feierlichkeiten wie Gottesdiensten, Bischofsysnoden oder Kircheneinweihungen zu beobachten, was eine gewisse Sogwirkung in der Bevölkerung erzeugte. Konstantin sah sich noch als Oberhaupt der Kirche – Gratian (375 bis 383) und Theodosius I. (379 bis 394) verzichten dann ganz auf das kaiserliche Oberpontifikat.

Mit sich der Göttlichkeit entsagenden christlichen Herrschern wie Konstantin II. (337-340) entstand bereits ein Problem im Hinblick auf die Beanspruchung der höchsten religiösen Autorität: Stand ein häretischer Kaiser höher als ein Kleriker? Mit dem Verlust der eigenen Göttlichkeit und der Verdrängung des Staatsoberhaupts aus dem Zentrum der Kultpolitik ging dem Kaiser nun ein weiteres beträchtliches Stück an Gestaltungspotential verloren. Schwindende Macht verringerte zudem die Notwendigkeit der Verehrung, bis sie schließlich kaum mehr eine Relevanz hatte.

Eine wesentliche Bedingung für die Ausbreitung des christlichen Glaubens hingegen war die straffe Organisation der Kirche. Die Institutionalisierung ist bereits um die Mitte des 3. Jahrhunderts beinahe abgeschlossen. So entstand eine für den Staat optimale Verwaltungsstruktur – die Bischöfe bildeten dabei seit der Regierungszeit von Konstantin eine Art Parallelmagistrat (das gute Aufstiegschancen bot, vor allem in Konstantinopel). Die Herausbildung einer anerkannten Hierarchie und die allmähliche Übernahme staatlicher Funktionen durch Bischöfe haben nicht nur zur Ausweitung des klerikalen Einflusses geführt, sondern auch die zunehmende Unentbehrlichkeit der kirchlichen Institutionen unter Beweise gestellt: Bischöfe werden, bedingt durch innere Krisen Roms, zu Stützen der Gesellschaft und Dienstleistungen wie Krankenpflege oder Armenfürsorge, die der Staat immer weniger erfüllen konnte, gelangten in die kirchliche Trägerschaft der Diakonie.

Trotz des Bedeutungsverlust des Kaiserkults hielt sich der christliche Glaube im öffentlichen Raum allerdings noch zurück und war noch eher im Privaten zu finden. Der Durchbruch zur religiösen Homogenisierung erfolgte dann jedoch mit Kaiser Theodosius (379-394). Unter Konstantin war das Christentum bereits eine zugelassene Religion, nun verwirklicht Thedosius die Christianisierung des Römisches Reiches, als er der Reichsbevölkerung den nicänischen Glauben vorschrieb: Theodosius war 394 der letzte Alleinherrscher des Römischen Gesamtreiches, aber bereits im Jahr 380 hat er mit dem so genannten Dreikaiseredikt „Cunctos populos“ in Thessaloniki (gemeinsam mit Gratian und Valentinian II.) die nominelle Religionsfreiheit des Christentums beendet und es zur offiziellen und einzigen Staatsreligion gemacht.

Fortan gingen Staat und Kirche getrennte Wege – ein in der Antike unbekannter Dualismus zwischen Staat und Kultgemeinde prägte von nun an die Geschicke der christianisierten Ökumene. Dass Theodosius außerdem auf den Ehrensitz des Kaiser im Altarbereich der Kirche verzichtete, ist der sichtbarste Beweise dafür, dass der Geistliche über den weltlichen Primatanspruch in Glaubens- und Kirchenfragen triumphierte: Der Kaiser ist vom Zentrum des Kultraumes gewichen – er wird nun selbst zum Gläubigen, und damit auch den seelsorgerischen Direktiven seines Bischofs unterstellt, dern nun auch gegenüber dem Kaiser alle episkopalen Vollmachten hatte.

Mit diesem Edikt allerdings erneuerte Theodosius auch die bereits von Konstantin erlassene Gesetzgebung gegen die Häretiker – was nun zu einer Mobilisierung der Christen führte, das heißt zu zahlreichen unkontrollierten Gewaltausbrüchen und Zerstörungen heidnischer Tempel, zum Beispiel im nordafrikanischen Karthago. Tatsächlich kennt die Antike ansonsten keine religiösen Konflikte – das bringen erst die Christen! Eines der ersten vermeintlich häretischen Opfer ist Pricillian (340-385) in Trier. Leitgedanke der von ihm gegründeten christlichen Bewegung ist das die Bemerkung von Paulus, wonach der eigene Leib ein „Tempel des Heiligen Geistes“ sei (1. Kor. 6,19) – und diesem Gedanken entsprechend befürwortete Pricillian eine strenge Askese, damit der Mensch Wohnung Gottes werden könne.

Darüber hinaus ist er für die Abschaffung der Sklaverei und Gleichstellung der Geschlechter, weshalb er auch Frauen als seine Anhänger aufnahm, wie die Katharer – und stellte sich damit gegen die Meinung der Kirche, zu deren Opfer er dann auch wurde: Gemeinsam mit einigen seiner Anhänger war er der erste Christ, der von anderen Christen wegen Ketzerei mit dem Tod bestraft wurde. Das Gebot der Nächstenliebe – offensichtlich gilt es nun nicht mehr. Der Nächste ist nur der, der dieselbe Linie verfolgt, ansonsten regiert Gewalt.

***

Von Rom endlich als Religion anerkannt, sind die Auseinandersetzung mit dem Judaismus und dem Judentum offensichtlich auch im 5. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen, als Justinian (482-565) als christlicher Kaiser den Thron von Byzanz bestiegen hatte. Zumindest in der gesellschaftlichen Wirklichkeit war das Problem noch aktuell. Die Tatsache, dass seine Rechtsprechung versuchte Christen und Juden zu trennen zeigt, dass dazu ein gesellschaftlicher Anlass bestand. Eine klare Trennung gab es wohl erst lange nach dieser Zeit – mit dem kulturellen Niedergang der mediterranen Städte und dem Beginn des Mittelalters. Aber ohne hier die Entwicklung vom Anti-Judaismus zum Antisemitismus nachzuzeichnen – ab jetzt wird die Geschichte des Christentums zur Schreckensgeschichte …

Historisch betrachtet sind die Beziehungen zwischen Christen und Juden über 2.000 Jahre lang problematisch, weil das Christentum aus dem Judentum hervorging und sich sehr früh – spätestens mit Justin – als das „wahre Israel“ („Verus Israel“) begriff. Damit wurde den Juden in gewisser Weise die Identität gestohlen – die religiöse Identität und ihre Rolle als Vermittler der Offenbarung.

Der Anfang des christlichen Antisemitismus wiederum, das ist für Amos Oz klar, liegt in der Geschichte vom Verrat des Judas. Doch Oz hat eine Theorie – denn Schmuel Asch, Student der Theologie und Protagonist seines Romans „Judas“ (2016), glaubt, „dass Judas von ganzem Herzen an Jesus geglaubt und ihn niemals verraten hat“. Als Jesus Zweifel hat und fragt: „Soll ich nach Jerusalem gehen? Soll ich lieber nicht nach Jerusalem gehen? Vielleicht werden sie mich in Jerusalem umbringen“, da glaubte Schmuel Asch stärker an Jesus, als er selbst an sich: „In der Provinz“, sagt Schmuel zu Jesus, „in irgendwelchen galiläischen Dörfern, Wunder zu vollbringen, bringt nichts. In Galiläa finden ständig Dutzende von Wundern statt – damals wie heute. (…) Wenn du aber die Welt retten willst, wenn du die Welt wirklich erlösen willst, musst du nach Jerusalem gehen.“

Judas wusste, wie man eine Botschaft wirkungsvoll präsentiert, schreibt Oz: „Du musst in Jerusalem gekreuzigt werden – und zwar nicht an einem ganz normalen Tag, sondern … am Vorabend des Pessachfestes, wenn Hundertausende Pilger die Straßen von Jerusalem füllen … Vor den Augen all dieser Menschen musst du dich kreuzigen lassen. Sie alle werden sehen, wie du heil und unversehrt vom Kreuz steigst. Dann werden sie auf die Knie fallen und du wirst sagen, liebt einander, und damit beginnt das Himmelreich. (…) Die Menschen werden einander lieben und das Himmelreich wird beginnen.“

Aber dann, am Kreuz, ruft Jesus „die verzweifeltsten Wort aus, die je gesprochen wurden: Eli, Eli, lama sabachthani? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (…) Er sagt nicht `Vater´ oder `mein Vater´, er sagt `mein Gott´. So oft hat Jesus Gott als Vater angesprochen – doch nicht jetzt. Jetzt ruft er: Gott, o mein Gott, warum hast du mich verlassen? Er stirbt am Kreuz, und Judas erkennt (…) Er hat das Licht seines Lebens getötet. Er hat seinen Gott getötet. Er hat den Menschen getötet, den er auf Erden am meisten geliebt hat.“ Im felsenfesten Glauben. Aus Liebe.

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Henry David Thoreau, Vom Wandern (1862)

… ein Garten im großen Stil ist eben nur eine Bildergalerie, und Bilder verlangen ihren Rahmen.“

Hermann Fürst von Pückler-Muskau

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen / Und haben sich, eh man es denkt, gefunden; / (…) Und wenn wir erst in abgemeßenen Stunden / Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, / Mag frei Natur im Herzen wieder glühn.“

Johann Wolfgang Goethe, Kunst und Natur (1800)

Die Kunst ist der nächste Nachbar der Wildnis.“

Karl Ganser, Geograph und Stadtplaner, in großen Lettern über dem Südeingang zum Naturpark „Schöneberger Südgelände“

Wenn man im „Schöneberger Südgelände“ in Berlin spazieren geht, befindet man sich vermutlich auf der Suche nach etwas Entspannung abseits der Stadt, in der Natur. Denn die wuchert auf dem zum Naturpark umgestalteten Gelände eines ehemaligen Rangierbahnhofes unaufhörlich, seit dieser 1952 stillgelegt wurde. Um den Lebensraum für die unzähligen sich hier niedergelassenen Lebensarten zu schonen wurden auf insgesamt 4,2 Kilometer Wege angelegt, die den Besucher durch den Naturpark und die darin – zwischen alten Bahngleisen, verrosteten Signalanlagen und sich selbst überlassenem Wald – platzierten künstlerischen Objekte im „Giardino secreto“ führen.

Etwa 600 Meter dieses Weges bestehen aus einem langen, gerade verlaufenden Stahlsteg, realisiert von der Bildhauergruppe „Odious“ – einer Gruppe, die ausnahmslos aus bisweilen abstrakt arbeitenden Stahlbildhauern besteht und die sich „mit selbstironischem Verweis auf die Widerständigkeit ihrer Materialien und Produktionsmethoden“ nach dem englischen Begriff „odious“ für „hässlich, abstoßend“ benannt hat, wie das Georg-Kolbe-Museum zu einer Ausstellung der Gruppe, deren Erfolg „unter anderem durch den Kritiker Heinz Ohff“ befördert wurde, im Jahr 2012 schreibt.

Der im Jahr 2000 errichtete Naturpark im Berliner Süden vermittelt dem urbanen Besucher schnell die Illusion, sich mitten in einer ländlichen Umgebung, mitunter in der Wildnis, zu befinden. Natur erfahren ist hier so selbstverständlich, dass man ihr bald kaum mehr besondere Beachtung schenkt. Das ändert sich, sobald man den Stahlsteg betritt, plötzlich rückt die Natur ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wie die Theaterwissenschaftlerin Sabine Schouten über einen Besuch des Naturparks in einem Beitrag zum Tagungsband „Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst“ (2004) schreibt, „(d)enn nach einiger Zeit geht der Hauptweg des Parks in einen breiten Metallsteg über … `Zum Schutz der Pflanzenwelt´, wie ein Schild informiert, geht es von hier an nur etwa einen Meter über dem Boden schwebend weiter. Wir ließen uns davon zunächst kaum irritieren, betraten den Steg und setzten Weg und Gespräch fort – dennoch hatte sich etwas verändert. Die Unterhaltung kam ins Stocken. Stattdessen rückte plötzlich die Natur ins Zentrum unserer Wahrnehmung. Was vorher fast unbemerkt am Wegesrand lag, drängte sich nun auf: das Spiel der Sonne in den Gräsern, das Rauschen in den Blättern, der schwere Duft des Ginsters. Schließlich blieben wir stehen, der sommerlichen Szene für einen Augenblick unsere ganze Aufmerksamkeit schenkend.“

Der aus dem Wegenetz herausgehobene Metallsteg hat die Wahrnehmungssituation verändert: Er inszeniert, wie Schouten sagt, „die räumliche und zeitliche Strukturierung der Wanderung für den Besucher“ und ermöglicht damit die beschriebene Naturerfahrung; er inszeniert die Parklandschaft als Naturszene, die gesteigerte Gegenwartserfahrungen erlaubt, die als „Momente der Intensität“ wahrgenommen werden, in einem Prozeß, den man mit Schouten „aufgrund der ständigen Korrelation von Inszenierung und Wahrnehmung als Aufführung bezeichnen könnte“.

Schouten führt aus, dass der Parkbesucher, wie in einer Theateraufführung, „vom Interaktionsraum der ihn umgebenden Natur separiert“ wird, ihm also „potentieller Bewegungsraum entzogen (wird), indem er zum Darbietungsraum gemacht wird. Dieser räumliche Entzug geht mit einer Reduktion von Sinneswahrnehmung einher. (…) Konnte ich die Gräser und Sträucher am Weg zuvor näher anschauen, jederzeit berühren oder daran riechen, so werden diese Möglichkeiten der intensiven sinnlichen Erfahrung durch den Steg erschwert. Paradoxerweise ist es aber erst diese Entzugssituation, die mich den Duft des Ginsters und das Lichtspiel bewusst wahrnehmen lässt – warum?“, fragt Sabine Schouten.

Es ist, als ob die Natur ihren Auftritt hätte: Der Metallsteg bewirkt eine Verschiebung der Aufmerksamkeit und folgt dabei einer theatralen Gestaltungspraxis, indem zuvor unauffällige Wahrnehmungsinhalte – die Natur – dem unmittelbaren Zugriff entzogen und so ins Bewusstein gerückt werden. Auch im Theater wird Aufmerksamkeit professionell produziert: „Es bedient sich nicht nur der Trennung von Zuschauerraum und Bühne, um das Interesse der Zuschauer zu bündeln, sondern hat mit Techniken wie der Verdunkelung oder der konformen Sitzausrichtung weitere Methoden gefunden, die den sensuellen Entzug des Publikums verstärken. So wird dem Theaterbesucher durch die Verdunkelung seine unmittelbare Umgebung visuell entzogen, und die Bestuhlung reduziert den Bewegungsradius auf ein Minimum. Dieser Reizentzug fördert die Wahrnehmungsbereitschaft des Zuschauers, indem seine Aufmerksamkeit idealiter in vollem Umfang auf die Bühne kanalisiert wird.“

Diese theatralen Praktiken werden vom Zuschauer nicht als störend empfunden, solange sie, wie im gewöhnlichen Illusionstheater, „eine irritationsfreie Wahrnehmung gewährleisten“, schreibt Schouten. Die sensorische Deprivation wird im Gegenteil „als Ermöglichung maximaler Einfühlung und als angenehm wahrgenommen“, solange die Aufführung die Konvention dieser Aufführungspraxis und die theatrale Kanalisierung von Aufmerksamkeit als fremdbestimmten Vorgang nicht problematisiert. Das ist im postdramatischen Theater der Gegenwart anders, hier werden die Wahrnehmungsprozesse selbst zum Inhalt des Theaters. Bis dahin allerdings ist es im wahrsten Sinne des Wortes ein weiter Weg …

Am Anfang dieses Weges, der Inszenierung von Landschaft, stand womöglich einfach ein rasch gezogener Strich auf einem Blatt Papier, eine sanft geschwungene Linie, der einem schnurgeraden Weg einen gekrümmten Verlauf gab, flüchtig eingezeichnet vielleicht in eine Skizze, die als Vorlage zur Umgestaltung einer bestehenden Naturszene diente. So zumindest war es bei Joseph Peter Lenné (1789-1866), der neben Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1785-1871) sicherlich mit zu den bedeutendsten deutschen Landschaftsbildnern gehört, wie der bereits erwähnte Heinz Ohff in einer Biographie über „Joseph Peter Lenné“ (2012) schreibt. Lennés Wege waren „stets leicht gekrümmt und immer so, dass eine harmonische Raumordnung entsteht“, die Wegeführung stand dabei stets am Anfang seiner Landschaftsentwürfe.

Lenné jedoch war zunächst gar kein Landschaftsbildner, sondern als Gärtner tätig. Und was hier für die einzelne Person gilt, läßt sich in einer globalen Perspektive auch für die Entwicklung insgesamt konstatieren: Am Anfang war der Garten – die Gärtnerei selbst dürfte beinahe so alt sein wie die Menschheit –, der inszenierte Landschaftsgarten oder Park kommt erst später, er ist eine genuine Erscheinung des 18. Jahrhunderts. So steht Lenné als Landschaftsgestalter zwar am Beginn der Moderne, aber doch beinahe am Ende einer Entwicklung: Seine Aufgabe ist es, so formuliert es Ohff, „neue Impulse in die Spätzeit des romantischen Landschaftsgartens zu bringen“.

Zur Geschichte der Landschaft

Natur war immer schon menschlichem Einfluss unterworfen, Landschaft immer schon auch Kulturlandschaft. Um ihr Land, ihre Landschaft, nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) nicht nur durch wirkungslose Verordnungen vor der allgemeinen Nutzung zu schützen, sahen sich ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts etliche Landesherren gezwungen, ihren Besitz durch Mauern und Zäune von der Umgebung abzutrennen und zu schützen – sie begannen, einen „Garten“ anzulegen, wie Hansjörg Küster in seiner „Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa“ (2010) ausführt. Denn genau das bedeutet der Begriff Garten zunächst: Gemeint ist damit kein Nutz- oder Ziergarten in unserem heutigen Verständnis, sondern zunächst einmal einfach nur ein abgeschlossener, abgegrenzter und geschützter Bereich. Das wird, wie Küster bemerkt, „an der sprachlichen Verwandtschaft zwischen `Garten´ und dem slawischen Wort `gorod´ oder `-grad´ (für Stadt) deutlich“. Aus dieser Wortendung, auf die viele Stadtnamen in Osteuropa enden, entwickelten sich in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Begriffe, die aber stets einen abgegrenzten Bereich bezeichnen. Genauso ist aus dem deutschen Wort „Zaun“, der den „Garten“ eingrenzt, auch das englische Wort „town“ und das niederländische „tuin“ entstanden. „Die nach außen hin abgegrenzten Gärten gibt es aber genauso wie die Stadt nur dort, wo urban geprägte Menschen leben, die ihren Lebensraum gegenüber einer außerhalb liegenden Wildnis abgrenzen wollen; insofern gehören Stadt und Garten stets zusammen“, schreibt Küster in seiner „Geschichte des Waldes“ (2013).

Vor fremder Nutzung geschützt, konnten die Fürsten zunächst mit und in ihren Ländereien erfolgreich Wirtschaftspolitik betreiben und Kapital akkumulieren, das ihnen erlaubte, neue Residenzstädte zu errichten. Bis in die frühe Neuzeit entstanden überall in Deutschland repräsentative Anwesen (Schlösser), häufig am Rande der Städte, wo sie mitunter bestehende Pfalzen ausbauten, und in der Nähe von Mühlen (der Legende nach störte sich Friedrich II. am Geklapper der Mühle beim im Jahr 1745 erbauten Schloss Sanssouci in Potsdam, weshalb er dem Müller anbot, ihm die Mühle abzukaufen, was der jedoch ablehnte. Daraufhin soll ihn der König ermahnt haben: „Weiß er wohl … dass ich Ihm seine Mühle nehmen kann, ohne einen Groschen dafür zu geben?“ Worauf der Müller erwiderte: „Ja, Ew. Majestät … wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre!“).

Da die neuen Residenzen bisweilen am Rande beziehungsweise vor den Toren der Stadt errichtet wurden, blickten die Landesherren mindestens auf einer Seite in freies, unbebautes Land, das noch dazu häufig dicht bei Bächen oder Flüssen lag. Dort legten sie ihre Gärten an, „anderweitig nutzen ließen sich diese Niederungsbereiche nicht“, weiß Küster, da sie bisweilen von Hochwasser bedroht waren. (Schon seit jeher wurden Siedlungen immer in der Mitte eines Hanges angelegt, wie auch Cato schon wusste: „Erstrebenswert ist also eine in Wärme und Kälte gemäßigte Atmosphäre, wie sie etwa auf halben Hängen zu herrschen pflegt, wo sie nicht, in Niederungen eingesenkt, zur Winterzeit von Reif erstarrt oder im Sommer in der Gluthitze brät, noch zu den höchsten Erhebungen emporgehoben, bei den geringsten Windstößen und Regenschauern zu jeder Jahreszeit wütet. Die beste Lage ist also die am halben Hang …“, genau dort, wo übrigens auch die Burgunder ihre besten Lagen für die Weinrebe verortet haben.)

Hatte die mittelalterliche Burg die Natur noch ausgegrenzt, wurde sie nun in Form einer Gartenanlage von der Umgebung abgegrenzt, wo, wie Küster bemerkt, „die Folgen von Übernutzung nicht zu übersehen“ waren: Hat der enorme Holzbedarf oft zum Kahlschlag einer Region geführt, wandeln sich die geschützten Landschaftsgärten zu blühenden „Oasen im weithin verwüsteten Land“. Hier sollten, schreibt Küster, „Naturerscheinungen auf Dauer oder immer wieder in gleicher Weise zu sehen sein. (…) Durch Beständigkeit sollte sich ein Garten von seiner Umgebung absetzen …“. Da sich das Erscheinungsbild eines Landschaftsgartens jedoch permanent wandelt, ist auch die Arbeit daran ein nie endender Prozess: Die Umwandlung von Natur in eine Kulturlandschaft bedarf der dauernden Anstrengung des Gärtners (ein Bild, das im „Weinberg des Herrn“ nur allzu gern von christlichen Apologeten aufgenommen wurde).

Der Französische Barockgarten

Während bei der Gartengestaltung die praktischen Erfahrungen mit bereits bekannten Gehölz- und Pflanzenarten genutzt wurden (verwendet werden mussten solche, die es überlebten, wenn man sie regelmäßig schneitelte oder in eine ungewöhnlich kunstvolle Fasson schnitt), orientierten sich die Landesherren bei der Anlage ihrer Gärten am barocken französischen Landschaftsgarten. Das Vorbild dazu hatte seit dem Jahr 1661 der Gartengestalter André Le Nôtre (1613-1700) für König Ludwig XIV., den Sonnenkönig, errichtet: Vor der Hauptstadt Paris, in Versailles, entstand ein riesiges Schloss mit einem Park, einem weitläufigen Garten, „in dem das zentralistische Prinzip des Absolutismus der Natur aufgezwungen wurde“, wie Küster bemerkt.

Im Garten von Versailles wurde der Stil des französischen Barockgartens von Le Nôtre zum Ausdruck einer vom Menschen beherrschten Natur: „Alles ist streng abgezirkelt, die Wege sind mit Kies bestreut, die Kanten scharf abgestochen, die Beete in Buchsbaum eingefasst mit spitzwinkligen Kanten, die Bäume kubisch, pyramidisch oder phantastisch beschnitten, dass sie aussehen wie abstrakte stereometrische Gebilde oder exotische Tiere, aber nicht mehr wie Bäume“, schreibt Heinz Ohff in diesem Zusammenhang, „(m)an kann ihn wohl auch tatsächlich als die Krönung der naturfernen Parkkunst anssehen – die nun wirklich total unterworfene Natur …“.

Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein sollte Le Nôtres Stil vorherrschend bleiben – und in Versailles in einem Ausmaß, wie man es bis dahin noch nicht gesehen hatte. Zwar legten sich bereits die durch ihr diszipliniertes Wirtschaften zu Reichtum gekommenen italienischen Patrizier bürgerliche Renaissance-Garten an (das gilt insbesondere für die Toskana, beispielsweise der von Niccoló Tribolo gestaltete Garten der Villa Medici in Castello bei Florenz), die mit ihrer geometrischen Grundordnung, ihren regelmäßigen Wegen und ihren symmetrisch, mit ornamentalen Mustern, angelegten Beeten und Rabatten zum demonstrativen Ausdruck rationaler Naturbeherrschung wurden, nun jedoch erhält der zum Park erweiterte Garten einen gänzlich anderen Maßstab: In den weiträumigen Schloß- und Gartenanlagen wie in Versailles (oder auch in Karlsruhe beispielsweise) blickt der absolutistische Regent von seinem „am Schnittpunkt von zentrierter Natur und zentrierter Stadt“ errichteten Schloss aus in schier endlose Schneisen, die bisweilen in den Wald geschlagen wurden, der in Schlossnähe zum nun so genannten Französischen Barockgarten wurde. Küster bemerkt in diesem Zusammenhang: „Der geometrisch gestaltete Garten bekam riesige Dimensionen; seine Wege zogen sich kilometerweit schnurgerade durch die Lande, an den Balustraden oberhalb der Gärten stehend, konnte man deren äußere Begrenzung nicht erkennen. Idealerweise sollten die Gartenwege nie enden, sondern das ganze Land durchmessen, in dessen Mittelpunkt sich der Herrscher im Schloß stehen sah.“

Waren die Schneisen nicht sowieso schon in den Wald geschlagen, bepflanzte man in der Barockzeit vielfach Straßenränder planmäßig mit Bäumen, bevorzugt auch an den Zugängen zu den Schlössern, „wo die Bäume Spalier standen wie Gardegrenadiere und den Besucher einstimmen sollten auf die Macht des Hausherrn“, wie Alexander Demandt in seiner Kulturgeschichte „Der Baum“ (2014) schreibt. Solche Pflanzungen nannte man Allee, ein Begriff, der bereits im 17. Jahrhundert im Deutschen übernommen wurde.

Allerdings, so bemerkt Ohff, war Mitte des 18. Jahrhunderts auch schon das „Donnergrollen“ jener beiden Revolutionen zu vernehmen, die dann am Ende des Jahrhunderts dem Absolutismus und seiner Ordnung ein Ende bereiten sollten: der Amerikanischen (1775-1783) und der Französischen (1789-1799). Schon mit den politischen Umwälzungen, die der Siebenjährige Krieg (1756-1763) mit sich brachte, wandte man sich von den Ideen des französischen Absolutismus ab. Stattdessen rückte England, der politische Bündnispartner von Preußen, hierzulande mehr ins Blickfeld, und man begann, sich bei der Gestaltung seiner Gärten an den Prinzipien der englischen Parkanlagen zu orientieren. Im sogenannten Englischen Garten, weiss Küster, „sollte nicht demonstriert werden, wie sehr der Mensch die Natur beherrschte, es sollte sich vielmehr das, was man für Natur hielt, frei entfalten können“. Hier entwickelten sich, wie Ohff schreibt, „Ideen für einen Garten aus Landschaft statt aus beschnittener und vergewaltigter Natur“. Im Englischen Garten wird der Park, als erweiterter Garten, zum Landschaftsgarten.

Der Garten als Modell der Gesellschaft

Im Englischen Garten werden gänzlich andere Ideen ins Bild gesetzt als im französischen Barockgarten. Treffend bringt das der liberale englische Essayist Joseph Addison (1672-1719) auf den Begriff, der zwischen 1699 und 1703 den Kontinent bereiste und nach seinem Besuch in Versailles eine Abkehr vom französischen Park zugunsten von „irregularity, asymmetry, wildness“ (Unregelmäßigkeit, Asymmetrie, Wildnis) forderte. Die Absage an absolutistische Ordo-Vorstellungen findet hier vielleicht ihren dichtesten Ausdruck. Damit verbunden ist ein völlig verändertes Natur- und auch Raumempfinden: Die Gartenlandschaft soll nicht mehr als Ausdruck absolutistischer Repräsentanz in Erscheinung treten, sondern zum Spiegel eines subjektiven Naturgefühls werden und auch „der Vorstellung einer allgemeinen menschlichen, nicht standesgebundenen Natur“, wie der Philosoph Winfried Herrmann in seinem Essay „Der Landschaftsgarten“ (1992) schreibt. Anders gesagt: Der Landschaftsgarten wird zu einem Modell für Gesellschaft, so Herrmann, „in dem die zentralen Gedanken der Aufklärung materielle Gestalt annehmen“.

Wie in den Gärten Le Nôtres spiegelt sich so auch in den englischen Parklandschaften der Geist der Epoche seiner Entstehung wider, in beiden kommen die gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen ihrer Zeit zum Ausdruck. Dabei lassen sich verschiedene Prinzipien beobachten: Betrachtet man die Entwicklung der Landschaftsgestaltung, ging es zunächst um die totale Beherrschung der Natur, alle natürlichen Erscheinungen wurden einer abstrakten Gestaltung unterworfen. Nun deutet der Englische Landschaftsgarten bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts, vor den politischen Revolutionen, das Ende des Absolutismus und der mit ihm verbundenen Ästhetik an – rückt mit ihm doch auch deutlich ein aufgeklärter Freiheitsgedanke ins Spektrum der politischen Vorstellungen.

Einer der Urheber dieser Vorstellung ist zweifelsohne Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), dessen Ideen ungemein auf die „Gartenrevolution“, wie Ohff sagt, eingewirkt haben. Er hat zwar nie die ihm zugeschriebene Forderung: „Zurück zur Natur!“ aufgestellt, aber mit ihm findet das Natürliche, das Unverbildete, dazu die Glaubens- und Meinungsfreiheit Einzug in die aufgeklärte Gedankenwelt – gerade zu der Zeit, als sich in England Ideen für einen natürlichen Garten aus Landschaft entwickelten.

Mit Rousseau werden Natur, Gefühl und Tugend zu den entscheidenden Begriffen einer aufklärerischen Öffentlichkeit, die mit der Emanzipation des Gefühls die Emanzipation des Menschen aus der Unfreiheit der rationalen Ordnung des Absolutismus verband. Der Entfaltung und Entwicklung des Gefühls und der unverfremdeten eigenen Natur galt fortan die Aufmerksamkeit – hierin lag auch, so weiss Herrmann, „der Schlüssel zur sittlichen Entwicklung des Menschen … In der Ursprünglichkeit des menschlichen Empfindens sah Rousseau die wahre, nicht von der Kultur überformte Natur des Menschen hindurchscheinen“. Die Forderung „Zurück zur Natur!“ besagt demnach auch: „Zurück zur Tugend!“.

Natur wird hier von Rousseau zwar als die innere Konstitution des Menschen bezeichnet, aber, wie Herrmann bemerkt, „(d)a die äußere Natur als Symbol des inneren Empfindens gilt, wird das unmittelbare Erleben der äußeren Natur zur Metapher für die eigene, verschüttete Natur. In der freien, nicht verfremdeten Natur tritt dem Zivilisationsmenschen sein eigentliches Wesen entgegen“.

Mit der Verschiebung der Aufmerksamkeit auf das menschliche Gefühl wird zugleich auch der unverstellte Blick auf die äußere Natur, die Landschaft, möglich. Auch sie muss, Rousseau zufolge, von allen Spuren der Zivilisation befreit werden. Auch wenn er dabei nicht ausdrücklich auf das Thema Gartengestaltung eingeht (Rousseau eröffnet eher eine anthropologische Dimension), liegt hier doch der Grundgedanke für den Englischen Landschaftsgarten, den andere dann aufgreifen – und den Friedrich Schiller (1759-1805) mit dem Freiheitsgedanken verbindet.

In seinen Anmerkungen „Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795“ unterscheidet Schiller ganz grundsätzlich zwischen der Ordnung des Barockgartens, dessen oberstes Gesetz die Regelmäßigkeit sei, und der Freiheit als Merkmal des Landschaftsgartens. Während der Barockgarten die „lebendige Vegetation“ und „organische Natur“ der Freiheit beraube, konnte es „(e)inem aufmerksamen Beobachter seiner selbst nicht entgehen, daß das Vergnügen, womit uns der Anblick landschaftlicher Szenen erfüllt, von der Vorstellung unzertrennlich ist, daß es Werke der freien Natur, nicht des Künstlers sind. Sobald also der Gartengeschmack diese Art des Genusses bezweckte, so mußte er darauf bedacht sein, aus seinen Anlagen alle Spuren eines künstlichen Ursprungs zu entfernen. Er machte sich also die Freiheit … zum obersten Gesetz; bei ihm mußte die Natur, bei diesem die Menschenhand siegen“, bisweilen mit der Heckenschere fest im Griff.

In seinen sogenannten Kalliasbriefen geht Schiller noch einen Schritt weiter und verbindet die Freiheit mit der Schönheit. Ausgangspunkt hier bildet die Frage, ob die Idee der Freiheit eine Entsprechung im Bereich der Erscheinungen habe – auch in den Erscheinungen der Natur. Von Freiheit, so sagt Schiller, könne da gesprochen, wo Erscheinungen der Natur ihren eigenen Regeln folgen. Schiller zufolge zeige sich nur dort, wo der Künstler die seinem Objekt innewohnenden Regeln beachtet, wirklich die Schönheit. In seinem Brief vom 8. Februrar 1793 kommt er zu dem Schluss: „Schönheit also ist nichts anderes, als Freiheit in der Erscheinung.“

Der Englische Landschaftsgarten

Der Englische Landschaftsgarten mit seinem Ideal der ungezähmten Natur ist zunächst nur ein geistiges Gebilde, eine literarische Fiktion. Schriftsteller wie John Milton, der im Jahr 1667 „Paradies Lost“ veröffentlichte, beklagten schon länger den Verlust von natürlichen Ideallandschaften, der bereits erwähnte Joseph Addison ist Anfang des 18. Jahrhunderts der erste, der sein Unbehagen an der Kultur des französischen Barockgartens äußert. Er erlangte in England Ruhm durch sein patriotisches Poem „The Campaign“ („Der Feldzug“), in dem er den Sieg von John Churchill, Duke of Marlborough (und Vorfahr von Winston Churchill), gegen die Franzosen im Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) feierte. Marlboroughs Triumph in der Schlacht von „Blenheim“, dem schwäbischen Blindheim, im Jahr 1704 war für ihn auch ein Sieg über die absolutistische Tyrannei des Sonnenkönigs. Der Sieg in der Schlacht brachte Marlborough das Schloss „Blenheim Palace“ samt weiträumigem Park, gestaltet von Lancelot Brown, als Geschenk, während das Gedicht Addison eine Stellung im diplomatischen Dienst einbrachte, seine im Jahr 1713 verfasste Tragödie über „Cato“ verhalf ihm sogar zum Amt eines Staatssekretärs …

Addison steht am Anfang des Umbruchs des Verständnisses von Garten hin zum Landschaftsgarten. Er war der Meinung, dass es die Aufgabe eines Gartens sei, durch die Auswahl bestimmter Naturszenen Stimmungsbilder zu schaffen. Mit Rousseau rückte das Gefühl, die Empfindung in den Fokus der Aufmerksamkeit: Die Natur vermochte die Gefühle der Menschen zu bewegen beziehungsweise der Mensch die Natur im Sinne seiner Gefühle zu gestalten. In diesem Sinne sollte der Landschaftsgarten in der Romantik zu einer Art Ideallandschaft werden, die zur kontemplativen Naturerfahrung einlädt.

Das setzt als erster der Schriftsteller Alexander Pope (1688-1744) in die Praxis um: Pope wollte, wie Ohff schreibt, „die Einstellung des Menschen zur Natur im Sinn politischen Freiheitswillens verändert sehen“, deshalb begann er im Jahr 1718, verrmutlich als erster, sein Anwesen in Twickenham (an der Themse) nach den neuen Vorstellungen umzugestalten.

Pope legte den Garten seiner Villa in Twickenham nach den Grundsätzen Addisons – Unregelmäßigkeit, Asymmetrie und Wildnis – an: Seine Wegeführung verlief ohne System und der gesamte Landschaftsgarten wirkte asymetrisch. Der Journalist Udo Leuschner beschreibt den Garten folgendermaßen: „Die Mitte nimmt ein rundes Rasenstück ein, an das sich ein Hain anschließt. Von einem Aussichtshügel reicht der Blick über Hain und Rasen (…) Es gibt keine wirklich durchgehenden Achsen und Perspektiven. Der besondere Stolz des Besitzers ist ein Tunnel, der das Haus und die daran vorbeiführende Landstraße unterquert, um den hinter dem Haus gelegenen Hauptteil des Gartens mit dem schmalen Vordergarten am Ufer der Themse zu verbinden. Pope hat diesen Tunnel mit seltenen Mineralien als Grotte und den Eingang als Ruine ausgestalten lassen.“

Popes Garten ist so etwas wie der Ursprung des Englischen Landschaftsgartens, während William Kent (1685-1748) als Begründer des klassischen Landschaftsgartens gilt. Von den in seinem Stil gestalteten Landschaftsgärten sind nur noch drei erhalten, das über 1.000 Hektar große Stourhead in Wiltshire (ab 1743) ist vielleicht der bedeutendste. Auch in ihm findet sich eine Grotte, die an jene in Twickenham erinnert, überhaupt ist Wasser auch hier ein wichtiges Gestaltungselement. Wege und Blickachsen führen nicht wie in den französischen Barockgärten in die Ferne, sondern zum Zentrum des Landschaftsgartens, einem durch einen Damm aufgestauten See: „Ein lang gestreckter, künstlicher See in einem lauschigen Tal, sanft gewelltes Land, malerische Ausblicke, natürlich gepflanzte Baumgruppen, zwischen denen – schon seit dem frühen 18. Jahrhundert – Rhododendronsträuche wuchern, man kommt sich vor wie in einem klassizistischen Bild“, schreibt Ohff, „eine intime Landschaft. Aber sie wird durchsetzt von Bauten, meist Tempeln, antiken Göttern gewidmet … Noch soll Kunst die Natur veredeln und erhöhen“, es soll damit ein Gefühl von Erhabenheit erzeugt werden.

Das ändert sich bereits mit Lancelot Brown (1716-1783) im etwa 800 Hektar großen Park des oben erwähnten Blenheim Palace, sicherlich sein bedeutendster Landschaftsgarten, den er ab dem Jahr 1764 gestaltete. Brown verwendete oft den Begriff „Capability“ („Fähigkeit“) wenn es um die Umgestaltung einer Landschaft ging, weshalb er bald nur noch so genannt wurde. Er gilt als der Romantiker – und war vielleicht sogar der erfolgreichste englische Landschaftsgestalter. Mit ihm verlieren die klassizistischen Bauten an Bedeutung, stattdessen rückt die Natur weiter in den Vordergrund: Auch in Blenheim bildet, wie Ohff bemerkt, „ein künstlicher See Mittel- und Höhepunkt einer abwechslungsreichen Landschaftsgestaltung“. Auch hier wurde, um den See zu schaffen, der heute vor dem Palace liegt, ein nahegelegener Fluss aufgestaut.

Humphrey Repton (1752-1818) schließlich ist der dritte bedeutende englische Gartengestalter. Er ist als einziger auch nach den Revolutionen tätig und gilt als „Nachromantiker“, der „hin und wieder schnurgerade Wege gelten (lässt)“, wie Ohff schreibt, und „keine künstlichen Seen mag“. Bei ihm vermischen sich die beiden Stile etwas, „wenn auch die Natur nach wie vor dominiert“. Wichtig für Repton ist das von ihm propagierte Prinzip der „Zonierung“: Repton untergliederte den Gesamtraum des Landschaftsgartens (zu dem auch Wälder und offenes Land, bisweilen landschaftliche Nutzflächen, gehören) in verschiedene Zonen, die optisch zwar zusammengehören, aber doch, bisweilen durch Zäune, voneinander getrennt sind. Damit machte er auch die zuvor von Kent etablierte Integration des sogenannten „pleasuregrounds“ rückgängig.

Der Pleasureground ist eine an den Garten anschließende Rasenfläche, die den Landsitz umgab und vom eigentlichen Park trennte, wenngleich die Landschaft perspektivisch geöffnet blieb und dem adeligen Hausherrn so gegenüber den anderen, bürgerlichen Parkbesuchern das Privlileg erlaubte, den Ausblick auf „la belle nature“ zu genießen, ohne seine komfortable Umgebung verlassen zu müssen.

Darüber hinaus diente der Rasen dem Landadel in den Sommern vor der Revolution aber zu repräsentativen Anlässen, insbesondere auch zum afternoon tea, einer Erfindung des 18. Jahrhunderts, oder zum Picknick, das bereits in der Antike praktiziert wurde und hier nun wieder kultiviert wurde, bevor es dann im 19. Jahrhundert, im Viktorianischen Zeitalter, auch unter den Bürgern populär wurde. Als Repton den Pleasureground wieder vom Parkgelände absetzte, zeigte er insofern auch an, dass der Freiheitsimpuls der französischen Revolution inzwischen ermattet war und die Restauration des Adels in Europa bereits eingesetzt hatte.

Nichtsdestotrotz hatte sich der englische Stil bei der Gestaltung des Landschaftsgartens durchgesetzt: Nach 1760 erobert der Englische Landschaftsgarten den Kontinent, selbst Frankreich, wo man ihn „Jardin romantique“ nennt. In Preussen sorgte insbesondere die von Napoleon 1806 verhängte Kontinentalsperre gegen England noch einmal für einen Schub bei der Umwandlung der bestehenden Landschaft in einen Landschaftsgarten, denn nun entfielen die lukrativen Exportmöglichkeiten für Getreide nach England: Dass die Getreidepreise in den Keller fielen erleichterte manchem Gutsbesitzer zweifelsohne den Rückzug aus der Landwirtschaft und die Umwidmung seines Landes.

Inszenierung von Landschaft

Im Englischen Landschaftsgarten wird die Natur expressiv und Landschaft zu einer Art Theaterkulisse. Der Gartengestalter verändert die Physiognomie der Landschaft, wodurch der Landschaftsgarten durchaus als Inszenierung von Naturerfahrung verstanden werden kann: Den Gestaltern der Anlagen ging es darum, bei den durch die Landschaft spazierenden Menschen verschiedene Empfindungen hervorzurufen. Der Landschaftsgarten sollte auf das Gemüt wirken, Reize stimulieren: durch sein kontrastreiches, sanft gewelltes Gelände, durch die feuchten und kühlen Plätze an den aufgestauten, verwinkelten Seen, durch die kleinen Teiche und klammen Grotten, die als Rückzugsorte dienen konnten, durch die verschieden platzierten schattigen Baumgruppen und Gebüsche, durch die offenen, sonnigen Rasenflächen et cetera.

Durch den permanenten Wechsel all dieser Elemente sollten den Besuchern ständig neue Perspektiven eröffnet werden und Natur sich nach jeder Wegbiegung anders und neu erfahren lassen. Deshalb auch die für den Englischen Landschaftsgarten so typischen gekrümmten oder gewundenen Wege: Sie dienten der Inszenierung der Landschaft, indem sie jeweils neue Blicke oder Sichtachsen auf neue Naturszenen beziehungsweise Stimmungsbilder eröffnen. Der Spaziergänger sollte stets, auch über Umwege, zu neuen und überraschenden Szenen geführt werden, die sich seinem Blick bislang entzogen haben, was zusätzlich für spannende Reize sorgt.

In seinem fünfbändigen Werk über die „Theorie der Gartenkunst“ gibt der bedeutendste Gartentheoretiker des 18. Jahrhunderts in Deutschland Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742-1792) explizit an, durch welche Auswahl von Naturelementen, aber auch Farben und Geräusche et cetera „Szenen“ bestimmter Gefühlsqualitäten hervorgebracht werden können. Er verwendet dabei eine Sprache, die sich in einer gewissen Nähe zur naturalistischen Bühnenbildnerei befindet. Als „Szenen“ bezeichnet Hirschfeld Naturarrangements, in denen eine bestimmte Atmosphäre beziehungsweise Stimmung herrschen soll: „heiter“, „heroisch“, „ernst“ oder „sanft-melancholisch“ beispielsweise. Im Hinblick auf letztgenanntes schreibt er zum Beispiel: „Die sanftmelancholische Gegend bildet sich durch Versperrung aller Aussicht; durch Tiefen und Niederungen; durch dickes Gebüsch und Gehölz, oft schon durch bloße Gruppen von hohen, stark belaubten, nahe aneinandergedrängten Bäumen, in deren Wipfeln ein hohles Geräusch schwebt; durch stillstehendes oder dumpfmurmelndes Gewässer, dessen Anblick verdeckt ist; durch Laubwerk von einem dunklen und schwärzlichen Grün, durch tief herabhängende Blätter und überall verbreitete Schatten; durch die Abwesenheit alles dessen, was Leben und Wirksamkeit ankündigen kann. In einer solchen Gegend fallen sparsame Lichter nur durch, um den Einfluß der Dunkelheit vor dem Traurigen oder Fürchterlichen zu beschützen. Die Stille und die Einsamkeit haben hier ihre Heimat. Ein Vogel, der ungesellig umherflattert, ein unverständliches Geschwirre unbekannter Geschöpfe, eine Hohltaube, die in dem hohlen Wipfel einer entlaubten Eiche girrt, und eine verirrte Nachtigall, die ihre Leiden der Einöde klagt – sind zur Ausstaffierung der Szene schon hinreichend.“

Hirschfeld beschreibt hier ein ganzes Tableau an Reizen, die beim Betrachter bestimmte, sanft-melancholische Gefühlsregungen hervorrufen sollen. Nichts soll willkürlich platziert werden, sondern alles hat seine szenische Bedeutung und ist auf die Erregung eines bestimmten Gefühls hin arrangiert beziehungsweise inszeniert. Die Abfolge verschiedener Szenen eines Landschaftsgartens ist dabei idealerweise auf die Wahrnehmungsmöglichkeiten eines Spaziergängers abgestimmt, womit der Wegeführung bei der Konzeption des Landschaftsgartens die größte Bedeutung zukommt. Wege verbinden die unterschiedlichen Naturszenen untereinander und schließen bisweilen, wie Herrmann feststellt, „die optisch nach außen hin offene Anlage durch einen rundumlaufenden `belt´ zusammen“.

Natürliche Elemente des Landschaftsgartens

Ähnlich wie Hirschfeld hat auch Alexander von Humboldt (1769-1859) in seiner Landschafts- und Naturphysiognomie eine Zugangsweise zur Natur, in der er die natürlichen Formen in ihrem szenischen Charakter identifiziert. Im großen Unterschied zu Johann Wolfgang von Goethe unterstellt Humboldt der Natur kein inneres Wesen, das dann in der physiognomischen Form zum Ausdruck kommt, sondern glaubt vielmehr, dass Natur etwas ganz und gar Äußerliches ist, sich allein in seiner Erscheinung offenbart. Entsprechend schreibt er seinen „Ansichten der Natur“ (1807): „Wer fühlt sich nicht, um selbst nur an nahe Gegenstände zu erinnern, anders gestimmt in dem dunkeln Schatten der Buchen; auf Hügeln, die mit einzeln stehenden Tannen begrenzt sind; oder auf der Grasflur, wo der Wind in dem zitternden Laube der Birke säuselt? Melancholische, ernst erhabene, oder fröhliche Bilder rufen diese vaterländischen Pflanzengestalten in uns hervor. Der Einfluß der physischen Welt auf die moralische, das geheimnisvolle Ineinanderwirken des Sinnlichen und Außersinnlichen gibt dem Naturstudium, wenn es zu höheren Gesichtspunkten erhebt, einen eigenen, noch zu wenig erkannten Reiz.“

Wie Hirschfeld gibt Humboldt verschiedene Naturelemente an, deren Zusammenwirken verschiedene Stimmungen bewirken sollen, an anderen Stellen seines Werkes wird Hirschfeld, was die Mittel zur Stimmungserzeugung betrifft, allerdings noch deutlicher. So schreibt er etwa im Kapitel Wasser: „Die Dunkelheit hingegen, die auf Teichen und anderen stillstehenden Gewässern ruhet, verbreitet Melancholie und Traurigkeit. Ein tiefes, schweigendes, von Schilf und überhängendem Gesträuch verdunkeltes Wasser, das selbst das Licht der Sonne nicht erhellt, schickt sich sehr wohl für Sitze, die diesen Empfindungen gewidmet sind, für Einsiedeleyen, für Urnen und Denkmäler, welche die Freundschaft abgeschiedenen Geistern heiligt.“ Entsprechend im Abschnitt über Gehölz beziehungsweise den Wald: „Besteht er dabey aus bejahrten an die Wolken ragenden Bäumen, und aus einem dichten und sehr dunklen Laubwerk, so wird sein Charakter Ernst und eine gewisse feyerliche Würde seyn, der eine Art von Ehrfurcht einflößt. Gefühle der Ruhe durchschauern die Seele, und lassen sie ohne eine vorsetzliche Entschließung, in ein gelassenes Nachsinnen, in ein holdes Staunen dahinschweben.“

Wasser eignet sich laut Hirschfeld also ausgezeichnet, effektvolle Szenerien zu gestalten, denn es kommt, wie er auch ausführt, der Forderung nach abwechselnden Reizen und unterschiedlichen Szenen entgegen. Insbesondere melancholische und erhabene Gefühle lassen sich durch Wasser erregen, in Verbindung mit einem Grabmal oder einer realen Begräbnisstätte (wie beispielsweise beim ehemaligen Grab Rousseaus im Park von Ermenonville, Fünfzig Kilometer nordöstlich von Paris, bevor seine sterblichen Überreste ins Pariser Panthéon überführt wurden).

Immer wieder treten auch Wasserfälle in Erscheinung, die bisweilen ein Gefühl der Erhabenheit suggerieren. Herrmann bemerkt diesbezüglich, dass das Bild herabstürzender Wassermassen den Eindruck „von elementarer Naturgewalt“ vermittelt, „(ü)berhaupt soll bei der Verwendung natürlicher Elemente jeder Anschein von menschlicher Einflussnahme vermieden werden“. Stattdessen soll, ganz im Sinne Rousseaus, die Korrelation von äußerer Natur beziehungsweise Landschaft und menschlicher Natur zum Ausdruck kommen.

Zu den natürlichen Elementen gehört natürlich auch der Boden. Wie beim Wein das Terroir, bestimmt vor allem anderen die Bodengestaltung, das Terrain, das gesamte Erscheinungsbild des Landschaftsgartens. Durch eine hügelige Gestaltung werden „Ausblicke“ geschaffen, eine gras- und baumbestandene Hügellandschaft, bemerkt Herrmann, „bildet in der Regel den idealen Raum für einen Landschaftsgarten“.

Naturszenen in Englischen Landschaftsgärten sind gewissermaßen zwar dramatisch inszeniert, Natur in diesen Szenen konzentriert, gleichwohl soll sich die Parklandschaft nicht von seiner natürlichen Umgebung abgrenzen. Deshalb spiegeln die Englischen Landschaftsgärten diese Umgebung bisweilen wider, wobei durchaus eine Art „common sense“ in Bezug darauf bestand, wie eine ideale Gartenlandschaft auszusehen hatte: Sie hatte ihren strukturellen Ursprung in der baumbestandenen südenglischen Wiesenlandschaft, die von alters her der Weideviehhaltung diente und insofern eine Hudelandschaft war. (Auf eine solche Landschaft bezieht sich auch Milton in seinem bereits erwähnten Gedichtepos „Paradise Lost“.) Wo die Gärten nicht ohnehin dort angelegt wurden, wo zuvor das Vieh auf die Weide geschickt worden war, wurden Hügel der reizvollen Wirkung wegen oftmals auch künstlich geschaffen. Und Bäume wurden so gepflanzt, dass sie sich wie die einzeln stehenden Hudeeichen frei entwickeln konnten – auch wenn ihnen dann die vom Vieh erzeugte Fraßkante fehlte, unter denen man sich gerne zum bereits erwähnten Picknick versammelte, wie dies auf etlichen Gemälden aus der Zeit dargestellt ist.

Interessanterweise wurden die englischen Vorstellungen von der idealen Gartenlandschaft auch auf dem Kontinent übernommen: Von Friedrich Ludwig Sckell (1750-1823) beispielsweise in dem im Revolutionsjahr 1789 angelegten Englischen Garten in München; oder in den Wörlitzer Anlagen in der Elbniederung bei Dessau. In beiden Fällen sind ehemalige Hudelandschaften zum Park umgebaut worden, in denen malerische Baumindividuen mit weit ausladenden Ästen in dem Terrain stehengeblieben sind und das Grünland dazwischen seit jeher rasenartig kurzgehalten war.

Ansonsten jedoch konzentrierte man sich bei der Verwendung botanischer Elemente nicht nur auf Pflanzen, die in der Vegetation bereits vorhanden waren, sondern es wurden vielfältige Gehölze und andere Gewächse verpflanzt, auch exotische Pflanzen. Es ist das Zeitalter der Entdeckungen, man denke nur an James Cook (1728-1779) oder etwas später den bereits erwähnten Alexander von Humboldt (1769-1859). So fanden etliche Gehölze aus fremden Regionen mit anderem Klima in europäischen Gärten eine neue Heimat, sofern sie die Kälte nördlicher Breiten aushielten, zum Beispiel Rosskastanien, Robinien, Tulpenbäume, Japanische Lärchen oder Gingkos.

In Kombination von Grünflächen, Bäumen, Baumgruppen und Büschen, weiß Herrmann, „soll eine interessante Abstufung von Grüntönen erzielt werden. Der Landschaftsgarten ist somit ein Ensemble verschiedener Grün- und gedeckter Brauntöne, in dem andere Farben, z. B. die der Blumen, nur eine untergeordnete Rolle spielen“.

Dennoch wurden in den eigens errichteten Botanischen Gärten (der von Berlin entstand bereits im Jahr 1679) auch eigentlich tropische Gewächse herangezogen, wenn sie nicht zu empfindlich waren. Ansonsten mussten für kälteempfindliche Pflanzen besondere Schutzmaßnahmen getroffen werden. Auf der berühmten Weinterrasse auf dem Südhang von Sanssouci beispielsweise hat man deshalb mit Fensterglas verschließbare Nischen für Reben und andere, exotischere Obstsorten wie Feigen konstruiert, die bei praller Sonne geöffnet und bei Kälte geschlossen werden konnten. Andere empfindliche tropische Gewächse hielt man als Kübelpflanzen, die nur im Sommer im Park standen und den Winter in der beheizten Orangerie überdauerten. Gezüchtet wurden in den Botanischen Gärten auch Gewächse und Blumen wie etwa Koniferen, die millionenfach in bürgerlichen Gärten zu finden waren, wie sie dann langsam im 19. Jahrhundert entstanden, oder, wie im Falle der Tulpen, in den Niederlanden Ende des 16. Jahrhunderts zur ersten geplatzten Spekulationsblase in der Geschichte des Kapitalismus führten.

Classical und Gothic Revival in der Landschaftsinszenierung

Neben natürlichen Gestaltungselementen wie der Bodengestalt beziehungsweise dem Terrain, Wasser, botanischen Elementen wie Gehölzen, aber auch Licht und Schatten, Farben, Steinen oder Felsen, gibt es auch, ganz im Sinne William Kents, künstliche Elemente, die bei der Gestaltung eines Landschaftsgartens eingesetzt werden: dazu gehören insbesondere alle Bauwerke. Auch diese Gestaltungselemente fungieren dabei, wie die natürlichen, nicht als Zeichen für etwas, sondern sie sollen die Szene selbst erzeugen, die Atmosphäre und Stimmung gewissermaßen heraufbeschwören. Das tun sie insbesondere auch dann, wenn es ihnen – wie eingangs bereits ansgesprochen – gelingt, überwältigende „Momente der Intensität“ beziehungsweise ästhetisch auffällige Augenblicke hervorzubringen, die sich auch der rationalen Kontrolle durch den Betrachter entziehen.

Der Landschaftsgärtner sollte Hirschfeld zufolge wissen, durch welche Kombination der unterschiedlichen Gestaltungselemente einer Landschaftsszene solche Momente beziehungsweise eine bestimmte Atmosphäre und Stimmung erzeugt werden kann. Zwei gestalterische Grundtendenzen lassen sich dabei im Landschaftsgarten bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts beobachten, und zwar sowohl in der architektonischen Formensprache als auch im Landschaftsbild: In beiden kommt eine Sehnsucht nach dem Süden – der Antike – und eine zunehmende Rückbesinnung auf die einheimische nordische Landschaft zum Ausdruck.

Entsprechend zeichnen sich zwei stilistische Strömungen bei der Landschaftsgestaltung ab, die bisweilen jedoch immer gemeinsam auftreten: Es sind dies das Classic Revival und das Gothic Revival. Während der Klassizismus der Renaissance bestrebt ist, der Antike eine neue Bedeutung abzugewinnen, bezieht sich der neugotische Stil mit einer romantischen Sehnsucht auf eine unwiederbringliche Vergangenheit. Herrmann unterscheidet diesbezüglich zwischen natürlichen und künstlichen Stilelementen und bemerkt dazu: „Als klassisch oder sentimental wird eine auf wenige markante Erscheinungen zurückgedrängte Landschaft bevorzugt, oder man greift auf ein malerisches, die Phantasie anregendes Landschaftsbild zurück, das sich durch Stilpluralismus auszeichnet. (…) Jede Erscheinungsform ist eine Komposition aus beidem …“

Das zentrale artifizielle Moment eines Landschaftsgartens ist bisweilen das, in Anlehnung an den Landsitz so genannte, Landhaus, dessen unmittelbare Umgebung von Garten und Pleasureground geprägt ist. Das Landhaus ist oft im klassizistischen Stil des Neopalladianismus errichtet, in England genauso wie beispielsweise in Wörlitz, wo zwischen 1769 und 1773 eines der ersten Gebäude in diesem Stil in Deutschland errichtet wurde (der „Englische Sitz“, ein Pavillon, der hier im Jahr 1765 entstand, ist tatsächlich das erste klassizistische Bauwerk auf dem Kontinent und damit das früheste Zeugnis für den neuen Stil). Anders als noch im Barockgarten bildet es in der Anlage eines Englischen Landschaftsgarten allerdings nicht mehr das optische und strukturelle Zentrum, sondern über seinen Standort entscheidet allein „der Aspekt der harmonischen Einbindung in die Landschaft“, wie Herrmann bemerkt.

Zum repräsentativen Landhaus gehörten allerdings auch Wirtschaftsgebäude wie die ganzen landwirtschaftlich genutzten Gebäude – Landschaftsgärten hatten nicht nur einen erholsamen, sondern immer auch einen wirtschaftlichen Zweck –, die Stallungen oder die Unterkünfte für die Bediensteten. Bei diesen Funktionsbauten wurde häufig versucht, sie durch pittoresk wirkende Stilelemente zu kaschieren, häufig in einem neugotischen Stil, und ihnen ein dekorativeres Aussehen zu geben. Die Gärtnerei in Wörlitz ist ein Beispiel dafür, wie solche nicht-repräsentativen Gebäude dennoch in eine ästhetisierte Szenenfolge eingebunden wurden. Auch Brücken gehörten zu diesen Zweckbauten, die nebenher noch eine dekorative Funktion ausüben sollten.

Wesentlicher Aspekt der Inszenierung der Landschaftsgärten waren jedoch die Staffagegebäude, die keinerlei funktionale Aufgaben erfüllten, dafür aber, wie Herrmann sagt, „wesentlich den bedeutungstragenden Teil der Gartenbebauung“ bildeten, indem sie zu Trägern von aufklärerischen Ideen wie Freiheit und Toleranz wurden: „Die Antikenrezeption im 17. und 18. Jahrhundert hat den Boden für eine Verbindung griechisch-römischer Mythologie mit den Ideen der Aufklärung bereitet. In emblematischer Verdichtung nehmen die Ideen Gestalt an. Gewissermaßen in der Form eines säkularisierten Kultes wird hier an Altären und in Tempeln dem Genius der Natur und dem Genius des Menschen gleichermaßen gehuldigt“, schreibt Herrmann. Schön zu sehen ist das an den vielen Tempeln wie beispielsweise am Monopteros-Tempel im Englischen Garten in München.

Während Kapellen und insbesondere Tempel als Embleme für die Aufklärung fungieren und eher über den Verstand zu erfassen sind, verkörpern andere Staffagegebäude emotionale Werte ohne inhaltliche Bedeutung und werden einfach nur zur Erzeugung von Stimmungen und Atmosphären errichtet. Dazu gehören Grotten genauso wie Einsiedeleien für sanft-melancholische Landschaftsszenen, aber auch Schäferhütten oder Scheinruinen, die bisweilen im gotischen Stil gebaut wurden wie beispielsweise in Sanssouci, was ihnen den authentischen Charakter eines mittelalterlichen Bauwerks gab.

Die Ruine ist Ausdruck der Vergänglichkeit und wurde, darauf verweist Herrmann, mit der Melancholie in Verbindung gebracht, womit sie „einen Blick auf die Bewegung der Geschichte (eröffnet) – denn der Landschaftsgarten, selbst Ausdruck eines vorwärts weisenden geschichtlichen Bewußtsseins – versteht sich nicht als ein ursprüngliches Paradies, aus dem die Bewegung der Zeit verbannt ist“. Herrmann bemüht hier, ohne es auszusprechen, das Bild von Walter Benjamins Engel der Geschichte aus „Geschichtsphilosophische Thesen“ (1940), eigentlich eine Bildbeschreibung von Paul Klees „Angelus Novus“, das Benjamin im Jahr 1921 erworben hat. Darauf ist ein Engel dargestellt, der „das Antlitz der Vergangenheit zugewendet (hat). Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Der Landschaftsgarten in Deutschland

Dadurch, dass die Landschaft im englischen Garten in Hinblick auf ihre ästhetische Erfahrung gestaltet beziehungsweise inszeniert wird, ist auch der Landschaftsgarten nicht Natur im eigentlichen Sinne, sondern „er stellt Natur dar“, wie Herrmann sagt. Ihm zufolge orientierte sich die englische Landschaftsgärtnerei mit ihrer Formensprache zu Beginn 18. Jahrhunderts zunächst an Kompositionsprinzipien der Landschaftsmalerei. Als ordnendes ästhetisches Element, führt Hermann aus, wurde die Vedute übernommen, also die wirklichkeitsgetreue, wiedererkennbare Darstellung einer Landschaft. Die räumliche Wirkung wurde hier insbesondere auch durch den Schattenwurf der zahlreichen Bäume erzeugt, deren Pflanzung entsprechend nach einem zuvor bildhaft komponierten Ordnungsprinzip erfolgte.

Ist der englische Landschaftsgärtner zuerst Schriftsteller (Joseph Addison, Alexander Pope), wird er nun zu einem ausgebildeten Landschaftsmaler wie tatsächlich William Kent … Dann jedoch wird die Landschaftsgestaltung von Hirschfeld schon bald als eigenes Medium charakterisiert, schließlich, und darauf hebt er ab, konstituiert sie auch keine flache Leinwand, sondern einen dreidimensionalen Raum, der eine simultane Wahrnehmungsweise erfordert: „Visuelle Eindrücke konkurrieren mit Geräuschen und Gerüchen, und wie sich einzelne Naturelemente bewegen, bewegt sich der Betrachter im Landschaftsensemble fort“, schreibt Hermann in diesem Zusammenhang und ergänzt: „Die Gartenkunst stellt ihre Effekte auf den ständig wechselnden Blickwinkel des Betrachters ab. Das erfordert andere Prinzipien …“ Über den Schriftsteller und den Landschaftsmaler wird der Landschaftsgärtner schließlich zum Landschaftsbildner und die Landschaftsgestaltung zum Anliegen bedeutender Architekten wie beispielsweise bei Humprey Repton, der bisweilen gemeinsam mit dem Architekten und Städtebauer John Nash (dem London unter anderem Regent Street und Park verdankt) arbeitete …

In Deutschland hingegen beklagt Friedrich Schiller noch Ende des 18. Jahrhunderts einen gartengestalterischen Dilettantismus, durch den die Landschaften oft zu „pittoresken Verniedlichungen“ gerieten. Das liegt ihm zufolge daran, dass sich die Landschaftsgestalter hierzulande noch zu sehr an der Malerei orientierten, die die Natur jedoch nur in einem verkleinerten Maßstab darstellen kann. Der Dilettant vergisst, so Schiller in seinen Anmerkungen „Über den Gartenkalender …“, „daß der verjüngte Maßstab … auf eine Kunst nicht wohl angewendet werden konnte, welche die Natur durch sich selbst repräsentiert und nur insofern rühren kann, als man sie absolut mit Natur verwechselt“. Man könne Natur nur „durch Natur, nicht durch ein künstliches Medium nachahmen oder auch gar nicht nachahmen, sondern [nur] neue Objekte erzeugen“.

Goethes „Wahlverwandtschaften“ –

Einer dieser gartengestalterischen Dilettanten – ohne zu wissen, ob Schiller auch ihn meinte – war Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), der in jungen Jahren in Weimar maßgeblich an der Gestaltung des Parks an der Ilm (1776) beteiligt war und später mit „Die Wahlverwandtschaften“ (1809) auch einen Roman verfasst hat, der von der Erschaffung eines romantischen „Baumgartens“ im englischen Stil handelt. Der Roman – ein konservativer Liebesroman – spielt in einer ländlichen Umgebung und erzählt von einer äußerlich geordneten, aber innerlich brüchigen Ehe in der gehobenen Gesellschaft. Als den Eheleuten jeweils eine andere Person gegenübertritt, zu der sie sich hingezogen fühlen, wird ihnen allmählich klar, dass sie nicht füreinander geschaffen sind. Ohne wirkliche Handlung, kreisen alle Gespräche des Romans darum. Zunächst zwar nicht wirklich, sondern nur in Gedanken erfolgt der Ehebruch, schließlich jedoch tatsächlich die Trennung, ohne sich aber voneinander Scheiden zu lassen …

Ähnlich wie beim französischen Barock- und dem englischen Landschaftsgarten werden zwei Prinzipien deutlich: Der Mensch bewegt sich grundsätzlich zwischen Ordnung und Freiheit, das heißt der natürlichen Leidenschaft tritt die Sittlichkeit als eine kulturell oder moralisch bedingte Notwendigkeit gegenüber, das gilt insbesondere für die gehobene Gesellschaft. Goethe schildert die gesellschaftliche Entfremdung von der Natur: „Das Blühen und Vergehen trägt den Menschen nicht mehr, es wird von ihm gemeistert“, schreibt Ernst Beutler in einem Nachwort, „(a)n die Stelle des Wachsens tritt das Propfen, an die des Waldes der Park“ – nicht mehr unberührte Natur, die eingespannt ist in die jahreszeitliche Entwicklung und das Vergehen und Werden, sondern artifizielle Landschaft und die Technik der Propfung, die eigentlich ein gebräuchliches Verfahren der Veredelung (auch im Weinbau) ist, nun jedoch nur noch als Sinnbild für die zivilisatorische Gewalt an der Natur fungiert.

Nicht nur „alte Eichenbäume“ und „hohe Lindenalleen“ sind Kulisse – im ganzen Roman treten vorwiegend immer wieder, symbolisch, Pappeln und Platanen in Erscheinung: die Pappel ist der Baum der Trauer, die Platane steht für Unfruchtbarkeit. So wird von Goethe insgesamt eine Umgebung entworfen, in der Landschaft nur noch als eine vom Menschen degenerierte, zugerichtete Natur erscheint und der Mensch selbst als von den Zwängen der Zivilisation deformiert. Das wirkliche Leben, aber auch die Ehrfurcht und der Respekt vor der natürlichen Ordnung und der von Goethe geheiligten göttlichen Schöpfung, scheinen an ihr Ende gekommen zu sein.

Beschrieben ist so gewissermaßen das Negativ jenes Bildes, das Rousseau entwirft: Für ihn macht die Landschaft dem Menschen sein Entwicklungspotential sichtbar. Der Landschaftsgarten, der der ursprünglichen Natur nachempfunden ist, soll das Gefühl ansprechen, über das der Mensch sich seines natürlichen Daseins bewusst werden soll. Herrmann bemerkt in diesem Zusammenhang: „Das Gefühl, das sich in Übereinstimmung mit der sittlichen Natur des Menschen weiß, erinnert als `sittliche Einsicht´ den Menschen an die geschichtliche Entwicklung, die ihn von seiner Natur fortgeführt hat.“ Über die Erfahrung des Landschaftsgartens als einer dem Menschen gemäßen Natur soll eine Gesellschaft erwachsen, die der Natur des Menschen wieder gerecht wird. Nichts davon jedoch in Goethes pessimistischem Roman …

Gartenreich Dessau-Wörlitz –

… vieles davon aber im „Gartenreich Dessau-Wörlitz“, wo zwischen 1764 und 1800 drei ursprünglich eigenständige Gartenanlagen um den Wörlitzer See, einem toten Arm der Elbe, zum ersten natürlichen Landschaftspark in Deutschland zusammengefasst wurden. Der seit 1758 regierende Fürst Leopold III. Friedrich Franz (1740-1817), genannt Fürst Franz von Anhalt-Dessau, hatte hier gemeinsam mit seinem Gärtner Johann Friedrich Eyserbeck (1734-1818) der Aufklärung in verschiedenen Szenen zur physiognomischen Erscheinung verholfen, die perzeptive und kognitive Wirkung haben und alle Sinne des Besuchers in Anspruch nehmen sollten.

Die Anregung zu diesem Landschaftsgarten hatten der Fürst und sein Architekt Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff (1736-1800) von einer Englandreise mitgebracht, das schon in dieser Zeit in ästhetischer Hinsicht die Avantgarde verkörperte: Anstelle von Ornament und barocken Schnörkeln treten klare Formen nach dem Vorbild der italienischen Renaissance, das heißt „(d)ie Ästhetik, die wir im Gartenreich in überschwänglichem Maße finden, basiert auf der Ethik der Aufklärung“, sagt Sven Kielgas, seit 2015 Besitzer des im palladianischen Stil errichteten Landhauses von Fürst Franz, in einem Zeitungsinterview. „Das Gartenreich ist gebauter Liberalismus. Mit der Entscheidung für den englischen Garten und den palladianischen Architekturstil verkündet Fürst Franz: Ich bin ein Liberaler. Das sieht man etwa daran, dass in Wörlitz, obwohl es offizielle Sommerresidenz des Hauses Anhalt-Dessau war, alles Militärische fehlt.“

Wörlitz, so schreibt Ohff, „gleitet ins Land hinein, nirgends findet sich ein Zaun. Man ahnt nicht wo der Park, in den Kornfelder – einzigartig in der Welt – integriert sind, anfängt oder das Land aufhört“. So sind in die weiträumige, offene Landschaft neben romantischen Partien also auch landwirtschaftliche Nutzflächen integriert. Das Credo von Fürst Franz lautete: Alles, was schön ist, muss auch nützlich sein. Dafür steht gerade auch die Fürstliche Domäne, deren Mittelpunkt das Landhaus bildete. „Die Domäne“, sagt Kielgas, „war der innovation hub des Fürstentums. Von überall pilgerten die Besucher auf diesen Musterhof, um hier den agrartechnischen Fortschritt zu studieren.“ Denn dank der Einführung moderner Anbaumethoden war es Fürst Franz gelungen, aus seinem verarmten Landstrich in den Elbniederungen eine blühende Landschaft zu machen, die für die Gartengestaltung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Bedeutung haben sollte. Selbst Goethe sprach bewundernd von „elysischen Feldern“, einem irdischen Paradies, wie es für Milton längst verloren schien.

Mit dem Verweis auf das Paradies relativiert Goethe seine skeptische, zivilisationskritische Perspektive der „Wahlverwandtschaften“ und zeigt ein alternatives Bild auf, auf das auch Rousseau rekurriert um das Ideal der „natürlichen Ordnung“, der der Landschaftsgarten folge, herauszustellen. Für Rousseau ist hier jene, wie Herrmann sagt, „auf den Menschen reinigend wirkende Kraft der ursprünglichen Natur“ versammelt, „die ihn von den Deformationen durch die verhängnisvolle Zivilisation befreien soll“, wie sie im Roman von Goethe aufgezeigt werden. Bleibt dem Menschen das ansonsten versagt, lässt es sich nun im gelungenen Landschaftsgarten wie in Wörlitz erfahren – wo Rousseau auch auf einer nach ihm benannten Insel eine besondere Würdigung erfährt. Entsprechend entwickelt sich das Gartenreich auch zu einem Zentrum der Aufklärung in Deutschland.

Die größte Parkanlage nach englischem Vorbild jedoch sollte in der Umgebung von Berlin und Potsdam entstehen, aber nur in Teilen fertig werden, weil schließlich die Stadt schneller wuchs als ihre Gärten. Insbesondere Peter Joseph Lenné machte sich bei der Gestaltung der Englischen Gärten an den Havelseen verdient. Dort war das lokale Klima so feucht und wintermild wie weit und breit nicht, so dass hier Englischer Rasen und Rhododendron gediehen. Wo er mit seinen exotischen Pflanzungen scheiterte, wie im Park von Babelsberg, sprang Hermann Fürst von Pückler-Muskau ein. Pückler begab sich selbst nach England, um sich ein Bild von der Landschaft und deren Gestaltung zu schaffen. Nach diesem Muster formte er den Muskauer Landschaftspark sowie den Park von Branitz.

Pücklers Inszenierungen –

Eine Szene am Berliner Ku`damm, mitten am Nachmittag irgendwann im Jahr 1815 auf der Terrasse des Café Kranzler, wo die gesamte Berliner Gesellschaft wie gewöhnlich versammelt ist und beobachten kann, wie auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Vierergespann aus den Stallungen eines jungen Mannes hinausgelenkt wird … Mehrere Male fährt er mit der Kutsche „Unter den Linden“ auf- und ab, bevor er schließlich vor dem Café stoppt und aussteigt. Nu?, mag man sich fragen. Nun, die Kutsche von Fürst Pückler, den hier alle kennen, wurde nicht von Pferden, sondern von vier prachtvollen Hirschen gezogen …

Das ist ist nur einer von unzähligen extravaganten Auftritten von Fürst Hermann von Pückler-Muskau (1785-1871), und so ist auch niemand darüber verwundert, dass zu seinen Bediensteten nicht nur der berühmte Schnellläufer Mensen Ernst gehört, der als Kurier die Korrespondenzen zwischen der Berliner Stadtwohnung Pücklers und Schloss Branitz zu Fuß übermittelt, sondern auch der durch seine Zwergengestalt auffällige Billy Masser, seines Zeichens Sekretär und Hofmarschall des Fürsten.

Entsprechend aufwändig ist der Lebensstil von Pückler, nachdem er 1811 die Herrschaft Muskau-Branitz als Erbe übernommen hatte. Für einen Landadligen, so meint er vorausschauend zu erkennen, ist wohl kein Platz mehr in einer kapitalistischen, von der Industrialisierung geprägten Gesellschaft (zumindest wenn man nicht vom Schlag eines pommerschen Landjunkers ist wie etwas später Otto von Bismarck). Umso heftiger reagiert er und verwandelt das Unzeitgemäße seiner Existenz in eine Form von Theatralik und Exaltiertheit. Sein Leben mündet, so Herrmann, „in eine extreme Form der Selbststilisierung, die ihren Ausdruck auch in der Inszenierung aristokratischer Lebensweise in seinen Gartenlandschaften finden sollte“.

In seiner unzeitgemäßen Existenz bleibe dem Landadel gewissermaßen nur eine „poetische Existenzweise“, so das trotzige Resümee Pücklers, die sich nur in der Selbstinszenierung behaupten kann, deren natürliches Medium der Raum beziehungsweise die „Ausdehnung“ sei. Damit rücken für Pückler insbesondere auch die Gartenlagen in den Fokus, die er, seiner Verbundenheit zu den Idealen der aristokratischen englischen Kultur entsprechend, ausbauen will. Er selbst schreibt dazu: „In der höheren Ausbildung des genießenden Lebens hat sich auch die Landschaftsgärtnerei dort in einer Ausdehnung entwickelt, die früher keine Zeit und kein Land in diesem Maße gekannt zu haben scheint“.

Die aristokratische Lebensauffassung mündet in einer Auffassung vom „genießenden Leben“, wie Pückler sagt, die ihren höchsten Ausdruck in der räumlichen Weite des Landschaftsgartens findet, gewissermaßen als Verlängerung der Selbstinszenierung. Gleichzeitig ist im Landschaftsgarten auch eine gesellschaftliche Bedeutung konserveriert. Hermann bemerkt in diesem Zusammenhang: „Anders als im 18. Jahrhundert ist nicht mehr die vorwärtsweisende Idee, das Entwicklungspotential des Menschen aufzuschließen, um ihm so seine bessere Zukunft vorzustellen, Ausgangspunkt des Entwurfs, sondern vielmehr das Wissen um das Obsolete einer Existenz- und Lebensweise, der es auf Dauer nicht beschieden sein wird, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine Rolle zu spielen. Gerade in der Ausklammerung der realen gesellschaftlichen Bewegung entwickelt das `Modell Landschaftsgarten´ unter den Händen Fürst Pücklers seine regenerierende Kraft – nicht indem der Landschaftsgarten eine bürgerliche Zukunft antizipiert wie bei Rousseau, sondern indem er zum Refugium vor den Anmaßungen eben dieser bürgerlichen Gesellschaft wird: ‚Euer ist das Geld und die Macht – Laß dem Armen ausgedienten Adel seine Poesie, das einzige, was ihm übrig bleibt‘.“

Der Muskauer und der Branitzer Park spiegeln als seine bedeutendsten Schöpfungen den aristokratischen Lebensentwurf Pücklers wider. Insbesondere im Muskauer Park wollte er ihm Ausdruck verleihen. Pücklers Lebensauffassung allerdings ist kostspielig und die Gestaltung des Landschaftsgartens verschlingt Unsummen (sie wird vielleicht im Sinne Georges Batailles zu einer Poesie der Verschwendung). Für Pückler ist das zunächst nur durch die Mitgift seiner 1817 angetrauten Frau Lucie zu finanzieren, die die Tochter des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg (1750-1822) ist, dem König Friedrich Wilhelm III. auf Wunsch seiner Frau Luise in der nachnapoleonischen Zeit die innenpolitischen und wirtschaftlichen Aufgaben überlässt (den kulturellen Wiederaufbau jedoch will der König selbst übernehmen, beispielsweise bei der Umgestaltung des Potsdamer Neuen Gartens).

In seinen „Andeutungen über Landschaftsgärtnerei“ (1834) polemisiert Pückler gegen die „Mode, sogenannte englische Anlagen zu machen“, solange man dazu nur schlicht die Formen übernehme, ohne jedoch der Idee Ausdruck zu verleihen: „Eine große landschaftliche Gartenanlage muß auf einer Grundidee beruhen“, schreibt er schon ziemlich zu Beginn. In Muskau inszeniert Pückler deshalb insbesondere neugotische Bilder – er verbindet sie, wie Hermann sagt, „zu einer romantischen Landschaft, die in ihrer an das Mittelalter erinnernden Szenerie auch zum Symbol der geschichtlichen Legitimität des Hauses Pückler-Muskau wird“. Vor diesem Hintergrund verzichtet Pückler insgesamt weitestgehend auf exotische und antike Stilelemente, da er diese in einer nordeuropäischen Landschaft als unpassend und problematisch empfindet. Die Verbindung von historisch gegebenem Zweck und stilistischer Authentizität sind für ihn maßgeblich.

Das gilt auch für das Schloss, dass aber gemäß seiner Formel vom „genießenden Leben“ zunächst auch dem Komfort und der Repräsentation dienen muss. Gleichwohl muß auch hier die Einheit von Zweck und Stil gewährleistet sein. Noch einmal Hermann in diesem Zusammenhang: „Wenn Pückler die Umgestaltung mittelalterlicher Schlösser zu komfortablen Wohnstätten propagiert, einen Nachbau im neugotischen Stil aber strikt ablehnt, so weist er damit zugleich den Anspruch zurück, die im Stand des Adels begründeten Formen herrschaftlicher Architektur für die Zwecke des Bürgers zu profanisieren.“

Muskau entwickelt sich im Verlauf der Jahre zu einem Arkadien, zum größten deutschen Landschaftspark – mit seinen 830 Hektar mindestens hinsichtlich der flächenmäßigen Ausdehnung –, für dessen Gestaltung er auch gerne die Hilfe von John Adey, Sohn seines bewunderten Vorbilds Humphrey Repton, wahrnimmt. Adey ist fasziniert von Pückler und öffnet ihm einige Türen bei seiner zweiten Englandreise (1826 bis 1829).

Diese zweite Reise wird notwendig, weil Pückler das Geld ausgeht: Nachdem das Vermögen von Lucie aufgebraucht ist, läßt sich Pückler pro forma scheiden, um durch eine neue Heirat zu weiterem Kapital zu kommen. Diese Absicht ist es, die ihn nach England führt, wo seine Pläne in der Londoner Gesellschaft jedoch schnell bekannt werden, wie er in den „Briefen eines Verstorbenen“ (1830) schreibt. So sieht sich Pückler im Jahr 1845 gezwungen, seine Herrschaft Muskau, die durch die Anlage des imposanten Landschaftsgartens einen erheblichen Wertzuwachs erhielt, zu verkaufen und ins benachbarte Branitz zu übersiedeln, wo er aber ebenfalls unverzüglich mit den Planung für einen Englischen Landschaftsgarten begann, die er ab 1846 umsetzte.

Steht bei Lenné, wie eingangs geschildert, am Anfang der Planung ein Strich auf dem Papier, pflegte Pückler seine Wege mit dem Spazierstock direkt in den nackten Boden zu zeichnen, bemerkt Ohff in der Biographie „Der grüne Fürst“ (2007). Aber auch das stand bei ihm immer am Beginn, so auch im Park von Branitz. Nach der Festlegung der Wege, ging Pückler an den Aushub der Seen und Wasserläufe sowie, gleichzeitig, das Abstecken der Baumpflanzungen, zuletzt kamen die Rasenflächen. Alle seine Anlagen, sagt Pückler, seien so berechnet, dass sie nach 150 Jahren den höchsten Grad ihrer Entfaltung erreicht haben (ein Besuch in einem seiner Gärten dieses Jahr, seinem 150. Todesjahr, könnte sich also lohnen).

Obwohl Pückler unmittelbar nach der Übersiedlung mit den Planung begann, zeigte er wenig Interesse, sich auch dauerhaft hier niederzulassen, sondern überließ Branitz zunächst der pro forma geschiedenen Fürstin. Pückler selbst begab sich auf Reisen (unter anderem nach Italien, die stürmischen Ereignisse der Märzrevolution 1848 erlebt er in Berlin) und hielt sich längere Zeit in Babelsberg auf, wo er maßgeblich an der Gestaltung der dortigen Anlagen mitwirkte, während in Branitz in erster Linie die Fürstin am Entstehen des Parks unmittelbar beteiligt war. Ihr Vorschlag war es auch, das Haus mit einer Terrasse zu umgeben, ganz Humphrey Repton folgend, der Terrassen und Balustraden wieder in den Landschaftsgarten eingeführt hatte.

Ganz im Sinne der Fürstin konzipierte Pückler den Park in Branitz also nach dem Zonierungsprinzip, wobei er die Terrasse des Schlosses üppig mit Pflanzen ausstatte. Die reiche Ausstattung, die im Eingangsbereich mit Kübelpflanzen und auf der Westseite mit Immergrünen erfolgte, folgte den oben erwähnten stilistischen Strömungen und schuf einen fließenden Übergang zwischen Gebäude und Pleasureground. Um diesen Gartenraum ließ Pückler auf drei Seiten eine „Italienische Mauer“ errichten, die von einer mit Weinreben umrankten Pergola ergänzt wurde und so einen intimen Gartenraum entstehen ließ, wobei damit in erster Linie der Wirtschaftshof kaschiert werden sollte. Später wurde die Mauer und die morsche Pergola abgerissen und durch einen blauen Zaun ersetzt, wodurch sich auch wieder ein reizvoller Blick auf das Gelände eröffnete, wo sich an den Pleasurground der „Innere Park“ anschloss, der dann in eine Feldflur, die sogenannte „ornamental Farm“ überging. Außerhalb des Landschaftsgartens dehnten sich in Richtung Cottbus wirschaftliche Nutzflächen und Kiefernwälder aus.

Ansonsten finden sich im Branitzer Park viele romantische Hohlwege und mehrere künstliche Seen (auch ein „Ökonomiesee“ auf dem Gelände der Gutsökonomie) mit Wasserkanälen, die von Pückler in der ehemals kargen Kiefernheide geschaffen wurden. Die Wasserflächen mit ihren abwechslungsreich geformten Uferlinien bildeten für Pückler ein wichtiges Gestaltungselement, auch, weil sich auf ihrer Oberfläche die Umgebung spiegelt und so je nach Tages- und Jahreszeit sowie Lichtverhältnisse andere Stimmungen wiedergibt. Die Inseln in den Seen kaschieren die wirkliche Dimension des Sees und haben mitunter auch den Effekt, dass der Wasserspiegel optisch größer erscheint.

Beim Aushub der Seen wurden umfangreiche Erdbewegungen durchgeführt, die sich für die Schaffung einer Hügellandschaft nutzen ließen, unter anderem für den 30 Meter hohen „Hermannsberg“, die grundsätzlich für eine Fülle abwechslungsreicher Aussichtsmöglichkeiten sorgen. Die ausgehobene Erde wurde von Pückler aber auch für den Bau einer Erdpyramide genutzt – sowie den sogenannten „Tumulus“ im Parksee, der in den Jahren 1856/57 entstand. Der Tumulus beziehungsweise die Erdpyramide sind Pücklers „einziger eigener, avantgardistischer und konzeptioneller neuer Beitrag zur Gartengenkunst“, bemerkt Ohff: „In der ideal gestalteten Natur erscheint plötzlich ein streng geometrisch geformter Fremdkörper. Da er begünt ist … wird die Fremdartigkeit der Stereometrie zwischen natürlichem Wachstum, das nicht einmal einen rechten Winkel duldet, herabgemildert.“

Beim Tumulus handelt es sich um einen prähistorischen Grabhügel, mit dem Pückler, wie Herrmann anmerkt, „der versinkenden feudalen Epoche ein die Jahrhunderte überdauerndes Denkmal setzen wollte“. Tatsächlich wurde der 1871 im Alter von 85 Jahren verstorbene Fürst darin umgebettet, das heißt, bevor die Umbettung erfolgte musste der zwergenhafte Hofmarschall die sterblichen Überreste des Fürsten erst in einem Säurebad auflösen. Gewissermaßen als eine letzte Extravaganz ließ Pückler den Tumulus mit Wildem Wein bepflanzen, so dass er sich im Herbst leuchtend rot färbt. Von der Höhe her wird er von der Landpyramide überragt. Auf deren Spitze trägt das kronenförmige Gußeisengeländer den Spruch: „Gräber sind die Bergspitzen einer fernen neuen Welt.“

Muskau und Branitz sind die letzten klassischen Landschaftsparks in Deutschland, hier findet die an die Natur angelehnte, weiträumige romantische Parkgestaltung ihren letzten Ausdruck. Wenngleich Zeitgenossen, ist der nur vier Jahre jüngere Peter Joseph Lenné (1789-1866) bereits mit gänzlich anderen Herausforderungen konfrontiert: Wurden die Landschaftsgärten bisher für die gehobene Gesellschaft geschaffen – und dies praktisch mit unerschöpflichen finanziellen Mitteln – so sieht sich Lenné in Berlin mit einer ständig wachsenden Großstadt konfrontiert, die im frühindustriellen Zeitalter Grün- und Erholungsflächen für die benachteiligten unteren sozialen Schichten, das arbeitende Proletariat, bitter nötig hatten. Diese Grünflächen allerdings waren noch nicht einmal geplant worden.

Das Berlin Lennés –

Unter den bisherigen Landschaftsgärtner waren etliche dilettierende Adlige, auch Pückler zählt zu ihnen. Man kann das bei ihm vielleicht besonders an den von ihm ungeliebten Blumenbeeten sehen, die bisweilen, wie in Muskau, völlig überladen arrangiert waren, auch wenn er ansonsten „einen sicheren Geschmack besitzt“, wie Ohff schreibt. Unabhängig von Geschmacksfragen befanden sich jedenfalls erstaunlich wenig ausgebildete Gärtner unter ihnen. Peter Joseph Lenné (1789-1866) nun ist eine seltene Ausnahme davon. Er stammte aus einer uralten Bonner Gärtnerfamilie und war selbst gelernter Gärtner, bevor er sich in Paris weiterbildete und in Wien, wo er als „Kaiserlicher Garteningenieur“ an der Umgestaltung des Parks von Laxenburg maßgeblich beteiligt war, erstmals als Landschaftsgärtner tätig wurde.

Von vornherein wird Lenné protegiert und hoch geachtet. Entsprechend verlief seine Karriere glatt steil nach oben bis zum Gartendirektor und endlich Generaldirektor aller königlich-preußischen Gärten. An der Spitze eines eigenen Mitarbeiterstabes hat er die Gärten nahezu aller preußischen Schlösser neu gestaltet und das Gesicht der Stadt Berlin, auch das seiner Umgebung, mitgeprägt.

Angefangen hat dieser Weg, als man jemanden für die Arbeiten am Potsdamer Neuen Garten suchte. Zuvor war Johann August Eyserbeck aus Wörlitz abgeworben worden, aber bereits 1801 unvorhergesehen erst 39-jährig gestorben. Abgeworben wurde auch die führende Kapazität im Forstwesen, Georg Ludwig Hartig (1764-1837), der seit der Niederlage gegen Napoleon die Stelle des preußischen Oberlandforstmeisters bekleidete und sicherlich der bedeutendste Forstwissenschaftler der Zeit war. Auf einer Inspektionsreise in die im Zuge des Wiener Kongresses 1815 an Preußen gefallenen Rheinprovinzen wird Hartig auf den 26-jährigen Bonner Hofgärtner Peter Joseph Lenné aufmerksam. Er bietet ihm eine Stelle als Gärtner in Sanssouci an, eigentlich weit unter den Fähigkeiten Lennés, dennoch nimmt er sie ohne lange zu zögern an.

Kaum angekommen, wird er von Staatskanzler Hardenberg beauftragt, den Pleasureground seines neu erworbenen Gutes, zwischen Berlin und Potsdam an der Havel gelegen, standesgemäß zu gestalten. Es bleibt unklar, weshalb Hardenberg dafür nicht seinen Schwiegersohn Pückler heranzieht, möglicherweise fand er ihn, wie Ohff anmerkt, „zu leichtfertig und extravagant“. Jedenfalls bedeutet das für Lenné den Durchbruch in Berlin und Potsdam.

Trotz des Auftrags von Hardenberg sollte es aber noch etwas dauern. Zunächst war Lenné noch vornehmlich als Gärtner in Sanssouci tätig. 1822 dann bekommt er Gelegenheit für eine Dienstreise nach England. Sie sollte Lennés Stil wesentlich beeinflußen beziehungsweise wandeln und auch dafür sorgen, dass er von nun an zunehmend mit weiträumigeren, landschaftsgestalterischen Angelenheiten betraut wird. Deutlich sind jetzt eine optimale Wegeführung und seine eigene Handschrift seither ist auch, wie Ohff meint, an den „sanft geformten Hügeln mit den Baumgruppen, den überlegenen Einbezug von Wasserflächen, großen vorhanden und neu geschaffenen kleinen“ erkennbar. Insbesondere aber bei den Sichtachsen und Ausblicken, die die von Lenné gestalteten Landschaftsgärten insgesamt größer erscheinen lassen.

Für Lenne hat das Natürliche bei der Gestaltung Vorrang, ihre Schönheit gelte es durch die Kunst zu veredeln, wie er sagt. Entstehen soll daraus, ähnlich wie bei Pückler, eine Einheit zwischen Zweck und Schönheit: „Das eigentümliche der englischen Gartenanlagen“, schreibt Lenné, „besteht in der Sorgfalt, das Zweckmäßige mit dem Schönen zu verbinden“.

Das möchte Lenné auch in Sanssouci, auch hier soll nach seinen Plänen ein Englischer Landschaftsgarten entstehen. Ohff schreibt in diesem Zusammenhang: „Optisch bezieht Lenné in diesen Plan schon teilweise jenes Gelände mit ein, das erst ein paar Jahre später – mit auf sein Drängen – vom König erworben werden kann und wo das Schinkel-Lennésche Gesamtkunstwerk Charlottenhof entstehen wird“. Mit Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) hat Lenné des öfteren Zusammengearbeitet – zum bürgerlichen Garten gehörte ein Haus, zum bürgerlichen Haus gehörte ein Garten. Die landschaftsgärtnerischen Projekte wurden dadurch zweifelsohne noch teurer. Lenné selbst war, wie Ohff weiss, ein „sparsamer Mann, im Beruf und daheim. Luxuriös ist anscheinend nur der Weinkeller gewesen. Er enthielt stets die besten Tropfen von Rhein und Mosel, dagegen – aus patriotischen Gründen – nie französische Lagen“.

Zunächst jedoch stehen Umgestaltungen in Potsdam auf dem Programm. Zuerst am Neuen Garten, was ihn noch Jahrzehnte beschäftigen wird, sodann auf der Pfaueninsel, die Lenné 1829 beginnt. Das lang gestreckte Wegenetz auf der Insel geht auf ihn zurück, er versucht damit die landwirtschaftlich genutzten Flächen in den Gesamtplan für die Insel zu integrieren.

Klein-Glienicke zwischen Potsdam und Berlin, an der Havel gelegen, sollte er für Prinz Karl gestalten. Während Schinkel eine klassizistische Architektur beisteuerte, schuf Lenné einen Pleasureground mit kleinen Teichen und Inseln sowie Sichtschneisen hinüber nach Potsdam und Babelsberg.

In Klein-Glienicke war auch Lennés großer Rivale Pückler zugegen, bevor der ihm dann in Babelsberg einen Auftrag wegschnappen wird. Dort hatte sich Lenné bereits betätigt, aber die von ihm gepflanzten exotischen Ziersträucher, mit denen er seinen Gärten gewöhnlich besondere Akzente verleiht, sind in der Hitze des Sommers vertrocknet – eine Berieselungsanlage war nicht vorhanden und Gärtner, die Giessen sollten, wollte sich Prinz Wilhelm nicht leisten. Nicht allein deshalb – aber Prinz Wilhelm zog Pückler vor, der zwar über keine gründlichen botanischen Kenntnisse verfügte, aber in seinen Gärten auch durchweg nur einheimische Gewächse pflanzte.

In Klein-Glieniche hingegen war Pückler für Lenné wichtig, hatte er doch aus England eine Technik mitgebracht – eine Art überdimensionaler Schubkarre –, die es ermöglichte, ausgewachsene Bäume zu versetzten. Er hat dieses Gerät und die damit verbundene Umpflanztechnik zwar nicht selbst erfunden, sondern englischen Gärtnern durch Bestechungssummen abgekauft, wie Ohff weiß, dennoch erlaubte das Lenné, hier etwa 25.000 Bäume zu verpflanzen, die er aus dem Park in Wörlitz erhalten hatte, viele schon 40 bis 60 Jahre alt.

Glienicke war Lennés letzter Auftrag für einen Landschaftsgarten, nun, etwa ab 1840, beginnt seine städteplanerische Phase. Im 19. Jahrhundert wuchsen die Städte über ihre mittelalterlichen Begrenzungen hinaus. Hatte Berlin im Jahr 1810 etwa 150.000 Einwohner, waren es nur neun Jahre später bereits 200.000 und 1831 dann eine Viertelmillion, bevor man im Jahr 1840 330.000 Einwohner zählte, womit sich die Zahl innerhalb von etwa 30 Jahren verdoppelt hat. Stadtmauern werden damit überflüssig und in den meisten Fällen auch abetragen. An ihrer Stelle sollen Grünflächen entstehen. Damit sich die Stadt nicht ungehemmt in die Umgebung hinaus ausbreitet, ohne Beachtung landschaftlicher Strukturen, wurde Lenné zunehmend für die Planung der Grünanlagen im Rahmen der Ausweitung der Stadt einbezogen. So wird mit ihm der Park zu einer urbanen Angelegenheit.

Lenné hat sein Leben lang gegärtnert und Parks oder Gärten entworfen, nun dehnte er seinen Arbeitsethos, wie Ohff schreibt, „mit gleicher Ausschließlichkeit“ auf Städtebau und Stadtpflege aus. Waren die Gartengestalter bisher vielleicht nur Utopisten, dann traten bei Lenné nun, wie Ohff sagt, „bare Notwendigkeiten“ hinzu, die den Landschaftsgarten verändern mussten – hin zu Grüngürtel, Erholungslandschaft, Stadt- und Volkspark. Öffentliche Grünflächen sollten als Gegenpol zur wachsenden ungesunden Industrie dienen und zur Erholungsfläche, nicht nur für eine privilegierte Minderheit, sondern für jedermann werden. Das hatte vor Lenné auch schon der bereits erwähnte Hirschfeld in seiner „Theorie der Gartenkunst“ (1785) angesprochen: „Eine ansehnliche Stadt muß in ihrem Umfang oder in ihrer Nachbarschaft einen oder mehrere offene Plätze haben, wo sich das Volk … versammeln und sich ausbreiten kann, wo eine freye und gesunde Luft athmet und die Schönheit des Himmels und der Landschaft sich wieder zum Genuß öffnet. (…) Alle gelangen hier ungehindert zu ihrem Rechte, sich an der Natur zu freuen.“

In den meisten Residenzstädten fungierten bereits die Schlossgärten als Stadtgärten, in denen die Stadtbevölkerung spazieren gehen konnte. Das galt, zwar eingeschränkt, aber zumindest regelmäßig, auch für die Parkanlagen der Hohenzoller in Potsdam und Berlin (im Gegensatz übrigens zu den Habsburgern und den Romanows). Wo es keine herrschaftlichen Parks gab, in den Hansestädten zum Beispiel oder den ehemaligen Freien Reichsstädten, begann man nun Volksparks anzulegen. Solche Anlagen für die Öffentlichkeit entstanden entweder auf der grünen Wiese (wie in Hamburg) oder – ganz in der Nähe der Innenstädte – an der Stelle ehemaliger Befestigungsanlagen beziehungsweise Stadtmauern. Wie Hansjörg Küster in seiner „Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa“ (2010) berichtet, pflanzte man in diesen öffentlichen Anlagen gerne heimische Baumarten wie Linden und Eichen, aber auch die Rosskastanie wurde zu einem „Charakterbaum städtischer Grünanlagen“.

Zu Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhundert wurden viele weitere Parks angelegt. In der Zeit um 1900 wurden in den Vorstädten der unaufhaltsam wachsenden Metropolen neuartige architektonische Konzepte umgesetzt, bei denen man sich vor allem von englischen Vorbildern inspirieren ließ. Die Wandlung der Gartenidee schon im bürgerlichen 19. Jahrhundert und dann weiter von der Utopie, die nur von ganz Reichen zu verwirklichen war, zur allgemeinen Nutzung durch das „Volk“, hatte sich zuerst in England vollzogen, wo inzwischen bereits die dritte oder vierte Generation tätig war, und wo bereits Repton gemeinsam mit dem Architekten Nash für die Umsetzung städtischer Gartenideen sorgte.

Zu den neu entstanden Vorstadtsiedlungen gehörten bereits private Gärten, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts von den neu entstandenen Gartenbaubetrieben gestaltet werden konnten und insbesondere in bürgerlichen Privatgärten die Pflanzungen von Hecken und Gebüsch, Obst- und andern Bäumen vornahmen. Aus der Beobachtung der Gewächse in den Schlossgärten ließ sich eruieren, welche Pflanzen sich am besten für eine Bepflanzung eigneten.

Auch Landhaussiedlungen mit weiträumigen Gärten wurden angelegt, die in den Berliner Vororten Dahlem, Schlachtensee und Nicolasee eher Dimensionen kleiner Parks hatten. Die Gartenstadtbewegung entstand ebenfalls in dieser Zeit und verfolgte das Ziel, den finanziell benachteiligten Bevölkerungsschichten das Wohnen im Grünen und eine reformorientierte Lebensweise zu ermöglichen.

Zu all diesen eher privaten Initiativen, traten Lennés Anstrengungen für öffentliche Grünflächen in Berlin als eine Art Grüne Lunge. Eines seiner Hauptprojekte dabei ist der Berliner Tiergarten, den er in so gut wie lebenslanger Arbeit umgestaltet. Er bleibt sein Sorgenkind, beinahe bis zuletzt. Schon der Name weist darauf hin, dass es sich früher um einen waldartigen Forst handelte, der zur Jagd genutzt wurde. Doch schon Friedrich der Große, solchem Vergnügen „abhold“, öffnete ihn als Promenade für die Berliner Bevölkerung. Mit seinen zahlreichen Wassleräufen schien Lenné der Tiergarten zu wild, zu sumpfig, zu dunkel, um als Bürgerpark dienen zu können. Er schreibt dazu: „Das Innere des Waldes liegt … ungenutzt da, nur hin und wieder irrt ein Einsamer auf den schmalen Pfaden umher. (…) Keine sonnigen Gänge und wenig lichte Plätze …. Die wenigen breiten Wege, auf denen man noch etwas freier Luft wie Sonnenschein erhaschen kann, werden wiederum an schönen und festlichen Tagen in anderen Beziehungen durch die hier zusammengedrängten Volksmassen ungenießbar. (…) Den Hauptgegenstand der neuen Anlagen bieten die großen Wasserzüge dar. Vor allem muß der Park gesund sein, daß er benutzt und genossen werden kann.“

Ab 1833 legte man also zuerst einmal die Sümpfe trocken und verbreiterte die Wasserläufe. Anschließend beseitigte man die Wildnis und legte einen künstlichen See, den Neuen See, an, schaffte Lichtungen und die Rasenplätze und durchzog das Ganze mit einem neuen Wegenetz. Davon ist heute nicht mehr viel geblieben, zwischen 1949 und 1959 schuf man praktisch einen neuen Garten.

Zur Entlastung der Spree plant Lenné als nächstes die Errichtung des Landwehrkanals. Fast übergangslos wird er ab 1845 zum Stadtplaner. In zehnjähriger Arbeit wird der Landwehrkanal zum Schiffahrtsweg für all diejenigen Schiffe ausbaut, die die Stadt nur passieren wollen, ist doch die Spree mit nur einer Schleuse ständig überlastet. Da er dabei die Stadt so gut wie umgrub, tauften ihn die Berliner boshaft-liebevoll „Buddelpeter“.

Neben diesen Großprojekten entsteht zwischen Hasenheide und Zoo ein von Lenné komplett neu geplanter urbaner Straßenzug, der durchweg von Grünflächen begleitet wird: Von der Gneisenau- und der Yorckstraße über den Dennewitzplatz, den Nollendorfplatz, die Kleiststraße und den Wittenbergplatz bis zum – ebenfalls von Lenné gestalteten – Zoo reicht der Straßenzug. Dass der bei den Yorckbrücken noch dazu unter der Eisenbahn hindurchgeführt werden musste „verstärkt noch den planerischen Gesamteindruck“, wie Ohff sagt.

Den Zoologischen Garten am Ende des Straßenzuges hat ebenfalls Lenné angelegt, aber auch den heute „Tierpark“ genannten Zoo in Lichtenberg: Er hatte hier den 1821 erhaltenen Auftrag, den von Kanälen rechteckig eingefassten Park des Schloss Friedrichsfelde in einen Landschaftsgarten umzuwandeln und zu erweitern. Aber auch davon ist seit der Umwandlung des Parkes 1955 nichts erhalten geblieben.

Neben dem Landwehrkanal enstehen noch der Luisenstädtische Kanal unter seiner Leitung sowie der Mariannenplatz, mit dem er das trostlose Krankenhaus Bethanien aufwerten möchte. Moabit, Tempelhof und Schöneberg erhalten von Lenné ihre zukünftige Gestalt und auch der heutige Mehringplatz (damals Belle-Alliance-Platz) wurde von ihm entworfen, genauso wie Lustgarten, Leipziger Platz, Opernplatz, Hausvogteiplatz et cetera. „Es gibt“, sagt Ohff, „kaum einen Platz in der preußischen Hauptstadt, den er nicht mit Grün- und Blumenschmuck versehen hätte“.

Nichts erscheint Lenné zu gering und nicht beachtenswert, „(denn) je weiter ein Volk in seiner Kultur und in seinem Wohlstande fortschreitet, desto mannigfaltiger werden auch seine geistigen und sinnlichen Bedürfnisse. (…) Dahin gehören dann auch die öffentlichen Spazierwege, deren Anlage und Verfielfältigung in einer großen Stadt nicht allein des Vergnügens wegen, sondern auch aus Rücksicht auf die Gesundheit dringend empfohlen werden muß.“

Um die Gesundheit und die Hygiene macht sich nach dem Tod Lennés im Jahr 1866 sicherlich auch sein städtebaulicher Nachfolger James Hobrecht (1825-1902) verdient. Zusammen mit dem Arzt Rudolf Virchow (1821-1902) organisierte Hobrecht ab 1869 den Bau einer Kanalisation zur Ableitung der Abwässer und sorgte für eine zentrale Trinkwasserversorgung. Seinen Namem trägt jedoch auch ein Plan zur oberirdischen Neugestaltung Berlins, in dessen Folge die wilhelminischen Mietskasernen Einzug in der Stadt halten. Der Plan Hobrechts steht am Anfang der Entwicklung zur Steinernen Stadt und Hobrecht selbst insofern auch für den fünften Hinterhof. Lenné hingegen bleibt in Berlin als Gestalter der Grünen Lunge der Stadt in Erinnerung.

Der Wein zum Text …

Die katalanische Region Roussillon liegt im äußersten Süd-Westen Frankreichs direkt an den Pyrenäen, in einer extrem vielgestaltigen Gegend, wo unterschiedlichste Naturszenerien wie in einem Englischen Landschaftsgarten auf engstem Raum zusammengefaßt sind: Eine sanfte Hügellandschaft zieht sich durch die nur wenigen Kilometer zwischen der gewaltigen Gebirgslandschaft im Hinterland und dem schmalen Küstenstreifen am Mittelmeer, es ist, als ob sich das Gebirge praktisch direkt aus dem Mittelmeer erhebt, eben „Mar i Muntanya“.

Auf einem der pittoresken Hügel in dieser extrem heissen, trockenen und windigen Landschaft, von wo aus man einen überwältigenden Blick auf den Horizont über dem Mittelmeer hat, liegt die bei Weinenthusiasten berühmte Ortschaft Calce, Hauptstadt der biodynamischen Winzer des Roussillon, angeführt vielleicht von Gérard Gauby, über den auch der junge deutsche Thomas Teibert hierher geriet, wo er die „Domaine de l`Horizon“ gründete und sich schon mit dem ersten Jahrgang 2007 einen Namen machte, bevor er 2010 als bester Newcomer Frankreichs geehrt wurde.

An der hohen Qualität hat sich seither nichts geändert: Sein 2018 „Mar i Muntanya“ aus Syrah und Grenache ist zwar nur der Basiswein des Weinguts, aber auch er profitiert von dem herausragenden Terroir der Gegend mit seinen Schiefer– und Kalkböden. Der Wein hat einen sehr aromatischen Charakter ohne zu fruchtig zu sein. Es dominieren Kirscharomen, daneben dunkle Beeren, eine pfeffrige Würze, die an die typischen Garrigue-Kräuter der Region erinnert, sowie etwas Karamell. Extrem zurückhaltendende, samtige Tannine. Ein ungemein saftiger und dennoch frischer Wein mit enormem Trinkfluss, man möchte das Glas gar nicht mehr absetzen …

Domaine de l`Hoizon
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unter bäumen

Der Wald hat in vielerei Hinsicht Bedeutung für den Weinbau, aber er war auch selbst immer schon eine Kulturlandschaft. Darüber hinaus erhält er, wie die Weinlandschaft des Rheins, im 19. Jahrhundert politische Bedeutung und wird zum geistigen Zentrum der deutschen Kultur. Ein Essay zum Mythos Wald …

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Nach einer Besteigung des Mont Ventoux im Jahr 1336 ist Francesco Petrarca der Erste, der die Schönheit der Natur in den Fokus seiner Betrachtung rückt. Mit dem Coronavirus zeigt die Natur nun ein anderes, bedrohliches Gesicht. Ein Essay zur Geschichte der Naturerfahrung …

Wer ist es, der höher steht als das Höchste meiner Seele? Aufsteigen will ich zu ihm auf dem Weg über meine Seele. Überschreiten will ich meine Lebenskraft, die mich an meinen Körper heftet …“

Augustinus im Zehnten Buch (Gedächtnis) seiner „Bekenntnisse“ aus den Jahren 397-401

Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, `den Windigen´, nennt, habe ich am heutigen Tag bestiegen, allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen. (…) Auf seinem Gipfel ist ein kleines Plateau. Dort erst setzten wir uns erschöpft zum Ausruhen nieder. (…) Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganz freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da. Ich schaue zurück nach unten: Wolken lagen zu meinen Füßen … Ich wende dann meine Blicke in Richtung Italien, wohin mein Herz sich stärker hingezogen fühlt. Die Alpen selber, eisstarrend und schneebedeckt … sie zeigten sich mir ganz nah, obwohl sie weit entfernt sind. Ich seufzte, ich gestehe es …“

Francesco Petrarca in einem Brief an Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro anläßlich seiner Besteigung des Mont Ventoux im Jahr 1336

Man sieht die Erde wirklich anders. Es ist die einzige Erde, die wir zum Leben haben. (…) Die Erde durchläuft seit ewigen Zeiten Kreisläufe. Und sie wird weiterhin Kreisläufe durchlaufen. Hatten wir Einfluss auf das, was gut ist und das, was schlecht ist auf der Erde? Ja, aber unser Einfluss war auch beides – gut und schlecht. Aber im Erdorbit kann man über den Regenwald fliegen, oder über die Sahara, und man sieht, wie die Wüste sich nach Süden ausbreitet. Wer hat das verursacht, der Mensch, oder die Natur? Wer lässt das geschehen? Ich weiß auch nicht, aber man sieht die Veränderungen. (…) (I)ch denke, der Blick zurück auf die Erde hat uns deutlicher vor Augen geführt, dass wir – ja – die Dinge durchaus beeinflussen können. Das steht außer Frage. (…) Wenn ich jeden auf der Welt mitnehmen und ihn neben mir auf die Oberfläche des Mondes stellen könnte, wo man beim Blick auf unser Zuhause keine religiösen Grenzen, keine kulturellen Grenzen, keine Farbgrenzen sieht – dann würden wir nur eine Erde sehen, mit dem hellen Blau der Ozeane und des Landes, wo wir alle zusammen leben.“

Gene Cernan, Landemodulpilot bei Apollo 10 (1969)

Zwischen 1592 und 1594 herrschte in London die Pest. Wie auch heute waren die Theater und andere Kultureinrichtungen geschlossen, die Menschen in Quarantäne und man war genötigt sich anderweitig zu betätigen. Deshalb widmete sich William Shakespeare in dieser Zeit anderen schriftstellerischen Projekten, unter anderem der Sonette, die zumindest teilweise in diesen zwei Pestjahren entstanden ist. Sie gelten als kritische Auseinandersetzung mit Francesco Petrarca (1304-1374) beziehungsweise mit dem seinen Stil imitierenden „Petrarkismus“.

Kulturlandschaft Mont Ventoux

Francesco Petrarca war der Sohn eines aus Florenz verbannten Notars, der 1312 am Papsthof in Avignon eine Anstellung erlangte. Unweit von dort, etwa zwanzig Kilometer nordöstlich, in Carpentras, wuchs Petrarca auf und lebte dann bis 1341 in Vaucluse bei Avignon, wo er auch dem geistlichen Stand beitrat. Hier in der Provence, auf dem Land, umgeben von Weinreben und in Sichtweite der westlichen Alpen, entstehen auch jene Werke, aufgrund derer er 1341 in Rom die höchste Dichterwürde empfängt und zum Poeta laureatus gekrönt wird, was ihn mit Dante Alighieri und Giovanni Boccaccio zum wichtigsten Vertreter der italienischen Literatur des 14. Jahrhunderts machte.

Avignon war in der Zeit von 1309 bis 1377 Sitz von insgesamt sieben französischen Exil-Päpsten (danach bis 1408 Sitz zweier Gegenpäpste). Dazu kam es, weil Frankreich nach dem Tod des Stauferkaisers Friedrich II. zunehmend versuchte, seinen weltlichen Einfluss gegen den universalen Machtanspruch des Papsttums durchzusetzen, was 1305 auch gelang, als Clemens V. aus Bordeaux zum Papst gewählt wurde: Clemens V. verzichtete auf den Amtssitz in der Heiligen Stadt, ließ sich stattdessen in Lyon krönen und dauerhaft in Avignon nieder, wo er völlig in Abhängigkeit von Frankreich geriet.

Einer seiner Nachfolger war der im Cahors geborene Papst Johannes XII. (1244-1334), der sich als Sommerresidenz das Schloss Châteauneuf unweit von Avignon wählte, das er ausbauen ließ. Von hier aus gab er der Region mit der Einführung des Weinbaus und der Umwandlung in eine Kulturlandschaft wichige Impulse: Er ließ Winzer aus dem Cahors kommen, die schon im 13. Jahrhundert ihren Wein nach England exportierten und dort für ihren kräftigen „Black wine“ bekannt waren (im Gegensatz zu den hellen „Clarets“ aus dem Bordeaux). Sie begründeten den Weinbau an der südlichen Rhône und produzierten einen Rotwein namens Vin d`Avignon, der dem ab dem 19. Jahrhundert bekannten Châteauneuf-du-Pape voranging.

Châteauneuf-du-Pape bezeichnet heute eine Appellation, die rund 3.200 Hektar Rebfläche umfasst, und ist mit Abstand die berühmteste (und alkoholreichste) Cru der südlichen Côtes du Rhône. Eine weitere, die ebenfalls in der Zeit der Päpste aus Avignon entstand, ist die nach dem über dem Rhônetal thronenden, 1.912 Meter hohen Mont Ventoux benannte Appellation (ursprünglich Côtes du Ventoux AOP), wo auf einer Fläche von 7.700 Hektar Reben stehen. Die Region gehört schon zur Provence, das Weinanbaugebiet aber wird zur südlichen Rhône gezählt.

Petrarcas Eroberung der Natur

Der Mont Ventoux, dieser vom Mistral umtobte und oft in Nebel gehüllte Berg, liegt in der Nähe von Carpentras, wo Francesco Petrarca aufwuchs. Er hat ihn also schon sein ganzes Leben als Silhouette begleitet. Erklommen hat ihn Petrarca allerdings erst am 26. April 1336. Diese Besteigung stellt eine Zäsur oder Epochenschwelle dar. Denn damit wurde Petrarca nicht nur zum geistigen Vater des Alpinismus (erst 1387 fand die erste urkundlich bestätigte Besteigung eines Gipfels in den Schweizer Alpen statt), sondern dieses Datum gilt auch als Beginn eines neuen Welt- und Naturbewusstseins beziehungsweise als Ursprung der modernen ästhetischen Erfahrung von Landschaft, die sich von den bisherigen, altertümlichen Vorstellungen löste, um dann schließlich doch wieder – im Glauben, die Lust des Schauens gefährde das Seelenheil – in mittelalterliche Vorstellungen zurückzufallen. Es ist also zunächst gar nicht so sehr der physische Aufstieg zum Mont Ventoux wichtig, sondern eher der spirituelle – und es geht gar nicht so sehr um das alpinistische Moment der Ersteigung, sondern um den Aufstieg als ästhetische Erfahrung von Natur und Landschaft.

Im Jahr 1336 bestieg Francesco Petrarca den Mont Ventoux und rückte in diesem Zusammenhang erstmals die Schönheit der Natur in den Blickpunkt. Seit dieser Zeit wird am Fuß des 1.912 Meter hohen Kalksteinmassivs auch Wein angebaut, heute noch etwa vom Château Pesquié, einem 70 Hektar großen Weingut in Mormoiron, das eine für die Südliche Rhône typische Cuvée aus Grenache und Syrah erzeugt und sie nach dem Mont Ventoux benannt hat: „Edition 1912m Ventoux“. Auf seinem Etikett ist – wie bei allen Weinetiketten des Château – eine Silhouette des Berges abgebildet.

Der „Edition 1912m Ventoux“ wurde im Stahltank ausgebaut und ist von dunkler rubinroter Farbe, hat ein Bouquet von reifen, roten Waldbeeren und Zwetschgen sowie florale und kräuterwürzige Noten. Am Gaumen weiche, samtige Tannine, dichte Fruchtaromen und Kräuterwürze, auch eine kraftvolle, mineralische Frische sowie Säurestruktur. Durchaus ein Wein für die kräftigere ländliche Küche à la provencale …

Petrarca trieb, fernab aller praktischen Ziele, „allein der Drang, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen“, wie er in einem Brief an Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro schreibt (und wegen dem wir überhaupt erst von der Besteigung wissen). Anders als sein Bruder (der ihn mit zwei Dienern begleitete), der den Gipfel auf direktem Weg und zielstrebig angeht, verliert sich Francesco auf der Suche nach einem bequemeren Weg im Tal – und auch in Betrachtungen über das selige Leben. Auch dieses, ein hohes und fernes Ziel, kann seiner Meinung nach nur unter größtem Einsatz aller Kräfte erreicht werden. „Der physische Aufstieg“, so Kurt Steinmann in einem Nachwort zum Brief von Petrarca, „wird zum Sinnbild des spirituellen“. Petrarca vergleicht die Besteigung des Gipfels mit dem Aufstieg zum ewigen Leben. Das jedoch richtet ihm „in unglaublicher Weise Seele und Leib für den Rest des Weges auf“, wie er schreibt.

Als er schließlich den Gipfel des Mont Ventoux erreicht, übt die Intensität der sinnlichen Erfahrung eine betäubende Wirkung auf ihn aus. Er schreibt: stupenti similis steti „stand ich … einem Betäubten gleich da“. Da überkommt ihn eine ungeheure Schaulust – eine sinnliche Lust, die jedoch schon bei dem heilig gesprochenen Augustinus (354 bis 430) für das Seelenheil gefährlich ist: In seinen schriftlich verfaßten „Bekenntnissen“ macht Augustinus den Vorrang des Geistigen, Unkörperlichen über das lustvoll Leibliche und sinnlich vermittelte Weltliche geltend, so, wie es bereits in einem Apostelbrief (Röm. 13,13f), den Petrarca selbst in seinem Brief zitiert, heißt: „Nicht in Gelagen und Saufereien, nicht in Beischlaf und Unzucht, nicht in Streit und Eifersucht (wollen wir wandeln); vielmehr zieht den Herrn Jesus Christus an, und kümmert euch nicht zu sehr um euren Körper, damit ihr nicht von seinen Lüsten geknechtet werdet.“

Entsprechend erliegt Petrarca der Lust nicht, sondern er wendet den Blick stattdessen kontemplativ nach Innen, das heißt er dreht das Erlebnis der Gipfeleroberung in eine Introspektion um, wie sie Augustinus lobt: als eine Betrachtung des eigenen Selbst und seiner Grenzen, als Betrachtung seines eigenes Lebens. „(S)chweigend dachte ich darüber nach, wie groß bei den Menschen der Mangel an Einsicht sei, so dass sie sich unter Vernachläßigung des edelsten Teils ihres Selbst in vielerlei Dingen verzetteln, sich durch nichtige Schauspiele abhandenkommen und außerhalb suchen, was drinnen zu finden gewesen wäre“, schreibt Petrarca – bevor er von seinen Begleitern wieder aus der Versunkenheit geweckt wird und sich noch einmal mit staunendem und genießenden Auge der Landschaft öffnet.

Die Zerrissenheit Petrarcas, der Kampf zwischen Außen und Innen, zwischen Welt und Seele endet damit, dass er die ständig mitgeführte Taschenausgabe der Bekenntnisse des Augustinus aufschlägt, genau jene Stelle im zehnten Buch, an der das seelenlose Bestaunen der Mächtigkeit irdischer Natur, die bloße Augen- oder Sinnenlust des Menschen hart in Gegensatz gesetzt ist zur (christlichen) Weltvergessenheit des Menschen. Augustinus schreibt dort: „Da gehen die Menschen hin und bestaunen die Gipfel der Berge, die ungeheuren Wogen des Meeres, das gewaltige Strömen der Flüsse, die Größe des Ozeans und die Kreisbahnen der Sterne, aber sich selbst vergessen sie.“ Petrarca erschrickt und erkennt sich als Sünder: „Ach, mit welchem Eifer müssten wir uns anstrengen, nicht um ein höher gelegenes Stück Erde unter den Füßen zu haben, sondern die von irdischen Trieben entfesselten Begierden!“ Schweigend tritt er den Rückweg an.

Für Petrarca wird die Gipfelbesteigung letztlich zur Innenansicht, zu einer Reflexion über die Grenzen des Selbst, ganz im Sinne von Augustinus. Zunächst jedoch beschreibt er die Besteigung des Mont Ventoux als eine rein ästhetische Erfahrung, als „ästhetisch gegenwärtig“, wie Kurt Steinmann bemerkt – und damit erstmals Landschaft oder Natur in einem ästhetischen Sinn, unabhängig von ihrem praktischen Verwertungszusammenhang. Auch bei der Verbindung von ästhetischer und kontemplativer Betrachtung handelt es sich grundsätzlich um eine neue Art der Landschaftserfahrung. Er wendet sich ihr und der Natur ohne praktischen Zweck und in rein kontemplativer Anschauung zu. Was bis dahin stets nur unter praktischen Gesichtspunkten betrachtet wird, wird zum ersten Mal zum Schönen und Erhabenen: Natur wird mit Petrarca ästhetisch.

Das Erhabene in der Naturerfahrung bei Immanuel Kant

Wohl wird die Natur mit Petrarca ästhetisch, es war allerdings Immanuel Kant (1724-1804), der im Anschluß an Johann Gottlieb Baumgarten (1714-1762) erstmals eine umfassende Ästhetik auch als Naturerfahrung formulierte: Er stellt dabei fest, dass Schönheit kein Begriff ist, den wir aus der Erfahrung ableiten, sondern ein Urteil, das wir ihr hinzubringen. Ästhetisch ist nicht die Natur, sondern unsere Vorstellungen von ihr beziehungsweise das Urteil, das wir uns über sie bilden. Naturerfahrung wird bei Kant insofern zu einem Urteilsvermögen.

Kant unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Erhabenen. In seiner „Kritik der Urteilskraft“ (1790) schreibt er: „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist“, genauer: „was über alle Vergleiche groß ist“. Es handelt sich also um einen Eindruck, den Quantitäten erzeugen können: solche, die sinnlich nicht mehr faßbar und dennoch keine reinen Abstrakta sind wie beispielsweise die Vorstellung des Unendlichen, aber auch solche, die uns in der Natur begegnen wie riesige Berge, Unwetter, Gewitter, bedrohliche Felsen, melancholische Einöden oder reißende Ströme, wie Kant ausführt.

Während das Wohlgefallen am Schönen der Natur mit seiner Form zusammenhängt, die in der Begrenzung besteht, ist das Erhabene formlos und zeichnet sich durch etwas Grenzenloses aus. Genau hierin, in dieser grenzenlosen Figur des Erhabenen, sieht Jean-Francois Lyotard auch die Signatur einer postmodernen Ästhetik. Kant radikalisierend, verweist für ihn das Erhabene auf ein irreduzibles Undarstellbares und Unkommunizierbares, das heißt er beschreibt das Erhabene als die Darstellung des Nichtdarstellbaren, also als das, was alle sinnliche Wahrnehmung und bildliche Darstellung übersteigt.

Lyotard unterscheidet sich hier nicht wesentlich von Kant: Für Kant gefällt das Schöne der Form nach, das heißt, das Schöne gründet darin, daß es einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ gehorcht, „also weder einer materialen Naturgesetzlichkeit noch einem freien Willen unterliegt, aber eben seiner Form nach den Eindruck der Zweckmäßigkeit hervorruft, ein Eindruck, den man auch als innere Stimmigkeit umschreiben könnte, die das ästhetische Wohlgefallen erst erlaubt“, wie Konrad Paul Liessmann in seiner „Philosophie der modernen Kunst“ (1994) schreibt. Demgegenüber kann das eigentliche Erhabene nach Kant in keiner sinnlichen Form enthalten sein; es treffe nur Ideen der Vernunft, die durch das Erhabene in Bewegung gesetzt werden. Hier jedoch offenbart sich das Dilemma der Ästhetik: Man kann das Absolute überhaupt nicht darstellen oder zum Ausdruck bringen, da es sich niemals in eine Form zwängen läßt. Das Erhabene ist das Formlose schlechthin.

Kant geht es in Zusammenhang mit dem Erhabenen auch um das Gefühl, das den Menschen angesichts des schlechthin Großen überkommt. Das Erhabene resultiert dabei aus einem durchaus widersprüchlichen Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozeß: Während das Schöne zur Versunkenheit und Kontemplation einlädt, wie Petrarca auf dem Gipfel des Mont Ventoux, versetzt uns das Erhabene in eine innere Bewegung, wühlt uns auf, denn die Natur, die als erhaben beurteilt werden soll, muß „als Furcht erregend vorgestellt werden“, wie Kant sagt. Ihre Größe erleben wird als Bedrohung (wie Petrarca den mächtigen Mont Ventoux vielleicht vor seiner Besteigung), sie erlaubt keine unbeteiligte Betrachtung, erweckt aber dennoch auch Wohlgefallen wie die Schönheit: In der Erfahrung der Erhabenheit sind Schrecken und Schönheit verbunden. Dazu muß der sich der Betrachter jedoch erst überwinden, das heißt seine Furcht bekämpfen; Das Wohlgefallen beim Erhabenen muß erst gegen die ängstlichen Schutzinteressen der Sinne durchgesetzt werden: „Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt“, sagt Kant.

Uns fasziniert das Erhabene bisweilen, es zieht uns magisch an je furchtbarer es ist – aber nur, „wenn wir uns in Sicherheit befinden“, wie Kant betont. Insofern ist für ihn mit dem Erhabenen also noch die Vorstellung verbunden, daß wir bedroht sind, darüber hinaus aber auch die Erfahrung, daß wir dieser Gefahr in sicherer Distanz begegnen können – und der Natur „überlegen“ sind, sie in ihrer Gewalt und Macht noch ästhetisch genießen und beurteilen können, sodaß sich das Erhabene schließlich sogar als menschliche Stärke erweist.

Ästhetische Erfahrung von Natur, so Kant, liegt also nicht im Objekt selbst, sondern in der Haltung des Subjekts, das einen Gegenstand entweder als schön oder erhaben erfahren kann. Während uns das Schöne in der Natur in seiner Stimmigkeit, in seinem zweckmäßigen inneren Zusammenhang erscheint, ist die Erfahrung des Erhabenen zunächst eine der machtvollen Überwältigung. Wahrnehmung und Urteilsvermögen geraten hier an eine Grenze. Wichtig für Kant ist die Leistung einer reflexiven Distanzierung des Betrachters, in der sich das Subjekt gleichsam vom Objekt der Betrachtung entfernt: Durch die Fähigkeit, zugleich vom Gegenstand überwältigt zu werden, diese Erfahrung dann jedoch in eine distanzierende Reflexion zu überführen, also zum Beispiel angesichts der Größe eines Berges ein Gefühl für die Unendlichkeit des Alls zu bekommen, wird die „Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich gemacht“, wie Kant schreibt. „So wird die Negativitätserfahrung des Erhabenen, der sublime Schrecken“, wie Eva Horn in ihrem Einführungsband in das „Anthropozän“ (2019) erklärt, „bei Kant am Ende eingefangen in der Selbstvergewisserung des Subjekts“.

Ökologische Naturästhetik bei Gernot Böhme

Für Kant ist die Ästhetik also das Vermögen, etwas in Hinblick auf Schönheit und Erhabenheit zu beurteilen, auch Naturerfahrungen. Er geht dabei davon aus, dass das, was wir Wirklichkeit nennen, den Raum und die Zeit zur Vorbedingung haben: Ihm zufolge ordnet unsere „anschauende Vernunft“ die chaotischen Sinneseindrücke, die „gestaltlosen Empfindungen“ a priori in Raum und Zeit. Dadurch werden sie zu „Erscheinungen“, die unsere „denkende Vernunft“ in eine kausale Verbindung bringt. Vor diesem Hintergrund rückt bei Kant das Vermögen in den Fokus, Urteile zu bilden. „Dies unterscheidet die Urteilskraft vom Verstand, der Regeln bildet, und der Vernunft, die nach diesen Regeln schließt“, erklärt Norbert Schneider in seiner „Geschichte der Ästhetik“ (2002). Unberücksichtigt bleibt so jedoch die Frage, was denn Natur eigentlich charakterisiert?

Im Rahmen seiner Auseinandersetzungen für eine neue Ästhetik beschäftigt sich Gernot Böhme in einer phänomenologischen Perspektive mit dieser Frage. Anders als Kant stellt Böhme in seinen Essays zur „Atmosphäre“ (1995) nicht das Beurteilungsvermögen, sondern das Empfinden in den Fokus seiner Überlegungen und versucht eine neue Ästhetik unter ökologischer Perspektive zu formulieren, in der der Mensch nicht außerhalb von Natur gedacht werden kann. Es geht ihm um die Frage, was Natur in bezug auf den Menschen als leiblich-sinnliches Wesen ist.

Unterstellt Kant bei der Erfahrung von Natur immer einen fundamentalen Dualismus von Subjekt und Objekt, geht es Böhme um einen Begriff von Natur, der den Menschen als immanent betrachtet, darum, dass wir Natur quasi „am eigenen Leib spüren“, wie er sagt. Er schreibt in diesem Zusammenhang, dass „es der Ästhetik aus der Perspektive der Umwelt wirklich um Aisthesis (geht), also um sinnliche Wahrnehmung. (…) Gegenüber dem traditionellen Begriff von Sinnlichkeit als Konstatieren von Daten ist in die volle Sinnlichkeit das Affektive, die Emotionalität und das Imaginative aufzunehmen. Das primäre Thema von Sinnlichkeit sind nicht die Dinge, die man wahrnimmt, sondern das, was man empfindet: die Atmosphären.“

Mit Atmosphären verbindet Böhme das Spüren von Anwesenheit als das grundlegende Wahrnehmungsereignis. Dieses Spüren ist zugleich ein Spüren von mir als Wahrnehmungssubjekt: Das Spüren meiner Anwesenheit ist gleichzeitig das Spüren der Atmosphäre, die man eben als einen Raum erlebt, in dem man hineingeraten ist und mit dem eine gewisse Stimmung verbunden ist.

Um Atmosphären, Stimmungen, zu „verorten“, muß man das Konzept von der Seele, wie es Petrarca noch verkörpert, aufgeben und sich überhaupt von der Subjekt-Objekt-Dichotonomie verabschieden, wie sie für Kant noch konstitutiv ist, denn „Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist“, schreibt Böhme.

Böhme beschreibt Natur und Wirklichkeit aus einer phänomenologischen Perspektive, es geht ihm um die Wahrnehmung, wobei das Leibliche für ihn entscheidend ist: „(D)er Mensch muß wesentlich als Leib gedacht werden, d.h. so, daß er in seiner Selbstgegebenheit, seinem Sich-Spüren ursprünglich räumlich ist: Sich leiblich spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich in einer Umgebung befinde, wie mir hier zumute ist.“ Andererseits werden Objekte der Wahrnehmung von Böhme nicht mehr durch deren Unterscheidung gegen anderes, seine Form beziehungsweise Abgrenzung, gedacht wie noch von Kant, „sondern durch die Weise, wie es charakteristisch aus sich heraustritt“. Dafür hat Böhme den Begriff der „Ekstase“ eingeführt: Sie sind „Formen der Präsenz …, durch die ein Ding charakteristisch aus sich heraustritt“.

Ekstasen unterscheiden sich von bloßen Eigenschaften dadurch, dass diese etwas sind, was Objekte haben, auch wenn es bloß gedacht wird (sich eine Flasche Rotwein vorstellen impliziert noch nicht, dass diese Flasche auch existiert, dass es sie wirklich gibt). Anders als Eigenschaften, sollen Ekstasen, Böhme folgend, als „Artikulationen der Anwesenheit“ eines Objektes bezeichnet werden, also etwas, „das ihm nur zukommt, insofern es auch existiert“ und sich der Anwesenheit aussetzt, das heißt wahrnehmbar ist. Als „Weisen der Artikulation von Anwesenheit“ benennt er konkret die Räumlichkeit, die Physiognomie, aber auch die Farbe und andere Sinnesqualitäten wie Ton und Geruch.

Entsprechend charakterisiert Böhme die Erscheinungen der phänomenalen Wirklichkeit nicht als etwas Körperliches, sondern nach den Formen ihrer Anwesenheit, ihrer Präsenz. Er erkennt die Natur in ihren Ekstasen, in dem Sinn, wie Böhme selbst bemerkt, dass „(d)ie sinnliche Erkenntnis … den Naturdingen (entspricht), insofern sie aus sich heraustreten, sich selbst darstellen. Ästhetik als sinnliche Erkenntnis der Natur erkennt diese in ihren Ekstasen.“ Dabei steht außer Frage, „daß, was vom Subjekt erfahren wird von diesem mitbestimmt wird. Aber daß etwas erfahren wird, steht nicht in der Macht des Subjekts.“ In diesem Sinn auch „ergibt sich als ein Grundcharakter von Natur, dass sie auf Wahrnehmbarkeit angelegt ist. Der Rezeptivität auf Seiten des Subjekts entspricht ein Sich-Zeigen auf Seiten der Natur, ein Aus-sich-Heraustreten bei den Dingen der Natur.“

Vor diesem Hintergrund kann Böhme Atmosphären nun als Räume beschreiben, „insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen, `tingiert´ sind. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raume.“ Atmosphären sind insofern weder etwas Objektives, noch etwas Subjektives, etwa Bestimmungen eines Seelenzustandes, wie noch bei Petrarca, wenn er aus der kontemplativen Versunkenheit geweckt eine Analogie zwischen Gipfeleroberung und augustinischer Erhebung der Seele herstellt.

Natur als Aistheton bei Martin Seel

Anders als Kant, bei dem Natur unbedacht bleibt, ist diese schon für Aristoteles grundsätzlich die Welt des Wahrnehmbaren, das Aistheton, weiß Böhme: „Wahrnehmbarkeit gehört zu ihrem Wesen, gehört also auch zu allem einzelnen in der Natur und unterscheidet es von demjenigen, was bloß denkbar ist.“ Dabei stehen die wahrnehmbaren Erscheinungen der Wirklichkeit – die sich uns zeigenden Phänomene –, wenn auch nicht gleichzeitig, so doch gleichermaßen sowohl einer auf präpositional-begriffliche Erkenntnis als auch einer auf sinnliche Präsenz angelegten Wahrnehmung offen, wie Martin Seel in seiner „Ästhetik des Erscheinens“ (2000) ausführt.

Seel unterscheidet dort grundsätzlich zwischen einer pragmatischen und einer sinnlichen Wahrnehmung: Bezieht sich die pragmatische Wahrnehmung auf die begriffliche Bedeutung eines Objekts – sie werden in ihrem schlichten „So-Sein“ in den Blick genommen –, meint ästhetische Wahrnehmung in diesem Zusammenhang, dass die phänomenalen Eigenschaften eines Objekts, seine spezifischen sinnlichen Qualitäten, wahrgenommen werden. Bezieht sich der sinnliche Akt des Wahrnehmens, die ästhetische Wahrnehmung, auf das von jeder Zeichenhaftigkeit befreite Performative, weist die pragmatische Wahrnehmung Affinitäten zum Semiotischen, Sprachlichen, auf und insofern zum Theatralischen.

Als Ekstasen werden die phänomenalen Erscheinungen gewissermaßen „in einer sinnlich prägnanten, aber begrifflich inkommensurablen Besonderheit gegenwärtig“, wie Seel sagt. Ihm zufolge kommt es zur ästhetischen Wahrnehmung, „wenn wir der sinnlichen Präsenz eines Gegenstands um dieser sinnlichen Präsenz willen begegnen – wenn uns daran liegt, ihn in der augenblicklichen Fülle seiner Erscheinungen wahrzunehmen“. Man müsse bei einem Objekt nur „auf die Simultanität und Momentanität seines je gegenwärtigen, jeweils hier und jetzt erfahrbaren sinnlichen Gegebenseins achten. Dann tritt es uns in eine phänomenalen Fülle entgegen, mit deren Wahrnehmung wir uns Zeit für den Augenblick nehmen“.

Die Möglichkeiten des ästhetischen Erscheinens sind in Martin Seels Perspektive abhängig von der momentanen Wahrnehmunghaltung des Subjekts – die Erfahrung ist hier eine Präsenzerfahrung, eine Erfahrung von Gegenwart, und gebunden an eine bewußte Entscheidung des Subjekts. Demgegenüber sind in der Natur aber auch „Momente der Intensität“ charakteristisch, denen es gelingt, „ästhetische Auffälligkeit von Gegenwart“ hervorzubringen, die sich der Kontrolle durch das Subjekt entziehen – Momente der Erfahrung des Erhabenen wenn man so möchte. Der Sprung in der Wahrnehmung, der hier geschieht, kann dann nicht als Bruch beschrieben werden, sondern nur als eine Wendung der Erfahrung ins Aisthetische.

Auratische Naturerfahrung bei Walter Benjamin

Einen Moment ästhetischer Auffälligkeit von Gegenwart in der Naturerfahrung beschreibt Walter Benjamin mit dem Begriff der Aura. Er schreibt in diesem Zusammenhang: „Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“

Mit der Erfahrung der Aura verbindet Benjamin also eine gewisse Naturstimmung, gleichsam aber auch eine gewisse Stimmung des Betrachters: „Es ist die Situation der Muße, der arbeitsenthobenen, leiblich entspannten Betrachtung, in der die Aura scheinen kann“, sagt Gernot Böhme in diesem Zusammenhang. Man kann vermuten, „daß er auf dem Rücken liegend Gebirgszug und Zweig betrachtet – eine leibliche Tendenz zu privativer Weitung unterstellen“. In dieser „Nullstellung“ (Paul Virilio) enthält sich der Betrachter des Ein- und Zugriffs, er läßt die Natur sein und öffnet sich ihrer Erfahrung.

Benjamins Begriff der Aura bezeichnet dabei keine verstandesmäßig, kognitiv zu erfassende Eigenschaft desselben, sondern einen intensiven sinnlichen Eindruck, eine aisthetische Erlebnisqualität, die ebenso bedingt ist durch die Aufmerksamkeit des sinnlich Wahrnehmenden. Sie ist insofern dem „Chock“-Erlebnis, das dem Rezipienten quasi zustößt, gegenübergestellt.

Aura wird dabei erlebt im Sinne eines unwiederholbaren Hier und Jetzt, also einem Zeitpunkt, der zugleich derjenige des Wahrnehmungsgegenstandes als auch derjenige des Wahrnehmenden ist: Beide sind vereint in der Raum-Zeit eines flüchtigen Ereignisses – vergleichbar mit der Situation in einer Aufführung.

Aura erscheint „als etwas räumlich Ergossenes, fast so etwas wie ein Hauch oder ein Dunst – eben eine Atmosphäre“, schreibt Böhme. „Benjamin schreibt, daß man die Aura `atmet´. Dieses Atmen heißt also, daß man sie leiblich aufnimmt, sie in die leibliche Ökonomie von Spannung und Schwellung eingehen läßt, daß man sich von dieser Atmosphäre durchwehen läßt.“ Die Aura spüren heißt für Benjamin also, sie leiblich zu erfahren und aufzunehmen. Die Auraerfahrung ist in diesem Sinne untrennbar mit Momenten der Naturhaftigkeit und Leiblichkeit verbunden.

Pandemische Naturerfahrung

Erleben wir die Aura gewissermaßen als das Schöne der Natur, begegnet uns derzeit mit dem Coronavirus deren schreckliche Kehrseite. Was uns in Zusammenhang mit der pandemischen Ausbreitung des Virus überkommt, bedroht uns dabei als Individuen in unserer Leiblichkeit genauso, wie die Menschheit als Gesamtes, insbesondere auch in ihrer globalen Vernetzung: schwer, sich die Pandemie nicht als unmittelbare Folge der Globalisierung vorzustellen. Das Virus wütet über alle Grenzen hinweg, es ist ein grenzenloses Phänomen, und in seiner Formlosigkeit schlechthin groß – es ist über jeden Vergleich erhaben und erinnert insofern an Kants Bestimmung des Erhabenen.

Folgt man Kant, liegt das Erhabene nicht im Schrecken selbst, sondern bezeichnet eine bestimmte Art, sich davon zu distanzieren, einen Abstand einzuhalten, der erst einen vernünftigen Umgang damit ermöglicht und ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. „Es ist insofern ein Diskurs von Sicherheit durch Abstand“, wie Stefan Willer in diesem Zusamenhang in seinem Essay „Erhabene Unsicherheit“ (2020) bemerkt. Und er ergänzt: „Dies ist allerdings keine Sicherheit, derer ich mir sicher sein könnte. Vielmehr ist sie aufs äußerste affiziert von Gefahr, sie entsteht überhaupt erst bei und durch Gefahr. Nur so sind die beharrlichen Bemühungen zu verstehen, ausgerechnet den Schrecken zur Vernunftidee zu sublimieren – mit den Mitteln der Ästhetik, also durch reflektierende Urteilskraft, durch Veranschaulichung und Darstellung.“

Mit unserer gegenwärtigen Situation im Lockdown hat das deshalb zu tun, weil auch diese Quarantänemaßnahme ein Versuch ist, die Infektionsgefahr auf Abstand zu halten und damit ein gewisses Maß an Sicherheit zu erreichen. Klar ist, daß wir uns mitten im Pandemiegeschehen befinden, und diese Maßnahme wohl die einzige Möglichkeit ist, sich nicht dem Schrecken – also dem Virus – auszuliefern. Vielleicht vermag jedoch eine gewisse „ästhetische Einstellung“, um an dieser Stelle Sigmund Freud zu zitieren („Das Unbehagen in der Kultur“ 1930), über die Quarantänezeit hinweg zu trösten, insofern als „daß das Lebensglück vorwiegend im Genusse der Schönheit gesucht wird, wo immer sie sich unseren Sinnen und unserem Urteil zeigt, der Schönheit menschlicher Formen und Gesten, von Naturobjekten und Landschaften, künstlerischen und selbst wissenschaftlichen Schöpfungen. Diese ästhetische Einstellung zum Lebensziel bietet wenig Schutz gegen drohende Leiden, vermag aber für vieles zu entschädigen.“

Tröstet für Freud also die Erfahrung der Natur und Landschaft in ihrer Schönheit grundsätzlich über das Unbehagen in der Kultur und vielleicht gerade über die Zeit des Lockdowns, präsentiert sich die Natur mit dem Coronavirus gleichzeitig von ihrer schrecklichen Seite – und wird gewissermaßen auch zu einer Schicksalsfrage für unsere Zivilisation.

Stand der Mont Ventoux für Petrarca in seiner vermeintlich unbezwingbaren Höhe noch für so etwas wie das Erhabene beziehungsweise die unbeherrschte Natur oder Wildnis im weitesten Sinne, deren Unzähmbarkeit das Menschliche überragt und auch auf ein natürliches Maß begrenzt, ist diese Ehrfurcht schon seit längerem Geschichte: Wenn die Bezwingung der Natur wie im Fall des Mont Ventoux durch Petrarca oder in jüngerer Vergangnheit beim Mount Everest mit todesverachtendem Abenteurertum stattfand – so ist davon außer einem kalkulierbaren Restrisiko lange nur wenig geblieben. Die Natur ist inzwischen wohl eher kein „Spielplatz der Helden“ (2013) mehr, um hier den Titel eines Buches von Michael Köhlmeier anzuführen, in dem er die (wahre) Geschichte von drei Südtiroler Bergsteigern erzählt, die 1983 erstmals zu Fuß und ohne Versorgung von außen das grönländische Inlandeis durchquerten – zwei davon vom ersten Tag an so heillos zerstritten und feindselig, dass sie während der ganzen Expedition in dieser unwirtlichen Region schweigen und keinen Laut untereinander wechseln.

Helden unserer Tage sind vielleicht Ŭgur Şahin und Özlem Türeci – und unsere Hoffnung der Impfstoff für die gesamte Menschheit. Deshalb auch kann Slavoj Zizek in einem Interview mit der Berliner Zeitung („Die Pandemie ist nur eine Probe für die wirkliche Krise“ vom 1. Dezember 2020) sagen: „Man kann hoffen, aber auf eine paradoxe Art. Ich plädiere für einen Mut der Hoffnungslosigkeit. Wenn wir hoffen wollen, dann sollten wir akzeptieren, dass unser altes Leben vorbei ist. Wir sollten eine neue Normalität erfinden. Unsere basale Beziehung zur Realität hat sich geändert – wie wir die Welt sehen, wie wir mit ihr interagieren. Unsere Beziehung zur Realität ist radikal auseinandergefallen. Je eher wir das zugeben, desto besser.“

Natur im Anthropozän

Ging es bislang vielleicht darum, ökologische Zusammenhänge und insbesondere auch die verheerenden Folgen des menschlichen Handelns für die Natur zu verstehen, um zumindest kontrollierbare Verhältnisse zu schaffen, wird nicht zuletzt durch das Virus deutlich, dass der Mensch die Kontrolle verloren hat: Mit dem Virus kehrt das andere der Zivilisation, die Wildnis, in diese zurück. Das andere – das ist schon immer eine Bedrohung des Lebens, etwas Unkontrollierbares, potenziell Katastrophisches, das zur Wildnis gehört. Etwas, das wir längst vergessen oder verdrängt haben.

Klar wird, dass sich der Mensch der Natur nicht entziehen kann: Das Virus macht deutlich, dass man sich nicht einfach in das andere dieser unkontrollierbaren und unbezähmbaren Wildnis, die Zivilisation, flüchten kann, sondern unweigerlich darin verstrickt ist. Das Virus offenbart, was zuvor schon die merklichen Klimaveränderungen angedeutet haben: dass die Menschheit, der Homo sapiens sapiens, in einem neuen Erdzeitalter angekommen ist – dem Anthropozän.

Mit Anthropozän ist eine neue Epoche der Erdgeschichte gemeint, die auf das Holozän folgt. Der Name wurde im Jahr 2000 erstmals vom Atmosphärenchemiker Paul Crutzen auf einer internationalen Tagung in Mexiko benutzt und 2002 im Journal „Nature“ näher bestimmt. Der Name leitet sich vom altgriechischen anthropos, Mensch, und Kainos oder –zän ab, das die klassische Endung der vorangegangenen erdgeschichtlichen Zeitabschnitte war: des Holozön, Pliozän, Miozän et cetera. Der Begriff will insofern die Bedeutung der Menschheit zur Geltung bringen und ausdrücken, dass wir uns erstmals in einem menschengemachten Erdzeitalter befinden.

Hinter dem Begriff „Anthropozän“ verbirgt sich die Einsicht, dass der Mensch tiefgreifend und im globalen Maßstab die Ökologie des Planeten verändert. Es geht um den massiven Einfluß, den der Mensch auf den Planeten ausübt – seriösen Schätzungen zufolge wiegen die vom Menschen hergestellten Produkte inzwischen mehr als die gesamte Biomasse der Erde (obwohl der Mensch selbst nur 0,01 Prozent dieser Masse ausmacht) – und darum, dass dieser Einfluss, der inzwischen auch geologisch nachweisbar ist, auch Auswirkungen auf die Zukunft hat. Anhaltende Nachweise für den menschlichen Einfluss können etliche Verschiedene erbracht werden, die Auswirkungen von Industrialisierung, Urbanisierung und Globalisierung sind vielfältig. Entsprechend umstritten ist der exakte Beginn des Anthropozän, wobei mit jedem Vorschlag auch ein anderes historisches Narrativ vorgelegt wird: Beton, Radioaktivität, die Verbreitung einzelner Arten wie Hühner, Kaninchen oder Ratten et cetera könnte man als Beginn des Anthropozän heranziehen. Auch der Klimawandel ist ein wichtiges Element der massiven, durch den Menschen verursachten Veränderungen. Er wird Spuren hinterlassen, die noch in Millionen von Jahren erkennbar sein werden.

Veränderungen gab es schon immer, das Besondere all der aktuellen Veränderungen ist jedoch die Geschwindigkeit: Natürliche Prozesse erstrecken sich gewöhnlich meist über Jahrtausende bis Jahrmillionen. Die aktuellen menschengemachten Veränderungen jedoch laufen eher in Jahrzehnten bis Jahrhunderten ab. Das Anthropozän fasst dieses Neue, vom Menschen hervorgebrachte – und bezeichnet insofern eine Schwellensituation der Menschheit: War das Holzän die Wiege der Zivilisation, so fragt man sich heute, was der Bruch mit den bisherigen Bedingungen für den Menschen und insbesondere für sein Verhältnis zu sich selbst und zur Welt bedeuten wird.

Mit dem Begriff des Anthropozän verbunden ist insofern eine Gegenwartsdiagnose und die Frage, wie wir unser zukünftiges Verhältnis zur Welt gestalten. Berührt sind damit inbesondere auch kulturelle Konsequenzen: Es geht um die Frage, wie wir uns als Teil des Erdsystems verhalten sollen. Denn „die Idee einer `Welt´ als Bühne menschlicher Existenz und Erfahrungen“ ist nicht mehr zu halten, bemerkt Eva Horn in ihrer Einführung zum „Anthropozän“ (2019). Der Mensch ist unweigerlich darin verfangen – und insofern muss nicht erst angesichts des weltweiten Pandemiegeschehens die von Kant konstatierte Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt beziehungsweise „die epistemische Auszeichnung des Menschen als Gegenüber und Betrachter der Dinge“, die der Soziologe Bruno Latour als Kern eines modernen In-der-Welt-Seins des Menschen beschrieben hat, verabschiedet werden.

Anstatt Natur und Kultur als ontologisch unterschieden zu verstehen, gelte es, die Welt als ein „nahtloses Gewebe“ zu betrachten, in dem Menschliche und Nicht-Menschliche Akteure zusammenwirken, schreibt Latour. Der gegenwärtige Lockdown macht klar, dass nicht wir allein Wirklichkeit gestalten, sondern auch die Natur beziehungsweise ein Nicht-Menschlicher Akteur, das Virus, formend und gestaltend die Wirklichkeit unsere Gesellschaft beeinflussen kann. Das Belebte und Unbelebte in unserer Umgebung ist nicht nur passiv Gegenstand oder bloße Bühne für menschliches Handeln, sondern wirkt auf uns leiblich spürbar ein. Natur kann also nicht mehr der Kultur gegenübergestellt werden, Wildnis als unberührte Natur nicht mehr der Zivilisation, sondern wir müssen beginnen „unsere Monster zu lieben“, wie Latour sagt.

Verwandtschaftsverhältnisse

Im Jahr 1809 veröffentlicht Johann Wolfgang von Goethe einen Liebesroman, in dem er ein kurze Zeit vorher beobachtetes und beschriebenes Naturphänomen auf das menschliche Verhalten überträgt und zum Inhalt macht. Er gibt ihm den Namen Die Wahlverwandtschaften und zitiert damit den schwedischen Naturwissenschaftler Torbern Bergmann, der 1785 eine Abhandlung mit dem lateinischen Titel De attractionibus electivis verfasst hat, zu Deutsch: Wahlverwandtschaften. Bergmann beschrieb darin, wie sich chemische Stoffe aus einer inneren Verwandtschaft heraus gegenseitig anziehen, während sich andere abstoßen. In einer „Selbstanzeige“, die Goethe in einer Zeitung veröffentlicht, schreibt er zu seinen „Wahlverwandtschaften“, dass der Verfasser „bemerkt haben (mochte), daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem Kreis menschlichen Wissens weit Entferntes näher heranzubringen, und so hat er auch wohl in einem sittlichen Falle eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, umso mehr, als doch überall nur eine Natur ist …“ Diese eine Natur, die Verwandtschaft von leblosen und belebten Akteuren, betont Goethe dann auch noch einmal im Roman selbst, wo er eine der Protagonistinnen sagen läßt: „Ich hörte von Verwandtschaften lesen, und da dacht` ich eben gleich an meine Verwandten …. Meine Aufmerksamkeit kehrt zu deiner Vorlesung zurück; ich höre, dass von ganz leblosen Dingen die Rede ist, und blicke dir ins Buch, um mich wieder zurechtzufinden (…) Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muss es auch gegen andere ein Verhältnis haben.“

Schon Goethe geht also von einem Verwandtschaftsverhältnis auch „von ganz leblosen Dingen“ aus. Und genau das greift nun auch die Biologin Donna J. Haraway auf, wenn sie die Handlungsmacht des Nichtmenschlichen betont, und, ähnlich wie Latour, auf ein anderes Verhältnis zu den Nicht-Menschlichen Akteuren dieser Erde drängt. Haraway plädiert dafür, den Ausdruck „sich verwandt machen“, den Begriff „verwandt“, mehr bedeuten zu lassen als „Entitäten, die durch Abstammung oder Genealogie verbunden sind“, hin zu einem Verständnis, „dass alle Erdlinge im tiefsten Sinn verwandt sind“, wie sie in einer Geschichte ihres Buches „Unruhig bleiben“ (2018) schreibt. „Erdling“ meint hier jedoch nicht nur Menschen, sondern alle Lebewesen und Gegebenheiten auf Erden, auch ferne Arten wie Bakterien oder Pilze, denn alle „Kreaturen teilen lateral, semiotisch und genealogisch gemeinsames `Fleisch´“. Darüber hinaus möchte sie die Differenz von Bewusstsein und Wahrnehmung des Menschen einerseits und nicht-menschlichen Lebewesen sowie darüber hinaus der gesamten stofflichen Welt, auch Landschaften, verabschieden: Auch Tiere und andere Lebewesen besitzen kognitive Fähigkeiten, die sich von denen des Menschen nur graduell unterscheiden, und der evolutionäre Erfolg des Menschen ist insofern keine selbstständige Leistung, sondern verdankt sich den symbiotischen Beziehungen, die wir mit anderen biologischen Arten eingegangen sind.

In den Fokus der Überlegungen rückt so die Frage nach der Koexistenz mit nicht-menschlichen Lebewesen – und auch Landschaften: Gegen die anthropozentrische Vernunft gerichtet plädiert sie dafür, dass sich der Mensch nicht so wichtig nehmen und sich lieber seine Abhängigkeit von anderen Kreaturen klarmachen soll sowie deren Abhängigkeit von uns. Entsprechend zeichnet Haraway das Bild eines Menschen, der entgegen der „modernen“ Vorstellung, nicht mehr als distanzierter Beobachter agiert, der Natur für seine Zwecke nutzt, sondern sie sieht den Menschen als „Erdling“ symbiotisch in die Natur und die Landschaft verstrickt und um respektvolle Koexistenz bemüht. Haraway versucht in diesem Zusammenhang ein neues Vokabular zu entwickeln, um die „Verstrickungen“ (entanglement) von kulturellen und natürlichen Prozessen zu beschreiben. Anstatt Natur und Kultur als ontologisch unterschieden zu verstehen, gelte es, die Welt als ein „nahtloses Gewebe“ zu betrachten, in dem menschliche und nicht-menschliche Akteure zusammenwirken.

Aus dieser Verstrickung des Menschen mit anderen verletzlichen Arten inmitten eines instabilen Gesamtgefüges der Natur ergeben sich ethische Verpflichtungen für das Nicht-Menschliche, die aber nicht über einen Begriff der Verantwortlichkeit des Mächtigeren für das Ohnmächtige, des Denkenden für das Nicht-Denkende konstruiert sind. Sie sollen vielmehr gleichsam „auf Augenhöhe“ stattfinden als Verpflichtungen innerhalb einer gegenseitigen Abhängigkeit. Für Haraway bedeutet dies, die „Verwandtschaft“ (kinship) des Menschen mit anderen Lebensformen und Landschaften nicht nur anzuerkennen, sondern diese als ein Gegenüber zu begreifen, angesichts deren man ähnliche Verpflichtungen hat wie im Hinblick auf die eigenen Artgenossen, ja die oft beschworenen „Kindeskinder“.

Damit legt Haraway die konzeptuellen Grundlagen einer auf Kultivierung von Koexistenz angelegten Politik. Ihr kann es nicht mehr nur um den Reproduktionserfolg einzelner biologischer Arten gehen, sondern sie muss den Menschen von einem Parasiten des Erdsystems in ihren Symbionten verwandeln. Sie muss auf der Anerkennung von artenübergreifenden Verwandtschafts- und Abhängigkeitsbeziehungen beruhen und die Überlebensfähigkeit ganzer symbiotischer Netzwerke zum Ziel haben. In genau diesem Sinne ist Haraways oft wiederholtes Motto zu verstehen: „Make kin, not babies!“.

Ästhetik des Anthropozän

In Richard Strauss’ Oper Daphne wird die Heldin in einen Baum verwandelt. Etwas Ähnliches haben vielleicht Donna J. Haraway und Bruno Latour im Sinn wenn sie deutlich machen, dass sich der Mensch nicht mehr als Gegenüber, sondern mitten im Inneren der Dinge wiederfindet: „im Inneren des Klimawandels, inmitten von koexistierenden Lebensformen, umstellt von Technologien und ihren Folgen, abhängig von Kapital- und Materialflüssen, die Ökonomien und Ökologien unkontrolliert verändern“, wie Eva Horn konstatiert – und auch das Anfang dieses Jahres, kurz vor Beginn des ersten Lockdowns in der Berliner Humboldt-Universität gegründete „Theater des Anthropozän“, deren Konzept, wie sie schreiben, „die Humboldtsche Idee zugrunde (liegt), dass nur ein intaktes, aus Wissen und Erfahrung, Emphatie und Emotion geknüpftes Band zwischen Mensch und Natur Basis einer zukunftsfähigen Zivilisation sein kann. Diese unterschiedlichen Elemente in miteinander verwobenen ästhetischen wie diskursive Ebenen zu verbinden, ist erklärtes Ziel.“

Unentwirrbar in diese Systeme verstrickt, „ist der Mensch in den unterschiedlichsten Modi der Verantwortlichkeit und des Betroffenseins, der Wahrnehmung und – wichtiger noch – des Nicht-Wahrnehmens involviert“, schreibt Horn. Für eine neue Ästhetik, eine des Anthropozän, bedeutet das, dass eine bloße Thematisierung der Veränderungen nicht genügt, sondern es gilt, wie Horn weiter ausführt, „diese Un-Wahrnehmbarkeit und Unheimlichkeit in ihrer Form auszudrücken, als ein Sicht-, Fühl-, Spür-, und Denkbarmachen von etwas, das sich phänomenaler Erfahrbarkeit gerade durch seine Nähe entzieht“. Das zeigt auch Bruno Latour in der siebten Vorlesung von „Der Kampf um Gaia“ (2017), wo er Caspar David Friedrichs Gemälde „Das Große Gehege bei Dresden“ (1831/2) bespricht.

Caspar David Friedrich - Das grosse Gehege bei Dresden

Caspar David Friedrich, „Das Grosse Gehege bei Dresden“ (1832), Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden © Photo: Hans Peter Klut/Elke Estel

In dem Landschaftsbild, so Latour, ist der Blickpunkt des Betrachters nicht auszumachen, das heißt er steht weder auf der Erde, noch ist wirklich eine Höhe über dem Boden fixierbar – es scheint als befindet er sich irgendwo in der Schwebe. Gleichsam ist aber genau diese Verzerrung des Raums, die Latour als Inbegriff der Erschütterungen interpretiert, die das Anthropozän für das leibliche In-der-Welt-Sein des Menschen bedeutet: „(D)as ist keine Landschaft, in die man sich beschaulich vertiefen könnte. Nichts, das halt bietet, es sei denn, man wäre auf dem Kahn, aber auch dann wäre man noch in Bewegung“, schreibt er.

Latour begreift den ortlosen Blick des Betrachters in dem gekrümmten Raum des Bildes als Allegorie auf den verlorenen Beobachterstandpunkt des Menschen in der Natur des Anthropozän. Im Anthropozän ist Natur nicht mehr objektiv darstellbar, sondern die instabile Position des Betrachters bewirkt, daß das Gemälde „die Instabilität jedes Blickpunkts auf die Welt – von oben, von unten, oder von der Mitte aus – bezeichnet hat. Das Große Gehege, die große Unmöglichkeit, besteht nicht darin, auf ERDEN eingeschlossen zu sein, sie besteht in dem Glauben, diese sei als ein vernünftiges und in sich stimmiges GANZES erfaßbar, wenn man die unterschiedlichen Größenordnungen in einander schachtelt, von den lokalsten bis zu den globalsten – und rückwärts –, oder es sei damit getan, daß man sich zufrieden auf sein Stück Wiese zurückzieht und damit seinen Garten bestellt.“

Latours Interpretation des Gemäldes beschreibt die Desorientierung des Betrachters beziehungsweise dessen „Beeinträchtigung der Beziehung zur Welt“, wie er selbst sagt. Erschüttert ist insbesondere die Konstruktion von Subjekt und Objekt. Seit Kant wurde das Subjekt erkennend reflektierend, aber auch affektiv bewegt und Natur als stabile Konstante gedacht. Mit dem Anthropozän nun verliert die Natur diesen stabilen, berechenbaren Charakter – zuletzt durch das Virus. Das bedeutet auch, daß sie nicht mehr auf Abstand gehalten werden kann und damit wesentliche Zusammenhänge aus dem Blick geraten: Natur entzieht sich der Kontrolle und damit der Darstellbarkeit.

Anders als in den bisherigen Ästhetiken hat die Undarstellbarkeit nicht mit Entzug zu tun, sondern damit, dass Natur eben unkontrollierbar oder unüberschaubar geworden ist, mikroskopisch klein, hyperkomplex oder überdimensional. Die Natur ist „zu nah, um sie objektivieren zu können, zu groß, um sie abbilden zu können, zu komplex, um sie erzählen zu können“, bemerkt Eva Horn. Ihr zufolge lassen sich entsprechend folgende drei Herausforderungen für eine Ästhetik des Anthropozän benennen: Latenz (als ein Entzug der Wahrnehmbarkeit und Darstellbarkeit), Verstrickung (als Struktur und Bewußtsein von Ko-Existenz) sowie ein clash of scales (Aufeinandertreffen inkompatibler Größenmaßstäbe wie Zeitskalen beim Versuch erdgeschichtliche Zeiträume darzustellen oder Raumdimensionen, wenn es um planetarische Veränderungen des Erdsystems geht). Für alle drei gilt: Es handelt sich um Probleme der Form, die bisweilen unter Rückgriff auf Kants Konzept der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen diskutiert werden (Kant zufolge kann das Erhabene in keiner sinnlichen Form enthalten sein).

Als Konsequenz aus diesen Herausforderungen, das vermeintlich Undarstellbare manifest zu machen, hat sich zum Beispiel in der Photographie, die sich unmittelbar der Diagnose des Anthropozäns wimet (etwa Andreas Gursky) der distanzierte Blick aus großer Ferne oder von oben entwickelt, durch den das Nicht-Wahrnehmbare oder „die Größenordnung ökologischer Zerstörung, massiver Landschaftstransformationen oder auch exzessiven Konsums“ vor Augen geführt werden kann. Dieser Blick von oben – im Sinne einer ästhetische Erfahrung – treibt auch Petrarca auf den Gipfel des Mont Ventoux, obwohl Bergbesteigungen (wie übrigens auch Waldwanderungen) zu seiner Zeit eigentlich undenkbar sind: Berggipfel wurden in der damaligen Vorstellung von Dämonen und Geistern bewohnt und der natürliche Aufenthaltsort des Menschen ist in der geltenden Vorstellung der Zeit unten auf der Erde, seine ihm gegebene Blickrichtung ist die des contemplator caeli, des „Betrachters des Himmels“, also von unten nach oben, nicht umgekehrt. Entsprechend außergewöhnlich also ist die Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca im Jahr 1336.

Auch das Foto der Apollo-8-Mission vom Weihnachtsabend 1968, vielleicht das einflussreichste Bild des vergangenen Jahrhunderts, das erstmals die gesamte Erde zeigt – als leuchtenden Planeten über der grauen Mondoberfläche –, ermöglicht eine solche ästhetische Erfahrung.

Die Erde vom Mond - Apollo 8

Erdaufgang vom Mond aus betrachtet, fotografiert von der Besatzung von Apollo 8 am 24. Dezember 1968 © NASA

Es ist das Bild, in dem die Menschen zum ersten Mal die Erde in vollem Umfang mit eigenen Augen sehen – und sich gleichsam der Verwundbarkeit dieses einsam da stehenden Planeten vergewissern können. Viele sind heute überzeugt, dass dieses Bild die Umweltbewegung der 1970er-Jahre maßgeblich inspiriert hat. Die Eingangs zitierten Äußerungen von Gene Cernan, unter anderem Landemodulpilot bei Apollo 10 (1969), machen klar weshalb.

Das Bild wurde am Weihnachtsabend im Rahmen einer Live-Übertragung erstmals präsentiert. Die Besatzung von Apollo 8 beendete diese Übertragung mit folgenden Worten: „Hier ist Apollo 8 mit einer Live-Übertragung vom Mond. Wir haben die Kamera umgeschaltet. Zuerst haben wir Ihnen ein Bild der Erde gezeigt, wie wir es die letzten 16 Stunden gesehen haben. (…) Wir nähern uns nun dem lunaren Sonnenaufgang. Und für alle Menschen unten auf der Erde hat die Besatzung der Apollo 8 eine Botschaft, die wir euch senden möchten: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe. Der Geist Gottes schwebte über dem Wasser, und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war, und Gott teilte das Licht von der Dunkelheit … (…) Und von der Besatzung der Apollo 8: Wir schließen mit einem gute Nacht, viel Glück, fröhliche Weihnachten und Gott segne euch alle – euch alle auf der guten Erde.“

Die Eroberung des Monds hat den Blick auf die Erde verändert – den Blick auf die noch gute Erde. Was aber erzählt uns Heute das Virus über uns und die Natur? Im Virus als dem Erhabenen des Anthropozän zeigt sich uns eine Natur, die keine wirkliche ästhetische oder epistemische Distanz außer der Quarantäne mehr möglich macht. Ästhetische Erfahrung ist heute eine der radikalen Immanenz. Die Welt kann fortan nicht mehr allein als Lebenswelt des Menschen begriffen werden. Wir sind Teil einer Natur, die wir nicht beherrschen können, für die wir aber dennoch Verantwortung haben.

In dem oben erwähnten Zeitungs-Interview zitiert Slavoj Zizek Bruno Latour mit den Worten: „Diese Pandemie ist nur eine kleine Probe für die wirkliche Krise, die später noch kommt: andere Viren, globale Katastrophen und vor allem – die Erderwärmung.“ Insofern gilt es, selbst zur Revision des geltenden Wertesystems beizutragen, indem man sein eigenes Handeln in Zusammenhang mit Lebenschancen für die Menschheit in der Zukunft stellt. Das heißt auch, ein Bewußtsein dafür zu entwickeln, dass man Teil komplexer ökologischer Systeme und Lebensräume ist, die nur mit Emphatie, gegenseitiger Rücksichtnahme und Respekt bewahrt werden können – und vielleicht auch etwas Demut und Bescheidenheit.

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Essay

advent, advent

Advent, das ist die Zeit der Stille und des Lichts, sagt man. Ein Essay über unser Verhältnis zur Zeit …

Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“

Johannes 8,12

Das Licht nennt sich Schatten des lebendigen Lichts.“

Bernard von Clairvaux

Manche sagen, immer wenn die Zeit naht / Da alle die Geburt des Heilands feiern / Singt der Vogel der Frühe die ganze Nacht, / Und dann, sagt man, wagt sich kein Geist heraus; / Die Nächte sind gesund; kein Planet trifft / Kein Alp drückt, keine Hex hat Kraft zum Zaubern / so gnadenvoll und heilig ist die Zeit.“

William Shakespeare, Marcellus in: Hamlet I, 1

Zeit der Stille

Das letzte Konzert vor dem zweiten Lockdown zur Eindämmung der Corona-Pandemie Anfang November haben die Berliner Philharmoniker und Chefdirigent Kirill Petrenko um ein Werk ergänzt, das sie ans Ende des Abends gestellt haben: 4´ 33´´ von John Cage (1952), „das ganz aus Schweigen besteht und mit dem der Komponist zum Nachdenken über Stille und Musik anregen wollte“, wie sie schreiben. „Mit dem Mitschnitt der Aufführung beteiligen sich Orchester und Dirigent an der Aktion #sangundklanglos / #alarmstuferot, die auf die Situation von Künstlerinnen und Künstlern nach dem Lockdown von Kulturinstitutionen aufmerksam machen will.“

Zwar gliedert John Cage seine „Komposition“ in drei Sätze, enthält sich ansonsten aber jeden Eingriffs – und auch die Philharmoniker spielen während der Dauer der Aufführung nicht einen einzigen Ton (allein Kirill Petrenko ist zu beobachten, der die einzelnen Sätze einleitet und sein spannungsvolles Dirigat bis zum Schluß durchzieht). Insofern bedeutet 4´ 33´´ „den Übertritt von der Produktion, der poiesis zum Schweigen, zur Stille, die öffnet. Ihr ist der Übertritt von der Ästhetik im Sinne einer techne zur Aisthesis [Wahrnehmung] gemäß“, schreibt Dieter Mersch in „Ereignis und Aura“ (2002). Dabei gibt es hier keine Klang-Komposition mehr zu hören, sondern Cage unterläuft die traditionelle Ordnung des Musikalischen aus Klang und Stille, Ton und Pause und öffnet über die Stille beziehungsweise das Schweigen einen Hör-Raum, der allein aus zufälligen Geräuschen besteht, die bisweilen vom hörenden Publikum selbst hervorgebracht werden. Denn, wie Cage selbst sagt: „(N)othing takes place but sounds: those that er notated and those that are not. Those that are not notated appear in the written music as silences, opening the door of the music to the sounds that happen to be in the environment.“

Für Cage gibt es insofern keine Stille. „Es handelt sich“, wie Mersch sagt, „nicht um ein nihil, eine Absenz, die sich als Abwesenheit von `Etwas´ verstünde, vielmehr erscheint das Schweigen voller Klänge und Geräusche. (…) Bei Cage enthüllt sich … das einfache Hervortreten des Sinnlichen, die Rückkehr zur Aisthesis als Grundlage des Sich-Zeigens.“ Es geht also nicht mehr um die techne, das mit Techniken des Kompositorischen symbolisch zu Etwas geformte Material oder musikalische Medium beziehungsweise die planvolle Inszenierung, die es gleichsam zu verstehen gilt, sondern in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt die Aufführung selbst und die mit ihr verbundenen Wahrnehmungsprozesse: Alles, was zufällig zu hören ist, wird zum Element der Aufführung, in der sich insofern nicht-intentionale oder absichtslose Momente zeitigen. Die Reaktionen auf die Stille mögen zwar auch als rein „innere“ Prozesse ablaufen, imaginative oder kognitive, doch überwiegend stellen sie auch für andere wahrnehmbare Reaktionen dar. John Cage selbst bezeichnet diese Erfahrung als theatrale Erfahrung: „(I)ch glaube, daß die Sache, die meine Arbeit von den anderen unterschied (…), was sie unterschieden hat, war, daß sie theatralischer gewesen ist. Meine Erfahrungen sind theatralisch.“ Gerade die Aufführung von 4´ 33´´ erscheint ihm als das Theatralische schlechthin: „Was könnte wohl mehr mit Theater zu tun haben als das stille Stück – jemand betritt die Bühne und tut überhaupt nichts.“ Er läßt das Unvorhersehbare lediglich geschehen, er läßt das Sich-Zeigende ereignen …

Es geht Cage also nicht darum, etwas darzustellen oder zum Ausdruck zu bringen: „Darstellung, Repräsentation oder Ausdruck setzen noch die Auszeichnung des Mediums, der Inszenierung, der Intentionalität des Künstlers, des Symbolischen voraus …“, sondern er beschränkt sich einzig darauf: Eröffnung von Zeitlichkeit, erklärt Dieter Mersch. 4´ 33´´ ist eine Zeitigung, „weil sie darauf beruht, das Zeitliche selbst aufzuschließen (…) und zwar so, daß sie diese nicht länger vom Ton, vom Klanglichen oder dem jeweils Erscheinenden her bestimmt, sondern umgekehrt als Riß, als Differenz offenbart, die das Erscheinen des Ereignis ermöglicht.“ 4´ 33´´ läßt sich insofern auch als radikales Moment der Entschleunigung begreifen: Der Rhythmus ist hier still gestellt – man wird gewissermaßen Zeuge einer Aus-Zeit, einer Zeit der Besinnung, wenn man so möchte.

Gewöhnlich erscheint Zeitlichkeit im musikalischen Geschehen repräsentiert durch Taktstrich und Rhythmus im tonalen System der Komposition. Das jedoch ist bei Cage anders, das heißt das Zeitliche, Kompositorische, ist bei ihm aufgehoben und 4´ 33´´ markiert lediglich eine leere, inhaltslose Dauer, es ist lediglich eine Rahmung, ein Zeit-Raum, innerhalb dessen sich etwas ereignen kann – aber auch nichts. Cage selbst sagt in diesem Zusammenhang: „In der Musik sollte es uns genügen, unsere Ohren zu öffnen. Musikalisch gesehen kann alles in ein Ohr eindringen, das für alle Töne offen ist. Nicht nur die Musik, die wir schön finden, sondern auch die Musik, die das Leben ist. (…) Man kann … verstehen, daß in einem bestimmten Sinne die Musik aufgegeben werden muß, damit das so ist. Oder zumindest, was wir Musik nennen. (…) Und deshalb spreche ich in der Tat … von `Nicht-Musik´ … Wenn wir akzeptieren, all das außer acht zu lassen, was sich `Musik´ nennt, würde das ganze Leben zu Musik!“

John Cage fordert dazu auf „sich bis zur äußersten Konsequenz jenem Anderen (zu) überlassen, das (sich) zeigt, (sich) gibt, ohne den kategorialen Systemen des Denkens und seiner Zuschreibungen subordiniert zu sein“, sagt Mersch. „Das impliziert keine willenlose Unterwerfung, keine autoritäre `Hörigkeit´, sondern … ein `Gehören´ in das, was als Unverfügbares oder Nichtgemachtes entgegenkommt.“ Cage verweist insofern auf die Sinnlichkeit der Wahrnehmung, genauer gesagt auf die Sinnlichkeit des Ohres, das anders als das Auge stets an Zeitlichkeit und Ereignis teilhat. „Was es gewahrt, widerfährt ihm als Augenblick, der flüchtig verklingt, statt fixiert oder `überschaut´ werden zu können“, sagt Mersch. Dabei heißt Hören hier nicht schon Verstehen, sondern zuerst: Entgegennehmen, Empfangen.

Licht Gottes

Das Hören – das verdeutlicht uns John Cages 4´ 33´´ – braucht die Stille. Und die Stille der Aufführung, gleichsam eine zeremonielle Stille, ist ein uraltes Mittel, die Spannung zu steigern – wie jener magische Moment nach dem Eingangsapplaus, wenn der Dirigent den Taktstock hebt und kurz verharrt, bevor er die musikalische Darbietung einleitet und der Klang des Orchesters gewöhnlich den Raum füllt, in ihm erscheint wie ein Licht.

Erscheinung heißt auf Griechisch Epiphanie. Mit diesem Begriff war ursprünglich die Erscheinung beziehungsweise Ankunft des römischen Kaisers Julius Caesar gemeint, der beim Überschreiten des Rubikon im Jahr 49 vor Christus vom Volk als lebender Gott begrüßt wurde. Dabei wurde aus dem Griechischen Epiphanie das lateinische Adventus: Beides bezeichnet die Ankunft des Kaisers in Rom – dann wurde der Adventus Augusti gefeiert. Unmittelbar vor dessen Epiphanie, der feierlichen Ankunft des Kaisers, also beim Adventus, musste absolute Stille herrschen, damit der Augenblick der Erscheinung umso glanzvoller wirken konnte.

Die Ankunft wurde im Zuge der Christianisierung des römischen Reiches mit der Geburt Jesu assoziiert. Da die Evangelien keine Datumsangaben für die Geburt überliefern, blieb der Geburtstag zunächst umstritten. Die ältesten Spuren einer Geburtstagsfeier für Jesus, so weiß der Historiker Alexander Demandt, fanden jedenfalls in Alexandria statt, wo die Gemeinde schon im 2. Jahrhundert am 6. Januar „die spirituelle Geburt Jesu in der Taufe“ beging. An diesem Tag, dem 6. Januar, der auch als Epiphania Einzug in den christlichen Kalender gefunden hat, war die Wintersonnenwende, der „kürzeste Tag des Jahres“, an dem im Osten des römischen Reiches traditionell auch die Geburt des Sonnengottes Helios gefeiert wurde – der tags über als Apollon und nachts unter der Erde als Dionysos gedeutet wurde, wie Demandt erklärt. „Um dieses nächtliche Neujahrsfest für Dionysos zu christianisieren, feierte die griechische Kirche an jenem Tage neben der Taufe Jesu auch dessen Geburt und nannte ihn epiphaneia, Epiphanias `Erscheinung´ (des Herrn).“

Gleichzeitig findet an diesem 6. Januar im Osten – und sicher auch als eine vergessene Reminiszenz an Dionysos – bis heute auch die Erinnerung an das Weinwunder bei der Hochzeit von Kana statt (Joh 2,1-11), das heißt die wundersame Verwandlung von sechs Krügen zu je 39,5 Liter Wasser in Wein – das erste göttliche Zeichen Jesu. Der Wein symbolisiert in der Bibel das Fest und die Lebensfreude (Ps 104,15) und er lässt die Menschen „die Herrlichkeit der Schöpfung“ spüren. Die Überfülle des Weins auf der Hochzeit kann als Hinweis auf das Leben in Fülle verstanden werden, das Gott dem Menschen zugedacht hat – jedenfalls wird das sogenannte „Weinwunder“ gewöhnlich angebracht, um zu zeigen, dass die Bibel keine Alkoholabstinenz fordere.

Dass das Fest Epiphania latinisiert als Adventus auch im weströmischen Reich Verbreitung fand, geht vermutlich auf den Besuch Helenas, der Mutter von Constantin, dem ersten christlichen Kaiser, im Jahr 326 in Bethlehem zurück, wo sie die Geburtskirche errichten ließ. Allerdings ging damit eine Datumsverschiebung einher: In Rom war die Wintersonnenwende (bruma) nach julianischer Zeitrechnung am 25. Dezember, das heißt im Filocalus-Kalender von 354 (einem Konvolut zur Zeitrechnung nach altrömischer Tradition, die von Constantin fortgesetzt wurde) war am 25. Dezember der Natalis Invicti verzeichnet, der Geburtstag des Unbesiegten Sonnengottes, des Sol invictus Mithras. Unter den Olympischen Göttern ist Phoibos Apollon als Lenker des Sonnenwages bekannt. Dieser Sonnengott ist aber ein anderer als jener Mithras, der den Römern als „Schöpfer des Lichts“ gilt.

Auch Constantin war vor seiner Entscheidung für das Christentum ein Anhänger des verbreiteten Mithraskultes und er hat die mit diesem Kult verbundene Sonnenverehrung nur langsam abgebaut, wie Demandt ausführt, und „teilweise bewußt christianisiert“. Insofern ist es denkbar, das Constantin es gewesen sein könnte, „der den Geburtstag des Erlösers auf den allbekannten Geburtstag des Sonnengottes festgelegt hat. `Licht ist das Zeichen der Geburt´ heißt es schon bei Plutarch.“ Wann genau sich der 25. Dezember jedoch in der römischen Reichskirche durchsetzte ist unklar. Zumindest jedoch kam es zu Epiphania am 6. Januar zu einer Angleichung der konkurrierenden ost- und weströmischen Vorstellungen insofern, als im Verlauf die Anbetung der drei Magier aus dem Morgenland, der heiligen Drei Könige mit der Lichterscheinung des Sterns, zum wichtigsten Inhalt wurde: So galt fortan der 25. Dezember als jener Tag, an dem Christus den Gläubigen erschien, in Gestalt der Hirten, während er sich am sogenannten Dreikönigstag am 6. Januar den Heiden in Gestalt der drei Magier offenbarte.

Als katholisches Kirchenfest hat sich das Datum zwar allmählich von Rom aus verbreitet, aber erst die seit dem 5. Jahrhundert (432 n. Chr.) bezeugten Adventssonntage verlegen den adventus domini, die Ankunft des Herrn am 25. Dezember „aus dem Raum in die Zeit“, wie Demandt bemerkt. Papst Gregor (540-604) legte vier Sonntage fest, eine feste Adventsliturgie für die gesamte katholische Welt gab es allerdings erst ab der Zeit um 1570.

Ein Lichtlein brennt

Advent gemahnt in seinem Ursprung also an die Sonne und seine Lichtsymbolik ist bis in unsere Tage lebendig. Es war insofern immer schon eine Art Lichtfest – und das Licht, die Beleuchtung, ist in diesem Zusammenhang gleichbedeutend „mit dem Enthüllen einer `Bühne´, einer Offenbarung der Transparenz, ohne die die Erscheinungen nichts wären“, wie der Medienphilosoph Paul Virilio sagt.

Lebendig ist die Tradition noch heute beispielsweise im Adventskranz, obwohl der das jüngste Element im Adventsbrauchtum ist: Er geht zurück auf den protestantischen Theologen und Gründer der Inneren Mission in Hamburg Johann Hinrich Wichern. In seiner Stiftung „Rauhes Haus“ hat er ab 1839 einen Kronleuchter mit einer wachsenden Zahl von brennenden Kerzen bestückt (20 kleinere rote und vier große weiße Kerzen), um für die Kinder in seiner Stiftung die Wartezeit bis Weihnachten zu verkürzen. Ab 1860 kamen dann die grünen Kränze mit nur vier Kerzen auf, mit denen Krankenschwestern im Ersten Weltkrieg die Lazarette schmückten. Von dort fand der Brauch seine Verbreitung in ganz Deutschland.

In der alten Form ist der Adventskranz nichts anderes als ein leuchtender Adventskalender, wobei die Sitte, immer eine Kerze mehr anzuzünden auch beim jüdischen Chanukka-Fest üblich ist (das an die Erneuerung des Tempeldienstes in Jerusalem durch Judas Makkabäus 64 vor Christus erinnern soll). Aber das Licht, das Feuer, galt schon zu Urzeiten als heilig: Seine sprachliche Wurzel phu-, pha- oder phe- ist ein lautmalerisches Wort, das zunächst soviel bedeutete wie (ein Feuer an-)blasen, später, davon abgeleitet, konnte es auch brennen, hell scheinen, erstrahlen heißen. „Diese Wurzel“, weiß der Sprachwissenschaftler Gerald Huber, „steckt in einer ganzen Reihe von lateinischen Wörtern: Das fanum, das ist der geheiligte Ort, der Tempel, dort eben, wo das Fanal, das Opferfeuer brennt und geheimnisvoll leuchtet. Die gleiche uralte Wurzel wie in Feuer oder fanum findet sich auch in den lateinischen Wörtern feriae (= Festtage, Feiertage) und festus (= festlich, feierlich), aus denen wiederum unsere Wörter Feier(-tag) und Fest geworden sind.

Auch das germanische Wort heil, von dem wiederum der niederdeutsche Ausdruck heilig als Wort für das deutsche weih ausgeht, geht mit seiner Wurzel auf hel- oder hol- zurück, die alles bezeichnet, was mit dem Verbergen, Verstecken und dem Gegenteil desselben zu tun hat – eben dem plötzlichen hellen Erstrahlen des zuvor Verborgenen. „Ähnlich wie seine lateinische Entsprechung“, weiß Gerald Huber, „bedeutet das Wort alles, was (von etwas anderem) getrennt, unversehrt, ganz, aber auch abgegrenzt, unzugänglich, tabu ist.“ Wie beispielsweise die Hölle oder auch das Allerheiligste des Tempels, wo das Fanal brannte, das Opferfeuer, das nur die eingeweihten Priester betreten durften: „Sie waren die fanatici, die Fanatiker, die in mystische Begeisterung gerieten und für die Nichteingeweihten unverständliches Zeug redeten“, wie Huber weiss.

Den Priestern allein war auch der Blick in den Himmel vorbehalten, das heißt, das Zeitregime oblag schon seit jeher den Priestern: Sie legen alle wichtigen (religiösen) Termine verbindlich fest, indem sie die Lichtzeichen des Himmels beobachten – und sie lesen. Das ist die erhellende Idee der Priester im babylonischen Exil um 500 vor Christus: Dass das göttliche Wort in den lichten Erscheinungen Gestalt annimmt. Seither heißt es im Alten Testament zum Ursprung der Welt: Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. (Etwa zur selben Zeit taucht diese Idee des göttlichen Worts bei den Griechen auf, sie nennen es: Logos. Ein halbes Jahrtausend später heißt es folglich zu Beginn des Johannesevangeliums, also im Neuen Testament: Am Anfang war der Logos, das Wort. Und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.)

Die Ausbreitung des christlichen Glaubens ging umgekehrt einher mit der politischen Auflösung des römischen Imperiums und einer Vereinheitlichung der Religion, erklärt Alexander Demandt in „Zeit“ (2015). Dabei diente insbesondere der christliche Kalender als Faktor zur übergreifenden Zeitregulierung und gleichsam als Machtinstrument der christlichen Mission. In der Moderne nun allerdings wird der Kalender von einem anderen Zeitregime abgelöst, das sich gleichwohl ebenfalls aus dem Blick in den Himmel ergeben hat: die Geschwindigkeit; und mit ihr verbunden: die Beschleunigung. Die jedoch etablierte sich als ein vom wahrgenommenen, „natürlichen“ Zeitverlauf abstrahierender Faktor.

Ordnung des Lichts

Nichts bewegt sich schneller als das Licht – die Lichtgeschwindigkeit ist die Grenze für Bewegung, mit der Energie von einem Ort an einen anderen gelangen kann, das heißt Materie kann niemals auf ihre Geschwindigkeit beschleunigt werden. Dabei – und das ist die bedeutende Entdeckung von Albert Einstein – ist die Geschwindigkeit des Lichtes stets konstant, während Raum und Zeit immer nur relativ angegeben werden können, das heißt immer nur in Bezug auf eine Beobachtungsposition. Das führt für den Medienphilosophen Paul Virilio („Rasender Stillstand“ 1990) zu der Erkenntnis, dass einerseits „die Dauer und Ausdehnung der Materie ausschließlich zugunsten des Lichts relativiert werden“, andererseits die noch für Immanuel Kant so wichtige Ordnung von Raum und Zeit, die sich aus dem Zyklus des Sonnenlichtes ergab, mit der neuen Relativität zur Ordnung der Geschwindigkeit wird, schließlich ist sie fortan die einzige Konstante.

Gewissheit kann also seit Einstein nur über die (absolute) Geschwindigkeit bestehen, nicht mehr über Raum und Zeit. Deshalb kann Virilio sagen: „Künftig müssen mit der chronologischen `Bewegung´: Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart die Phänomene der Beschleunigung und der Verlangsamung verknüpft werden.“ Denn seit Einstein gelte, schreibt Virilio, was schon der Apostel Paulus über die Elastizität des göttlichen Standpunktes sagte, „daß ein Tag bei dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag“ (2. Petrus 3,8).

Darüber hinaus müsse, gerade da die Ordnung der (absoluten) Geschwindigkeit eine Ordnung des Lichts sei, unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft „miteinander verbundene Figuren der Unterbelichtung, der Belichtung und der Überbelichtung werden“. Mit dem Primat des Lichts beziehungsweise der als unüberschreitbar wahrgenommenen Lichtgeschwindigkeit verändere sich die Zeitlichkeit und wir treten, Virilio zufolge, in eine „Ordnung der Sichtbarkeit (…): die Zeit der Chronologie und der Geschichte, die vorübergeht, wird ersetzt durch eine Zeit, die sich belichtet, die sich der absoluten Geschwindigkeit des Lichts aussetzt.“

Virilio erklärt das über die Veränderung der bildhaften Darstellung durch die „Beschleunigung der Zeit“: Beobachtungen im atomaren oder subatomaren Maßstab können nicht mehr über einfache optische Teleskope erfolgen, sondern müssen über ein Elektronenmikroskop gemacht werden, wo man sich zunutze macht, „dass mit jedem in Bewegung befindlichen Körper eine Welle mit der Bezeichnung `Wahrscheinlichkeitswelle´ verbunden ist“. Diese mit den beschleunigten Elektronen verbundenen Welle wird genutzt, „um – wie mit einem gewöhnlichen Licht – die kleinsten Einzelheiten der Moleküle der Materie zu sehen. Je stärker sich aber die Größe der beobachteten Phänomene verringert, um so mehr müssen Sonden mit immer geringerer Wellenlänge benutzt werden, das heißt Teilchenbündel mit immer größerer Energie“, erzeugt durch sogenannte Teilchenbeschleuniger wie im Europäischen Kernforschungszentrum CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) in Genf.

Auf die immer kürzere Belichtungszeit im Teilchenbeschleuniger, von der Sekunde bis auf das Milliardste einer Sekunde, ist die von Virilio diagnostizierte Veränderung der Darstellung zurückzuführen, die uns zu einem Bereich jenseits der chronologischen Abfolge führt: „Wenn früher das Vorbeigehenlassen der Zeit dazu diente, die Zeit indirekt vorbeigehen zu sehen, wobei die Dauer eine fortschreitende Enthüllung der Ereignisse war, dann ist es heute … nicht mehr der fortschreitende Charakter, die Extensivität der Zeit, die dem Sehen dient, sondern der intensive Charakter, die maximale Intensität der Geschwindigkeit des Lichts (…) Nunmehr ist das `Licht der Zeit´ nicht mehr das des Sonnentages, das eines mehr oder weniger strahlenden Sterns, sondern es ist das der absoluten Geschwindigkeit der Photonen, das Wirkungsquant des Lichts, Maß und äußerste Grenze der wahrgenommenen Welt.“

Auf diese Weise habe das Licht, so Virilio, „unsere Umwelt in einem solchen Maße erhellt, daß es in unseren Augen nicht mehr wie ein einfaches `Darstellungsmittel´ erscheint, … sondern wie ein wirkliches `Informationsmittel´. Hieraus erklärt sich der Aufschwung der Informatik (…) bei der die einzige Maßeinheit das Bit/Sekunde ist, das die Menge der durch eine `Nachricht´ übermittelten Informationen bezeichnet, wobei das Bild die höchstentwickelte Form der Information bleibt.“

Wie nun im binären System die Null und die Eins, stehen die Dunkelheit und das Licht schon immer am Anfang der Information der Zeit. Folgerichtig müsste „dem Tag der astronomischen Zeit … noch der Tag der technischen Geschwindigkeit hinzugefügt werden: vom chemischen Tag der Kerzen, dem elektrischen Tag der Lampe Edisons …, bis zum elektronischen Tag der Terminals“, des flimmernden Bildschirms, „diesem Zwielicht des indirekten Lichts der Lichtgeschwindigkeit, das die Wellen verbreiten“. (Damit ist gleichsam auch eine Geschichte der Praxis der öffentlichen Darbietung, der Theateraufführung beschrieben, die untrennbar mit dem Licht verbunden ist.)

Spätestens mit dem indirekten Licht des Bildschirms, das die elektrische Beleuchtung ersetzt wie diese zuvor den Tagesanbruch erneuert hat, bewahrheitet sich der Eingangs zitierte Satz des Bernhard von Clairvaux, wonach sich „(d)as Licht Schatten des lebendigen Lichts nennt“.

Schatten des lebendigen Lichts

Bei Virilio ersetzt der Begriff der Energie den der Entfernung, das heißt, „(d)ie Veränderung der gewohnten Begriffe von Raum und Zeit hat in der Tat zu einer Erweiterung des Prinzips der Relativität auf den alten Begriff der Fläche, der Oberfläche geführt, die zu seiner Ersetzung durch den Begriff des Interface führte, ein zu gering geachteter Begriff, der doch die Fläche in seiner medialen Beziehung herstellt …“ Ersetzt man das Wort Interface mit Touchscreen versteht man, was Virilio meinte, als er schrieb: „Es ist also nicht mehr eigentlich der Gebrauch, der den Raum kennzeichnet, sondern im wesentlichen das Bild, die Übersicht.“

Schon für Virilio ist „die dritte Dimension nicht mehr das Maß der Ausdehnung, die Oberflächengestalt nicht mehr die Realität. Diese verbirgt sich nunmehr in der Flachheit der Bilder.“ Schon damals wurde der Bildschirm zur neuen Wirklichkeit – und entsprechend ist er es heutezutage, geht es doch schon länger nicht mehr darum, unsere Umwelt körperlich, physisch zu gestalten, sondern darum, diese „Umwelt mit Hilfe der Techniken der realzeitlichen Interaktion zu kontrollieren“, wie Virilio sagt. Angesprochen ist damit gleichsam auch die Frage nach unserem Bezug zur Welt beziehungsweise die Frage, wie sich unser Weltverhältnis insgesamt ändert, wenn der Bildschirm zum Leitmedium all dieser Beziehungen wird?

Folgt man dem Soziologen Hartmut Rosa („Resonanz“ 2019) treten im Zeitalter digitaler Globalisierung soziale und physische Nähe zunehmend auseinander und auch soziale Relevanz wird zunehmend von räumlicher Nähe entkoppelt. Stattdessen leiten Bildschirme beziehungsweise Touchscreens inzwischen weitestgehend unsere Interaktionen mit der Welt, das heißt, es „läßt sich ohne Übertreibung oder Alarmismus sagen: Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der der größte Teil unserer Weltbeziehungen bildschirmvermittelt und in der unser Weltverhältnis als ganzes bildschirm-symbolvermittelt geprägt ist“. Symbolvermittelt war der Bezug zwar auch schon über das Buch, bedeutender erscheint Rosa aber, dass der Bildschirm „zum uniformen Medium nahezu aller Weltbeziehungen (wird). (…) Wie arbeiten am Bildschirm, wir informieren uns über den Bildschirm, wir identifizieren uns mittels der Bildschirme, wir spielen an ihnen, wir kommunizieren mit ihrer Hilfe, wir zerstreuen und unterhalten uns über Bildschirme …“

Das hat für Rosa zur Konsequenz, dass unser Verhältnis zur Welt über den stets gleichen Kanal, mit den stets gleichen Augen- und Daumenbewegungen gesteuert wird (solange sich die Sprachsteuerung noch nicht gänzlich durchgesetzt hat bleibt die Daumen-Wisch-Bewegung die epochemachende Kulturtechnik) und dadurch unsere physische Welterfahrung extrem reduziert wird. „Die Welt“, sagt Rosa, „mit der wir interagieren, kommunizieren, an der wir arbeiten und in der wir spielen, riecht nicht, sie hinterlässt keine Gravitationswirkungen und taktilen Empfindungen und lässt keine Geschmackswahrnehmungen zu. Tatsächlich sind wir bei der Tätigkeit am Bildschirm nicht mit der ganzen Person im Welt-Raum, mit dem wir interagieren. (…) Die Aufmerksamkeit, das Bewusstsein und die gerichteten Körperäußerungen sind auf einen winzigen Ausschnitt des physischen Raumes – das Display – konzentriert.“

Auch ohne das gleich als pathologisch zu betrachten, ist damit dennoch ein Moment der Entfremdung verbunden, erfahren wir vor dem Bildschirm doch nur noch isolierte Handlungs- und Erlebnisepisoden ohne jede Resonanz, das heißt integrierende oder bedeutsame Beziehung zueinander. Rosa bemerkt in diesem Zusammenhang: „Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Menschen digitale Medien und Bildschirme benutzen, um Kontakte zu anderen Menschen herzustellen und auf diese Weise Weltbeziehungen zu sichern. (…) Erstaunlich ist indessen, dass all diese großen und kleinen Resonanzsignale keine Nachhaltigkeit zu entfalten scheinen …“ [SWIPE]

[MAN VERBRAUCHT ETWA 0,00000002 KALORIEN PER SWIPE]

Lichtgeschwindigkeit

Wie bereits Virilio darlegte, ist mit der neuen Ordnung des Lichts, dem Paradigma der Lichtgeschwindigkeit sozusagen, eine Veränderung der Wahrnehmung von Raum und Zeit verbunden – und darüber eine Veränderung unserer Erfahrung: Immer kürzere Belichtungszeiten, im Teilchenbeschleuniger im CERN wie in unserem Bewußtsein, haben unsere Vorstellung und Wahrnehmung der Wirklichkeit dahingehend verändert, dass isolierte Erlebnis- und Handlungsepisoden unabhängig von ihrer Chronologie, also auch ohne integrierende Beziehung zueinander, immer bedeutsamer, unsere Erfahrungen jedoch zunehmend anachronistisch werden. Anders gesagt: Unser Leben wird immer ereignisreicher, aber zunehmend erfahrungsärmer und „leerer“, wie Virilio sagt.

Ähnlich wie die Nullen und energiegefüllten Einsen unserer binären Systeme erleben wir unser Leben oftmals als fortwährenden aber richtungslosen Wandel, bei dem sich eine Episode an die nächste reiht, ohne jede geschichtliche Entwicklung und ohne die Vorstellung von Fortschritt. So ist zwar, Rosa zufolge, „der Übergang von der dominanten kulturellen Erfahrung gerichteten Wandels (Fortschritt) zur Wahrnehmung zielloser episodischer Bewegung eines der zentralen Bestimmungsmerkmale des Übergangs von der `klassischen´ zur Spätmoderne“; Allerdings wird damit auch zunehmend die Idee authentischer Selbstverwirklichung unmöglich, „welche sich als ein unverzichtbares modernes Korrelat zur Autonomie erwies: Verlangt Autonomie, dass wir uns selbst bestimmen, so soll der Maßstab der Authentizität gewährleisten, dass wir uns `richtig´ zu bestimmen vermögen, nämlich so, dass wir uns selbst verwirklichen können.“ Nun jedoch kollidiert der aus dem Authentizitätsgedanken resultierende Auftrag, herauszufinden, wer wir wirklich sind, mit der sozialstrukturell erzeugten „Zumutung, uns immer wieder `neu zu erfinden´ und kreativ zu bestimmen. Dass auch diese Neuerfindung noch `ganz authentisch´ erfolgen soll, gehört zu den zugespitzten Paradoxien der Gegenwart“, sagt Rosa. Das Telos unseres Lebens ist verloren gegangen …

Die Auswirkungen der Beschleunigung beziehungsweise des Paradigmas der Lichtgeschwindigkeit, dem Ultimativen als letztgültigem Wert, auf die Wirklichkeit und das Raum-Zeit-Regime, also die Wahrnehmung und Organisation von Raum und Zeit sind also enorm. Hartmut Rosa schreibt in diesem Zusammenhang in „Beschleunigung und Entfremdung“ (2013): „Der `natürliche´ (sprich: anthropologische) Vorrang des Raumes über die Zeit in der menschlichen Wahrnehmung, der in unseren Sinnesorganen und den Effekten der Schwerkraft verankert ist … wird scheinbar umgekehrt: Im Zeitalter der Globalisierung und der Ortlosigkeit des Internets wird Zeit mehr und mehr so verstanden, daß sie den Raum komprimiert oder gar vernichtet. Der Raum scheint sich dank der Geschwindigkeit geradezu `zusammenzuziehen´. (…) In diesem Prozeß verliert der Raum in vielen Hinsichten an Bedeutung für unsere Orientierung in der spätmodernen Welt. Abläufe und Prozesse sind nicht länger lokalisiert, und tatsächliche Orte … tendieren dazu, `Nicht-Orte´ zu werden, also Orte ohne Geschichte, Identität oder Beziehung.“

Geht man davon aus, dass Menschen körperhafte Wesen sind und sich deshalb in der Welt als räumlich ausgedehnt und sich selbst als räumlich situiert erfahren, dann ändert sich mit dem Bedeutungsverlust des Raumes auch der Fokus unseres Lebens: An die Stelle der räumlichen Ausdehnung rückt das Display – und „(t)atsächlich sind wir bei der Tätigkeit am Bildschirm nicht mit der ganzen Person im Welt-Raum, mit dem wir interagieren“, um diesen Satz von Harmut Rosa hier nochmal aufzugreifen. Stattdessen bemächtigt sich das zeitliche Diktat des hic et nunc, des Hier und Jetzt, unserer Aufmerksamkeit. Und dessen privilegierter Ort ist gewissermaßen der liegende Leib, auf den unser Wahrnehmung des Raumes zusammengeschrumpft ist. „Die liegende Stellung – berücksichtigt man, daß sie die gemütlichste ist – müßte die Nullstellung sein …“, sagt Virilio. Und aus dieser liegenden Stellung heraus deterritorialisieren wir unseren Körper, indem wir ihn qua Touchscreen auf „Raumfahrt“ schicken. Dabei haben den „Null-Punkt“ beziehungsweise die „Null-Höhe“ (ground zero) die Piloten von Apollo XI bei der Beendigung des Mondlandemanövers 1969 ausgesprochen (Apollon, der in der griechischen Mythologie den Sonnenwagen lenkt, war Namensgeber für die Apollomission, das Mondlandeprojekt der NASA). Das jedoch, das heißt diese „Landung des Menschen auf einem anderen Planeten, stellte uns auf den Balkon über der Leere“ (Virilio) – seither fehlt uns jedes telos, jede Orientierung außerhalb unseres eigenen Körpers.

Das allerdings ist entscheidend: „Der Verlust des Bezugs zum ursprünglichen Boden als `absoluten Boden´ hat zur zweifelhaften Konsequenz, diese phänomenologische Zentrierung auf den `eigenen Körper´ zurückzuverweisen auf die Körperlichkeit des Anwesend-Lebenden“ auf eben dieser „Erde des Archetypus einer jeden körperlichen Räumlichkeit, verlorene Arche der Bewegungserfahrung“, schreibt Virilio. (Darin unterscheidet sich der Mondflug der NASA auch vom Raketenflug der Nazis unter Wernher von Braun, „denn der Raum, von dem der Techniker aus Peenemünde spricht, ist nicht mehr der volle Raum der ersten Arche, sondern gerade der leere Raum eines außerirdischen Vehikels …“)

Die von Virilio diagnostizierte Ordnung des Lichtes beziehungsweise das Paradigma der Lichtgeschwindigkeit hat uns im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen weggezogen, indem sie neue Zeit- und Raumerfahrungen produzierte. Trotzdem haben sich noch Inseln erhalten, die dieser Entwicklung entgegenstehen, als wäre „die Zeit stehengeblieben“. Einer derjenigen, der auf einer solchen Insel lebt, ist Josko Gravner …

Ein Lichtblick

Josko Gravner ist Uralt. Und das ist auch das, was er tut: er macht Vini Naturali in Italien beziehungsweise im italienisch-slowenischen Grenzgebiet, genauer gesagt in Friaul-Julisch Venetien. Josko Gravner ist also ein Grenzgänger – zwischen Italien und Slowenien, zwischen Gestern und Heute. Denn er gilt als Urvater des Naturweins, zumindest in Italien: Seine 18 Hektar bewirtschaftet er streng nach biodynamischen Grundsätzen und seine mitunter botrytisierten Weine liegen jahrelang auf den eigenen Hefen in jenen grossen Amphoren, in denen schon ganz urprünglich, vor tausenden Jahren, Wein mazerierte, bevor er (zumeist im rituellen Zusammenhang) getrunken wurde.

Dabei hat Josko Gravner einst ganz konventionell mit Stahl, Barriques und internationalen Rebsorten gearbeitet, bevor er im Jahr 2001 komplett umstellte und fortan nur noch Ton, Holz und Glas als Material verwendete: Die internationalen Rebsorten hat er entfernt und stattdessen einheimische Sorten wie Ribolla Gialla und die rote Pignolo angepflanzt. Inzwischen gibt es bald nur noch diese beiden Rebsorten – die seit Jahrhunderten in dieser hügeligen Region zwischen den beiden Mittelmeerländern heimisch sind.

In dieser Region treffen romanische und slawische Kultur aufeinander – und sogar die Weine von Gravner sind „zweisprachig“: Mehr als die Hälfte der Rebberge, immerhin 18 Hektar und 15 davon in Produktion, liegen jenseits der Grenze in Slowenien. Dennoch werden die Trauben in Italien gekeltert – in seinem Gut in Oslavia. Und gerade dieser Keller hat ihn berühmt gemacht: Hier stehen die inzwischen über vierzig Amphoren, alle in der Erde vergraben. In diesen monumentalen Tongefässen läßt er seine Weine jahrelang mazerieren.

Die eingegrabenen Tongefässe heißen „Quevri“ und stammen ursprünglich aus Georgien, aus dem Kaukasus also. Mitunter jahrelang verbleiben die Weine in diesen Gefässen, die bis zu 1.300 Liter fassen, das heißt, wenn sie auch nicht jahrelang in den Quevri selbst verbleiben, so doch im Anschluß daran jahrelang im Holzfass, bevor sie vermarktet werden: sieben Jahre mindestens bei seinen „Annata“–Weinen, zwei mal sieben Jahre – also vierzehn Jahre insgesamt – bei der „Riserva“. Denn an diesen Sieben-Jahres-Rhythmus glaubt Josco Gravner. Auch deshalb läßt er sieben statt sechs Triebe pro Pflanze übers Jahr stehen … und vielleicht auch um seine 30.000 Flaschen jährlich zu sichern, vielleicht.

Josko Gravner begann 1996 mit Naturwein und mit langer Mazeration und ohne Temperaturkontrolle zu experimentieren. Sukzessive verbannte er die Stahltanks aus dem Keller und begann seine Weine in tönerenen Amphoren zu keltern und auszubauen. Und auch auf Drahtrahmenerziehung verzichtet er – seine Reben wachsen als Alberello, das heißt als Busch –, schon seit Jahrtausenden ist das im Mittelmeerraum Tradition. Mag sein, dass sich sogar Rudolf Steiner, der Begründer der Biodynamie daran orientiert hat – wie auch immer … Josko Gravner arbeitet jedenfalls seit Mitte der 1990er-Jahre nach diesem Prinzip.

Geht man mit Harmut Rosa davon aus, dass sich unsere moderne Gesellschaft nicht mittels explizit nomativer Regeln reguliert und koordiniert, sondern durch die stumme normative Kraft zeitlicher Normen, die uns als „Deadlines“ und anderen zeitlichen Grenzen und vermeintlichen Notwendigkeiten entgegentreten – dann fühlt sich Gravner davon nicht betroffen. Er läßt sich Zeit mit seinen Weinen, denn: „Se il vino non tocca il cuore e l`anima, è solo una bibita“ (Wenn der Wein nicht das Herz und die Seele berührt, ist er nur ein Getränk). In diesem Sinn: Nehmen wir uns die Zeit!

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Essay

taste by taste

Als Sommelier fasziniert mich der Gedanke, beim Wein die ganze „Welt im Glas“ zu schmecken. Ein Essay zum Phänomen des Geschmacks …

„Kann man dem Wein … einen Gebrauch verstatten, der bis nahe an die Berauschung reicht; weil er doch die Gesellschaft zur Gesprächigkeit belebt, und damit Offenherzigkeit verbindet? – Oder kann man ihm wohl gar das Verdienst zugestehen, das zu befördern, was Seneca vom Cato rühmt: virtus eius incaluit mero? [„Dieser habe seine Tugend durch Wein gestärkt.“] – Der Gebrauch des Opium und Branntweins sind, als Genießmittel, der Niederträchtigkeit näher, weil sie, bei dem geträumten Wohlbefinden, stumm, zurückhaltend und unmitteilbar machen, daher auch nur als Arzneimittel erlaubt sind. – Wer kann aber das Maß für einen bestimmen, der in den Zustand, wo er zum Messen keine klare Augen mehr hat, überzugehen eben in Bereitschaft ist? Der Mohammedanism, welcher den Wein ganz verbietet, hat also sehr schlecht gewählt, dafür das Opium zu erlauben.“

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797)

„Und ihr sagt mir, Freunde, dass nicht zu streiten sei über Geschmack und Schmecken? Aber alles im Leben ist Streit um Geschmack und Schmecken! Geschmack: das ist Gewicht zugleich und Wagschale und Wägender; und wehe allem Lebendigen, das ohne Streit um Gewicht und Wagschale und Wägende leben wollte!“

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883)

Die geradezu religiöse Gestik, mit der mein Vater den rätselhaften sinnlichen Versprechen huldigte, die kreisenden Bewegungen der Flüssigkeit im Glas, das seine Hand gegen das Licht erhob, der konzentrierte Ausdruck auf seinem Gesicht, wenn er den würzigen Duft einsog und anschließend das Glas ansetzte, um unter Schlürfen den ersten Schluck die Lippen passieren zu lassen, gefolgt von den genüsslichen Bewegungen des Mundes: hinter all dem musste eine geheimnisvolle Welt verborgen liegen. Allein der selige Ausdruck auf seinem Gesicht, wenn der Schluck die Kehle passiert hatte, sich die vormalig konzentrierte Anspannung löste und das Geschmackserlebnis seine abschließende Beurteilung erfuhr, kündete von diesem Versprechen. Und ich war nur allzu bereit, den Regeln der Zeremonie zu folgen.“

Der 13-jährige Stephan Zandt auf den Spuren seines Vater in: ders., Die Kultivierung des Geschmacks, Berlin/Boston (2019)

Schon vor längerer Zeit hat Wein seine Exklusivität verloren – wie auch die französische „Haute Cuisine“ ihre dominierende Bedeutung. Ein habitueller Wandel hat stattgefunden und es lässt sich zunehmend eine kosmopolitische Haltung hinsichtlich der kulinarischen Genüsse beobachten – zumal in Metropolen wie Berlin, wo es möglich ist, sich Essen und Trinken einzuverleiben, das „gleichsam ein Abriss der ganzen Welt ist, wo jedes Land in vorteilhaftester Weise repräsentiert wird“, wie der französische Gastrosoph Jean-Anthelme Brillat-Savarin in seiner „Physiologie du Goût“ schon 1826 sagte.

So ähnlich empfinde ich es auch: mich fasziniert beim Wein der Gedanke, die ganze Welt im Glas zu haben, sie zu erschmecken gewissermaßen, und darüber ein Bewusstsein für die natürlichen, sozialen und kulturellen Entstehungsbedingungen des Weines zu entwickeln. Jeder Schluck eine neue Offenbarung sozusagen. Und es freut mich, über den Geschmack die Welt zu entdecken. Zumal dann, wenn man am Reisen ohnehin gehindert ist … Zeit also, sich einmal mit dem Phänomen des Geschmacks auseinander zu setzen.

Geschmack und Geschmackssinn

Unser Geschmack ist den Geschmacksnerven zu verdanken, die damit verbundene Wahrnehmungsleistung ist das Schmecken (Gustatorik von lateinisch gustare = kosten, schmecken). Geschmack besteht in einem engeren Sinn aus sechs verschiedenen, über die Zunge und teilweise auch über die Rachenschleimhaut aufgenommenen Geschmacksrichtungen: bitter, salzig, sauer, süß, umami (fleischig) und neuerdings auch fettig (seit dafür 2011 eigene Rezeptoren festgestellt wurden). Diese Geschmacksrichtungen werden von Rezeptorzellen wahrgenommen, die in Knospen angeordnet sind, die sich vornehmlich auf der Zunge in den Geschmackspapillen, aber auch in der Rachenschleimhaut befinden. Etwa 25 Prozent sind auf den vorderen zwei Dritteln der Zunge, weitere 50 Prozent auf dem hinteren Drittel angeordnet, wobei man inzwischen davon ausgeht, dass es keine dezidierten Bereiche für die einzelnen Geschmacksrichtungen gibt, sondern sich die Rezeptoren dafür auf die ganze Zunge verteilen.

Die Zunge eines erwachsenen Menschen verfügt über bis zu 5.000 Geschmacksknospen, die aus je etwa 100 Zellen bestehen. In der Membran dieser Zellen befinden sich Rezeptoreiweiße, an die die Geschmacksstoffe andocken und dabei biochemische Prozesse auslösen – der Geschmackssinn zählt, wie auch der Geruch, zu den chemischen Sinnen –, aus denen elektrische Impulse entstehen, die von den Nerven ins Gehirn geleitet werden. Das heißt Geschmacksempfindungen werden über die Nerven an das Gehirn weitergeleitet, wo Nervenzellen die elektrischen Geschmacksreize analysieren und identifizieren und Botenstoffe (wie Endorphine) und entsprechende Erregungsmuster beziehungsweise Gefühlsempfindungen hervorrufen.

Im Gegensatz zu Geschmacksstoffen sind Aromastoffe Duftstoffe, die natürlich nicht auf der Zunge, sondern von Rezeptoren auf einer kleinen Fläche im oberen Nasenhöhlen-Raum, wo sich die Sinneszellen des Geruchssinns in der Riechschleimhaut befinden, als Geruch wahrgenommen werden. Mit ihrem Geruchssinn ist die menschliche Nase der Zunge beziehungsweise dem Gaumen zwar überlegen, beim Schmecken und Verkosten jedoch vermischen sich die im Gehirn empfangenen Geschmacks- und Geruchseindrücke zu einem Gesamteindruck, sodass der definitive Ursprung nicht mehr auszumachen ist. Beim Geschmack handelt sich im weiteren Sinn insofern um einen retro-nasalen Prozess, das heißt, die Geschmacksempfindung ist ein komplexes Geschehen sowohl des gustatorischen Geschmacks- als auch des olkfaktorischen Geruchssinns. Das wird darüber hinaus noch ergänzt mit taktilen (trigeminalen) Tast-, Schmerz- und Temperatur-Informationen aus der Mundhöhle, wozu beispielsweise scharfe (heiße), spritzige (prickelnde) und adstringierende Empfindungen (bei tanninreichen Rotweinen) gehören.

Geschmack wurde im Verlauf der Evolution entwickelt, um für das Überleben notwendige Rückschlüsse auf den Nährwert zu ermöglichen: So steht süß für kohlenhydratreiche Speisen, fett und umami für proteinreiche mit hohem Nährwert, während Salz den Mineralhaushalt im Körper beeinflusst. Fast wichtiger aber sind bitterer und saurer Geschmack, deren Funktion darin besteht, vor giftigen oder verdorbenen Lebensmitteln zu warnen.

Ist die Geschmackswahrnehmung gestört, wird das als Dysgeusie, der Ausfall des Geschmackssinns als Ageusie bezeichnet. Verschiedene Krankheiten können dazu führen – und neuerdings leider auch der sogenannte Coronavirus.

Eine Infektion mit dem Coronavirus kann zu massiven Veränderungen des Geschmacks-, insbesondere aber des Geruchssinns führen (Autopsien haben ergeben, daß die Virenlast in der Riechschleimhaut, die die Sinneszellen des Geruchssinns enthält, am höchsten ist). Sie kann sogar zum vollständigen Verlust führen, sagt Kathrin Ohla vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin des Forschungszentrums Jülich in einem Gespräch mit der Helmholtz-Gesellschaft (vom 15. Juli 2020). Das Bemerkenswerte sei dabei die Heftigkeit der Empfindungsstörung: die Auswertung einer Umfrage unter tausenden infizierten Personen ergab, dass der Großteil der Befragten einen vollständigen Verlust des Geruchs- und Geschmacksvermögens beklagten. Unter allen Befragten ging das Geruchsvermögen durchschnittlich um rund 80 Prozent zurück, die Einbußen beim Geschmack lagen bei rund 70 Prozent und bei taktilen Irritationen bei rund 37 Prozent.

Infizierte Personen geben an, wohl sehr gut durch die Nase atmen zu können, beklagen aber von Anfang an einen Geruchsverlust, der vor allen anderen Symptomen eingetreten ist. Das Virus befällt das Geruchssystem also direkt, wirkt aber auch auf andere Systeme ein, so sind ja eben auch Geschmack und taktile Irritation betroffen, die davon unabhängige Sinnessysteme sind. (Ausserdem breitet sich das Virus von der Riechschleimhaut über die Nervenbahnen bis ins Gehirn aus, wo Atmung und Blutkreislauf kontrolliert werden. Es wird vermutet, das es seinen Weg von Nervenzelle zu Nervenzelle geht, gleichzeitig jedoch auch über das Blutgefäßsystem transportiert wird, von wo aus verschiedene Entzündungen und Durchblutungsstörungen, auch Schlaganfälle, ausgelöst werden, die letztlich den Tod bewirken können.)

Das Geruchssystem ist das einzige System, bei dem die Sinneszellen Neuronen sind, während das Geschmackssystem Hautzellen hat, die sich hauptsächlich auf der Zunge befinden. Es scheint so zu sein, dass die Nervenzellen im Geruchssystem im Zuge einer Virusinfektion zunächst absterben – es ist aber auch das einzige System, bei dem sich Neuronen erneuern können, auch wenn das durchaus mehrere Monate dauern kann. Für die Betroffenen ist diese Erneuerungsphase dennoch äußerst belastend, da sie während dieser Zeit unter einer sogenannten Parosmie leiden, wodurch sich der Geruchssinn negativ verändert und Gerüche plötzlich völlig anders (falsch) wahrgenommen werden – und leider extrem unangenehm bisweilen. Kathrin Ohla sagt in diesem Zusammenhang: „Es gibt leider keine angenehmen Parosmien, es riecht nie nach Blume. Das ist sehr belastend für die Patienten, aber ein Zeichen dafür, dass sich das System heilt. Die Wahrscheinlichkeit ist dann sehr hoch, dass ein Großteil des Geruchssinns wiederkehrt.“ Die Wahrscheinlichkeit, dass Geruchs- und Geschmackssinn mit der Zeit zurückkehren, ist größer als dass die Sinne dauerhaft betroffen bleiben, sagt Ohla, allerdings Fehlen noch belastbare Untersuchungen diesbezüglich.

Während die Erholung des abgestorbenen Geruchssinns also durchaus problematisch verläuft, erneuern sich die Hautzellen auf unserer Zunge alle 14 Tage. Entsprechend ist der Einfluss des Virus hier weniger dramatisch, wie die Betroffenen berichten. Gleichwohl nimmt die Anzahl der Geschmackspapillen auf unserer Zunge mit zunehmendem Alter ab – und damit die Fähigkeit Geschmack in seiner ganzen Komplexität wahrzunehmen.

Wahrnehmung als sinnliche Erkenntnis bei Johann Gottlieb Baumgarten

Geschmack ist also zunächst eine Wahrnehmungsleistung, mit der jedoch aus unserer heutigen Perspektive durchaus auch eine Erkenntnisleistung verbunden ist. Dieses Verständnis von Wahrnehmung als sinnlicher Erkenntnis geht auf Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) zurück, der in seiner 1750 veröffentlichten Aesthetica erstmals Wahrnehmung und Erkenntnis verbindet und der rationalen Erkenntnis – und damit dem Rationalismus der Aufklärung insgesamt – die Sinnlichkeit als Erkenntnismodus entgegensetzt.

Baumgarten begreift Ästhetik als ein besonderes Wahrnehmungsvermögen, nämlich als Aisthesis. Ästhetik als Aisthesis hat ihren Ursprung als Wahrnehmung in den Sinnesorganen, das heißt sie bezieht sich auf die menschlichen Sinne, die unseren Wirklichkeitsbezug garantieren. Schließlich liegt hier auch die Wurzel des Begriffs der Ästhetik, der sich etymologisch auf das griechische Substantiv aisthesis zurückführen läßt, das nichts anderes bedeutet als Wahrnehmung. Gleichzeitig erfolgt damit bei Baumgarten auch eine Aufwertung der sogenannten niederen Erkenntisvermögen, die zwar keine distinktiven Erkenntnisse produzieren, aber eben dennoch kognitive Bedeutung haben.

Im ersten Teil seiner Aesthetica versucht Baumarten vermittels 904 Paragraphen, die logisch aufeinander aufbauen und untereinander vernetzt sind, Ästhetik als eine Theorie „sinnlicher Erkenntnis“ (cognitio sensitiva) zu begründen, als eine Form der Erkenntnistheorie also, mit der insbesondere auch der Widerspruch zwischen Sinnlichkeit und Vernunft aufgehoben werden soll: Sinnliche Erkenntnis soll, wie Baumgarten in § 14 ausführt, den auf propositional-begriffliche Erkenntnis hin angelegten Verstand und mit ihm das instrumentelle Wissen erweitern und hat die Schönheit zum Ziel. Er schreibt: „Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Diese aber ist die Schönheit.“

Schönheit wird für Baumgarten nicht in einem Erkenntnisobjekt „erkannt“, sondern ergibt sich im Erkenntnisprozess des wahrnehmenden und erkennenden Subjekts. Dabei geht es nicht darum, sinnliche Erkenntnis in eine distinkte und begriffliche Verstandeserkenntnis zu überführen (Wahrnehmung ist hier also nicht dem Verstand vorangestellt und wird nicht der Ratio, der Vernunft, zugeführt, die für Baumgarten mit einer Abstraktionsleistung verbunden ist; Und „was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust?“, fragt er in § 560), sondern hat einen Wert als solches, nämlich Schönheit. Insofern ist sinnliche Erkenntnis zwar noch eine cognitio confusa, allerdings nicht als Gegensatz zur Klarheit, sondern zur Distinktheit der begrifflichen Erkenntnis. Das heißt, für Baumgarten ist sinnliche Erkenntnis auf die Wahrnehmung von Phänomenen spezialisiert, nicht um sie in ihrer Zusammensetzung zu analysieren und begrifflich zu definieren, sondern um sie in der Fülle ihrer Merkmale zu vernehmen. Es geht also nicht um ein klassifizierendes Allgemeines, sondern um das Erkennen des Besonderen. Insofern handelt es sich um ein komplementäres Erkenntnisvermögen – und ein „vollständiges“ Erkennen ergibt sich für Baumgarten nur in der Verbindung von sinnlicher und rationaler Erkenntnis, von Sinnlichkeit und Vernunft.

Für Baumgarten sind Sinnlichkeit und Vernunft einander inkommensurabel, das heißt, das sinnliche Leben wird durch die Logik, das abstrahierende Denken und die sprachlich-gedankliche Analyse nicht erkannt, sondern sinnliche Erkenntnis hat ihre eigene Form von Vollkommenheit: Sie besteht nicht in analytischer, logischer Deutlichkeit, sondern sie ist Schönheit und diese ist die Art und Weise der Sinne, die Vollkommenheit (die Baumgarten auch als Harmonie begreift) zu erkennen und vorzustellen.

Schönheit als Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis geht insofern nicht über den Verstand, sondern eher über die Affektivität (Lust und Unlust). Sie ist nicht begrifflich vermittelt, sondern über die affektive Beurteilung (Miss- oder Gefallen) des Wahrnehmenden vermittelt – und dann geht es auch darum, ob der Affekt angenommen oder abgelehnt wird (ob ein Wein „gefällt“ beispielsweise, oder eben nicht). Damit jedoch schränkt Baumgarten die Ästhetik auf die Schönheit ein und es geht „genaugenommen nicht um Erkenntnis, sondern um Beurteilung“, bemerkt Gernot Böhme in seinen Vorlesungen über „Aisthetik“ (2001): Die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis, Schönheit, ist kein objektives Prädikat des Erkenntnisgegenstandes, sondern wird in einem Urteil ausgesagt („der Wein schmeckt gut“), genauer gesagt in einem Geschmacksurteil – wie bei Immanuel Kant.

Geschmack und Geschmacksurteil bei Immanuel Kant

Von Anfang an provoziert die Identifizierung der Aisthesis, der Wahrnehmung als Erkenntnis bei Baumgarten, eine Gegenüberstellung mit anderen Erkenntnisvermögen wie dem Verstand beziehungsweise der Vernunft, die ihr wiederum eine untergeordnete Stellung zuweisen. Schon bald nach Baumgarten setzt deshalb ein Diskurs ein, in dessen Verlauf ein besonderes Vermögen Konturen gewinnt, das zum Genuss und zur Beurteilung der Schönheit befähigt, nämlich der Geschmack. Ähnlich wie für Baumgarten die Wahrnehmung, besitzt auch der Geschmack mehrere Bedeutungsdimensionen: Er ist einerseits ein Begriff aus der Kulinarik – darüber hinaus aber bezieht er sich im Griechischen, im Lateinischen und den aus ihnen hervorgegangenen modernen Sprachen etymologisch und semantisch auch auf einen Sinnbezirk, der den Erkenntnisakt betrifft, wie Giorgio Agamben in seiner Abhandlung über „Geschmack“ (2020) bemerkt. Schon im 12. Jahrhundert nämlich wird Weisheit mit dem Geschmack in Verbindung gebracht, weil – wie Agamben aus einer Schrift aus dieser Zeit zitiert – „wie der Geschmackssinn geeignet ist zur Unterscheidung des Gechmacks der Speisen, auch der Weise die Fähigkeit besitzt, die Tatsachen und ihre Ursachen zu erkennen“. Später dann notierte sich Friedrich Nietzsche in diesem Zusammenhang zum griechischen Wort sophós, „der Weise“: „Etymologisch gehört es zu sapio schmecken, sapiens der Schmeckende, saphés schmeckbar. Wir reden vom `Geschmack´ in der Kunst: für die Griechen ist das Bild des Geschmacks noch viel weiter ausgedehnt. Eine reduplizierte Form Sisyphos, von scharfem Geschmack (activ); sucus gehört dazu …“ Der Geschmack ist hier als eine Form der Weisheit dem Wissen gegenübergestellt – gewissermaßen in einer Umdeutung jener Kategorien, die bei Immanuel Kant (1724-1804) Vernunft und Verstand heißen.

Schon unmittelbar nach Baumgarten versuchte Kant mit dem Begriff des Geschmacks ein „anderes Wissen“ herauszuarbeiten und, anders als Baumgarten mit dem Begriff der sinnlichen Erkenntnis, eine Autonomie dieses „Wissens“ gegenüber der intellektuellen Erkenntnis zu begründen – der cognitio logica eine cognitio sensitiva, dem Begriff die Anschauung zur Seite zu stellen. Darüber hinaus wird Geschmack mit Kant zu einer allgemeinen Kategorie ästhetischer Urteilskraft und in diesem Zusammenhang auch zum Ausdruck einer neuen Subjektivität. (Zur Ästhetik von Kant siehe auch den Essay natur erfahren.)

Kant beschäftigt sich mit der Frage, wie sich eine Synthese aus Rationalität und sinnlicher Erfahrung, das heißt einer aus der Rezeption und Sinneswahrnehmung gewonnenen Anschauung herstellen läßt? Diese Frage nach der Vereinbarkeit von Verstand und sinnlicher Erfahrung versucht er in seiner „Kritik der Urteilskraft“ (1790) zu beantworten. Kant vertritt hier die Auffassung, dass es sich beim Geschmack um eine von der logischen Erkenntnis (cognitio logica) unabhängige Größe handele, das heißt, er geht in diesem Zusammenhang zwar von einer „Überlagerung von Wissen und Lust“ (Erkenntnis und Empfindung) aus, wie Giorgio Agamben schreibt, gleichsam spricht er dem Geschmack jedoch keine Erkenntnisleistung zu. In Zusammenhang mit dem Geschmacksurteil schreibt Kant: „Denn, ob sie gleich für sich allein zum Erkenntniß der Dinge gar nichts beitragen, so gehören sie doch dem Erkenntnißvermögen allein an, und beweisen eine unmittelbare Beziehung dieses Vermögens auf das Gefühl der Lust oder Unlust.“

Geschmack ist für Kant keine primäre Sinnesleistung wie für Baumgarten, sondern das Vermögen einer ästhetischen Wahrnehmung, also einer qualifizierten, wertenden Sinnesempfindung im weitesten Sinne. Dabei hat Kants Begriff des Geschmacks durchaus auch die Bedeutung von Schmecken. In einer genaueren Bestimmung des Begiffs schreibt er: „Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.“ Der reine Geschmack also, könnte man sagen, stillt kein Bedürfnis, sondern schmeckt um des Schmeckens willen. Sind Interessen beziehungsweise Bedürfnisse im Spiel, wird ein Gegenstand nicht beurteilt, sondern es kommt zu seinem Genuss, oder eben nicht, während dem Wohlgefallen oder Mißfallen ein Geschmacksurteil zugrunde liegt. Ästhetisches Wohlgefallen ist also rein der sinnlichen Erscheinungsform nach zu erfahren und nicht mit dem Genuss oder dem Empfinden von Lust gleichzusetzen, ebensowenig wie Mißfallen mit Unlust oder Ekel.

Im Unterschied zu Baumgarten jedoch leugnet Kant nun eine Beziehung von Schönheit und Vollkommenheit: Das Geschmacksurteil („ein guter Wein“) sei gerade ein nicht begrifflich vermitteltes Urteil, während Vollkommenheit aber, sagt Kant, einen Begriff des Gegenstandes voraussetze, an dem gemessen dieser als vollkommen anzusehen sei. Das, was das Geschmacksurteil hervorruft, ist nicht allein der reine Sinnenreiz, sondern seine „ästhetische Idee“, die Kant so definiert: „Unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“ Das sprachliche Urteil kann insofern niemals ein endgültiges sein – das Schöne kann auf keinen Begriff gebracht werden. Es gibt zwar viel zu denken, die gedankliche Reflexion kann aber auf keinen abschließenden sprachlichen Ausdruck gebracht werden: Das Denken kommt nie zu einem formulierbaren Ende.

Bei Kant also findet keine Anerkennung der sinnlichen Erkenntnis als solcher statt, sondern für ihn sind Sinneswahrnehmungen „gegenstandslose Empfindungen“ und nur der Ausgangspunkt der Bemühung um Deutlichkeit: Erkenntnisgewinnung besteht für Kant darin, etwas, das zunächst diffus ist, zu analysieren und zur deutlichen und das heißt für ihn auch begrifflich-distinkten Erkenntnis zu erheben (etwas als „etwas“ zu bestimmen, zum Beispiel Wein mit einem biologischen Säureabbau als „buttrig“).

Es geht Kant insofern nicht mehr darum, ob etwas als ästhetisch wahrgenommen werden kann, sondern in den Fokus rückt die ästhetische Erfahrung, die an die Erfahrung des einzelnen Subjekts mit seinem Empfindungsvermögen gebunden ist (den Bereich des Ästhetischen selbst konstruiert er als einen autonomen Raum, in dem keine anderen Zwecke als die des Ästhetischen selbst existieren). Beschränkte sich der Einzelne darauf, nur sein subjektives Geschmacksempfinden zum Ausdruck zu bringen („der Wein gefällt mir“), wären keine anderen als persönliche Gründe damit verbunden. Mit dem Geschmacksurteil jedoch – eben „dieser Wein ist gut“ beispielsweise – erfolgt die Geschmacksäußerung in Form eines Urteils, womit ein Moment von Allgemeinheit und Verbindlichkeit erreicht ist und Zustimmung erwartet wird, auch wenn damit ein eigenständiges Vermögen des Menschen, eben seine Urteilskraft, ausgedrückt wird.

Das Geschmacksurteil beruht insofern auf dem Empfindungsvermögen des Subjekts, wobei „(s)chön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird“, wie Kant sagt. Schönheit ist also keine objektiv wahrnehmbare Eigenschaft, sondern vom einzelnen und seiner Wahrnehmung beziehungsweise von seinen Erfahrungen abhängig. Dabei kann jeder Bereich schön sein, auch die Natur. Damit dieses in der subjektiven Erfahrung gründende Geschmacksurteil aber dennoch einen Anspruch auf Verbindlichkeit beanspruchen kann, bedarf es, wie Kant ausführt, des Gemeinsinns – einer irgendwie idealistischen Schönheitsnorm, die uns verbindet und auf die wir uns verständigt haben.

Geselligkeit bei Immanuel Kant und Friedrich Schiller

Die Geschmacksbildung erfolgt Kant zufolge zwar über die Wahrnehmung, insbesondere aber unter Berücksichtigung der sozialen Reaktionen auf die eigenen, individuellen Reaktionen des Gefallens oder Missfallens – ob die eigenen Empfindungen den kulturellen Wertempfindungen entsprechen oder nicht. Denn Geschmack ist ein intersubjektives Phänomen und Geschmack zeigt nur, wer fähig ist, ästhetische Werturteile in Einklang mit anderen geschmacklich Gebildeten (Kant meint eine Gemeinschaft) zu fällen. Dabei kann auch sozialer Druck eine Rolle spielen: So schaffen es offensichtlich nur wenige, sich tanninreichem Rotwein zu widersetzen, so widerlich er beim erstmaligen Genuss auch schmecken mag.

Im Geschmack internalisiert der einzelne insofern die ästhetischen Werte und Maßstäbe seiner Kultur, daher kann er mit Hilfe des Geschmacks auch beurteilen, ob die von ihm geschätzten ästhetischen Maßstäbe von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft geteilt werden.

Anders als bei Kants Überlegungen zum Gemeinsinn, nimmt man laut Friedrich Schiller (1759-1805) in der Empfindung eines ästhetischen Wertes – im Gegensatz zu einem ethischen Wert – das Gute indirekt wahr durch seine Erscheinungsweise: So erscheint beispielsweise in der Harmonie einer Landschaft ihr ökologisches Gleichgewicht, das ich im ästhetischen Empfinden dieser Harmonie indirekt mitwahrnehme. Jedoch „(d)er Geschmack allein bringt Harmonie in die Gesellschaft, weil er Harmonie in dem Individuum stiftet“, wie Schiller im letzten Brief „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1794) schreibt. (Das Schöne und das Gute sind für ihn insofern Erscheinungsweisen und liegen, anders als für Kant, objektiv zugrunde.)

Gemeinschaft stellt sich bei Schiller also auch über den Geschmack her: Die ästhetische Erfahrung bildet sozusagen die Grundlage für ein gemeinsames Erleben und im Geschmack kommt der sozio-kulturelle Aspekt dieser Gemeinsamkeit zum Ausdruck. Für Kant wiederum macht die Verfeinerung des Geschmacks den Menschen „gesellig“, wie er sagt, und die von ihm so bezeichnete „Cultur des Geschmacks“, und hierin ist dann explizit auch die Kultivierung des kulinarischen Geschmacks gemeint, „verfeinert den Menschen überhaupt, und macht daß er eines idealistischen Vergnügens fähig wird“.

Entgegen der Verwerflichkeit von Mitteln der „stummen Berauschung“, wie beispielsweise Branntwein, könne doch insbesondere der Wein „die Geselligkeit und wechselseitige Gedankenmitteilung“ beleben, wie Kant sagt. Die weinselige Runde sei ganz im Sinne der Geselligkeit „fröhlich, laut und mit Witz redselig“. In diesem Sinn übernehmen der Wein und die Konversation bei Kant indirekt auch die Aufgabe, das gesellige Subjekt vor ungezügeltem Konsum und dem Exzess zu bewahren. Er orientiert sich bei seinen Überlegungen insofern weniger an einem christlich-asketischen, sondern eher an einem epikureischen Modell: Ihm geht es nicht um den Verzicht, sondern darum, Maß zu halten.

Hierarchie der Sinne

Sieht man von den wenigen Ausführungen zur „Cultur des Geschmacks“ ab, ist Kants Ästhetik insgesamt aber nicht auf sinnlicher Erfahrung gegründet und die menschliche Leiblichkeit spielt bei ihm keine Rolle. Kants Ästhetik ist eine Beurteilungsästhetik und insofern eine Verstandesleistung. Der sinnliche Geschmack wird von ihm stets als natürlich und als bereits gegeben vorausgesetzt – die körperlich-sinnliche Dimension des Schmeckens bleibt unbeachtet beziehungsweise findet nur als Empfindung von Lust und Unlust Berücksichtigung.

Schon Platon hat der Vernunft als Wahrheitserkenntnis ein Lustempfinden gegenübergestellt, das gegenüber der Wahrheitserkenntnis allerdings abfällt, weil es an die Sinneswahrnehmungen gebunden bleibt. Die Lüste sind für ihn insofern ausschließlich der Körperlichkeit zugeordnete Effekte, wobei er in diesem Zusammenhang hierarchisch zwischen oberen Sinnensorganen (Sehen, Hören und Riechen) und unteren (Schmecken und Tasten) unterscheidet: Während das Sehen, Hören und Riechen für ihn ihre Lust gewissermaßen in sich selbst finden und deshalb in den Bereich der Ästhetik fallen, orientieren sich das Schmecken und Tasten und die mit ihnen verbundenen körperlichen Lüste (Essen und Trinken) an der äußeren Natur und sind insofern eher der Aisthetik zuzurechnen.

Mit Platons Hierarchisierung der Sinne geht also unwillkürlich eine Privilegierung der oberen Sinne, insbesondere des Hörens und Sehens einher: „Während das Sehen und das Hören in der kulturellen Tradition des Westens eine privilegierte Stellung einnehmen, gilt der Geschmack als gröbster Sinn“, sagt Giorgio Agamben in seinem Essay zum „Geschmack“ (2020). Allerdings ist dieser Sinn, der Geschmack wie die Sinnlichkeit insgesamt, in einer Aufwertung begriffen insofern, als die Zuwendung zur Wirklichkeit über die niederen Sinne zunehmend mehr Aufmerksamkeit bekommt und auch die sogenannten niederen Erkenntnisvermögen, die taktil-körperlichen Nahsinne wie eben Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn, gegenüber den vermeintlich höheren Sinnen Sehen und Hören aufgewertet werden.

Das hat sicherlich unterschiedliche Gründe – der Soziologe Hartmut Rosa beispielsweise macht dafür grundsätzlich „systematische Veränderungen der Zeitstrukturen …, die sich unter den Sammelbegriff der Beschleunigung bringen lässt“ verantwortlich und erkennt in dem Bewusstsein über die leiblichen Beziehungen zur Wirklichkeit – als deren Grundelemente er das Atmen, die Stimme, den Blick, das Gehen, Stehen und Schlafen, Lachen, Weinen und Lieben sowie das Essen und Trinken bestimmt – eine Art Entschleunigung, während der Philosoph Wolfgang Welsch einen „Verlust an Verbindlichkeit“, insbesondere in Bezug auf das Sehen feststellt, das „angesichts der medialen Tendenz zur Entwirklichung in der Tat nicht mehr der verlässliche Sinn für Kontakt mit der Realität ist, als der er einst galt.“ (Über einen solchen Verlust an Verbindlichkeit kann man auch in Zusammenhang mit dem Medien-Verhalten und den tausenden nachgewiesenen Lügen und Unwahrheiten des abgewählten amerikanischen Präsidenten nachdenken.)

Daraus ergibt sich für Welsch als Konsequenz eine Rekonfiguration der Aisthesis und der traditionellen Sinneshierarchie mit der Aufwertung von körperlichen Erfahrungen und nicht elektronischer Realität: das Authentische beziehungsweise die Unveränderlichkeit des Natürlichen, die Einmaligkeit im Kontrast zur beliebigen Wiederholbarkeit, die eigene, für andere unverfügbare Imagination und nicht zuletzt die Souveränität des eigenen Körpers erfahren eine Wiederaufwertung (während es dabei nicht „einfach um eine Rückkehr zu sinnenhafter Erfahrung, wie sie vor-elektronisch gewesen sein mag“ geht und die Medienrealität insofern parallel dazu weiterhin Bestand hat).

Und auch das Schmecken und der Geschmack erhält im Zuge dieser Rekonfiguration der Aisthesis einen neuen Stellenwert und widerruft insofern, mit Pierre Bourdieu gesprochen, „den die gelehrte Ästhetik seit Kant fundierenden Gegensatz zwischen `Sinnen-Geschmack´ und `Reflexions-Geschmack´, zwischen leichtem, auf Sinnenlust verkürztem sinnlichem Vergnügen, und reinem, von Lust gereinigtem Vergnügen“, in dem sich dann zur Zeit Bourdieus eben auch die sozialen beziehungsweise „(d)ie feinen Unterschiede“ (1979) gesellschaftlicher Hierarchie bemerkbar machten. Insbesondere das Geschmacksurteil rückt dabei in den Fokus seines Interesses, denn für Bourdieu stellt es „gewissermaßen die höchste Ausprägung des Unterscheidungsvermögens dar, jenes Vermögens also, das Verstand und Sinnlichkeit, die unsinnliche Begrifflichkeit des Pedanten mit dem begriffslosen Genuss des `Weltmanns´ versöhnt und darin den `vollkommenen Menschen´ definiert.“

Geschmack und discretio bei Baltasar Gracián

Mit Bourdieu erlangt der Geschmack und das Geschmacksurteil in jüngerer Vergangenheit eine Wiederbelebung. Eine Wiederbelebung deshalb, weil schon mehr als 330 Jahre vor ihm der spanische Jesuit Baltasar Gracián (1601-1658), vielleicht zum ersten Mal überhaupt, die sinnlich-körperliche Dimension des Geschmacks mit der ästhetischen verbunden hat und Geschmack auch bei ihm zu einer Art sozialem Distinktionsmerkmal wurde: Der kulinarisch-sinnliche Geschmack bildet bei Gracián in „Der kluge Weltmann (El Discreto)“ (1646) geradezu das Modell des guten Geschmacks als solchem.

Hatte der Geschmack (goût) bis dahin in der Aufteilung der Ästhetik in Sensibles und Intelligibles keinen Platz, gibt er ihm als sinnliche Wahrnehmung die Bedeutung eines kognitiven Urteilsvermögens für die Schönheit. Damit stellt sich Baltasar Gracián gegen die traditionelle Sinneshierarchie der abendländischen Kultur, wo seit den Griechen das Visuelle, ein „Okularzentrismus“ (Welsch), dominierte.

Unter dem Einfluss des jesuitischen Ordensgründers Ignatius von Loyala (1491-1556), der seine Anhänger lehrte, ihre eigenen Sinne als Werkzeuge der Unterscheidung von Gut und Böse anzuwenden, macht Gracián den Geschmack und seine Übung zur Grundlage seiner Überlegungen (die Jesuiten, die „Gesellschaft Jesu“, appellierte weniger an Herz und Gefühl der Gläubigen als an deren Verstand – der Einfluss der „Exerzitien“ des Ignatius, eine Sammlung geistig-asketischer Übungen, ist deutlich spürbar). Allerdings stellte die Proklamation eines unmittelbar sinnlichen Zugangs zu Gott die Rolle der Kirche grundlegend in Frage und nicht zuletzt deshalb hatte schon Ignatius von Loyola mit der Inquisition zu kämpfen, die ihn und seine Exerzitien mit dem Vorwurf des Illuminismus der HäretikerInnen belegten (weshalb der spanische König die Jesuiten 1767 auch aus Spanien und allen seinen Kolonien verbannte). Schließlich führte das traditionelle Christentum bis dahin einen radikalen Kampf gegen die Sündhaftigkeit des sinnlichen Körpers: Sinnlichkeit war begriffen als teuflisch und mit Laster und Sünde behaftet.

Um nicht selbst als Häretiker gebranntmarkt zu werden, orientierte sich Gracián an der christlichen Fastenregel, die er jedoch abwandelte und sich der Lust gerade nicht komplett versagte: Es geht hier um das rechte Maß, das Maßhalten (das ist mit discretio bezeichnet), schließlich ist Völlerei eine der acht Hauptsünden. Damit ist ein Problem berührt, das sich auch für das Zönobitentum, das gemeinsame Mönchsleben, stellte und hier vielleicht auch seinen Ursprung hat: Ganz im Sinne der Suche nach dem rechten Maß wird nämlich die discretio bei Benedikt von Nursia (etwa 480-560), dem Gründer des Benediktinerordens, die entscheidende Tugend für den Dienst des Abtes, der die Mönchsgemeinschaft auf den rechten Weg zu führen habe. Nur durch das rechte Maß vermag die Gemeinschaft zwischen den Offenbarungen Gottes, den Einflüsterungen des Teufels und den eigenen subjektiven Gedanken zu unterscheiden.

In seinen Regula Benedicti, den Benediktusregeln, wird die discretio zu einer Tugend und einer Fähigkeit, die nur in der Unterwerfung unter die Regularien der Ordnung, des Codes und der allumfassenden Führung erreicht werden können. Ab dem Jahr 816 bis weit ins Hochmittelalter hinein war klösterliches Leben nur unter Anerkennung der Benediktusregeln als klösterlichem Grundgesetz möglich, das heißt, Mönchtum war mit Benediktinertum identisch. Die bekannte benediktinische Forderung des ora et labora (beten und arbeiten) steht zwar noch nicht in den Regula, dennoch werden in dem benediktischen Pflichtenkanon zumindest zu vermeidende Übel wie die Begierde des Fleisches, Eigenwille, Essgier, Trunksucht et cetera aufgeführt.

Horchen und Gehorchen bei den Benediktinern

Diese Regeln betreffen das gesamte mönchische Leben, auch die Einnahme des gemeinsamen Mahls. Eine solche benediktinische Tischgesellschaft ist auf einem Fresko von Giovanni Antonio Bazzi, genannt Il Sodoma, das zwischen 1505 und 1508 entstanden ist, im Kloster Monte Oliveto Maggiore in der Toskana dargestellt.

Giovanni Antonia Bazzi, gen. Il Sodoma, Benedikt erhält Korn für das Kloster (Fresko im Kreuzgang des Klosters Monte Oliveto Maggiore)

Das Fresko gehört zu einem Zyklus über das Leben des Heiligen Benedikt von Nursa und hat das „Wunder der Mehlsäcke“ zum Inhalt: Während einer Hungersnot in seiner Heimatregion Kampanien, während der auch sein Kloster mit dem Mangel konfrontiert war, mahnt Benedikt zum Gottvertrauen – und tatsächlich finden sich am nächsten Tag volle Mehlsäcke vor dem Kloster, von denen niemand sagen kann, woher sie kommen. Auf der rechten Seite des Freskos ist die Tugend des Mangels im durch die Benediktusregeln streng ritualisierten, schweigend zu sich genommenen mönchischen Mahl dargestellt: auf jedem Teller nur zwei Fische, Symbol des Erlösers, Brot, Wasser, Öl, Salz und trotz des Mangels unverzichtbar: Wein. Betont wird in dem Fresko also das Ideal des Gehorsams und des blinden Vertrauens in Gott – und auch den Abt –, die für die zukünftige Fülle sorgen werden. Dieses blinde Vertrauen und die damit einhergehende Unterwerfung werden auch durch die Darstellung der Schwalben hoch über den Köpfen der Mönche aufgegriffen, über die Matthäus (6, 25-26) schreibt: „Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet (…) Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“

Gleichsam ist mit den Schwalben aber – über inhaltliche Aspekte hinaus – noch eine andere, sinnliche und durchaus theatrale Dimension angesprochen, macht doch deren Zwitschern auch auf die Ordnung der Sinne und die Aufteilung des Sinnlichen aufmerksam, die das Fresko durchzieht, wie der Kulturwissenschaftler Stephan Zandt in seiner „Kultivierung des Geschmacks“ (2019) bemerkt. Er schreibt in diesem Zusammenhang: „Der Vogelgesang führt eine neue sonore Dimension in die Darstellung ein, die neben die O[m]nipräsenz des Sehsinns tritt und gleichermaßen die Frage nach der sinnlichen Verfasstheit der Tischgesellschaft stellen lässt. Denn das Zwitschern der Schwalben, dessen Konnotation als inniges Gebet im gleichen Raum von der Figur des Tischlesers noch einmal verdoppelt und variiert wird. Über der Gruppe der Brüder an der Tafel von der Kanzel sprechend, liest er aus den heiligen Schriften … und verkörpert so in neuer Form den Gegensatz des Klangs der himmlischen Worte gegenüber der Sinnlichkeit der irdischen Tafel; dem Berühren der Speisen, dem Geruch des Weines und den … Praktiken des Schmeckens und Einverleibens.“

Ähnlich wie im Theater fördert auch sensorische Deprivation, also der Entzug sensueller Reize beispielsweise durch das Schweigegebot, die Wahrnehmungsbereitschaft der Mönche, indem ihre Aufmerksamkeit auf das Hören des göttlichen Wortes aus der Kanzel über ihnen kanalisiert wird. Die irritationsfreie Wahrnehmung gewährleistet insofern eine maximale Konzentration, die im benediktinischen Mahl ganz auf die Lesung der Bibel und der Benediktusregeln bezogen bleibt. Die Sinne sind hier ganz auf das Hören auszurichten: das erste Wort der Benediktusregel schon lautet obsculta, was „lausche, höre aufmerksam zu, gehorche“ bedeutet. Aus diesem Grund folgt in der Regel Benedikts auch gleich nach dem Gebot des Gehorsams das der Schweigsamkeit: „Ich will auf meine Wege achten, damit ich mich mit meiner Zunge nicht verfehle. (…) Reden und Lehren kommen dem Meister zu, Schweigen und Hören dem Jünger.“

Das Hören galt schon in der Antike als wichtigster Sinn für das Gedächtnis (wer sich etwas merken sollte, wurde am Ohr gezogen). Deswegen war das Gehör noch vor dem Sehen der wichtigste aller Sinne, der menschliche Sinn überhaupt. Das wird auch deutlich daran, dass das deutsche Wort Sinn und das lateinische sensus beziehungsweise sentire auf dieselbe Wurzel zurückgehen: sen-/sin-, die in allem steckt, was (einem Weg) folgen, fühlen, hören, verstehen, (nach-)denken und (be-)sinnen bezeichnen soll, wie der Sprachwissenschaftler Gerald Huber weiß. „Der heute vielgesuchte Sinn des Lebens – das erschloss sich in der Antike und im Mittelalter bereits aus der Wortbedeutung – war demnach nichts anderes als der Lebensweg, den der Mensch im guten Glauben macht, im Gehorchen, im Hören auf die innere, die göttliche Stimme und die Gebote, in der daraus folgenden Besonnenheit und dem Vertrauen darauf, dass schon alles recht werden wird.“

Das Lesen der heiligen Schrift in der Kanzel über den Mönchen beruht auf dem Sehen und Sprechen, in welchem das Wort Gottes hörbar wird. „Sehen und Hören sind dabei als Sinnenvermögen gegen die niederen, körperlichen Nahsinne der Mönche darunter gerichtet, also gegen die Berührung des Brotes, gegen das Riechen des Weinbouquets, das der vierte Mönch in der Reihe zu zelebrieren scheint, und gegen den Geschmack der Speisen, die im übrigen noch nicht einmal in die Nähe des Mundes der Brüder geraten.“ All das soll „die Brüder im Martyrium des sinnlichen Körpers und der Mäßigung der weltlichen Sinne den Weg zu Gott weisen“, schreibt Zandt. Der kulinarische Geschmack ist im benediktinischen Verständnis auf die eigene Sinnlichkeit gerichtet – und der Genuss hieße quasi von der „verbotenen Frucht“, vom „Baum der Erkenntnis“ zu essen. Das soll gewissermaßen die christliche Ethik der „Gewissensbisse“ verhindern.

Erst mit dem Zisterzienser Bernhard von Clairvaux (1090-1153) bekommen auch die sogenannten niederen Sinne des Tastens und Schmeckens im kirchlichen Kontext Bedeutung – wenn er sich auf den Psalm 33,9 bezieht, wo es heißt: „Kostet und seht, wie süß der Herr ist.“ Für Bernhard von Clairvaux wird in diesem Zusammenhang auch der sinnliche Körper zu einem Medium der Erfahrung. Er schreibt: „Er bot Fleisch denen, die nach Fleisch Geschmack hatten; durch dieses Fleisch sollten sie lernen, auch am Geist Geschmack zu finden.“ Gemeint ist hier die in Christus körperlich gewordene göttliche Liebe, das heißt, Geschmack wird von Bernhard als sinnliche Vermittlung der Liebe und des himmlischen Genusses verstanden, den die geistige Hinwendung zu Gott verspricht. (Allerdings führte Bernhards Kritik an der Opulenz im Kloster Cluny, die die Sinne vor der Wahrheit und notwendigen Demut täusche, auch zu den Absatzbewegungen der Zisterzienser von den Benediktinern.

Kultivierung des Geschmacks bei Gracián

All das, was die Tugend der discretio, des Maßhaltens, in der monastischen, mönchischen Tradition auszeichnet, geht im 17. Jahrhundert bei Baltasar Gracián auf die sensuelle Übung des guten Geschmacks über. Dabei bezeichnet die discretio bei ihm nicht nur Verschwiegenheit wie vielleicht in unserem modernen Verständnis, sondern eben „eine Maßhaltung der Lebensweise im Allgemeinen und analog zur Maßhaltung und Zurückhaltung in seinen Äußerungen eine ebensolche bei den Speisen“, wie Zandt bemerkt.

Für Gracián ist Geschmack keine natürliche menschliche Fähigkeit, sondern muss erst in einem komplexen Prozess des geselligen Austausches erworben werden, wozu auch die Entwicklung einer Sprachkompetenz gehört. Für ihn bedarf es der Kultivierung des sinnlichen Geschmackes – und dazu benötigt es, wie Zandt ausführt, einer „Einübung der Techniken des richtigen Konsums, die Aneignung einer Aufmerksamkeit für die diskreten Wahrnehmungsschwellen, aber auch eine Aneignung von Kenntnissen über sie, die es erlauben die sinnlichen Wirkungen einschätzen, bewerten und unterscheiden zu können.“

Die Geschmacksfähigkeit vervollkommnet sich, wie der eingangs zitierte Brillat-Savarin feststellt, „durch unaufhörliche Wiederholung und Uebung“ der Empfindungen. Dazu gehört für Gracián auch das Reisen als entscheidenes Medium der Entwicklung von Persönlichkeit: Zwar seien Gasthäuser und Schenken „wahre Sündenpfuhle und Räume des moralischen Verfalls. (…) Gerade als Sammelorte des Lasters stellen sie jedoch umgekehrt die prädestinierten Orte dar, an denen eine Auseinandersetzung mit der Welt und eine Erkenntnis des Selbst möglich erscheint“.

Gracián begreift das als einen Reifungsprozess: Um als Person gelten zu können, müsse man eine gewisse Reife entwickeln, „(g)enauso“, sagt er, „wie der edle Rebensaft, der gut ist (und noch besser, wenn die Sorte gut ist), am Beginn der Lagerung eine unangenehme Süße, eine unerfreuliche Strenge hat, weil er noch nicht fertig ist. Doch wenn er zu gären anfängt, beginnt er sich zu klären, verliert mit der Zeit seine ursprüngliche Herbheit, korrigiert jene lästige Süße und bekommt eine sanfte Blume, die noch mit ihrer Farbe schmeichelt und mit ihrem Duft anzieht, und endlich voll ausgereift, ist er ein Getränk für Männer, ja ein gepriesener Nektar.“

Zur Zeit Graciáns ist die Lagerung und hierdurch erlangte Veredelung von Wein eine durchaus neue Erscheinung, wurde doch der Wein bis dahin stets nur lokal gekeltert und bald darauf getrunken, denn auch die haltbarsten Sorten galten nach vier bis fünf Jahren als verdorben. Erst die Entwicklung starker Glasflaschen, deren Produktion sich ab dem 16. Jahrhundert schrittweise verbesserte, ermöglichte die längere Lagerung von Wein und erleichterte auch den Fernhandel. So belegt beispielsweise das Kellerbuch des englischen Königs Charles II. aus dem Jahr 1660 den Kauf von 169 Flaschen „hobrion“, zum Preis von 21 Shilling 4 Pennies die gut gefüllte Flasche, die mit einem Korkstopfen zugepfropft wurde damit der Wein noch etwas reifen und sich entwickeln konnte und dadurch nach und nach „erstaunliche Geschmeidigkeit, ausgewogenen Geschmack und ein umwerfendes Bukett“ entwickelte, wie Rolf Bichsel weiß („Best of Bordeaux“, 2016).

„Hobrion“ war der erste „Gutswein“ auf dem Londoner Markt – und bezeichnet einen Wein beziehungsweise ein Weingut aus Bordeaux beziehungsweise dem Bordelais, wie das dortige Weinanbaugebiet genannt wird: den „Haut Brion“. Dieses Weingut stellte zum ersten Mal Wein her, wie er noch heute gemacht wird. Denn der Wein des „Haut-Brion“ wuchs, anders als bei anderen Weingütern (das heute bekannte „Château“ ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts) zu der Zeit, nicht auf dem fruchtbaren Sedimentboden entlang des Ufers der Flusses Garonne, sondern auf kleinen Kieshalden beziehungsweise -hügeln etwas weiter landeinwärts im Médoc, die sie mit Flußschlick verbesserten. Auf dem kargeren, ärmeren Kiesboden gerieten die Weine nicht mehr so üppig, süss und prickelnd wie bis dahin üblich, sondern herb und auch tintenschwarz (bis dahin kannte man die Weine aus dem Bordelais nur in klarer, heller Farbe als sogenannte „Clarets“, wie sie in England noch heute heißen). Die Besitzer des Weinguts „Haut-Brion“, die Familie De Pontac, schufen so jedoch eine Marke, die sich zu einem erfolgreichen Luxusprodukt entwickelte, dass die De Pontacs sogar in ihrem eigenen Gasthaus namens Pontacs Head in London geschickt vermarkteten. Der Erfolg von „Haut-Brion“ rief die Konkurrenz auf den Plan, die nun ebenfalls damit begann, das bis dahin von Sümpfen durchzogene Médoc für den Weinbau nutzbar zu machen. „Haut-Brion“ aber steht gewissermaßen am Anfang dieses unglaublichen Erfolges der Weine aus Bordeaux (Bordelais).

Zu Graciáns Zeiten jedoch ist der edle Wein eine Rarität und es ist durchaus noch eine Herausforderung, ihn auf dem höchsten Entwicklungsstand und in seiner Vollkommenheit zu erkennen und zu genießen. Was für unsere heutigen, in fremden Geschmäckern vielfältig geübten Zungen vielleicht selbstverständlich erscheint, war damals nur den wenigen vorbehalten, die Reisen konnten und ihre im wahrsten Sinne des Wortes bewanderte Kennerschaft auch im kontinuierlichen Verkosten entsprechender Weine vor Ort sowie im verständigen Gespräch ausbilden konnten und sich so ein Wissen über ihre Herkunft, ihre Produktions- und Lagerungsverhältnisse et cetera aneignen konnten.

Dabei gilt für die Vollkommenheit und Schönheit eines Wein das Gleiche wie für den Menschen, Gracián sieht hier keinen Unterschied: Die Vervollkommnung des Menschen folgt bei ihm dem praxeologischen Modell des Schmeckens und Verkostens, denn Geschmack läßt sich rational nicht verstehen und begründen, sondern nur sinnlich-ästhetisch und das heißt eben: schmeckend. Das Schmecken ist hier begriffen eine lustvolle Praxis zur Ausbildung einer Urteilskraft beziehungsweise Kritikfähigkeit. Geschmack ist insofern nicht denkbar ohne einen Diskurs und die Verständigung darüber. Neben der sinnlichen Lust auf Geschmackserlebnisse ist für die Ausbildung eines guten Geschmacks die Geselligkeit und der lustvolle Austausch von Geschmackserfahrungen unerlässlich. Gleichsam liegt hier, in der Verfeinerung des Geschmacks, auch ein Moment der „Gegen-Macht … gegen die weltliche und kirchliche Disziplinierung“ begründet.

Weinverkostung

Was Gracián im 17. Jahrhundert in Hinblick auf den sprachlichen Austausch formuliert hat, gilt mitunter noch heute. Damit der gesellige Austausch auch gelingt, bemüht sich beispielsweise der seit 1969 international tätige Wine & Spirit Education Trust (WSET) mit Hauptsitz in London in der Ausbildung um ein systematisches Verkosten von Weinen nach einem strukturierten und methodischen Ansatz, der weltweit standardisiert ist (WSET Level 3 Systematisches Verkosten von Wein SAT ®). Dadurch soll einerseits eine gewisse Objektivität bei der Beurteilung von Wein gewährleistet und andererseits subjektive Geschmackseindrücke vergleichbar werden. Es geht darum, auf der Basis eines weltweit standardisierten Beurteilungsschemas Fähigkeiten zu entwickeln hinsichtlich der Weinbeschreibung – um dann auf dieser Basis einen Gesamteindruck zur Diskussion stellen zu können und Verkostungseindrücke auch intersubjektiv überprüfbar zu machen.

Dadurch, dass die Antwortmöglichkeiten mit Ausnahme der Beschreibung der Aromen (hier geht es um die Identifikation von Aromen, die eher von der Frucht, der Verarbeitung oder der Reifung und Lagerung herrühren) vorgegeben sind, wird gewissermaßen auch eine universale Weinsprache eingeführt, die die Vergleichbarkeit der Geschmackseindrücke garantieren soll. Es geht hier nicht um die Vergabe von Punkten, sondern darum, eine standardisierte, internationale Sprache für die Vergleichbarkeit von Weinen zu entwickeln.

Die Weinverkostung hat in der Ausbildung des WSET einen hohen Stellenwert und ist gleichbedeutend mit dem theoretischen Wissen über Wein(e) und Anbaugebiete. In diesem Sinn: studieren geht nicht über probieren …

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maskenpflicht

Heute, am „Elften des Elften“, beginnt traditionell der Karneval mit seinem Maskenwesen – würde es die Coronakrise nicht verhindern. So ist der zwar abgesagt, dennoch besteht eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit. Das jedoch ist ein Gebot der menschlichen Vernunft, was die Fastnacht nie war …

Falstaff: „Blitz, es war Zeit eine Maske anzunehmen, sonst hätte mich der hitzige Brausekopf von Schotten gar zum Schatten gemacht. Eine Maske? Ich lüge, ich bin keine Maske; sterben heißt eine Maske sein, denn der ist nur die Maske eines Menschen, der nicht das Leben eines Menschen hat; aber die Maske des Todes annehmen, wenn man dadurch sein Leben erhält, heißt das wahre und vollkommne Bild des Lebens sein. Das bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht, und mittelst dieses besseren Teils habe ich mein Leben gerettet.“

Falstaff stellt sich während einer Schlacht Tod und überlebt in Shakespeares Heinrich IV., V. Akt, 4. Szene

„Es ist außer Zweifel, das die tollen Fastnachtslustbarkeiten ihren Ursprung von den Heiden haben, welche dem Bacchus zu Ehren gewisse Tage dem Fressen, Saufen, Unzüchten und allerley Ausschweifungen gewidmet haben …“

Enzyklopädie aus dem Jahr 1784

Traditionell beginnt am heutigen Martinstag die Karnevalssession mit ihrem Maskenwesen – wäre die gesellschaftliche Bedrohung durch den Coronavirus nicht. So ist der Karneval zwar abgesagt, dennoch besteht im öffentlichen Leben weitgehend eine Maskenpflicht. Diese ist einerseits staatlich verordnet, aber vernünftigerweise – durchaus im Sinne eines moralischen Imperativs – auch geboten, schließlich ist die Maske derzeit noch eine der wenigen effektiven Maßnahmen zur Abwehr oder Verringerung des Infektionsrisikos in der Öffentlichkeit. Deshalb wird sie als Schutzmaske zur gesellschaftlichen Risikominimierung auch durchweg empfohlen.

Unsere Expirationsluft besteht aus 17 Prozent Sauerstoff, vier Prozent Kohlendioxid und 78 Prozent Stickstoff. Sobald sie den Mund verlässt, wird sie von der eng anliegenden Maske gleich wieder in die Nase gezwungen und man muß diese „Luft“, nur unwesentlich aufgefrischt, gleich wieder einatmen, was durchaus auch Momente der Beklemmung verursacht. Dennoch ist das „Vermummungsgebot“ ein Gebot der menschlichen Vernunft, darüber hinaus der Mitmenschlichkeit, und in ihm kommt Risikobewußtsein zum Ausdruck – wie sich im karnevalistischen Maskenwesen, der Maske überhaupt, eine für unsere abendländische Kultur spezifische Entwicklung menschlichen Bewußtseins widerspiegelt, nun allerdings in einer Umkehrung. Dessen wesentliche Determinante ist, parallel zum technisch-rationalen Projekt der Moderne, der Einfluß des Christentums mit seinen Moralvorstellungen. Das gilt insbesondere für den christlich-katholischen Kontext mit seinem Dualismus von „Gott – Teufel“, den man auf die Zwei-Staaten-Lehre des Augustinus mit der Gegenüberstellung von „civitas Dei“ einerseits und „civitas Diaboli“ andererseits zurückführen kann. Hier wird die instinkthaft-triebbestimmte Seite menschlicher Identität als finstere „Nachtseite“ definiert – und fiel immer mehr der Verdrängung anheim, wurde als dämonisch, teuflisch, tabuisiert oder als sinnliches Laster und Sünde verurteilt.

Masken sind ursprünglich in religiöse Zusammenhänge eingebunden, wo sie heilig ist beziehungsweise Kultcharakter hat. Erst ihre Entbindung vom religiösen Gebrauchscharakter erschließt neue Funktionsmöglichkeiten. Bis dahin, im kultischen Zusammenhang, war mit dem Anlegen der Maske noch eine Beschwörung des Dämons verbunden, wie Vera de Blue in „Mensch und Maske“ erklärt: „Mit dem Anlegen der Maske ist der Dämon beschworen, der Dämon im Sinne der griechischen Bedeutung von `Gottheit´ oder unbegreiflicher Kraft, deren Macht nicht aus dem Bereich der Erfahrungen zu erklären ist.“ Der Geist der Gottheit geht, beim Dionysoskult mit Hilfe des Weines, unmittelbar in den Maskenträger über. (Obwohl der Karneval dem Dionysoskult in mancherlei Hinsicht ähnelt, ist inzwischen klar, dass er nicht davon abgeleitet ist – und auch nicht aus den römischen Bacchanalien und Saturnalien, die sich auf diesen Kult beziehen. In seiner heutigen Form ist er im 19. Jahrhundert entstanden mit Elementen aus unterschiedlichen Zusammenhängen und Epochen.)

Im Dienste eines Gottes, Dionysos, steht die Maske auch im Theater der klassischen Antike (man zählt 44 Varianten mit unterschiedlichem Ausdruck, aus dünnem Stoff und Echthaarlocken gefertigt und angeblich im 6. Jahrhundert vor Christus eingeführt von Thespis, dem Erfinder der Tragödie, wobei die Maske ermöglichte, dass mehrere Rollen von einem Schauspieler gespielt werden konnten). In der griechischen Tragödie ist ihr hohles Auge trotz der Starrheit des Blicks erfüllt von der dämonischen Macht eines Geistes, „der das Unfassbare unmittelbar erfasst: das über den Menschen waltende unerschütterliche Schicksal. Der gewölbte Mund ist zu einem stummen Schrei des Entsetzens vor dem unlösbaren Geheimnis der Existenz geöffnet“ und in den weit aufgerissenen Augen ist namenloser Schrecken ersichtlich. Mit Furcht und Entsetzen blickt die Maske auf das unausweichliche Schicksal.

Dämonisch hieß ursprünglich, im kultischen Kontext, „in seinem Wirken unheimlich und zerstörerisch zu sein“, erklärt Vera de Blue. „Erst später wird `dämonisch´ mit `böse´ gleichgesetzt. Mit der Maske kann aber auch der Dämon beschworen werden, der unzählige Verwandlungen möglich macht …“ Entsprechend auch werden in der mittelalterlichen Vorstellung der Teufel und die Maske untrennbar zum Zweck der Täuschung verbunden: Der Teufel bedient sich hier der Maskerade und Verstellung um sein Ziel, die Seele der Menschen zu verderben, zu erreichen.

In einem gottlosen Zustand befindet sich auch der Tor oder Narr – auf den auch der Begriff „Maske“ zurückgeht, der vom Arabischen „mas-hara“ stammt, was eben soviel wie „Narr, Posse oder Scherz“ bedeutet. Die Ausgestaltung des Narren-Begriffs, das heißt die Verbindung der Gestalt des Narren mit der Gottlosigkeit, geht jedoch wohl auf den Bibelpsalm 53,2 zurück. Dort heißt es: „Die Toren sagen in ihrem Herzen: `Es gibt keinen Gott.´ Sie handeln verwerflich und schnöde; da ist keiner, der Gutes tut.“ Die Narrheit war der christlichen Interpretation zufolge insofern zu verstehen als das Fehlen der Erleuchtung durch den heiligen Geist. Der Narr war also zunächst gar nicht spassig, sondern, wie auch in Sebastian Brandts „Narrenschiff“ aus dem Jahr 1494 deutlich wird, jemand, der mit dem Vorwurf konfrontiert war, „weit entfernt von jeder Gotteskenntnis in einem Zustand der Sündenverfallenheit zu leben“, wie der Kulturanthropologe Gunter Hirschfelder bemerkt.

Das Erscheinungsdatum von Brandts „Narrenschiff“ (übrigens ein Schiff ohne Segel oder Steuer und insofern nicht zu navigieren) fällt nicht zufällig „vff die Vasenaht“, wie er schreibt, denn auch der „Fastnachtsnarr“, und das will Brandt bewußt machen, lebt in Sünde und Unvernunft und gleicht insofern dem Menschen, der gegen die Gesetze Gottes, die göttliche Ordnung, verstößt. Spätestens hier setzt die Umstrukturierung des Bewußtseins und christliche Distanzierung von der Maskenkultur ein und wird die negative Konnotation der Maske und der Narrheit auf die komplette Fastnacht bezogen, die so zur „Narrenzeit“ wird: Das teuflische, ausschweifende Feiern gerät in Gegensatz zum gottgefälligen Fasten.

Der „Narr“ blieb bis ins 17. Jahrhundert hinein eine wichtige Figur, auch für gegenreformatorische Kräfte wie die Jesuiten, obwohl insbesondere die Reformation die Fastnachtsbräuche bekämpfte. Nicht zuletzt deshalb wurde Karneval, wie die Fastnacht nun genannt wurde, von der katholischen Kirche ideologisch umgedeutet und entwickelte sich insbesondere im katholischen Rheinland zunehmend zu einem bedeutenden Ereignis im gesellschaftlichen Leben: Denn nur in dieser darf sich die andere, verteufelte oder verdrängte, sündhafte Seite zeigen, weshalb die Fastnacht in diesem Verständnis gewissermaßen eine zeitlich begrenzte Abkehr von Gott ist, das heißt die Fastnacht stellt zwar eine sinnlich-triebhafte, aber zumindest gesellschaftlich tolerierte Zeit der Enthemmung dar – die sogenannte „fünfte Jahreszeit“. Nur während dieses enttabuisierten Zeitraums, unerkannt im Schutz der Maske, kann die hemmungslose und exzessive Auflehnung gegen Zwang und Beschränkung straffrei stattfinden und sich das Verdrängte frei entfalten – bisweilen natürlich als ein durch Alkohol induzierter Rausch, der den Exzess erst initiiert.

Die „Abkehr von Gott“ wird durch die Maskierung noch erleichtert, die insofern eine Art „Ventil“ bietet für die durch christliche Moralität und gesellschaftliche Normen eingeengte Subjektivität: „Die Maske“, schreibt der Theaterwissenschaftler Matthias Warstat, „begünstigt eine Form der Enthemmung, die im theatralen wie im karnevalesken Handeln ethisch dadurch gerechtfertigt wird, daß die christlich-rationalistische Maxime des Maßhaltens außer Kraft gesetzt ist.“ Umgekehrt liegt die christlich-katholische Legitimierung oder Tolerierung der Tabubrüche (Alkoholkonsum, sexuelle Freizügigkeit, Masslosigkeit et cetera) im Anlass des Karnevals selbst begründet – auch wenn eine theologisch-didaktische Anleitung durch die Kirche fehlt –, ist damit doch das Fest vor der anschließenden Fastenzeit bezeichnet: „Karneval“ leitet sich etymologisch vermutlich vom mittellateinischen „caro“ (Genitiv: carnis) für „Fleisch“ und „levare“ für „wegnehmen“ ab, das über die Zwischenformen „carnislevamen“ beziehungweise „carnelevare“ („Fleischwegnahme“) zu „carne vale“ („Fleisch lebe wohl“) und schließlich „Karneval“ wurde.

Angesprochen werden sollte damit auf den Verzicht von Fleisch warmblütiger Tiere während der Fastenzeit sowie von Milchprodukten und Eiern, weshalb diese dann am Ende der Fastenzeit, zu Ostern, so zahlreich vorhanden waren. Denn im katholischen Christentum haben Gläubige die Pflicht zum Fasten. Daher mussten vor der Entwicklung der modernen Konservierungsmethoden auch alle verderblichen Lebensmittel bis dahin verbraucht werden, was die vielen fett- und eierreichen Speisen zu dem Anlass erklärt. Darüber hinaus markiert der Martinstag, mit dem Brauch der Martinsgans, auch das Ende des bäuerlichen Wirtschaftsjahres, was auch für den Weinbau gilt, wo die Lese und Verarbeitung des Traubenguts inzwischen weitestgehend abgeschlossen ist und der Wein im Keller ausgebaut wird.

Das Wort „Karneval“ ist erst seit 1699 in Deutschland belegt und die urkundliche Ersterwähnung (in Köln) datiert von 1779, als der Begriff als Synonym für Fas(t)nacht und Fasching verwendet wurde. „Vastnacht“ beziehungsweise „Fast- oder Fasnacht“ bezeichnet die letzte „Nacht vor der Fastenzeit“ und ist seit der Zeit um 1200 belegt – der Ausdruck leitet sich vom mittelhochdeutschen Begriff „vast-schanc“ für „Ausschank vor der Fastenzeit“ her, aus dem im süddeutschen und österreichischen Raum über die Bezeichnung „Faschang“ der „Fasching“ wurde. Zu dieser Zeit, zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert, vollzog sich im Rheinland auch die Genese der Städte und damit ein völlig neuer Lebensstil mit einer handwerklich-bürgerlichen Kultur, die auch die Veränderung des traditionellen Brauchtums zur Folge hatte, das nun säkularisiert und – mit der nun entstehenden Wirtshauskultur – auch kommerzialisiert wurde. Jetzt traten auch Verkleidungen stärker auf den Plan.

Alle Bezeichnungen – Karneval, Fastnacht und Fasching – werden also synonym verwendet und beziehen sich auf die anschließende Fastenzeit, die in Erinnerung an das im Matthäusevangelium beschriebene 40-tägige Fasten Jesu` in der Wüste erfolgte. Sie sind insofern also auf den christlichen Jahresfestkreis bezogen, der aus einem Oster- und Weihnachtsfestkreis besteht: Auf dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 wurde die verbindliche Festlegung von Ostern auf den ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond beschlossen – und 40 Tage vorher sollte die Fastenzeit beginnen, also dem heutigen Aschermittwoch, seit das Konzil von Benevent im Jahr 1091 beschloss, alle Sonntage als Gedächtnistage der Auferstehung nicht einzurechnen (in Basel beispielsweise hält man sich noch heute an den alten Kalender, weshalb die Fasnacht dort eine Woche später stattfindet als im Rheinland).

Auch der heutige 11. November – der „Elfte im Elften“ (die Zahl Elf verkörpert die Gleichheit aller Narren, im Sinne von „Eins und Eins“ oder „Gleich und gleich gesellt sich gern“, übersteigt die Zehn Gebote und bleibt unterhalb der göttlichen Zahl Zwölf) – nimmt den Beginn einer alten vorweihnachtlichen Fastenzeit auf und ist insofern auf den christlichen Festkreis, den Weihnachstfestkreis, bezogen: Es ergibt sich aus dem 40-tägigen Fasten – die Wochenenden läßt man wiederum weg – der 12. November als Anfangsdatum. Der Weihnachtsfestkreis endet am 6. Januar mit Epiphanias, bevor am Dreikönigstag beziehungsweise mit der „Weiberfastnacht“ am Donnerstag (im österreichischen Fasching auch „gumpiger Donnerstag“ genannt) die sechs Tage des eigentlichen Karnevals bis Fastnachtsdienstag beginnen.

Der Beginn des Karnevals im November wurde erst um 1830 in den Karnevalshochburgen des Rheinlands (Mainz ausgenommen) eingeführt. Schon mit den Einmarsch der Franzosen 1794 und durch den Fall an Preußen 1815 ändern sich die vormodernen Formen und Strukturen des Karnevals im Rheinland grundlegend. Die Aufklärung sowie die kirchenfeindliche Position der Französischen Revolution erschüttern nicht nur die christliche Vorstellungswelt des Fastens; Besatzungszeit und protestantische preussische Vorherrschaft veränderten die rheinischen Formen des Karnevals und politisieren ihn: die sogenannten Festordnenden Komitees wurden eingeführt, der Karneval institutionalisiert (und verbürgerlicht), um Konfrontationen zu vermeiden. Davon zeugen beispielsweise die Narrenkappen, die seit 1829 (in Köln) Zeugnis ablegen indem sie nach dem Freiheitssymbol der französischen Jakobinermütze gestaltet sind. Überhaupt verschwanden jetzt die alten Masken fast vollständig – auch die schon lange vorher, in der Renaissance, von der höfischen Gesellschaft eingeführten „Halbmasken“, die, wie das Kostüm, keinerlei religiöse oder metaphysische Bedeutsamkeit mehr hatten, sondern einzig und allein dem Rollenspiel dienten. Der Karneval war fortan einer permanenten Transformation unterworfen – und ist es bis jetzt.

Heutzutage jedoch tritt der Anlass des Karnevals als Vorbereitung auf die Fastenzeit fast völlig aus dem Bewußtsein, das heißt der Grundgedanke des Festes vor dem Fasten ist bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abhanden gekommen (seit die Hungerkrisen überwunden sind). Mehr und mehr rückt stattdessen ein zweckfreies Erleben und Feiern in der Gemeinschaft in den Vordergrund, „ein planmäßig erzeugtes Ereignis, das von einer professionellen Reflektionselite mit Sinn und Bedeutung versehen wird“, wie Gunther Hirschfeld in seinem Artikel „Karneval auf dem Weg in die Event-Gesellschaft“ schreibt, wobei sich Events als „Vergemeinschaftsformen grenzenloser, sich zunehmend individualisierender und pluralisierender Gesellschaften“ bezeichnen lassen, als ein „Spiegelbild einer zunehmenden Verszenung spätmoderner Gesellschaften“. Aber ist damit zugleich eine Karnevalisierung unserer gesamten Kultur verbunden? Hat die „Blödmaschine“, um mit Markus Metz und Georg Seeßlen zu sprechen, schon übernommen?

Erst ihre Entbindung vom religiösen Gebrauchscharakter erschließt neue Funktionsmöglichkeiten für die Maske, habe ich oben geschrieben, bis dahin war mit dem Anlegen der Maske noch eine Beschwörung des Dämons verbunden. Ist es heute wirklich anders? Auch deshalb: Maske auf!

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Essay

elektra unplugged

Was hat der Grüne Veltliner „Elektra“ von Martin Nittnaus mit der Protagonistin von Sophokles Drama zu tun? Ein Essay über Elektrizität …

„Unter all den wunderbaren Errungenschaften der modernen Wissenschaft ist der Elektrische Telegraph die größte und der Menschheit nutzbringendste. Ein fortdauerndes Wunder, das keine Vertrautheit zu einem Gemeinplatz herabwürdigen kann. Diesen Charakter verdankt es der Natur des Agenten, dessen er sich bedient, und des Zieles, dem er dient. Denn was für einem Ziel dient er, wenn nicht dem geistigen? (…) Um dies zu bewirken, bedient man sich eines Stoffes, der so fein ist, das man ihn angemessenerweise als spirituelle und nicht als materielle Kraft betrachten müßte. Die Kraft der Elektrizität, die latent in allen Formen der Materie, der Erde, der Luft und des Wassers anwesend ist, die alle Teile und Partikel durchdringt und die Schöpfung in ihren Armen hat, ist dennoch unsichtbar und viel zu fein, um analysiert zu werden.“

Elektrizität wird zur neuen Religion bei: Charles F. Briggs und Augustus Maverick, The Story of the Telegraph and a History of the Great Atlantic Cable, New York 1858

„Drama und Schönheit. Hier ist was in Gang, man riecht, man schmeckt es, unter der schönen, reifen, orangen, satten, intensiven Frucht, frisch und leicht auch, brodelt es, bahnt sich an wie eine Naturgewalt, volle erdige Würze, Kräuter, auch animalische Noten, Horn, das alles aus der Tiefe aufsteigend. Am Gaumen nimmt das Drama seinen Lauf, sanft beginnend, dann steigernd, vorbei die heile Welt, die Täuschung, jetzt kommt alles raus, das Drama nimmt seinen Lauf, frisch, kräutrig, pfeffrig, erdig-mineralisch, was für ein intensives, reifes, markantes Spiel, herb, frisch, pfeffrig bis zum Schluss. Wunderbar dramatischer, stimmiger Grüner Veltliner, intensives, grosses Schauspiel und für alle ein Genuss!“

Verkostungsnotiz zu Martin Nittnaus` Grünem Veltliner „Elektra“ von http://www.flaschenpost.ch

Die Familie Nittnaus in Gols, am Nord-Ostufer des Neusiedlersees im österreichischen Burgenland, an der Grenze zu Ungarn gelegen, betreibt seit 1684 Weinbau. 1985 übernahmen Hans, genannt „John“, und Anita das Weingut mit inzwischen etwa 30 Hektar. Seit 2013 betreiben sie biodynamischen Weinbau, organisiert in der Vereinigung „Respekt – biologisch dynamisch inspirierte Qualität“.

Die Nittnaus setzten zunächst auf die bekannten internationalen Rotweinsorten, nur in der Riede Ungerberg (Riede heißen die Lagen in Österreich) wurde auch Blaufränkisch (in Deutschland beziehungsweise Württemberg auch Lemberger genannt) angebaut. Der Blaufränkisch entwickelte sich 1990 zu einem so herausragenden Wein, dass er gemeinsam mit Cabernet Sauvignon zum Premiumwein des Weinguts, der Cuvée „Comondor“ (benannt nach einer ungarischer Hunderasse), verarbeitet wurde. (Der Cabernet wurde 1998 durch Merlot ersetzt und die Cuvée seit 2004 mit Zweigelt ergänzt, womit der „Comondor“ seither aus Merlot, Blaufränkisch und Zweigelt besteht.) Daneben produzieren die Nittnaus noch den „Pannobile“, eine Cuvée aus Zweigelt, Blaufränkisch und Sankt Laurent beziehungsweise den weißen Burgundersorten und Neuburger. „Pannobile“ ist namentlich eine Kreuzung aus „Pannonien“, wie das Burgenland und West-Ungarn als römische Provinz hießen, und „Nobel“. Darüber hinaus ist damit aber auch noch eine Winzervereinigung in Gols mit insgesamt neun Mitgliedern bezeichnet, die alle einen „Pannobile“ produzieren dürfen. Mit dem Comondor und dem Pannobile haben sich die Nittnaus eine führende Position unter den österreichischen Rotweinproduzenten erarbeitet – denen jetzt vielleicht mit dem Grünen Veltliner „Elektra“ ihres Sohnes Martin noch ein Weißwein folgt?

Martin Nittnaus ist nach seinem Studium der Theater-, Film und Medienwissenschaft sowie Anglistik in Wien 2015 in den familiären Weinbaubetrieb eingestiegen, als ihm der Weingarten „Manila“ auf der Südseite des Jungenbergs in Jois am Leithagebirge zur Verfügung gestellt wurde. Dort, in der kleinen Winzergemeinde am Nord-Westufer des Neusiedlersees, in der Riede Lindauer, die sich derzeit noch in der Genehmigungsphase für biodynamischen Weinbau befindet, sind auch die Reben für den Grünen Veltliner „Elektra“ gepflanzt.

Hier, am nördlichen Neusiedlersee, herrscht normalerweise pannonisches Klima – ein zwar kontinentales Klima mit kalten Wintern, insgesamt aber eher warm und trocken –, darüber hinaus wirkt der See mit seiner riesigen Wasseroberfläche, dem breiten Schilfgürtel sowie durch seine warmen Winde klimaregulierend und beeinflusst so die Reife in den Weinen, während jedoch das Leithagebirge im Rücken für nächtliche Kühle und damit für Aromatik, Frische, Finesse und Lebendigkeit sorgt. Das gilt auch für die außergewöhnliche, extrem kühle Riede Lindauer in Jois.

Der idyllische Winzerort Jois liegt an den sanften Hängen des Leithagebirges in einem Welterbe-Naturpark. Charakteristisch für diese Gegend sind die zum Neusiedlersee hin abfallenden Weingärten. Wie in den herausragenden französischen Weinbauregionen Burgund und Champagne (oder dem rechten Bordeaux-Ufer), wächst der Wein hier auf nach Süd- oder Ost exponierten Hängen auf der Ostseite des Leithagebirges auf Böden, die überwiegend aus Kalkgestein bestehen – aus Muschelkalk, um genau zu sein, dem sogenannten „Leithakalk“, einem festen, hellen Algenkalkstein, der reich an Muschelresten ist. Er ist im ruhigen Flachwasser des warmen Meeres entstanden, das hier vor 16 bis 11 Millionen Jahren das Gebirge umspülte. Der Muschelkalk gibt den Weinen eine mineralische, leicht salzige Note und Eleganz.

Die autochthone Rebsorte Grüner Veltliner ist die am häufigsten angebaute Rebsorte in Österreich. Sie ist auf insgesamt 15.000 Hektar gepflanzt (weltweit sind es 18.000) – und damit auf mehr als einem Drittel der Gesamtrebfläche Österreichs, wobei die wichtigsten vielleicht in Niederösterreich liegen – vom Donauraum bis ins Weinviertel. Das Burgenland ist hierzulande eher für Blaufränkisch und Zweigelt, vielleicht noch Sankt Laurent, bekannt – und der Grüne Veltliner „Elektra“ von Martin Nittnaus fällt diesbezüglich zwar nicht völlig aus der Reihe (die DAC Leithagebirge ist auch für Weißweine erlaubt, wenngleich der „Elektra“ ein Naturwein ist, der aus der DAC-Klassifizierung fällt), ist aber innerhalb des „Nittnaus-Spektrums“ doch eher eine Ausnahme. Martin Nittnaus selbst jedenfalls bedeutet zum Beispiel der Weinberg Manila, wie er schreibt, „Subversion. Chaos. Experiment. Und die Freude daran. Tradition ist wichtig, gilt aber bei mir nicht. Ich selbst habe ja keine. Ich möchte jedes Jahr einen neuen Wein machen, mit dem nicht nur ich leben kann.“ Das dürfte auch für die Riede Lindauer in Jois und den „Elektra“ von dort gelten.

Arbeitet John Nittnaus schon biodynamisch, geht sein Sohn Martin vielleicht noch etwas weiter in Richtung minimale Intervention und hinterfragt alles noch einmal (sogar auf Schwefelzusatz verzichtet er komplett). Schließlich gilt es, das Terroir auch ohne Klassifizierung bestmöglich im Wein zur Geltung zu bringen.

Der Grüne Veltliner „Elektra“ stammt von alten Veltlinerreben, die von Hand gelesen werden und von denen im 2017er-Jahrgang nur 2.400 Flaschen gefüllt wurden (im aktuellen Jahrgang 2019 sind es sogar nur 1.800 Flaschen). Das Jahr 2017 war insgesamt sehr trocken, die Niederschläge stellten sich auch im Frühjahr nur spärlich ein. Eine kurze Frostphase Ende April verging ohne Schaden an den Reben, da die Blüte bereits erfolgte – früher als normal. Auch der Sommer war heiß und trocken und zog sich bis Ende September hin – perfekt für Rotwein, eigentlich, aber auch der Grüne Veltliner „Elektra“ geriet außerordentlich. Die Lese für ihn erfolgte Mitte September 2017, danach wurde er traditionell im Holzfass vergoren und nach einem einjährigen Ausbau auf der Vollhefe Anfang November 2018 in die Flaschen abgefüllt.

Grüner Veltliner aus Österreich ist bekannt als ein frisch-fruchtiger Wein mit reichlich Säure und mitunter pikanter, pfeffriger Würze. Und auch in einem Steckbrief über den „Elektra“ von Martin Nittnaus heißt es: „Feiner Duft, fruchtig, würzig und floral. Nervig und engmaschig, intensives Säurespiel. Langer Abgang.“ Alles richtig. Und dennoch trifft diese Beschreibung nicht wirklich den Nerv des Weines. Denn, wie mir Martin Nittnaus in einer eMail schreibt: „Als wir die erste Ernte dieses Grünen Veltliner ELEKTRA hatten (der Weingarten heißt übrigens Lindauer) und ich ihn im Fass kostete, war das eine Offenbarung. Ich habe noch nie einen Grünen Veltliner probiert, der so eine präzise, klare, elektrifizierende Säure hatte, die aber angenehm war. Gleichzeitig war der Wein sehr subversiv, eigenständig und anders, denn er passt so gar nicht zum frisch-fruchtig-pfeffrigen Stil, mit dem viele Weine abgekanzelt werden.“

Tatsächlich hat der Grüne Veltliner „Elektra“ nur 1 Gramm Restzucker, aber doch 5,6 Gramm Säure pro Liter, und es wird verständlich, warum Martin Nittnaus sagt: „Seine Struktur packt einen, `elektrisiert´ einen auch.“ Denn der „Elektra“ besticht einerseits eben durch eine prägnante Säure, die aber abgefangen wird durch die Cremigkeit und den volleren Körper, die der Wein durch den langen Hefekontakt gewinnt: Er macht sich breit im Mund, wird samtiger, und überlagert damit den ersten Säureeindruck, die deshalb nicht unangenehm wirkt. Stattdessen bemächtigt sich ein intensives Aroma von reifer Orange und Grapefruit des Gaumens – sowie der Geschmack der bitteren, weißen Haut der Frucht. Auch florale Noten weißer Blüten und Hibiskus kommen zur Geltung. Eine dezente pfeffrige Würzigkeit auch, nicht dominant, etwas Lorbeer … Alles auch Geschmackssache, jeder ist eingeladen, sein Vokabular zu bemühen. Jedenfalls extrem langanhaltend – noch Minuten später lässt mich der Geschmackseindruck mit seiner ganzen Komplexität nicht los … extrem süffig, es ist lange her seit dem letzten Schluck und doch läuft mir noch immer das Wasser im Mund zusammen, ich möchte mehr davon …

Nach diesen subjektiven Geschmackseindrücken – was hat das alles mit „Elektra“ zu tun? Martin Nittnaus schreibt dazu: „Die Parallele: Die Figur der Elektra war immer eine eigenständige, starke, den Widerstand verkörpernde Figur … Mit ein bisschen Fantasie kann man sagen: Der Wein ELEKTRA zieht aus, um den symbolischen Mord der vielen massenproduzierten Grünen Veltliner zu vollziehen. Aber er passt eben auch wortmalerisch. Seine Struktur packt einen, `elektrisiert´ einen auch.“

Dem will ich nachgehen: Was heißt, „seine Struktur `elektrisiert´ einen“, was ist „elektrisierende Säure“? Und was hat das alles mit der Rolle der „Elektra“ zu tun?

Insbesondere in der Weinsprache kühlerer, nördlich gelegener Weinanbaugebiete gibt es verschiedene Ausdrücke für die sensorische Wirkung von Säure auf den Geschmackseindruck: lebendig, spritzig, stahlig, vibrierend beispielsweise. Wahrgenommen wird das von sogenannten Geschmacksknospen, die über unsere gesamte Zunge verteilt sind (und nicht jeweils bestimmte Regionen einnehmen). Die Zunge eines erwachsenen Menschen verfügt über bis zu 5.000 solcher Geschmacksknospen, die aus je etwa 100 Zellen bestehen. Nun beschreibt Martin Nittnaus seinen Grünen Veltliner als elektrifizierend – und tatsächlich erzeugt Säure, anders als andere Geschmacksstoffe (Salz ausgenommen), eine schwache Spannung im Inneren dieser Zellen. Bei anderen Geschmacksrichtungen ist es nicht elektrische Spannung, die die Geschmacksrezeptoren reizt, sondern es sind Rezeptoreiweiße in der Zellmembran. An diese Eiweiße docken die Geschmacksstoffe an und lösen biochemische Prozesse aus, aus denen dann allerdings auch wiederum ein elektrischer Impuls entsteht, der von den Nerven ins Gehirn geleitet wird. Dort analysieren Nervenzellen diese elektrischen Geschmacksreize und rufen Botenstoffe (wie Endorphine) und entsprechende Erregungsmuster beziehungsweise Gefühlsempfindungen hervor. Insofern ist unser Empfindungsvermögen also auch elektrisch induziert, das heißt, wie der Philosoph Tristan Garcia bemerkt, „(i)n dem Maße, wie das Leben empfindungsfähig ist, ist es von Nerven bedingt, und in dem Maße, wie es von Nerven bedingt ist, ist es elektrisch.“

Säure in einer wässrigen Lösung (beispielsweise Speichel) leitet schon elektrischen Strom, da sie Ionen, genauer gesagt elektrisch geladene Wasserstoff-Ionen, enthält, die auch für die sauren Eigenschaften verantwortlich sind. Im Wein selbst sind verschiedene Säuren enthalten, sie verleihen dem Wein grundsätzlich Frische und Struktur und fördern ein ausgewogenes Verhältnis der wichtigsten Geschmackskomponenten. Wein- und Apfelsäure sind dabei die beiden wichtigsten und machen allein schon über 90 Prozent der Gesamtsäure aus. Daneben ist beispielsweise noch Zitronensäure, Milch-, Butter-, Essig- und auch Bernsteinsäure vorhanden.

Vom altgriechischen Begriff für Bernstein, Elektron, leitet sich auch der Begriff „Elektrizität“ her, der um 1600 in unsere Sprache Einzug gefunden hat (zunächst als englische Übersetzung des vom Briten William Gilbert eingeführten „Electrica“). Durch Reibung erhält dieses fossile Harz nämlich eine negative elektrische Aufladung – was auch, nach Aischylos, dem Verfasser der Orestie, schon Sophokles bekannt gewesen sein dürfte, als er die antike Geschichte um „Elektra“ dramatisierte. Schon Sophokles begreift insofern die moderne Vorstellung von der elektrischen Energie als sowohl dem Anorganischen, als auch dem Organischen, dem empfindungsfähigen Leben, gemeinsames.

Sophokles hat sein Drama nämlich so entwickelt, dass dem göttlich gerechtfertigten Muttermord eine lang hingezogene Klage- und Leidensäußerung der Elektra vorangeht. Ihr Schmerz steht im Zentrum und macht den strukturellen Hauptteil des Dramas aus: „Eine sich von Szene zu Szene steigernde, höchst präzise Leidens-Ekstatik wird fast zum Inhalt der Tragödie“, schreibt Wolfgang Schadewaldt in einem Nachwort zu „Elektra“. Wie Nittnaus` Grüner Veltliner „Elektra“ einen von der Struktur her „packt“ und „elektrisiert“, vollzieht sich in Sophokles` Tragödie eine energetische, gleichsam dramatische Aufladung in einem lange andauernden Prozess, dem die blitzartige Entladung in der Mordtat folgt: „Durch diese Verteilung des breiten, strömenden Worts und der knappen, harten Tat gewinnt die gesamte Handlung ihr Gleichgewicht“, schreibt Schadewaldt.

Was bislang nur dem göttlichen Zeus, dem Blitzeschleuderer, erlaubt war, wird nun in rein menschlichen, diesseitigen Sphären verhandelt: Elektra agiert als selbstbewusste Frau, die sich nicht dem Schicksal ergibt, sondern das Leben selbst in ihre rächende Hand nimmt – und so gewissermaßen zum Modell von Individuation und menschlicher Selbstermächtigung wird (oder spezifisch weiblicher: „I`m a free bitch, baby!“, sind ihre, respektive Lavinias, letzten Worte in Pinar Karabuluts aktueller Inszenierung von O`Neills „Trauer muss Elektra tragen“ an der Berliner Volksbühne, die gerade parallel zur Elektra-Inszenierung von Rieke Süsskow am Berliner Ensemble laufen würde, wäre Theater nicht gerade verboten.)

Elektrizität schreibt sich als körperlich fühlbare Sensation dem einzelnen Individuum, Elektra, ein. Sie stiehlt den Göttern also gewissermaßen zum zweiten Mal das Feuer, den „göttlichen Funken“, diesmal jedoch als „elektrisches Fluidum“. Tristan Garcia bemerkt in diesem Zusammenhang in seinem Buch „Das intensive Leben“ (2017): „Man wusste seit langem, dass die anorganische Natur voller Elektrizität war …; man entdeckte jedoch, dass jeder empfindungsfähige Körper über Nerven verfügte und dass die Informationen des Empfindungsvermögens, des Leids und der Lust in einem Organismus von der Zirkulation desselben Fluidums – also der Elektrizität – übertragen wurden, das hervorsprühte … wenn Gewitter losbrachen.“ Da sie als „Energiefluss“ gleichsam alles zu „durchströmen“ schien, wurde Elektrizität zu Beginn der Moderne auch zu einem „Fluidum“, also zu „Strom“. Und die Ladung, ihre Intensität, zur „Stromstärke“.

Die Elektrizität ist mit Elektra in den Menschen übergegangen – Strom wird hier gewissermaßen geerdet (aus Kommunion wird Kommunikation) und zu einer Art „Seinsintensität“. Elektras Leidens-Ekstatik, die Sophokles dramatisiert, ist Ausdruck dieser Intensität: eine starke Empfindung, die sich jeder Rationalisierung entzieht. Denn die Intensität einer Empfindung ist nicht mit einer messbaren physischen Erregung – beispielsweise einem Adrenalinschub – zu verwechseln, sondern bleibt eine ausschließlich subjektive Größe. (Entsprechend bei Sophokles die Antwort Elektras auf die Warnung ihrer Halbschwester Chrysothemis, dass „das größte Übel“ auf sie zukomme, wenn sie nicht bald aufhöre, ihr Leid zu beklagen: „So nenne denn das Schreckliche! Denn wenn / Du mir ein Größeres nennen kannst als dieses hier, / So will ich weiter nicht dagegenreden!“)

Elektra hält das Leiden und der Schmerz, wenn auch in negativer Aufladung – vielleicht könnte man mit Martin Nittnaus sagen: „subversiv, eigenständig und anders“ –, dauerhaft in existenzieller Spannung, in einer Art nervösem Wachzustand. (Hier, in dieser Nervosität, liegt die Wurzel der zeitgenössischen Kritik an Hugo von Hoffmannsthals Version der „Elektra“ (1903), die nur eine Illustration der Freud`schen „Studien zur Hysterie“ (1895) sei. Hysterie wurde damals übrigens, und Freud dürfte das während seiner Zeit in Paris vermutlich selbst beobachtet haben, auch noch mittels „Faradisation“, also Elektroschocks, behandelt.) Und gerade diese nervöse Spannung, die Intensität im Allgemeinen, wird für Tristan Garcia zu einer Art Signum des modernen Lebens. Denn auch wenn der Zustand nicht wie bei Elektra ein dauerhafter ist, sondern vielleicht nur einem scheinbar flüchtigen Augenblick geschuldet ist, so kann dieser Augenblick dennoch „plötzlich hervortreten und uns den epiphanischen Eindruck eines elektrischen Schlags vermitteln. Dieser Schlag setzt uns wieder der Intensität des wahren Lebens aus und reißt uns aus dem Morast der Routine, in dem wir versunken waren, ohne es überhaupt zu bemerken.“

Intensität, die Stärke der inneren Aufladung, bezeichnet von nun an „den höchsten ethischen Wert“ und ist in dieser Qualität auch nach und nach „zum Fetisch der Subjektivität“ in unserer modernen Gesellschaft geworden. War sie ursprünglich, wie für Elektra, ein einmaliger und einzigartiger Widerstands- und Ausdruckswert, ist sie inzwischen eine ethische Norm – und hat sich auch an die Stelle eines klassischen Schönheitsideals in der Ästhetik gesetzt: Das Ziel besteht nunmehr darin, wie Garcia ausführt, „die Darstellung durch den Schock der Präsenz der Dinge zu übertreffen“. Es geht nicht mehr um die Erfahrung von Schönheit in der Kontemplation, sondern der Zuschauer will „von dem Schauder erfasst werden, das unkontrollierbare Übermaß der Präsenz dessen zu spüren, was sich vor ihm zeigt. (…) Erschaudernd will er den verlorenen Sinn des Hier und Jetzt wiederfinden.“

Dadurch jedoch verschiebt sich, Garcia folgend, auch die Wertigkeit unseres Lebens insgesamt: „Was allein zählt, ist, dass man bestimmt, ob es sich um etwas Starkes handelt“, wie eben Elektras Leiden zum Beispiel. Denn es gibt „kein objektives Kriterium des modernen ästhetischen Gefühls mehr, sondern lediglich ein Kriterium, das sich auf die Art und Weise bezieht: Ganz gleich, was die Sache sein mag, Hauptsache, sie ist es mit Intensität. (…) Ein einziges Gesetz leitet den modernen Prozess, in dem das Selbst über sich selbst richtet: dass das, was getan wurde, mit glühendem Herzen getan wurde.“ Es geht allein darum, intensiv zu leben – und das tut Elektra mit jeder Faser, ihr Schmerz steigert sich sogar noch von Szene zu Szene, wie Schadewaldt sagt.

Tristan Garcia beschreibt hier den Prozess der Selbstermächtigung und Bewusstwerdung vermittels eines elektrischen Schlags, der uns der Intensität des wahren Lebens aussetzt – eines Elektroschocks gewissermaßen. Angesprochen ist damit ein Phänomen, das Walter Benjamin (1892-1940) tatsächlich als „Chock“ konzeptualisiert und mit dem er versucht, eine neue, sinnlich-taktile Wahrnehmungsform (Ästhetik als Aisthetik) aufzuzeigen, die auch mit der Elektrifizierung seiner Lebenswelt korreliert (in seinem Passagen-Werk zitiert er Friedrich Engels, der Paris als eine Stadt bezeichnet, „in der alle Nervenfasern der europäischen Geschichte sich vereinigen, und von der in gemessenen Zeiträumen die elektrischen Schläge ausgehn, unter denen eine ganze Welt erbebt …“).

Für Benjamin sind mit der Elektrifizierung des Produktionsprozesses, mit der technisch beschleunigten Moderne insgesamt, Veränderungen der Wahrnehmung verbunden und insofern auch eine neue Wahrnehmungsleistung erforderlich. Norbert Bolz spricht in diesem Zusammenhang in seinem Klassiker „Theorie der neuen Medien“ (1990) von einer „radikalen `Umfunktionierung des menschlichen Apperzeptionsapparats´. Die zerstreute Rezeption der Massen ist das neue Paradigma der aisthesis, die nun ganz vom Taktilen dominiert wird.“ Insbesondere in der Hektik der modernen Stadt durchzucken schnelle Reizabfolgen, „Chocks“, die Subjekte. So werden kulturelle Reizschutzmechanismen der sinnlichen Wahrnehmung durchbrochen und die Zerstreuung gewissermaßen zur Signatur einer neuen, massenhaften Wahrnehmung. Die technischen Veränderungen schaffen so Bedingungen, die es den gleichsam mit den im Zuge der Elektrifizierung vollzogenen „Zweiten Industriellen Revolution“ entstandenen Massenindividuen kaum mehr möglich macht, die Haltung eines kontemplativen Rezipienten einzunehmen: Die Masse wird eben zum „zerstreuten Rezipienten“.

Das Phänomen des „Chocks“ erklärt Benjamin, etwa in seinem Kunstwerk-Aufsatz (1935), am Beispiel des relativ neuen, elektrifizierten Mediums Film, da dieser seines Erachtens die Veränderungen des Apperzeptionsapparats auf ideale Weise auffängt. Benjamin selbst bemerkt in diesem Zusammenhang: „Es kam der Tag, da einem neuen und dringlichen Reizbedürfnis der Film entsprach. Im Film kommt die chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung. Was am Fließband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film dem der Rezeption zugrunde.“ Mit dem Begriff der Montage spielt der industrielle Produktionsprozess dabei nicht nur begrifflich in die Sphäre der Ästhetik.

Der Film besitzt für Benjamin eine taktile, körperliche Qualität, weil das Gezeigte sich kontinuierlich verändert und dem Publikum gewissermaßen zustößt – ihm sozusagen fortlaufend ins Auge springt – und so der Kontemplation diametral gegenübersteht: Seine in diesem Sinn „physische Chockwirkung“ begünstigt die kritische Rezeptionshaltung der Masse insofern, als hier eine einfühlende und reflektierende Aufnahme aufgrund der Reizwirkung bereits physiologisch nicht mehr leistbar ist und dadurch ein hohes Maß an Konzentration abverlangt wird. Denn jeder Schnitt, jede neue Einstellung beinhaltet eventuell bereits eine Antithese zur persönlichen Assoziationsfolge des Rezipienten (grundsätzlich kann man in diesem Zusammenhang davon ausgehen, dass der Rezipient versucht, die vom Film verursachten Sinneseindrücke in einen Zusammenhang zu bringen). Mit den vom Film verursachten „Chocks“ jedoch kann sich der Rezipient nicht mehr seinem Assoziationsablauf, wie in der Kontemplation, überlassen. Und darin liegt für Benjamin auch das politische Potenzial der neuen sinnlichen Wahrnehmungsleistung begründet: Sie ist nicht nur auf ein Massenpublikum bezogen, sondern der „Chock“ (wie Garcias „elektrischer Schlag“) verlangt auch jenes Bewusstsein, jene gesteigerte Geistesgegenwart (im Sinne von Elektras „nervösem Wachzustand“), die sich der gesellschaftlichen Krise, wie sie für Benjamin seit der nationalsozialistischen Machtergreifung mit deren Bemühungen um eine Auratisierung oder Ästhetisierung der Politik (beispielsweise im „Führerkult“) zum Ausdruck kam, widersetzen kann. Der „Chock“ macht der „Aura“ gewissermaßen den Prozess …

Insofern ist die Masse bei Benjamin begriffen als „eine Matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten … neugeboren hervorgeht“, wie er sagt (womit er auch den Begriff des Individuums als zentrales Moment bürgerlicher Ideologie angreift). In seinem Passagen-Werk vergleicht er sie, die Menge, in Anlehnung an Baudelaire auch als „Reservoir elektrischer Energie“ („la foule comme … un immense réservoir d`électricité“) – und bemüht damit einen Gedanken, der vielleicht sogar am Anfang der Moderne steht, jedenfalls bezeichnet Martin Burckhardt in seinem Buch „Vom Geist der Maschine“ (1999) ein Ereignis aus dem Jahr 1746, das diesen Gedanken in die Praxis umsetzt, als „Initiale der Moderne“.

Burckhardt schreibt über diese, wie er es selbst bezeichnet, „schockhafte Erfahrung“: „Das Feld der Erkenntnis. Bemerkenswerterweise ist das Feld der Erkenntnis kein abstrakter geistiger Raum, sondern ein wirkliches Feld, irgendwo im Norden Frankreichs. (…) Da steht ein Abt, der Abbé Nollet, und weist 700 Kartäusermönche an, in einem Kreis Aufstellung zu nehmen. Der Kreis ist riesengroß, ein paar hundert Meter im Durchmesser, jedoch können die Mönche einander noch sehen. Als jeder auf seinem Platz steht, beginnen die Mönche einander mit Eisendraht zu verdrahten. Als dies geschehen ist, berührt der Abt ein Behältnis – es ist innen und außen mit Stanniol umwickelt und mit Wasser gefüllt. Ein kleiner Draht, der ausschaut wie eine selbstgebastelte Antenne, führt ins Innere. Und in diesem Augenblick, da der Abt das Behältnis berührt, passiert etwas Merkwürdiges, etwas, das den Namen Zeitriß verdient. Denn die verdrahteten Kartäusermönche beginnen zu zucken, gleichzeitig.“

Die Frage, die diesem Feldversuch zugrunde liegt, war die nach der Geschwindigkeit von Elektrizität: Wie schnell bewegt sich die neue Energie, diese merkwürdige, natürliche Substanz? Das Ergebnis war, dass sich Elektrizität so schnell bewegt, dass man sie mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmen kann (weshalb sie sich – vor dem Hintergrund paradigmatischer, naturbeherrschender Rationalität in der Moderne – zunächst etwas Geheimnisvolles bewahrte). Alle in diesem Kreis zuckten gleichzeitig, womit auch das inauguriert ist, wie Burckhardt bemerkt, „was man Echtzeit nennt“: Es kommt zu einer Verräumlichung zeitlicher Prozesse – die Zeit bildet keine Linie mehr, sondern einen Kreis. „Davon ausgehend“, schreibt Burckhardt weiter, „ist es nur ein kurzer Schluss zu einer bizarren Behauptung: dass nämlich das Internet seinen Ursprung im 18. Jahrhundert hat. Denn das, was die im Kreis und in Echtzeit zuckenden Techno-Mönche vorführen, ist präzise das, was man einen Prozessor nennt … Denn die zentrale Prozessor-Einheit eines Computers (CPU) ist dadurch charakterisiert, dass sie einen in sich schwingenden Raum darstellt, einen Raum, in dem die zur Verarbeitung anstehenden Daten in real time verfügbar sind. (…) Das ist, als Bedingung der Möglichkeit, die eigentliche Bedeutung der Echtzeit und des virtuellen Raums.“

Darüber hinaus verdeutlicht dieser Versuch auch, dass das, was man heute ein Netzwerk nennt, eine reale Basis hat. Damit entgeht man „jener falschen Unterscheidung, die den virtuellen Raum als künstlich ausweist und einer vermeintlich wirklichen Wirklichkeit gegenüberstellt. Es ist also gerade der körperliche Aspekt der verkabelten elektrisierten Mönche, der zeigt, dass das Internet in einer Tradition der Vernetzung steht, dass es keinen Bruch mit der Moderne, sondern vielmehr den letzten logischen Ausdruck des elektrischen Moderneaggregats darstellt.“

Elektrizität verwandelt die Leiber der Menschen (Mönche) insofern zu einer zuckenden, gleichgeschalteten „Masse“, sie ist das erste, wirkliche Massenmedium, wie Burckhardt feststellt: Die Mönche sind „in ein und demselben Augenblick derart zusammengeschaltet, daß sie ein kollektives Gebilde abgeben, ein Gebilde, das sich in einem Rückkoppelungsmechanismus seiner eigenen massenhaften Beschaffenheit bewusst werden kann. In diesem Sinn stellt die Elektrizität jenes Medium dar, das eine Masse im modernen Sinn erst generiert.“ Der Kollektivkörper beruht auf der Elektrizität als der Bedingung der Möglichkeit, die sich damit als „nonpersonaler Agent“ – als Drahtzieher gewissermaßen – an jene Stelle setzt, die in der Massenpsychologie von Sigmund Freud noch einem „Führer“ zugedacht ist, der als Projektionsgestalt notwendig sei, dass aus einem Menschenhaufen eine „Masse“ werde. Entsprechend auch beschreibt zum Beispiel Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (1805/6) die Mobilisierung der Masse zur Französischen Revolution als ein elektrisierendes Phänomen: Die Initialzündung zum „Umsturz der Ordnung“ hat sich ihm zufolge nämlich aufgrund einer gewissermaßen funkenschlagenden Rede Mirabeaus ereignet, der sich „einer Kleistischen Flasche gleich, entladen hatte“ (es war ein entfernter Verwandter von Heinrich von Kleist, Ewald von Kleist, der im Jahr 1745 die „Kleistische Flasche“ erfand, die als erster Stromspeicher beziehungsweise Kondensator gilt – und als „Leidener Flasche“ nur deshalb bekannt wurde, weil der Holländer Pieter Musschenbroek seine zeitgleiche Erfindung publikumswirksamer vermarktete).

Dass keine Projektionsgestalt zur Bildung einer (revolutionären) Masse notwendig ist, wollte schon Benjamin vor über 80 Jahren aufzeigen. Ohne es so zu benennen – er spricht stattdessen von einem Reservoir elektrischer Energie –, begriff er die modernen Menschen als eine elektrisierte Masse, die sich noch nicht einmal mehr physisch zusammenschließen muss: Zu ihrer Etablierung genügt es seit der Errichtung des Stromnetzes (die ersten Hochspannungsleitungen wurden ab 1917 gebaut), dass sie sich „über die Steckdose, also in übertragener Form, in jenen Rausch hineinsteigert, der den einzelnen einer zuckenden Gesamtheit einverleibt“, um noch einmal Burckhardt zu zitieren.

Martin Burckhardt beschreibt die Vernetzung als condition humaine der Moderne – und der Erfolg der vielen Social-Media-Plattformen, der sozialen Netzwerke, gibt ihm sicherlich recht. Begreift man diese „zuckende Gesamtheit“ weniger negativ konnotiert als Kollektiv energievoller Individuen, kann man sicherlich, mit Garcia, sagen, dass „(u)nser demokratisches kulturelles Leben … das kollektive Maß dieser variablen Energien (ist): das Neue, das auf das Neue folgt; das Unerwartete und Unerhörte, dem der moderne, kritische Geist, ausgehend von den Vorgaben der Magazine, Blogs und sozialen Netzwerke, nachjagt, wobei man der Mode und dem Leben der Ideen folgt, das Déjà-vu, das Gewöhnliche und Routinemäßige zurückweist …“ Praktisch alles in unserer Gesellschaft ist „den wechselhaften Erregungen … und den blitzartigen Reaktionen des Menschen ausgesetzt, der von der Neuheit elektrisiert wird“, schreibt er.

Aber unabhängig von aller Neuheit – es bleiben offenkundig auch verbindliche Werte übrig, auf deren Grundlage jeder, seinen Überzeugungen entsprechend, handelt (anders sind ja auch die vielen weltweit agierenden Non-Governmental-Organizations und politischen Bewegungen nicht zu erklären). Dennoch ist es doch auch so, dass die Vernetzung nicht nur mit einem vielleicht zuvor selten empfundenen Gemeinschaftsgefühl beglückt, sondern auch ihren Preis fordert. Schließlich ist es keineswegs einfach, sich dem „zuckenden Kollektiv“ zu entziehen und das eigene, authentische Leben zu führen, noch dazu, wenn man mit Adorno davon ausgeht, dass es „kein richtiges Leben im falschen“ gibt. Offenbar hilft hier nur, den Stecker zu ziehen … und das tut Martin Nittnaus gewissermaßen auch: Sein Grüner Veltliner widersetzt sich dem herrschenden Massengeschmack, wie sich Elektra der zu unrecht herrschenden Macht widersetzt. Er ist als Naturwein sozusagen unplugged – „zeitlos, trendlos“, wie es im Steckbrief zum Jahrgang 2019 heißt, und insofern auch von jeder Mode unabhängig: „Klassisch, antiklassisch, die Bezeichnung ist egal.“ „Dieser Wein hat kein Ende“, heißt es des Weiteren, und das ist sicherlich nicht nur auf den langen Abgang zu beziehen: Hier steht Individualität und Authentizität über Merkantilität und dem Geschmack einer anonymen Masse. Es geht insofern auch um die Wiedergewinnung des Echten, Wahren und Auratischen!

„Wenn sich der Maßstab verändert“, sagt Émile Durkheim, „verändert sich auch die Natur der menschlichen Beziehungen und Institutionen.“ Damit wird der Maßstab selbst zu einer historischen Triebkraft – und Geschichte zu einer Revolution ohne Revolutionär: Verändert wird unsere Art und Weise, über etwas zu denken. Vielleicht hat ja auch „Elektra“, wie seine Vorläufer (der Comondor und der Pannobile) dieses taktile, körperliche Potenzial, diese Intensität, unser Bewusstsein zu elektrisieren und zu verändern. Es wäre jedenfalls zu wünschen …

Die Ortschaft Gols, wo die Familie Nittnaus seit Jahrhunderten lebt und Weinbau betreibt, liegt, wie sie schreiben, „auch ein wenig abseits des Trubels und der Hektik der Stadt. Deshalb haben wir hier die Ruhe und Geduld, uns darauf zu konzentrieren, worauf es ankommt. Unverkennbare, zeitlose, dauerhafte Weine aus einheimischen Sorten zu erzeugen, die einen ein Leben lang begleiten.“ In diesem Sinn: „Vorhang. Licht.“ Und anfügen möchte ich noch: Zum Wohl!

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room by room

Mit einer coronakonformen Weinverkostung in mehreren Räumen eines Hotelflurs in Berlin schafft Generation Riesling ein Setting wie die Choreographin Sasha Waltz in ihrer Produktion insideout aus dem Jahr 2003 in der Berliner Schaubühne …

Mit der Generation Riesling möchte das Deutsche Weininstitut das verstaubte Image des deutschen Weins aufpolieren. Etwa 550 junge WinzerInnen haben sich hier organisiert, um als Botschafter einer modernen Weinerzeugung auch international aufzutreten und für einen innovativen und lebendigen Weinbau zu werben. Dazu veranstalteten sie heute, am 5. Oktober 2020, für die Fachwelt in Berlin erstmals eine neue, „coronakonforme Art der Weinpräsentation“, ein „GR #weinhopping“, wie sie vorab schrieben, indem fünfzehn Winzer sich und ihre Weine in fünfzehn Zimmern in einem Berliner Hotel präsentierten. „Besondere Umstände erfordern neue Ideen. (…) Auf einem Hotelflur erwartet die Besucher … hinter jeder Zimmertür ein anderes Weingut der Generation Riesling mit zwei voneinander getrennten Verkostungsplätzen – ganz nach dem Motto der Veranstaltung `tasting room by room´.“ Mit dem Wandern von Raum zu Raum könne der Austausch über „Trends in der deutschen Weinszene“ unter Einhaltung der aktuellen Abstandsvorschriften „in noch persönlicherer Atmosphäre erfolgen“.

Mit der Verkostung in separaten Räumen schafft Generation Riesling ein Setting wie die Choreographin Sasha Waltz mit dem Bühnenkonzept von Thomas Schenk bei ihrer Produktion insideout aus dem Jahr 2003 in der Berliner Schaubühne, wo der Bühnenraum, wie es in einer Rezension von Stephan Becker heißt, „eine Vielzahl von Räumen mit ganz unterschiedlichen atmosphärischen Qualitäten bietet. Gleich einem Flaneur durchwandert der Zuschauer die Raumbühne.“ Anders als der Hotelflur erstreckt sich das begehbare Bühnenbild jedoch über zwei Etagen und besteht aus einem labyrinthisch verschachtelten Konglomerat aus verwinkelten Gängen und Kammern mit Vorhängen, Sehschlitzen und verschiebbaren Wänden, die Blicke auf die sich darin befindlichen Tänzer ermöglichen und mitunter auch verhindern beziehungsweise erschweren.

Dem intendierten direkten Gespräch bei der Weinverkostung steht bei Sasha Waltz also der mitunter erschwerte Kontakt zu den TänzerInnen gegenüber. Dennoch gibt es Parallelen zwischen beiden Inszenierungen: Ausgangspunkt für Sasha Waltz waren die autobiografischen Erfahrung und Hintergründe der einzelnen Mitglieder der Compagnie, genauer gesagt ihr jeweiliges Motiv der Migration, das in die Entstehung von insideout eingeflossen ist, stammen doch die Vielzahl der Tänzer ursprünglich nicht aus Deutschland. Eine Karte im Foyer zeigt in Form eines weltweit gesponnenen Netzes die Herkunft der Beteiligten. Sasha Waltz bemerkt in diesem Zusammenhang: „Ich beschäftige mich nicht so sehr mit der Form des Körpers als vielmehr mit den Systemen, die uns am Leben erhalten und gleichzeitig irgendwie definieren.“ In jedem einzelnen Raum kommen insofern ganz persönliche Geschichten zur Aufführung, mitunter auch fremde (wie beispielsweise bei Laurie Young, einer chinesischen Kanadierin, die ihre Geschichte anhand eines chinesischen Etuikleids ihrer Mutter reflektiert, das sie an-, aus- und umzieht). Dementsprechend wird also auch keine einheitliche Erzählung inszeniert.

Das Stück insideout entwickelt sich choreografisch zeitgleich in allen Räumen und der einzige dramaturgische Eingriff – bei beiden Veranstaltungen – ist eben der, dass man unterschiedliche Individuen aus unterschiedlichen Herkünften aber mit einer gemeinsamen Idee an einem Ort, in einer Stadt, versammelt hat: So wie die WinzerInnen aus den unterschiedlichen Weinanbaugebieten in Berlin zusammenkommen um ihre Idee modernen Weinbaus zu vermitteln, so kann insideout, wie Stephan Becker in seinem Artikel Das Innenleben des Städtischen bemerkt, „als eine Parabel für das Leben in der Moderne gelesen werden. Dieses Leben, das Georg Simmel prototypisch in der Großstadt verwirklicht sieht, wirft permanent Fragen nach dem Verhältnis von historischem Erbe, Herkunft und Identität, gesellschaftlichen und individuellen Werten sowie deren Gegensätzlichkeiten und Widersprüche auf, die ganz spezifische Lebensstile und Identitäten prägen.“

So wie Generation Riesling „noch persönlicherer“ [sic!] mit seiner Verkostung sein möchte, ist insideout hinsichtlich der Überwindung der klassischen Trennung von Darsteller und Publikum programmatisch – wenn es darum geht, den Zuschauer am Bühnengeschehen zu beteiligen, wie beispielsweise in einer Szene, als plötzlich mehrere Tänzer mit Megaphonen „bewaffnet“ die ausweichenden Zuschauer in den Gängen mit Fragen konfrontierten: Wo kommen Sie her? Sind Sie verheiratet? Haben Sie eine Kreditkarte? Warum rennen Sie davon? Und natürlich will auch Generation Riesling für die Anmeldung zur Verkostung wissen, weniger dramatisch natürlich, mit wem sie es zu tun hat: Aus welcher Branche? Welche Firma? Und in welcher Funktion man dort tätig ist? Als bis dahin eher unbeteiligter Voyeur oder Flaneur wird man sich spätestens jetzt der eigenen Rolle bewußt und man kann sich der Tatsache nicht entwinden, selbst ein Beteiligter der Inszenierung zu sein.

Ein wesentlicher Teil des Konzeptes ist auch das Gehen, das heißt insbesondere bei insideout wird das ziellose Flanieren zu einer Form der Welterfahrung. Die Figur des Flaneurs wird von Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk eingeführt, wo er in Bezug auf Marcel Proust eine Entwicklung weg vom romantischen Landschaftsgefühl hin zu einer romantischen „Stadtschaft“ bemerkt, in der jede einzelne Beobachtung zur geistigen Reflexion und Auseinandersetzung führt. Tatsächlich ist auch die Raumbühne in insideout mit Treppen, Gängen, Plätzen und Räumen, deren unterschiedliche Öffnungen Einblicke gewähren, angelegt wie ein städtischer Raum, den sich der Besucher selbst erschließen soll. Die private, intime Begegnung zwischen Tänzer und Besucher sorgt schließlich dafür, wie Stephan Becker bemerkt, „die Dynamik unter der Oberfläche der üblichen Konventionen des städtischen Zusammenlebens spürbar zu machen“. Der Besucher bleibt so ein Individuum, das nicht in der Zuschauermasse aufgeht, anders als für Benjamin, für den die Straßen dann doch „Wohnung des Kollektivs (sind). Das Kollektiv ist ein ewig unruhiges, ewig bewegtes Wesen, das zwischen Häuserwänden soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt wie Individuen im Schutze ihrer vier Wände.“

Coronabedingt sind derzeit für alle Veranstaltungen kreative Raumlösungen gefragt – und es bleibt zu hoffen, dass nicht ein weiteres Mal notwendig wird, was Theodor Wiesengrund Adorno in seinen Minima Moralia aus dem Jahr 1951 auch als eine Form des Flanierens bestimmt; Er bezieht sich dort auf eine Geschichte des jungen Kierkegaard, in der Johannes Climacus, das spätere Pseudonym Kierkegaards, davon berichtet, wie sein Vater ihm das Verlassen der Wohnung untersagte, und ihm stattdessen vorschlug, „Ausgänge in der Stube“ zu machen. Flanieren bezieht sich hier nicht mehr auf eine städtische Wirklichkeit, sondern diese ist begriffen als reine Innerlichkeit, als outsidein gewissermaßen: „Wenn Johannes zuweilen um die Erlaubnis ausgehen zu dürfen bat, wurde es ihm meistens abgeschlagen; hingegen schlug ihm der Vater als Ersatz zuweilen vor, an seiner Hand auf dem Fußboden auf und ab zu spazieren. Beim ersten Hinsehen war dies ein ärmlicher Ersatz, und doch … etwas ganz anderes war darin verborgen. Der Vorschlag wurde angenommen, und es wurde Johannes ganz überlassen zu bestimmen, wo sie hingehen wollten. Dann gingen sie aus der Einfahrt, zu einem naheliegenden Lustschloß oder hinaus zum Strande, oder auf und ab in den Straßen, ganz wie Johannes es wollte; denn der Vater vermochte alles. Während sie nun auf dem Fußboden auf und ab gingen, erzählte der Vater alles, was sie sahen; sie grüßten die Vorübergehenden, Wagen lärmten an ihnen vorbei und übertönten des Vaters Stimme; die Früchte der Kuchenfrau waren einladender denn je …“

Sasha Waltz war seit der Gründung der Tanzcompagnie Sasha Waltz & Guests im Jahr 1993 hintereinander im Podewil und Künstlerhaus Bethanien tätig, bevor sie 1995 die Sophiensaele in Berlin-Mitte entdeckte und dort erstmals, für fünf Jahre, heimisch wird (Mit-Gesellschafterin ist Waltz noch immer). Dort entstand unter anderem Allee der Kosmonauten, mit dem 1997 zum ersten mal seit Urzeiten wieder eine Tanzproduktion zum Theatertreffen eingeladen wurde, was vorher nur Pina Bausch gelungen ist. Zur Spielzeit 1999/2000 übernahm Waltz dann mit Thomas Ostermeier und anderen die Schaubühne. Haben Pina Bausch und William Forsythe überhaupt erst eigene Wege für den Tanz aus dem Stadttheatersystem heraus gefunden, sorgte Waltz mit dieser Kooperation für Furore.

Die Zeit in der Schaubühne eröffnete sie mit der Produktion Koerper. Mit diesem Stück geht sie, wie sie selbst sagt, „weg von diesem Intimen der vorherigen Stücke. (…) Dadurch, dass ich in diesen Raum gegangen bin, hat sich etwas anderes, Neues entwickelt. Durch diese gigantische Höhe, diese Tiefe …“ Im Jahr 2004 macht sie sich jedoch wieder unabhängig von der Schaubühne und gründet ihre Compagnie im Jahr darauf neu. 2006 wählt sie das Radialsystem V. zum neuen Aufführungsort und entwickelt schon vor der Eröffnung des Gebäudes Dialoge – wie auch 2009 für die Eröffnung des Neuen Museum Berlin. Seit 2019 ist Waltz als Co-Leiterin des Staatsballet Berlin tätig.

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falstaff

Falstaff ist der Antiheld schlechthin. In seinem Drama Heinrich IV. zeichnet ihn Shakespeare als ungekrönten König des Wirtshauses. Insbesondere dem „spanischen Sekt“, der eigentlich ein trockener Sherry ist, kann Falstaff nicht wiederstehen …

Falstaff: Ein guter spanischer Sekt hat eine zweifache Wirkung an sich. Er steigt Euch in das Gehirn, zerteilt da alle die albernen und rohen Dünste, die es umgeben, macht es sinnig, schnell und erfinderisch, voll von behenden, feurigen und ergötzlichen Bildern; wenn diese dann der Stimme, der Zunge, überliefert werden, was ihre Geburt ist, so wird vortrefflicher Witz daraus. Die zweite Eigenschaft unsers vortrefflichen Sekts ist die Erwärmung des Bluts, welches, zuvor kalt und ohne Bewegung, die Leber weiß und bleich läßt, was das Kennzeichen der Kleinmütigkeit und Feigheit ist: aber der Sekt erwärmt es, und bringt es von den innern bis zu den äußersten Teilen in Umlauf. Er erleuchtet das Antlitz, welches wie ein Wachfeuer das ganz kleine Königreich, Mensch genannt, zu den Waffen ruft; und dann stellen sich alle die Insassen des Leibes und die kleinen Lebensgeister aus den Provinzen ihrem Hauptmann, dem Herzen, welches, durch dies Gefolge groß und aufgeschwellt, jegliche Tat des Mutes verrichtet. Und diese Tapferkeit kommt vom Sekt, so daß Geschicklichkeit in den Waffen nichts ist ohne Sekt: denn der setzt sie in Tätigkeit; und Gelahrtheit ist ein bloßer Haufe Goldes, von einem Teufel verwahrt, bis Sekt sie promoviert, und in Gang und Gebrauch setzt. (…) Wenn ich tausend Söhne hätte, der erste menschliche Grundsatz, den ich ihnen lehren wollte, sollte sein, dünnes Getränk abzuschwören, und sich dem Sekt zu ergeben.

Falstaff in: William Shakespeare, Heinrich IV. (1597), Zweiter Teil, IV/3

Auf den etwa achtzig Seiten des Ersten Teils von Shakespeares Drama Heinrich IV. taucht das Wort „Sekt“ zwanzig Mal auf (das Wort Bier hingegen nur drei Mal). Es wurde in der Übersetzung der beiden Romantiker Karl Friedrich Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck lautmalerisch vom englischen „sack“ übernommen – aus „sack“ wurde bei ihnen „sect“: „Give me a cup of sack, roque. Is there no virtue extant?“, sagt Fallstaff in der vierten Szene im zweiten Akt. „Bring er mir sect, Schurke – ist keine Tugend mehr auf Erden?“, haben die beiden das übersetzt. Dass sich daraus der Begriff „Sekt“ als Ausdruck für einen Schaumwein entwickelte, ist wiederum dem Schauspieler Ludwig Devrient zu verdanken. Das aber ist eine andere Geschichte

Denn eigentlich war mit dem ursprünglichen sack bei Shakespeare gar kein Schaumwein gemeint: Als sack wurden zu Shakespeares Zeit (er lebte von 1564-1616) in großen Mengen nach England importierte, gespritete Weine aus Spanien, den Kanaren und Portugal bezeichnet. Das war im 16. und 17. Jahrhundert gebräuchlich, ja schon seit den Windsor-Verträgen von 1386 betrieb England eine militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Portugal (es existiert bis heute und ist damit das älteste diplomatische Bündnis in Europa) und trockener Sherry aus Jerez wurde durch Händler der Vintner`s Company in London schon seit 1565 vertrieben. Angeblich war auch Shakespeare selbst dem Sherry zugetan und genehmigte sich täglich ein Quantum in seinem Stammpub, der Beard Head Tavern in London.

Über die Namensbedeutung gibt es einige Versionen. Nach einer dieser Varianten leitet sich sack vom französischen sec, für trocken, ab. Dagegen jedoch spricht, dass damit alle Weine von süß bis trocken bezeichnet wurden. Eine zweite Variante erklärt den Namen durch das spanische saca, für Abfüllung, das zu sack mutierte. Oft wurde zur genaueren Definition des gespriteten Weines noch zusätzlich die Herkunft angegeben. In Heinrich IV. beispielsweise ist einmal von einem Kanariensekt die Rede (a cup of canary-sack von den kanarischen Inseln), außerdem an einer Stelle auch noch von einem noch heute so genannten Madeira. Daneben wird in anderen Dramen Shakespeares auch noch von Malaga-Sack und dezidiert auch von Sherris-Sack (also Sherry aus Jerez) gesprochen, bevor sack ab dem 17. Jahrhundert überhaupt zum Synonym für Sherry wurde.

Alle diese Weine haben gemeinsam, dass sie für die lange Schiffsreise nach England mit reinem Alkohol aufgespritet und damit haltbar gemacht wurden. Das geschieht noch heute in vielen südlichen Ländern – Unterschiede aber gibt es beim Zeitpunkt der Alkoholzugabe: Während Portwein (wie Madeira oder französischer Banyuls) beispielsweise während der Gärung aufgespritet wird (nach etwa zwei bis drei Tagen, wenn der natürliche Alkoholgehalt bei etwa neun Prozent liegt, wird die Gärung unterbrochen, indem auf 400 Liter Wein 100 Liter reiner Alkohol aufgegossen werden, weshalb Portweine schließlich mit bis zu 22 Prozent einen relativ hohen Alkoholgehalt aufweisen), wird Sherry erst nach der Gärung gespritet (trockene Finos auf maximal 15,5 Prozent, süssere Olorosos auf etwa 17 Prozent, wobei der Anteil an zugegebenem Alkohol nur bei etwa 3,5 Prozent liegt und nicht bei 20 Prozent wie bei bei Port).

Im Drama Heinrich VI. erwähnt Shakespeare zwar auch einen zu dieser Zeit als König der portugiesischen Weißweine bezeichneten Wein aus Bucelas namens Charneco und in Heinrich IV. wird auch ein Malvasia erwähnt, insgesamt aber spielt eindeutig der sack die Hauptrolle in seinen Werken, beispielsweise in Macbeth, Richard III., Heinrich VI. und Was ihr wollt. Insbesondere aber in Die Lustigen Weiber von Windsor und im schon erwähnten Heinrich IV., wo die in die politischen und kriegerischen Darstellungen eingestreuten Szenen um eine der wichtigen Figuren Shakespeares, Sir John Falstaff beziehungsweise kurz: Falstaff, einen bedeutenden Raum einnehmen.

Falstaff ist der Antiheld par excellence. Theatergeschichtlich gleicht er einer Figur aus einer der derben römischen Komödien von Plautus oder der mittelalterlichen, italienischen Commedia dell`arte: Er ist korpulent und feige, aber auch prahlerisch und wortgewandt, von übersprudelnder Phantasie aber auch hinterhältig und gemein (er bereichert sich beispielsweise an Bestechungsgeldern). Falstaff ist der ungekrönte König des Wirtshaus, in Heinrich IV. gibt es kaum eine Szene mit ihm, in der nicht vom Trinken die Rede ist und auch getrunken wird. Er ist ein Freund des hemmungslosen leiblichen Genusses und … kein guter Umgang also für den künftigen Thronfolger Prinz Harry, den Sohn von König Heinrich IV., als dessen väterlicher „Erzieher“ sich Falstaff durch die politischen und kriegerischen Wirren schleicht. Schließlich ist das Königreich aufgrund einer Rebellion in Gefahr. Aber im Gegenteil: Mit Falstaff hat Shakespeare eine Figur geschaffen, die geradezu alles vereint, was der herrschenden Ordnung und dem herrschenden Ideal entgegen steht. Er schert sich nicht um Verantwortung oder moralische Bedenken und legt sich alles nach seinem Vorteil zurecht, dennoch wird er gemocht. Ihm geht es um Vergnügen und grenzenlose Freiheit, bacchantinische Ausgelassenheit gewissermaßen.

Seine Stunde glaubt Falstaff gekommen, als sein Prinz König geworden ist. Er sieht sich nun dem Thron am nächsten und verspricht allen in seiner Umgebung hohe Ämter: „Glücklich sind die, welche meine Freunde waren.“ Aber das Erwachen ist hart, denn der neue König weist ihn unmittelbar nach seiner Thronbesteigung zurück. „Falstaff ist Exzess. Er ist das überbordende Zu-viel-an-allem, Überschuss, der keinen Gewinn abwirft. Solange es Spaß macht, kann man sich so einen Falstaff schon leisten. Da lassen sich die Herrschaften gerne zu ihm herab. Was haben wir gelacht. Aber – das muss man bitte verstehen – nach dem eigenen Aufstieg ist dieses Schwergewicht untragbarer Ballast geworden. Hat jemand von Gleichheit gesprochen? Ein Missverständnis. Sorry, dear!“ bemerkt der Dramatiker Ewald Palmetshofer, dessen Bearbeitung des Falstaff-Stoffes für das Münchner Residenztheater unter dem Titel Der Fall Falstaff im März nächsten Jahres uraufgeführt wird, in diesem Zusammenhang. Entsprechend wundert es nicht, dass Falstaff aus Gram über seine Zurückweisung stirbt, was wir allerdings nicht aus dem Heinrich IV. erfahren, sondern darüber lesen wir nur indirekt in dem von Shakespeare zum Ende des Dramas noch in einem Epilog angekündigten Folgestück Heinrich V. Hier sprechen seine ehemaligen Freunde über Falstaffs Tod …

Mit Falstaff hat Shakespeare eine widersprüchliche, komplexe Figur geschaffen – und damit vielleicht genau jene lebensechte, moderne Figur, die der herausragende britische Shakespeare-Forscher Harold Bloom im Sinn hatte, als er die inzwischen berühmte These aufgestellt hat, wonach Shakespeare den Menschen erfunden habe. In einem Interview mit Die Zeit (16/2014) bemerkt er hierzu: „Mein Punkt ist: Es gibt im Faust keine Personen. Faust ist keine Person, Mephisto nicht, Gretchen nicht. Der Unterschied zwischen Goethe und Shakespeare ist derselbe wie der Unterschied zwischen Shakespeare und Christopher Marlowe oder Ben Jonson, beides brillante Autoren, aber sie geben uns keine Menschen, nur Karikaturen. Cervantes hat zwei Menschen, den Ritter und Sancho Pansa. Rabelais hat vielleicht zwei oder drei geschaffen. Moliere kommt Shakespeare am nächsten – hat etwa zwölf Personen. Shakespeare hat mehr als hundert bedeutende Figuren und etwa tausend Nebenfiguren geschaffen, und jede von ihnen spricht individuell, handelt individuell, klingt anders, ist anders als all die anderen. Wie durch eine wundersame Zauberei konnte er etwas schaffen, was niemand anders konnte. (…) Shakespeare hatte eine größere kognitive Kraft als irgendein anderer Autor in der westlichen Geschichte. Sollte ich sagen, wer ihm am nächsten kommt, dann wäre es Sir John Falstaff, denn er ist der witzigste, lustigste Charakter in der ganzen Literatur. Viele haben das nicht verstanden, sie sehen in Falstaff einen Fettwanst, einen Schurken, Lügner, Scharlatan. Er ist nichts davon. (…) Er ist jedenfalls eine Figur, der man unbedenklich zustimmen kann, anders als Lear, der durch Dummheit und Eitelkeit eine Tragödie auslöst. (…) Die Leute haben mich missverstanden, als ich von der Erfindung des Menschlichen sprach, sie dachten wohl, ich meinte so etwas wie die Erfindung der Glühbirne durch Thomas Edison. Aber nein, Erfindung ist ein Wort aus der humanistischen Tradition des Erhabenen. Erfindung ist Entdeckung. Erfindung bedeutet, Shakespeare richtete ein Licht auf Dinge, die immer schon da waren, aber die wir nicht sehen konnten. Und plötzlich waren sie evident. Was? Nicht weniger als alles, was uns Menschen ausmacht. (…) Shakespeare ist der eine universelle Autor. Er hat die Essenz des Menschlichen verstanden, mitsamt allen Entgleisungen, die das Menschliche ausmachen. (…) Die Literatur hat Homer erfunden. Aber Shakespeare hat sie verändert, sie zu etwas innerem, intimem gemacht.“ Und im selben Zusammenhang der Regisseur Peter Brooks: „Was macht das Leben in diesen Dramen aus? Was ist das Shakespeare-Phänomen? Shakespeare schrieb, soweit ich weiß, 37 Stücke. In diesen Stücken treten ungefähr tausend Figuren auf. Das heißt, Shakespeare – über dessen Person wir wenig wissen – hat in seinen Stücken etwas gemacht, von dem ich glaube, daß es in der Geschichte der Literatur einmalig ist. (…) Als Shakespeare schrieb: `Ich halte einen Spiegel – wir halten der Natur einen Spiegel vor´ – impliziert dies, daß Menschen innerhalb des menschlichen Lebens gezeigt werden. Doch es heißt nicht, daß sie auf naturalistische Weise dargestellt werden, wie im wirklichen Leben, auch nicht auf künstliche Weise. (…) Ein wahrhaftiger Spiegel des Lebens ist niemals kulturell, niemals künstlich, er reflektiert das, was da ist. Und Theater zeigt nicht nur die Oberfläche, es zeigt, was hinter der Oberfläche in den komplexen sozialen Beziehungen zwischen den Menschen verborgen liegt – und dahinter wiederum die letztendlich existentielle Bedeutung dieses Treibens, das wir Leben nennen. All dies kommt zusammen und wird in dem großen Spiegel reflektiert.“

Wollte man Shakespeare dennoch kritisch sehen, könnte man auf den Regisseur Einar Schleef verweisen. Für ihn ist mit Shakespeare die Aufspaltung des antiken Chores verbunden, seine Individualisierung, und damit sei auch der Gesamtzusammenhang der auf der Bühne agierenden Figuren zerstört, das heißt jede Figur ist von nun an „auf ihr eigenes Leid zurückgeworfen, auch befreit von Verantwortung füreinander. Hier beginnt der Monolog …“ Eine kleine Wiederbelebung erfahre der Chor und die antike Tragödienform erst in der deutschen Klassik, also mit Goethe und Schiller, die versuchten „Shakespeares Individualisierung mit dem Chor-Theater der Antike zu verbinden“, zum Beispiel Goethe in Gottfried von Berlichingen und Schiller mit seinen Räubern, womit die beiden „den Kanon für das deutsche Gegenwartsstück formulieren, das seitdem gültig ist“.

Zurück zu Falstaff. Er ist eine Figur, die Shakespeare nicht nur in Heinrich IV., sondern auch noch einmal in Die lustigen Weiber von Windsor zeigt (was auch die Vorlage für Verdis Oper wurde). Der Legende nach hat Shakespeare diese Komödie im Auftrag von Königin Elisabeth I. innerhalb von zwei Wochen verfasst. Ihr hatte der Falstaff aus Heinrich IV. so gefallen, dass sie ihn gerne in der Rolle des Liebhabers sehen wollte. Eine Komödie war also gefragt diesmal, dessen Uraufführung wahrscheinlich 1597 stattfand, anlässlich eines historisch verbürgten Fests des exklusiven Hosenband-Ordens, bei dem auch die Königin anwesend war. Eindeutige Anspielungen darauf finden sich einige im Stück.

Auch die Komödie Die lustigen Weiber von Windsor handelt in erster Linie von Falstaff, der hier, mit deutlich weniger Alkoholkonsum, aber dennoch in völliger Überschätzung, zwei Frauen verspricht, sie zu heiraten – um sie anschließend doch nur um ihr Geld zu betrügen (ganz untreu ist er zumindest sich nicht geworden). Als der Schwindel auffliegt, locken ihn die beiden Frauen gleich mehrmals in die Falle. Es scheint, als wäre Falstaffs Zeit längst abgelaufen …

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nachtgestalten

E.T.A. Hoffmann gilt als der romantische Schriftsteller schlechthin. Er ist aber auch ein Trinker, der Rausch dient ihm als Vehikel für seine schaurig-gruseligen Geschichten. Nächtelang sitzt er mit seinem Kumpanen Ludwig Devrient in einer Weinstube am Gendarmenmarkt. Der bestellt dort, Shakespeare falsch übersetzend, Sect und begründet so ein eigenes Wort für Schaumwein, das deutsche Sekt

Damit es Kunst giebt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch muß erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst.“

Friedrich Nietzsche

Köstlicher Balsam / Träuft aus deiner Hand, / Aus dem Bündel Mohn. / In süßer Trunkenheit / Entfaltest du die schweren Flügel des Gemüts. / Und schenkst uns Freuden / Dunkel und unaussprechlich.“

Novalis, Hymnen der Nacht

Über 350 Millionen Flaschen Sekt beziehungsweise Schaumwein werden in Deutschland jährlich getrunken, was pro Kopf über vier Flaschen pro Jahr entspricht. Das ist Rund ein Viertel der Weltproduktion – und Deutschland somit der weltweit größte Schaumweinmarkt. Und das, obwohl der Fiskus ordentlich mitverdient: 1,02 Euro Sektsteuer je Flasche, seit die Steuer 1902 vom Reichstag zur Finanzierung der Kriegsflotte von Kaiser Wilhelm II. eingeführt wurde. Der Begriff Sekt wurde dabei erst 1925 zur amtlichen Bezeichnung für Schaumwein – in Abgrenzung zum Champagner. Denn das Weinanbaugebiet „Champagne“ wurde zwar erst 1927 endgültig als „Région délimitée de la Champagne viticole“ festgelegt, um den „Champagner“ aber zu schützen, untersagte man den deutschen Schaumweinherstellern durch den Versailler Vertrag die Verwendung dieses Begriffs. So trat „Sekt“ an die Stelle von „Champagner“.

Das Wort „Sekt“ wiederum stammt von einer Shakespeare-Übersetzung des Schauspielers Ludwig Devrient, der hundert Jahre zuvor (Devrient lebte von 1784 bis 1832), allabendlich in einer bekannten Weinstube am Berliner Gendarmenmarkt Champagner getrunken hat. Eines Abends im Jahr 1825 hat er nach einer Vorstellung im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt einen solchen mit einem Zitat aus Heinrich IV. bestellt: „Bring er mir sect, Schurke – ist keine Tugend mehr auf Erden?“ (Akt II, 4: „Give me a cup of sack, rogue. Is there no virtue extant?“). Denn in der Originalfassung trinkt Sir John Falstaff, die eigentliche Hauptfigur von Shakespeares Drama, gerne sack. Damit aber haben die Engländer keinen Wein, erst recht keinen Schaumwein, bezeichnet, sondern einen trockenen Sherry (was sich aus dem Begriff secco oder schlicht sec für trocken entwickelt haben könnte). Aus dem sec wurde sect – der deutsche Begriff Sekt stammt insofern von einer falschen Übersetzung. Dennoch wurde er im Lauf der Zeit zum üblichen Namen für Schaumwein in Deutschland und 1925 eben zur amtlichen Bezeichnung.

Ludwig Devrient saß damals nicht alleine in der Weinstube am Gendarmenmarkt, er hatte einen Kumpanen, einen Saufkumpanen möchte man sagen, mit dem er dort fast jede Nacht gemeinsam zechte, nämlich Ernst Theodor Amadeus (ursprünglich Waldemar) Hoffmann, kurz E.T.A. Hoffmann. Der kommt aus Königsberg, wo er 1776 geboren wurde, und ist über Umwege vor wenigen Jahren, 1814, in Berlin gelandet, wo er vormittags als gewissenhafter und akribischer Jurist im Kammergericht arbeitet, sich Nachts jedoch mit Dämonengewalt in einen Säufer und Phantasten verwandelt, in den Gespenster-Hoffmann, wie er von den Berlinern genannt wird. (Die amerikanische Abstinenzbewegung nannte Alkohol ein Dämonengetränk: eine Möglichkeit, Sehnsüchte und Empfindungen zu externalisieren, die nach einer Gestalt außerhalb unseres Körpers streben – wie der Geist in Gestalt des Gespenstes erscheint.) Und Hoffmann, der nicht nur dichtet, sondern zunächst komponiert und zeichnet, hat ein Faible für Schauerlichkeiten und Spukgeschichten.

Mit E.T.A. Hoffmann teilte Ludwig Devrient, der mit einer bis dahin nicht gekannten Intensität und Rücksichtslosigkeit insbesondere Shakespeare-Rollen spielte, ein ungehemmtes Temperament und die Auffassung, dass das Leben vergeudet ist, lebt man es nicht in Ekstase. Es waren beide Bohémiens, die bürgerliche Verhaltensweisen und Normen ablehnten, und sie verband in diesem Sinn das Bekenntnis zum Rausch als produktionsförderndem, wesentlichen Antrieb des künstlerischen Schaffens. Der Rausch dient Hoffmann, wie er selbst sagt, zur „Steigerung des geistigen Vermögens“ – ein Gedanke, der zu dieser Zeit zum Mythos wird. Geht man davon aus, dass unsere Gesellschaft ein Riss hinsichtlich der Akzeptanz von Alkohol durchzieht, dann entspringt die rauschaffine, tolerante Einstellung im Wesentlichen den literarischen Strömungen des beginnenden 19. Jahrhunderts und ihrer phantastischen Ideenwelt. Die Berliner jener Zeit waren fasziniert und es schauderte ihnen zugleich. Man raunte, sechs Flaschen Wein soll jeder der beiden jede Nacht trinken … Gemeinsam machen Devrient und Hoffmann die bekannte Weinstube zu ihrem eigenen Theater und ziehen andere Gäste in Scharen an, so viele, dass ihnen sogar ihre Zechschulden vom Wirt erlassen werden. (In seiner Biographie beschreibt Rüdiger Safranski E.T.A. Hoffmann als nicht festgewurzelt. Darin, und in seiner Lust an der Verwandlung – der Wein dient als Vehikel der Verwandlung -, liegt etwas zutiefst Theatrales, oder wie Safranski sagt, Hoffmann ist nirgends verwurzelt und „beherrscht die Kunst des `Als-ob´; er wird zu einem Gegner des `Entweder-Oder´, jeder Ausschließlichkeit sich verweigernd“, auch der Ideologischen oder politischen.)

Das frühe 19. Jahrhundert, genauer die Zeit von 1795 bis 1815, gilt als Epoche der Romantik. (Nicht nur der Begriff Sekt, auch das Wort Romantik kommt aus dem Englischen. Johann Gottfried Herder übersetzt es vom englischen romanticism, denn erst mit mehreren Jahrzehnten Verspätung setzt die Romantik von England kommend auch in Deutschland ein.) Und wenn man so möchte, war die Romantik eine Rauschkultur und ihre Publikationen Rauschvisionen. Mit dem Trinken und der Einnahme anderen Rauschmittel (Opium) wollte man das Bewußtsein in Richtung des Schöpferischen bereichern, Novalis bemerkt in diesem Zusammenhang: „Das willkürlichste Vorurteil ist, daß dem Menschen das Vermögen außer sich zu sein, mit Bewußtsein jenseits der Sinne zu sein, versagt sei.“ Der Rausch wurde insofern begriffen als Pforte zur Wahrnehmung. Safranski schreibt: „Wie trank Hoffmann?… anschaulich erzählt: `Man denke hierbei aber nicht etwa an einen gemeinen Trinker, der trinkt und trinkt, aus Wohlgeschmack, bis er lallt und schläft; gerade das Umgekehrte war Hoffmanns Fall. (…) so gab es nichts Interessanteres, als das Feuerwerk von Witz und Glut der Phantasie, das er dann unaufhaltsam, oft fünf, sechs Stunden hintereinander, vor der entzückten Umgebung aufsteigen ließ.“ Im Rausch auch ersinnt Hoffmann seine schaurig-düsteren Geschichten und ergründet quasi am eigenen Leib die Schattenseiten der menschlichen Seele. Mit seinem Hang zu Dämonie und Exzess revolutioniert er spät die Literatur – er betätigt sich lange erfolglos als Komponist und Kapellmeister und ist schon 27 Jahre alt, als erstmals etwas Gedrucktes von ihm erscheint. Erst 1809 gibt er sein literarisches Debüt mit Ritter Gluck. Dennoch wird er zu einem der bedeutendsten Schriftsteller dieser Epoche.

Hoffmanns Gestalten kommen aus dem Dunkeln, es sind Nachtgestalten wie er selbst. Zum Beispiel in Elixier des Teufels, von ihm in Ich-Form verfasst, wo ein Kapuzinermönch von einem mysteriösen, satanischen Elixier (das unschwer als Opium zu erkennen sei, wie Peter Hacks meint, jener köstliche Balsam, der uns die Freuden schenkt, dunkel und unaussprechlich, wie Novalis in seinen Hymnen der Nacht schreibt) trinkt, woraufhin die finstere Seite seines Wesens Macht über ihn gewinnt und er zum Mörder wird. Die finstere Seite begegnet ihm während des ganzen Romans in Gestalt eines wahnsinnigen Doppelgängers, man könnte sagen als Verkörperung des Unbewußten. Und genau in dieser Verkörperung liegt ein weiteres theatrales Moment: Mit der Verdoppelung illustriert Hoffmann, dass der Rausch in Bereiche führen kann, die analog zur theatralen Darstellung sind. In der Begegnung mit seinem Doppelgänger wird der Rausch gewissermaßen zum Double des Theaters, das heißt Hoffmann beschreibt die Begegnungen des Mönchs mit seinem Doppelgänger als Verkörperung des Unbewußten und den Rausch somit als theatrale Präsentationsform. Schließlich jedoch gelangt der Mönch durch Buße doch noch zur Heilung.

Wie viele Geschichten aus dieser Epoche bleibt auch dieser Roman in eine unheimliche Atmosphäre getaucht, vieles bleibt im wahrsten Sinne im Dunkeln und unaufgeklärt (der Geheimbund-Roman blüht in dieser Zeit) – nur deshalb kann Peter Hacks in seinem Buch Zur Romantik kritisch anmerken, dass es „an den romantischen Erzeugnissen nichts zu begreifen gibt“. Es herrscht durchweg eine somnambule Stimmung, ein Begriff aus der Epoche, wie beispielsweise auch bei Novalis, wo der Nacht „ein eigener, vernunftloser Zugang zu einer eigenen vernunftlosen Wahrheit zugeschrieben“ sei und das aufklärerische Licht für das Böse stehe, wie Hacks meint: Mit ihrer Ästhetik der Nacht rebellierten die romantischen Schriftsteller gegen den vernunftbetonten Geist der Aufklärung. (Er erklärt die Romantik insgesamt als eine Kultur der Verneinung und „(d)er Satanskult ist wahrscheinlich die tiefste Verirrung der Leidenschaft des Verneinens. Man kann sagen, dass beide damals angefangen und bis heute nicht geendet haben, die Romantik und der Satanismus.“) Aber woher kommt diese Ablehnung?

In stürmerischen und drängenden Zeit zwischen 1790 und 1800 erscheinen in Deutschland etwa 2.500 Romane – so viele, wie in den 90 Jahren zuvor nicht! Manche befürchten eine unkontrollierte, ungeheure Anfeuerung der Phantasie, jedenfalls kommt es zu einer wahren „Leserevolution“ (Friedrich Schlegel). Viele dieser Romane werden von jungen Schriftstellern geschrieben, die das vernunftgläubige Moralisieren und die erstarrten Formen der Klassik mit ihrer Hinwendung zur Antike, deren prominentester Vertreter zweifelsohne Goethe ist, ablehnen. Ganz im Sinne der französischen Revolution von 1789 fordern sie auch eine Revolution des Schreibens und Denkens. Zum Schlagwort wird der Spruch: Etwas Neues.

Die französische Revolution wird in Deutschland von vielen zunächst als Durchbruch der Freiheit und Vernunft verstanden, dann aber macht sich der Terror in Frankreich breit und der Bürgerkrieg bricht los: in der Wahrnehmung der Deutschen wird die Vernunft nun auf den Kopf gestellt und erweist sich als mörderisch! In Jena erklärt Friedrich Schiller, der später von den romantischen Schriftstellern abgelehnt wird, dass die wahre Demokratie sowieso nur im Ästhetischen zu finden sei, in der Literatur beispielsweise. Nur sie werde auch dem Individuellen und Eigentümlichen gerecht. Die Poesie soll sich dem Leben zuwenden – auch den geheimnisvollen Abgründen. Novalis schreibt in diesem Zusammenhang: „Indem ich dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten gebe, so romantisiere ich es.“

An die Stelle klassischer Konventionen und Moral tritt ein Kult des Lebens, mit allen Genüssen und Lastern im Sinne romantischer Selbstverwirklichung. Insbesondere das autonome Subjekt wird zu einem wesentlichen Faktor im literarischen Produktionsprozess. Man versucht es zu befreien und in einer Sphäre der uneingeschränkten Phantasie zu verankern. Aber genau gegen diesen Subjektivismus und rigorosen Individualismus richtet sich Goethes Kritik an der Romantik. Für ihn, als Vertreter der Klassik und damit der zweiten bedeutenden literarischen Richtung dieser Zeit, sind nämlich „(a)lle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen subjektiv, dagegen haben aber alle voranschreitenden Epochen eine objektive Richtung. Unsere ganze jetzige Zeit ist eine rückschreitende, denn sie ist eine subjektive“. Und auch Hegel stellt sich gegen die Romantik: „Das Übel der Zeit“, sagt er, ist „die Zufälligkeit und Willkür des subjektiven Gefühls und seines Meinens“. Mit dem Geschmack kam es dahin, „dass der Sinn für Gehalt und Inhalt sich in die subjektive Abstraktion, in ein gestaltloses Weben des Geistes in sich zusammenzog“.

Hoffmann lebt zu dieser Zeit nicht in Berlin, sondern mit seiner Frau und Tochter in Warschau, wo er im Justizdienst arbeitet. Polen gehört zu dieser Zeit noch zu Preussen – das dann jedoch, in der Schlacht von Jena und Auerstedt im Jahr 1806, Napoleon Bonaparte unterliegt. Nun soll auch Polen als Staat wieder auferstehen, weshalb die preussischen Behörden aufgelöst werden und auch Hoffmann seinen Posten verliert. Das wird für ihn zum Schicksalsschlag und er wird dem Franzosen nicht verzeihen, wie so viele Deutsche, die sich jetzt in ihrer Ablehnung der französischen Aufklärung der eigenen Kultur und Geschichte zuwenden, auch der eigenen Mythenwelt. (Für Peter Hacks „rekrutieren sich Schriftsteller der Romantik aus anti-französischen reaktionären Kreisen, die aus England unterstützt werden“.)

Für Hoffmann beginnt nun eine kleine Odyssee (die Familie ist bei Verwandten in Posen untergebracht, dann jedoch stirbt seine Tochter) und er beginnt zu trinken, verwandelt sich in dieser Zeit in jenes umherschweifende Gespenst, als das man ihn später wahrnehmen wird. Erst nach der Niederlage Napoleons 1814 bei Waterloo kommt er zur Ruhe, findet endlich wieder eine feste Anstellung im Kammergericht und zieht in eine Wohnung am Berliner Gendarmenmarkt.

Hier zeichnen sich erstmals größere Erfolge für ihn ab. 1816 wird seine Märchenoper Undine im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt aufgeführt (Hoffmanns Freund Friedrich de la Motte Fouqué hat die Sage um eine unheilvolle Wassernymphe zu einem Libretto verarbeitet) und wird ein Erfolg, auch wegen den Kulissen von Karl Friedrich Schinkel. (Der Regisseur Christian Petzold hat die Sage ins Berlin der Gegenwart verlegt und als ersten von geplanten drei Teilen über Figuren der deutschen Romantik dieses Jahr verfilmt.) Dann jedoch gerät das Schauspielhaus 1817 in Brand, Hoffmann kann alles von seiner Wohnung aus beobachten. Es ist das Ende seines musikalischen Erfolgs – aber, wie sein Biograph Safranski bemerkt: „Er macht weiter, muß aber nun mehr Wein zugießen.“ Es ist, als ob sich eine Schleuse geöffnet hätte: jetzt, mit Ende Dreißig, fängt er wirklich an zu schreiben – und es gibt jetzt kein Halten mehr. Innerhalb weniger Wochen macht er sich im literarischen Deutschland bekannt, sein endgültiger Durchbruch gelingt ihm mit den Lebensansichten des Katers Murr. Kater Murr ist eine ätzende Gesellschaftssatire, ein bitterböses, urkomisches, verschachteltes und fragmentarisches Werk, das insofern auch als Kampf gegen den klassischen Werkbegriff mit seiner geschlossenen Form aufgefasst werden kann, wie man die Romantik insgesamt als Geburtsstunde einer Produktionsästhetik begreifen kann, die die bisherige Werkästhetik mit ihrem Verständnis von Nachahmung ablöst. Man kann die neue Ästhetik aber auch als Manifestation des Rausches und das Fragmentarische als Visualisierung und Darstellung von Rauschzuständen verstehen. (Der Rauschzustand selbst, wie bereits in Zusammenhang mit dem Elixier des Teufels beschrieben, ist ja schon ein theatrales Ereignis im Bewußtsein, das im Rausch einen schöpferischen Akt theatraler Situationen und Zustände sieht.)

Über den Subjektivismus hinaus macht Goethe seine Kritik an der Romantik insbesondere an dieser neuen Ästhetik fest. Er benennt den Unterschied zwischen dem klassischen und romantischen folgendermaßen: „Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke. (…) Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist …“ In ihrem Buch Krankheit als Metapher spricht Susan Sontag von „romantischem Schmerz“ und meint damit eine zu Beginn des 19. Jahrhunderts kursierende sentimentale Vorstellung einer „Romantisierung der Krankheit“, das heißt der Vorstellung, „daß die Menschen bewußter werden, wenn sie sich mit ihrem Tod auseinandersetzen (…) Die Krankheit war ein Weg, Menschen `interessant´ zu machen – und gerade so ist `romantisch´ ursprünglich auch definiert worden (Schlegel stellt … das `Interessante´ als das Ideal der modernen – d.h. der romantischen – Poesie hin.) `Das Ideal der vollkommenen Gesundheit´, schrieb Novalis in einem Fragment von 1799/1800, `ist nur wissenschaftlich interessant´; was wirklich interessiert, ist die Krankheit, `die zur Individualisierung gehört´.“ Tatsächlich ist Hoffmann oft krank und schreibt im Bett. In einem Brief zum Beispiel lädt er einen Schauspieler zu sich nach Hause ein und schreibt in diesem Zusammenhang: „Sie werden in mir einen zwar kränklichen aber übrigens jovialisirenden Mann finden, der den ganzen Tag halb im Bette halb außer demselben existirend allerley poetische Allotria getrieben.“

Dann aber verstärkt sich eine mysteriöse Rückenmarkskrankheit, an der er seit geraumer Zeit leidet. Das Nervenleiden frisst sich durch seinen gesamten Körper und E.T.A Hoffmann erliegt ihm schließlich 1822. Bis heute gilt er als die romantische Existenz schlechthin. Ein innerlich zerrissener Trinker …

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rauschgift

„Suff ist heilig. Suff ist profan. Suff ist Kiez. … Suff ist Suff!“, mit diesem Spruch in ihrem Schaufenster wirbt die Kreuzberger Weinhandlung Suff. Angesprochen sind damit gleich mehrere Aspekte über den gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol und dem Rausch. Das verdeutlicht eine Lektüre von Leslie Jamisons Buch Die Klarheit

„Es ist der Wein auch eines von den allerherrlichsten Getränken; da er aber schon ziemlich spirituös ist, so ist es nicht möglich, daß der Mensch vom Weintrinken allein hinlängliche Feuchtigkeit erlangen oder vom Wein allein leben kann, sondern er muß neben Wein bloßes Wasser oder doch andere mit Wasser gemachte Getränke und Gerichte noch dabei zu sich nehmen: Tut er dieses nicht, so kann ihm dies herrliche Getränk, der Wein, zum Gift werden …“

Hofrat Caspar Neumann, preußischer Apotheker (1683-1737)

„Viele Wissenschaftler ziehen den Ausdruck `chemische Abhängigkeit´ Begriffen wie `Sucht´ oder `Drogenmissbrauch´vor (…) Was also macht einen anfällig für eine ganz bestimmte chemische Abhängigkeit? Man könnte sagen, dass man aus Bedürfnissen besteht. Man könnte sagen, dass es niemanden gibt, auf die oder den das nicht zutrifft (…) All diese Erklärungen wären nicht falsch, und doch wäre keine hinreichend. Der Wahrheit am nächsten scheint immer noch das Eingeständnis zu kommen, daß jede Erklärung unvollständig und vorläufig ist, eine mögliche Form, um den leeren Raum des Warum? zu füllen. (…) Das ist eine der Ursachen, warum ich Das verlorene Wochenende so mochte – weil dieser Roman die Vorstellung weit von sich weist, man könne das Trinken ganz einfach, ja quasi automatisch in Bedeutung überführen. Beharrlich bleibt das Buch dabei: Nicht immer lässt sich selbstzerstörerisches Verhalten zurückverfolgen bis zu einem sauber identifizierbaren psychologischen Ursprungsmythos. Warum er trank, war längst gleichgültig geworden. Du bist ein Trinker, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Du trinkst, Punkt. In Charles Jacksons Darstellung war das Trinken also deutlich rätselhafter, grundloser, vielleicht auch weniger edel – eine Zerrüttung, die nicht ausschließlich in einem Zusammenhang mit großer psychologischer Tiefe stand.“

Leslie Jamison, Die Klarheit – Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung, Berlin (Hanser) 2018, S. 147f

Die 6.000 Hektar Rebfläche des Weinanbaugebietes Franken liegen gänzlich in Bayern – am Nordrand mit hundert Kilometern entlang des Mains, mit den Bereichen Maindreieck und Mainviereck sowie dem Steigerwald, zu dem auch der fränkische Teil des Taubertals gehört. Damit liegt Franken nördlicher als der Rheingau und ist von einem kühlen, kontinentalen Klima geprägt mit Durchschnittstemperaturen nur etwa um 8,5 bis 9 Grad Celsius, weshalb mit Ausnahme des Mainvierecks mit seinem warmen Buntsandsteinboden um Bürgstadt und Klingenberg auch überwiegend Weißweinsorten gepflanzt sind, insgesamt zu achtzig Prozent (aber nicht Riesling hat hier Priorität, sondern flächenmäßig Müller-Thurgau und von der Qualität her Silvaner).

Die Weinberge im Maindreieck liegen auf Muschelkalkboden, einem nährstoffreichen und tiefgründigen Boden, der mineralische Weine ergibt mit einer feinen Säure und viel Extrakt, während im Steigerwald Gipskeuper vorherrscht. Hier in den beiden kühleren Regionen Maintal und Taubertal liegen auch die Weinberge von Christian Stahl, ursprünglich zwei Hektar, die er 2007 von seinen Eltern übernommen hatte, die er jedoch innerhalb von nur zehn Jahren auf inzwischen dreißig Hektar vergrößerte. Damit kann er jährlich etwa 300.000 Flaschen befüllen, überwiegend mit Weißwein wie Silvaner, für den er bekannt ist, da seine Lagen teilweise auf 400 Metern und höher liegen. Die kalkhaltigen Böden und das kühle Mikroklima der Region begünstigen die typischen Stahlweine – extrem mineralische, saftige Weine mit Kante, die im Edelstahlstank ausgebaut wurden.

Christian Stahl wurde von Stuart Pigott für die Frankfurter Allgemeine Zeitung zum „Winzer des Jahres 2018“ gekürt. Erstmals ins Rampenlicht gerückt ist er aber schon 2009 mit einem Müller-Thurgau aus der Spitzenlage Tauberzeller Hasennestle, mit dem er bewies, dass man mit dieser Rebsorte auch anspruchsvollen Wein machen kann. Noch immer gilt der Tauberzeller Hasennestle als einer der besten Müller-Thurgaus (Rivaner heißt die trockene, leichte und frische Variante) in Deutschland. Im selben Jahr hat er aber auch noch mit einem anderen Wein viel Aufsehen erregt, nämlich der 2009er Scheurebe Damaszener Stahl. Stahl, der seine Weine nach dem Trinkfluß beurteilt (sie sollen nicht satt machen) und sie der Qualität nach in Feder Stahl, Edel Stahl, Damszener Stahl, und Best of einteilt, hat dieser extrem süffigen und rasch ausgetrunkenen Scheurebe den markanten Beinamen Rauschgift gegeben.

Mit diesem Namen sorgte Christian Stahl für Aufsehen in einer breiteren Öffentlichkeit. Damit provozierte er aber auch Ärger mit den bayrischen Behörden, die ihn dazu aufforderten, den Wein nicht länger mit diesem negativ konnotierten Namen zu etikettieren. Dem entsprach Christian Stahl – und nannte seine Weine der nächsten Jahrgänge eben zum Beispiel Kalter Entzug oder Flashback … die Aufmerksamkeit ist dem umtriebigen Winzer seither jedenfalls sicher und dürfte sich bestimmt auch absatzfördernd ausgewirkt haben. Man ist geneigt zu sagen, der Erfolg gibt ihm recht, oder?

Am Umgang der Behörden mit Christian Stahls Wein Rauschgift wird die ambivalente gesellschaftliche Wahrnehmung von Alkohol beziehungsweise Rauschmitteln im Allgemeinen deutlich. Denn einerseits ist Alkohol als Rauschmittel in unserer Gesellschaft erlaubt und das gesellige Trinken sowie auch der betrunkene Zustand, der Rausch, innerhalb der Gemeinschaft zumindest toleriert; Andererseits endet diese Akzeptanz spätestens dann, wenn Alkohol zum Rauschgift wird. Den Umschlag vom Rauschmittel zum -gift markiert die Sucht, denn dann wird Alkohol als eine Bedrohung wahrgenommen, als ein schädliches Phänomen, nicht allein für das Individuum in seinem subjektiven Leiden, sondern insbesondere auch für die Gesellschaft: „Die Toleranzgrenze ist markiert durch Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, der Sicherheit und den volkswirtschaftlichen Kostenanfall“, bemerkt Martin Tauss in diesem Zusammenhang.

Der Süchtige bedroht die kapitalistische Gesellschaft – während der Rausch selbst, im Sinne Baudelaires, noch eine zutiefst kapitalistische beziehungsweise marktwirtschaftliche, bürgerliche Angelegenheit ist (weshalb Baudelaire selbst lieber zum Opium griff). Wilhelmine Rotfuchs beschreibt dieses Verhältnis von Rausch und Sucht in ihrer Geschichte Nach drei Nächten aus dem Jahr 1976: „Am Morgen danach stehe ich mir selbst hilflos gegenüber. (…) Nachts, als ich endlich allein mit mir selbst war, da war kein Entsetzen, keine Angst, keine Scham. Mein Schlaf war tief und ruhig. Erst das Erwachen, das Wiedereintauchen in die Welt der anderen trennt mich von mir. (…) Ich möchte sein wie sie … vom Bewußtsein, besser geworden zu sein, erfüllt. Und so lange ich nüchtern bin, funktioniert das auch alles … ich bewege mich ohne Alkohol noch im Rahmen meiner Umwelt. Dann, wenn ich nach zu vielen Bierchen noch eins und noch eins trinke, kommt die erste Phase, und die ist bereits widerlich genug: ich beginne, mich nach den geltenden Regeln der Marktwirtschaft zu verkaufen. Ich werde witzig, ein wenig frech und ziemlich keß. Dabei mache ich jene Hüftbewegung, an der der Blick von Männern kleben bleibt. Meine Augenlider klimpern kokett, sie senken sich langsam … Die ganze Schau kommt auch ziemlich gut an, mein Verkaufserfolg ist meistens recht groß. Um meine durch die ach so kecken Witzwörtchen beanspruchte Kehle feucht zu halten, kippe ich noch ein paar Bierchen, bis langsam das Ende kommt. Die ersten Risse in der Erinnerung – später – stellen sich ein, und ich fange an abzuheben. Wenn schon Terror, dann aber bitte von mir, ich schreie Menschen an oder ich knutsche mich mit ihnen ab, ich beginne zu weinen oder zu toben, bis sich alles auflöst, bis sich meine Wahrnehmungsfähigkeit nur noch auf Fetzen erstreckt und schließlich auf gar nichts mehr. Allein mit mir selbst, im Schlaf, vergesse ich alles. Und am Morgen danach … siehe oben …“

Wilhemine Rotfuchs erklärt nicht, warum sie nach zu vielen Bierchen noch eins und noch eins trinkt, der Umschlag vom akzeptierten Rausch zur Offenbarung der Sucht erfolgt ohne Erklärung. Aber offenbar ist sie innerhalb des Rahmens der geltenden marktwirtschaftlichen Regeln auch nur berauscht ein Verkaufserfolg … „Die meisten Abhängigen beschreiben den Alkohol- oder Drogenkonsum als etwas, was einen Mangel behebt“, schreibt Leslie Jamison. All die Fragen nach dem Warum? werfen nur immer dieselbe Frage auf: „Woher kommt denn eigentlich der Mangel?“ Die Antwort darauf könne stets nur unzureichend sein, „(d)er Zustand des Ungenügens gehört zum Menschsein dazu“, schreibt sie, und auf sich selbst bezogen, „(n)achdem ich angefangen hatte, Alkohol zu trinken, war er äußerst überzeugend darin, mir eine bestimmte körperliche Garantie zu geben und einzuhalten: Damit wirst du dich fühlen, als würdest du genügen. (…) Vielleicht aber ist der Mangel auch ein systemischer: Ich bin in den Spätkapitalismus hineingeboren worden, ein Wirtschaftssystem, das mich an die Vorstellung verkauft, ich sei unzulänglich, damit es mir im Gegenzug die Vorstellung verkaufen kann, Konsum sei die Antwort auf meine Unzulänglichkeit. Es stimmt, die Menschen haben sich auch lange vor dem Kapitalismus schon mit Freuden weggeschossen, aber ebenso richtig ist es, dass eines der zentralen Versprechen des Kapitalismus – Transformation durch Konsum – nur eine andere Version des Versprechens ist, das einem auch die Abhängigkeit gibt. Mach etwas aus dir. Das ist einer der säkularen Glaubensgrundsätze im amerikanischen Gospelsong der Produktivität.“

Die 1989 in Kreuzberg gegründete Weinhandlung Suff – Schöner trinken wirbt mit dem Spruch: „Suff ist heilig. Suff ist profan. Suff ist Kiez. … Suff ist Suff!“ Und tatsächlich sollten Rauschmittel wie Alkohol seit jeher in rituellen Zusammenhängen den Einstieg in andere Seinszustände bewirken. Wein ist hier begriffen als ein spirituelles Getränk, das in den berauschenden Trankopfern die Trunkenheit als Metapher religiöser Verzückung versteht – und „Ekstase und religiöse Ergriffenheit sind notwendig, um das Wunder der Ehrfurcht im Angesicht Gottes kennenzulernen und mit dem Gott eins zu werden“, weiß Brigitte Marschall. Suff ist heilig. Dieses ursprünglich heiligen, rituellen Gebrauchs allerdings erinnert man sich heutzutage, in unserer entzauberten Welt, kaum noch. Spätestens seit Leslie Jamisons Buch Die Klarheit wissen wir, dass der Alkoholkonsum profan geworden ist. Suff ist profan. Es geht überwiegend nicht mehr um Rausch und Erkenntnis, sondern Delirium und Zerstörung sind an seine Stelle getreten. Oder wie Jamison schreibt: „Das In vino veritas war eines der reizvollsten Versprechen des Trinkens: als wäre das Trinken keine Entwürdigung, sondern eine Erleuchtung, als enthüllte es die Wahrheit, statt sie zu verschleiern.“ Jacques Derrida spricht in diesem Zusammenhang von der „Lust an einer Erfahrung ohne Wahrheit“.

Schon lange vor der Profanisierung des Alkoholkonsums hat sich im von Norbert Elias beschriebenen Prozess der Zivilisation Rationalisierung als eine weitgehende Internalisierung bisher von außen bestimmter Verhaltensmaximen im Individuum durchgesetzt. Rationalisierung in diesem Zusammenhang bedeutet Affektkontrolle und Selbstbeherrschung – und damit eine Kontrolle des Alkoholkonsums beziehungsweise des Rausches. Entsprechend schreibt Jamison: „Trinken fühlte sich an wie das Gegenteil von Einschränkung. Es war Freiheit. Es bedeutete, dem Wollen nachzugeben und es nicht länger abzulehnen. Es war hemmungslose Selbstaufgabe. Eine Selbstaufgabe, bei der das draufgängerisch Rücksichtslose genauso mitschwang wie der plötzliche Abschied (…) Das Sichbetrinken war im Normalfall dazu da, einen Punkt der Selbstaufgabe zu erreichen.“

Aber ab wann wird Trinken pathologisch? „Als ich betrunken mein Tagebuch fragte: Bin ich Alkoholikerin?, versuchte ich eine Antwort zu finden … Heute denke ich: wenn es so tyrannisch wird, dass es Scham evoziert. Wenn es das Subjekt nicht mehr konstituiert, sondern als mangelhaft deutet. Wenn man aufhören will, aber nicht kann; wenn man noch mal versucht aufzuhören, es aber wieder nicht schafft; und es wieder versucht, aber wieder nicht schafft. (…) Als ich meinem Tagebuch betrunken die Frage Bin ich Alkoholikerin? stellte, sucht ich nach einer Kategorie, die mir verraten würde, ob mein Schmerz real war – als würde dieser Schmerz unanfechtbar, indem ich mehr und mehr trank. Natürlich war mein Schmerz real, so wie jedermanns Schmerz real ist. Natürlich nicht unmittelbar vergleichbar mit irgendjemandes im Speziellen – nur generell mit jedermanns.“ Da ist der Schmerz beim Ritzen, das sich Leslie Jamison früh angewohnt hatte, schon spezifischer: „(I)rgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich mich aus meinen ganz eigenen Beweggründen zum Ritzen hingezogen fühlte. Ich konnte mir damit die Unzulänglichkeit in die Haut schneiden, dieses Gefühl, für das ich nie die richtigen Worte fand; das Gefühl einer inneren Verletztheit, das so vage war und immer überschattet vom Glauben an seine Unbegründetheit, dass die konkrete Klarheit einer Blut zutage fördernden Klinge ihren ganz eigenen Reiz entfalten konnte. Auf diesen Schmerz durfte ich Anspruch erheben, denn er war körperlich und unbestreitbar, auch wenn ich mich immer dafür geschämt habe, daß ich ihn vorsätzlich herbeiführte. (…) Ich erschaudere, wenn ich auf die theatralische Inszenierung meiner existenziellen Ängste zurückblicke (…) Meine Art, mit dieser chronischen Schüchternheit umzugehen, die sich wie ein ständiges Versagen anfühlte, bestand also im Ritzen und im Schreiben.“ Und so schrieb Jamison ihr erstes Buch über Schmerz, über Alkoholismus.

Später, mit ihrem Buch Die Klarheit Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung, wollte Leslie Jamison kein Buch mehr über Alkoholismus, sondern über ihre Genesung bei den Anonymen Alkoholikern schreiben. Dieses Buch sollte funktionieren wie ein Meeting bei den Anonymen Alkoholikern selbst, das heißt erzählt wird eine Geschichte nach der anderen: „Was ist ein Meeting? Einfach nur ein Leben nach dem anderen: eine Anthologie, zusammengehalten von der Klammer der Ernsthaftigkeit. (…) Es nimmt dich mit von einem Leben in ein anderes – nichts einfacher als das, mit ausgestreckter Hand, ein fließender Übergang oder eine Entschuldigung ist nicht nötig.“ Eine Anthologie ist ohne dramatische Entwicklung, und dabei, so schreibt sie, glaubte „ein Teil von mir immer noch, dass echte Trinkergeschichten die ganz großen Tragödien brauchten“, denn „(w)enn Suchtgeschichten sich von der Dunkelheit nähren, von der hypnotisierenden Spirale einer fortgesetzten, sich ausweitenden Krise, dann erscheint die Genesung oft als narrative Flaute … als fader Nachklapp einer fesselnden Feuersbrunst“.

Hinter diesem Gedanken steckt der Mythos vom Rauschmittel als bestimmender Agens des Kulturschaffens beziehungsweise das Bekenntnis zum Rausch als „Schlüssel zum Mysterium“ (Alfred Springer), einer Sphäre des Heiligen gewissermaßen – oder einer Höllenfahrt zumindest. Mit diesem Mythos, dieser Vorstellung jedoch bricht Jamison, denn während ihrer Genesung bei den Anonymen Alkoholikern erlebte sie etwas Irritierendes: Hatte sie bisher immer geglaubt, Schreiben hätte etwas mit Einzigartig zu tun und damit, wie man diese Einzigartigkeit in Worte fasst, erlebte sie dort das genaue Gegenteil. Nämlich eine Gemeinschaft, „die sich genau gegen das wehrte, was mir immer über Geschichten erzählt worden war: dass sie einzigartig sein müssen“. Für die Anonymen Alkoholiker haben alle Menschen durch ihre Sucht etwas gemein – und wer unter uns ist nicht süchtig -, und diese Geschichten über Sucht und Genesung, insbesondere auch in der Literatur, haben insofern stets etwas Redundantes. (Und dadurch werden auch diese Geschichten, wird Sucht und Suff profan.) Ihre eigene Geschichte – das könnte jeder bei den Anonymen Alkoholikern, das könnte die Geschichte von jedem hier sein. „Das Paradoxon von Genesungsgeschichten, so lernte ich, bestand darin, dass man sein Ego aufgeben sollte, indem man eine Geschichte hervorbrachte, in der man selbst die Hauptrolle spielte. Es war ein Paradoxon, das nur durch das Eingeständnis von Allgemeingültigkeit ermöglicht wurde: Zufällig stehe ich im Zentrum dieser Geschichte, aber es könnte auch jeder und jede andere sein. Als Gilles Deleuze schrieb, dass `das Leben nichts Persönliches ist´, meinte er genau das: Dass eine indviduelle Geschichte gleichzeitig mehr und weniger ist als bloßer Selbstausdruck.“

All diese Geschichten über den Rausch, den Jamison bei den Anonymen Alkoholikern und anderen SchriftstellerInnen beobachtet, erzählen immer dasselbe: Sie fragen nach den Ursachen und Gründen des je eigenen Alkoholismus. Für Jamison jedoch gibt es hier nichts zu ergründen: „Als ich die Redewendung trinken, um betrunken zu sein zum ersten Mal hörte, fand ich sie auf lustige Weise tautologisch. Natürlich trank man, um betrunken zu sein. Genauso, wie man atmete, um Sauerstoff in den Körper zu bekommen.“ Suff ist Suff. Entsprechend rückt sie ab davon, nach Gründen und Bedeutungen zu fragen, stattdessen rücken die Möglichkeiten der Gesundung in ihren Fokus, genauer gesagt, die Suche nach den kreativen Möglichkeiten der Nüchternheit. Denn darüber ist noch keinem Alkoholiker eine Geschichte gelungen, daran sind alle vorher bisher gescheitert – oder gestorben.

Was bleibt zu Schreiben, wenn man nüchtern ist, ohne fesselnde Geschichten seiner Erlebnisse in der feuerlodernden Trinkerhölle? Leslie Jamison erklärt es mit dem, was ein gewisser Charles Jackson 1959 sagte: „`Ich wußte, ich konnte es besser als die anderen. Schließlich hatte ich wirklich eine Geschichte zu erzählen. Ich war eloquenter als die anderen. Ich konnte packend erzählen. Ich würde es allen zeigen.´ Fünfzehn Jahre zuvor hatte er in einer Phase der Nüchternheit einen Roman über Alkoholismus veröffentlicht, der zum Besteller wurde (…) Nachdem er fünf Minuten geredet hatte, kam Charlie auf die Idee vielleicht doch lieber so anzufangen wie die anderen auch. `Ich heiße Charles Jackson´, sagte er also, `und ich bin Alkoholiker.´ Er besann sich auf den gängigen Refrain und stellte fest, dass das Gemeinsame, das von allen Geteilte, seine ganz eigene heilsame Qualität haben kann. `Meine Geschichte unterscheidet sich nicht groß von der von anderen´, sagte er. `Es ist die Geschichte eines Menschen, den der Alkohol zum Idioten gemacht hat, immer wieder, jahrein, jahraus, bis schließlich der Tag kam, an dem er begriff, dass er allein nicht mehr klarkommt.´“ Ganz in diesem Sinn, mit der Erkenntnis, daß „ich alleine nicht mehr klar komme“, wollte Leslie Jamison nun ein Buch schreiben, „das ehrlich ist, das sagt, wie hart, anstrengend und glücklich machend es ist, wenn man lernt das Leben so zu führen – in der Gruppe, als Chor und ohne die betäubende Zurückgezogenheit im Rausch.“ Auf den letzten ihrer 638 Seiten schreibt sie von Ehrfurcht, Empathie, Motivation, Verantwortung und Hingabe …. wenn man sich selbst nur zurücknimmt. Unumgänglich, wenn es darum geht, sich in der Nüchternheit zu verankern … und wohl auch in der Gemeinschaft. Suff ist Kiez.

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wir! genossen! gemeinsam!

Treffen 53 schreiende Frauen in einer Inszenierung von Einar Schleef auf Mitglieder einer Winzergenossenschaft …

„Ein Treppenlaufsteg steigt mitten durchs Publikum an. Mädchen … rennen truppweise heulend und kreischend, klagend und singend treppauf, treppab (…) Vor allem aber läßt Schleef Frauentruppen aufmarschieren – neben 14 Jungfrauen sieben klagende, tanzende, rangelnde Weiber; … dazu rund 30 Weiber im schwarzen Witwen-Gewand, die er aus Opernstatisterie und Laien rekrutiert hat, gut ein Drittel Ausländerinnen. Denen, sagt Schleef, falle rhythmisches Sprechen im Chor noch leicht, da sie die deutsche Fremdsprache ja `bewußt´ sprechen müßten. Dreieinhalb Stunden lang, ohne Pause, stürzen sich rasende Chorfrauen, brüllende Mannskinder über Rampe und Bühne …“

Der Spiegel 10/1986 zu Einar Schleefs Inzenierung von Die Mütter am Schauspiel Frankfurt

„… Elfriede Jelineks Sportstück in der Inszenierung von Einar Schleef. Hier führten die Akteure fünfundvierzig Minuten lang immer wieder die gleichen anstrengenden Übungen mit höchster Intensität bis zur körperlichen Erschöpfung durch, wobei sie mit ebensolcher Intensität im Chor stets dieselben Sätze in wechselnder Tonlage und Lautstärke wiederholten. Es war zu spüren, wie Energie freigesetzt wurde und zirkulierte. Einige Zuschauer empfanden dies offensichtlich bereits nach wenigen Minuten als Zumutung und verließen den Raum. Wer sich dagegen diesem Geschehen bis zuletzt aussetzte, spürte, wie sich ein energetisches Feld zwischen Akteuren und Zuschauern bildete, das sich mit zunehmender Dauer immer weiter intensivierte.“

Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen (2004)

„Gemeinsam sind wir stark!“ – diesem Ideal des Sozialreformers Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888) folgen in Deutschland etwa 8.000 Genossenschaften, davon sind nach Angaben des Deutschen Weininstituts 160 Winzergenossenschaften, die mit 28.000 Hektar Rebfläche fast ein Drittel der Gesamtrebfläche Deutschlands bearbeiten. Insofern entfallen auf die genossenschaftlichen Betriebe nahezu 30 Prozent der gesamten Weinerzeugung, womit sie jährlich etwa 800 Millionen Euro umsetzen. Schwerpunkt der genossenschaftlichen Produktion ist dabei Baden-Württemberg, allein dort befinden sich 115 Betriebe.

Die älteste Winzergenossenschaft Deutschlands, und wohl auch der Welt, wurde allerdings 1868 nicht im Badischen, sondern in Mayschoß im Ahrtal gegründet. Ihre Geschichte beginnt mit der Säkularisation der kirchlichen Besitztümer unter Napoleon Anfang des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit gehörten alle bedeutenden Weinberge zur christlichen Kirche, nachdem es insbesondere Benediktiner- und Zisterziensermönche waren, die ab dem 9. Jahrhundert Weinbau in Deutschland betrieben. Im Zuge der napoleonischen Säkularisation fallen diese Besitztümer nun über den Staat in die Hände der ortsansässigen Bauern. Nach Römern und Mönchen wurden jetzt sie zu Eigentümern jener Weinberge, die sie vorher in Erbpacht von den Klöstern zur Verfügung gestellt bekamen.

Das jedoch war mit erheblichen Konsequenzen verbunden, da sie von nun an nicht einfach nur den niedrigen Erbzins abführen konnten, der bisher noch dazu in natura erfolgte. Ausserdem fiel ihnen mit der Auflösung und Verstaatlichung der Klöster auch noch der Abnehmer ihrer Trauben weg. Der komplette Absatzmarkt mußte erst mühsam aufgebaut und Konsumenten gesucht werden. Und all der Aufwand auch noch im Nebenerwerb, denn mit der Auflösung der kirchlichen Besitztümer wurde das napoleonische Erbrecht eingeführt, die so genannte Realteilung, was dazu führte, daß das Erbe – also die Rebflächen des Winzers – nach dessen Tod unter allen Hinterbliebenen zu gleichen Teilen aufgeteilt wurden. (Die Realteilung wurde in Deutschland schon vorher in den evangelischen Ländern praktiziert. Ihr steht das katholische Anerbenrecht gegenüber, bei dem der Besitz nur an einen einzigen Erben übergeht.)

Durch die Realteilung ergab sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Zersplitterung der Weinberge in kleine und kleinste Parzellen, viele oft deutlich kleiner als ein Hektar. Und dann mußten sie auch noch ihren Wein selbst keltern. Der geringe Ertrag, insbesondere aber die schlechten Absatzmöglichkeiten – all das führte dazu, daß kaum der Arbeitsaufwand und die hohen Kosten für Gerät ausgeglichen werden konnten. Zu alledem kam auch noch eine überdurchschnittliche Zahl von Mißernten … „Der Weinanbau ernährte seinen Mann nicht mehr“, resümiert Paul Gieler in seinem Büchlein Wein und Weinbau an der Ahr aus dem Jahr 2013.

In dieser wirtschaftlich miserablen Lage entschlossen sich einige Winzer 1868 dazu, eine Genossenschaft zu gründen, die sich zunächst um den Vertrieb des Weines kümmern sollte. Es ist damit der erste Winzerverein der Welt. Nach und nach übernahm die Genossenschaft neben dem Vertrieb auch noch alle anderen Abläufe. Es entstand eine Produktionsgenossenschaft und die Winzer konnten sich ganz auf die Arbeiten im Weinberg konzentrieren (noch heute wird, abgesehen von der Menge, insbesondere nach der Güte der von den Genossenschaftsmitgliedern abgelieferten Trauben bezahlt). Die Gründung der Genossenschaft hat sich für die Nebenerwerbswinzer gelohnt – auch was die Qualität ihrer produzierten Weine betrifft, schließlich gehören sie heute zu den Besten genossenschaftlich produzierten im deutschsprachigen Raum.

Mit einer Rebfläche von 150 Hektar gehört die Winzergenossenschaft Mayschoß zu den kleineren Genossenschaften. Sie zählt 444 Mitglieder, von denen aber nur etwa die Hälfte aktive Winzer sind. Die übrigen haben den Nebenerwerb aufgegeben, wollen aber offensichtlich weiter mit der Genossenschaft verbunden bleiben. Vielleicht ist ihnen wichtig, was Paul Gieler mit einem etwas nostalgischen Blick konstatiert: „Ganz wichtig: die sozialen und gesellschaftlichen Aspekte der Winzergenossenschaften. Auch Winzerverein oder Weinbauverein genannt, waren sie zentrale Mittelpunkte des Dorflebens. (…) Und jeden Sonntag, natürlich nach dem Besuch der Messe und deshalb mit reinem Gewissen, saßen die Winzer beim Frühschoppen und spielten `Sibbe Schröm´, ein Kartenspiel. Mit zunehmendem `Böngschesverbrauch´“, womit ein Wertplättchen aus Metall gemeint ist, das zum Bezug einer Flasche Wein vom Gastwirt berechtigte, „kam es zu verstärktem `Kloppen´, sprich Einsatzverdoppelung durch einen Faustschlag auf den Tisch. Hierfür war dann allerdings der Geist aus der Flasche verantwortlich.“

Wie auch diese gesellige Szene illustriert, werden Gemeinschaften durch den gemeinsamen Vollzug von Ritualen hervorgebracht. Und was in Mayschoß offenbar ganz selbstverständlich mit reinem Gewissen jeden Sonntag nach der Messe dazugehörte und vielleicht noch gehört, war auch in weniger profanen Zusammenhängen schon immer in allen Kulturen vorhanden: das Rauschmittel. Es war bei Ritualen und kultischen Handlungen fest verankert. Alkohol, der Geist aus der Flasche, ist, mehr noch als jedes andere, in unserer abendländischen Kultur das Rauschmittel schlechthin. Wein hatte insofern immer schon eine verbindende Funktion und war immer schon elementarer Bestandteil von Vergemeinschaftungsprozessen. Der gemeinsame Konsum des Rauschmittels bekräftigt die Gemeinschaft und erinnert an die Kommunion bei der christlichen Eucharistiefeier, bei der sich die Gläubigen symbolisch das Blut Christi einverleiben, wodurch die Gemeinde als Gemeinschaft erneut hervorgebracht und bestätigt wird. Das Letzte Abendmahl bildet insofern die Urszene oder das Modell von Vergemeinschaftung. Es ist, wie der Regisseur Einar Schleef bemerkt, die erste kollektiv vollzogene, „`chorische´ Drogeneinnahme unseres Kulturkreises: Das ist mein Leib. Das ist mein Blut“.

Vergemeinschaftung bei Einar Schleef

Bis zu seinem Tod im Jahr 2001 beobachtete Einar Schleef Vergemeinschaftungsprozesse im Theater unter Rückgriff auf den antiken Chor. Er erprobte ein völlig neues, chorisches Theater und versuchte als einer der ersten den Chor als Gemeinschaft wieder auf der Bühne zu „beheimaten“, wie er sagt, auch um so das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zu verhandeln. Aus diesem permanenten Dauerkonflikt heraus – festgemacht am antiken Chor – entstand für Nietzsche das tragische Theater. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einem apollinischen Prinzip, das auf Individuation setzt, und einem dionysischen, das heißt einer nach Einverleibung strebenden Gemeinschaft, woran sich auch Schleef orientierte. Hier wird zum Sündenbock, wer auf Individualität und Andersartigkeit beharrt und die Gemeinschaft bedroht; Diese „rekrutiert eine Jagdgesellschaft, um das eingenommene Herrschaftsgebiet zu kontrollieren“, der Sündenbock wird geopfert und bezahlt, wie Schleef des weiteren bemerkt, „mit Blutgeld“.

Neben der Chorgemeinschaft auf der Bühne figuriert Gemeinschaft im Theater aber grundsätzlich auch noch als Gemeinschaft von Akteuren und Zuschauern (eine Aufführung ist ein sozialer Prozess und entsteht immer nur als leibhaftige Interaktion aller Anwesenden). Vergemeinschaftung in diesem Zusammenhang bedeutet dann, die ästhetische Distanz zwischen Bühne und Publikum aufzuheben, denn dadurch erst wird ein autonomer Zeit-Raum in der Aufführung hergestellt, der gemeinsame Erfahrungen ermöglicht, wie sonst nur rituelle Handlungen. (Das Unbehagen bei den vielen digital übertragenen Phantomaufführungen während der Covid-19-Pandemie resultiert insbesondere auch aus dieser ästhetischen und leiblichen Distanz.) Anders als bei rituellen Handlungen entsteht eine Gemeinschaft innerhalb einer Aufführung jedoch, ohne dass sich jemand inkorporieren müßte, das heißt es ist eine Gemeinschaft, die die Individualität aller Beteiligten respektiert – und nur für die Dauer der Aufführung besteht.

Schleefs Inszenierungen ermöglichen den Beteiligten nicht, gemeinsame Handlungen zu vollziehen, sie können sich nicht direkt am Bühnengeschehen beteiligen. Dennoch werden sie auch bei ihm mit sinnlichen Eindrücken und körperlichen Erfahrungen konfrontiert. Diese entstehen nun jedoch nicht mehr aufgrund einer Erzählung wie im klassischen Theater, sondern bei Schleef agiert ein schreiender, brüllender, kreischender, rhythmisch stampfender – ein ekstatischer Chor bisweilen, der nicht mehr einem theatralen, repräsentativen Modell folgend agiert, sondern Vergemeinschaftung erfolgt hier gewissermaßen über einen körperlichen, leibhaftigen Energieaustausch: „Wechselseitige Wahrnehmungen, die Energien freisetzen und zirkulieren lassen, welche eine Gemeinschaft erfahrbar machen“, wie Erika Fischer-Lichte in diesem Zusammenhang bemerkt.

In Hinblick auf die Chorgemeinschaft selbst unterscheidet Schleef dabei nicht zwischen dem Chor als ästhetischem Phänomen beziehungsweise theatraler Gemeinschaft auf der Bühne und einer realen Gemeinschaft – beide realisieren oder bilden sich für ihn erst durch die Einnahme eines Rauschmittels, einer „Droge“, wie er selbst sagt – dem Chor-Geist aus der Flasche, wenn man so sagen möchte. Schleef selbst schreibt in diesem Zusammenhang: „Grob gesagt wird die Droge notwendig, um eine gesellschaftliche Utopie zu entwickeln (…) Droge und Utopie einer Gemeinschaft sind untrennbar miteinander verbunden.“ Gemeinschaftsbildung und Rauschmitteleinnahme bedingen sich – Chor-Geist und Chor-Bildung gehören zusammen sozusagen. (Man muß, vor dem Hintergrund des aktuellen Skandals in Nordrhein-Westfalen gesprochen, nicht Mitglied in einem Polizei-Korps werden, um das zu verstehen – auch nicht in einem Polizei-Chor übrigens.)

Insofern ist für Schleef mit dem Chor auch ein utopisches, und damit politisches, Potential verbunden, nämlich ewiggestrige, verkrustete, männerbündlerische Verhältnisse aufzusprengen. Denn aus seiner Perspektive kennt die Gesellschaft nur den Männerchor. Es ist noch die Gesellschaft alter weißer Männer – und es ist noch ein Theater, in dem die Frau aus dem tragischen Konflikt verschwunden ist. Mit Schleef rückt sie ins Zentrum zurück, bisweilen als Frauenchor wie beispielsweise in seiner Inszenierung von Die Mütter, gerade weil „53 schreiende Frauen für einen Mann unerträglich sind“, wie Schleef selbst einen Zuschauer zitiert.

Das Schicksal des Chores macht Schleef an der Geschichte des neuzeitlichen Dramas fest. Der Frauenchor soll bei ihm ein Gegengewicht zum männlichen Helden des bürgerlichen Theaters darstellen (dessen szenisches Ich sich ohne Frau gar nicht konstituieren würde), denn für Schleef hat das neuzeitliche Theater in der Folge von Shakespeare den antiken Chor verdrängt – und insbesondere eben den weiblichen Chor. Shakespeare gilt allgemein als derjenige, der den Chor in Individuen spaltete, deren bürgerliche Subjektivität im daran anschließenden Drama der Neuzeit dann Schleef zufolge ausgestaltet und in seiner ganzen Herrlichkeit errichtet wird.

Einar Schleef hat mit seinen Inszenierung von Frauenchören zweifelsohne, und nicht nur, den Formenkanon von Chor-Inszenierungen im deutschen Theater maßgeblich beeinflußt. Aber über das Ästhetische hinaus, sollte der Frauenchor auch die gesellschaftlichen Verhältnisse wieder zurecht rücken. Vielleicht ist er mit #MeToo erstmals wirklich laut zu hören …

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blut, schweiss und tränen

Mit seinen Aktionen erinnert Hermann Nitsch an das christliche Ritual der Kommunion. Sie stiften Gemeinschaft über die Verarbeitung gemeinsam gemachter Erfahrungen archaischer Gewalt …

die wände des hauptraumes sind mit weiß grundierter jute bespannt, welche mit farbe, blut, blutwasser beschüttet ist. an einem von der decke des raumes herabhängenden seil, an dessen ende ein fleischerhaken befestigt ist, hängt ein geschlachtetes, abgehäutetes, blutiges lamm (kopf nach unten). am boden der galerie, unterhalb des lammes, ist ein weißes tuch aufgebreitet, worauf blutigfeuchte eingeweide liegen. das lamm wird von einem akteur mit blut beschüttet (das blut tropft auf die eingeweide und das weiße tuch). das blutige lamm wird durch den raum geschaukelt. wände, boden und zuschauer werden mit blut bespritzt. blut wird mit kübeln auf die eingeweide und den boden der galerie geschüttet …“

Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Theater. Die Partituren … Bd. 1: 1.-32. Aktion. Neapel, München, Wien 1979, S. 50

Auf den fünfzehn Hektar Rebfläche des Weinguts Kühling-Gillot wächst überwiegend Riesling, nur etwa zu einem Viertel auch Spätburgunder. Einer dieser Rotweine aus Pinot-Noir-Klonen aus dem Burgund, die auf alte Rebstöcke aufgepfropft wurden, stammt aus einer etwa 30 Prozent steilen Parzelle im Oppenheimer Kreuz. Diese Lage ist geprägt von mächtigen Lössbänken, die immer wieder durchsetzt sind mit Grob- und Muschelkalk – perfektes Terrain für einen kräuterwürzigen und finessenreichen Spätburgunder, mit dem Kühling-Gillot in Rheinhessen immer wieder Maßstäbe setzt.

Das war und ist offenbar auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt – beispielsweise in Rom, wo Papst Johannes Paul II. den Jahrgang 1997 und Papst Benedikt XVI. den Spätburgunder aus dem Oppenheimer Kreuz aus dem Jahr 1999 als Messwein reichten. Messwein muß in der katholischen Kirche nach bestimmten Kriterien der Messweinverordnung der deutschen Bischofskonferenz von 2014 hergestellt sein (nach Lukas 22,18 muss der Wein vom Weinstock stammen, natürlich und von unverfälschter Reinheit sein). Mit der Einstufung als Grosses Gewächs durch den Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) erfüllt der Spätburgunder aus der Lage Oppenheimer Kreuz diese Bestimmungen jedoch mühelos. Und so wird der Spätburgunder von Kühling-Gillot in der vatikanischen Eucharistiefeier durch Tanssubstantiation zum Blut Christi. Wahrlich, „nehmet und trinket alle daraus: Dies ist mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden“!

Eucharistie und Kommunion beziehen sich auf das Letzte Abendmahl, das Oppenheimer Kreuz wird hier zur unblutigen Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers beziehungsweise zur Erinnerung an Jesu Tod getrunken. Da Jesus der christlichen Überlieferung zufolge bei diesem Mahl Brot und Wein als bleibende Zeichen seiner Gegenwart gestiftet hat, erhält das Trinken von Wein in der Kommunion seine Ritualfunktion im katholischen Christentum als Wiederholung des Abendmahles. Denn im Neuen Testament wird der Wein als Symbol für das Blut Christi zum Sakrament, durch das der Gläubige seinen Glauben bekräftigt und erneuert: Der Begriff Sakrament beschreibt einen christlichen Ritus, bei der eine sichtbare Handlung eine unsichtbare Wirklichkeit Gottes vergegenwärtigt. Der Begriff stammt vom lateinischen sacramentum, „Heilszeichen, Heilsmittel, Heilsweg, sichtbares Zeichen der verborgenen Heilswirklichkeit“ ab, es stammt von der Wurzel sacer, „heilig, unverletzlich“ und wird als eine Übersetzung des griechischen mystérion, Geheimnis, neben dem latinisierten mysterium verwendet. So wird der Wein in einem doppelten Sinne zu einem spirituellen Getränk beziehungsweise mit Geist versehen: zum einen durch den Prozess der alkoholischen Gärung, zum anderen durch die religiöse Tradition und das sakramentale Ritual im Gottesdienst.

Wie Euripides Bakchen, ist auch das christliche Abendmahl die Erzählung von einem Opferritual, bei dem Wein als Blut des gekreuzigten Jesus getrunken wird. Insofern besteht hier eine Verbindung zwischen dem antiken, archaischen Mythos um Dionysos und dem christlichen Jesus. Das hat auch, wie Brigitte Marschall schreibt, Johannes bemerkt. Der hat „wie kein zweiter neutestamentarischer Autor versucht, Dionysos und Christus einander anzunähern“, indem er Christus als den „wahren Weinstock“ (14,1) bezeichnet und auf die dionysische Qualität Christi verweist, wenn dieser im 6. Kapitel seines Evangeliums auffordert, sein Fleisch „zu zerreißen und sein Blut zu trinken“.

Auch der österreichische Aktionskünstler Hermann Nitsch zieht mit seinem Orgien Mysterien Theater eine Verbindungslinie zwischen Dionysos und dem gekreuzigten Jesus. Mit Orgien Mysterien Theater ist eine Reihe von bisher 155 Aktionen an unterschiedlichen Aufführungsorten gemeint, eine der ersten davon hat im Jahr 1963 stattgefunden – eine Lammzerreissungsaktion. Mit dieser Aktion verweist Nitsch, wie mit allen folgenden, einerseits auf archaisch-mythische Dimensionen, diese sind aber andererseits für Katholiken in hohem Maße auch symbolisch aufgeladen. Denn Blut steht in seinen Aktionen, wie Nitsch selbst sagt, für „rotwein, eucharistie, christi blut, opfer …“, Begriffe also, die nicht zuletzt mit dem christlich-katholischen Ritual der Eucharistie beziehungsweise der Kommunion zusammenhängen. Und auch das zentrale Element seiner Zerreissungsaktion, das Lamm, symbolisiert als alttestamentarisches Opfertier das Lamm Gottes/Agnus Dei, also Jesus Christus selbst beziehungsweise im Rahmen der Zerreissungsaktion seine Opferung am Kreuz.

Im Unterschied zum Ritual der Eucharistiefeier aber vollzieht Nitsch die Opferung des Lammes nun nicht nur symbolisch, sondern er zerreisst es tatsächlich. Und darin liegt auch der Unterschied zum traditionellen Ritual: Nicht nur, daß in Nitschs Aktion der theatrale Charakter beziehungsweise die Zeichenhaftigkeit problematisch wird (was man wahrnimmt, bedeutet nichts, wie sonst auf einer Theaterbühne, wo alles immer ein Zeichen für etwas ist), sondern in seiner Performance treten, wie Erika Fischer-Lichte bemerkt, an die Stelle von göttlichen oder magischen Kräften körperliche Erfahrungen von Akteuren und Zuschauern (die zum Mitmachen eingeladen sind!), mitunter verstörende sinnliche Eindrücke beziehungsweise Affektreaktionen wie Angst, Ekel oder Schrecken – die unmittelbare Erfahrung von Blut, Schweiß und Tränen gewissermaßen; Möglicherweise sogar unbekannte oder verbotene körperliche Erfahrungen, die man „mit den symbolischen Bedeutungen, welche unsere Kultur den betreffenden Elementen zuschreibt, in Verbindung bringen wird“, wie Fischer-Lichte schreibt. Deren Bedeutung wird man dadurch womöglich gänzlich um- oder sogar neuschreiben.

Nitschs Performance als Ritual bewirkt aber möglicherweise nicht nur die Umschreibung bestimmter Bedeutungen, sie soll auch die Beteiligten umformen beziehungsweise verwandeln. Denn die „Ethik der Katharsis – zivilisatorisch verdrängte Aggressivität wird wieder in den Raum des Bewußtseins und der Erfahrbarkeit zurückgeholt“, bemerkt Hans-Thies Lehmann. Insofern ist mit dem Rückgriff auf christliche Rituale bei Nitsch auch immer die Frage nach den „Grenzen des zivilisatorisch kodierten Verhaltens“ und den „Möglichkeiten des Menschen am Rande seiner zivilisatorischen Bändigung“ betroffen. Es handelt sich um Prozesse, „in denen soziale Energie in besonderer Verdichtung unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft zirkuliert und ausgetauscht wird“. Transformation heißt hier insofern, einen Umgang mit den Erfahrungen archaischer Gewalt, die man jedoch im geschützten Rahmen eines von der Gemeinschaft legitmierten Rituals macht, zu finden, diese zu verarbeiten, also zu verinnerlichen oder zu verleiblichen gewissermaßen. Ein gemeinschaftliches Mahl am Ende der Aktion soll diesen Prozess, die Veränderung, besiegeln.

Auf dieses Gemeinschaftliche rekurriert Nitsch in seinen Aktionen nicht allein mit dem gemeinsam Mahl am Schluss der Aktion, sondern schon vorher mit dem Verweis auf eine symbolische Ordnung, die letztlich das Fundament unserer gemeinsamen, abendländischen Kultur bildet, nämlich antiker Mythos und Christentum. Bereits am Begriff der Kommunion wird das deutlich, bedeutet dieser aus dem lateinischen communio übersetzt doch soviel wie Gemeinschaft. Die Kommunion erinnert an das letzte Abendmahl, wo Christus eine solche Gemeinschaft mit seinen Jüngern herstellt – allerdings zum letzten Mal, denn der Verräter sitzt bereits mit am Tisch. Das weiß auch der Regisseur Einar Schleef, der im Letzten Abendmahl „die erste kollektiv vollzogene Drogeneinnahme unseres Kulturkreises“ sieht. Das aber könnte eine der nächsten Geschichten sein …

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vade retro

Von ihren Abteien aus haben Benediktiner- und die aus ihrem Orden heraus entstandenen Zisterziensermönche großen Einfluß auf den Weinbau ausgeübt. Sie verbesserten die Produktionsmethoden nicht nur im Burgund, sondern auch in Deutschland. Anlässlich des Jubiläums der Benediktinerabtei Cluny. Ora et labora oder …

Für Jean Baudrillard sind Begriffe Denkformen, die Ideen generieren, „und zwar vielleicht mehr noch als andersherum“, wie er schreibt. In jedem Begriff sind sprachlich strukturierte Vorstellungsinhalte subsumiert, die den Blick auf die Wirklichkeit bestimmen. Mit diesem Blick ist aber stets auch eine Praxis verbunden und die Art und Weise, wie über etwas gedacht wird, ist entscheidend dafür, wie man mit diesem Sachverhalt umgeht. Die zündende Idee beschreibt vielleicht diesen Umschlag ins Performative, die Umsetzung in die Tat. Begriffe sind insofern immer auch Gesten – menschliche Praxis ist in diesem Verständnis stets auch bewußte, reflektierte Praxis, wobei die handlungsleitende Reflexion, die Zielvorstellung des Handelns, dann auf eine Ideologie oder einen ideologisch affizierten Begriff bezogen bleibt. Insofern denken wir zwar innerhalb einer sprachlichen Matrix, haben aber auch die Macht, Begriffe umzuschreiben und zu reformieren.

Thorsten Melsheimers Riesling „vade retro“

Der Winzer Thorsten Melsheimer von der Mosel tut das mit einem Riesling, den er auf den Namen Vade Retro getauft hat. Damit spielt er auf die mittelalterliche Formel Vade retro, Satana! an, die ursprünglich Weiche, Satan! oder Zurück, Luzifer! bedeutet und eine Beschwörungsformel während des römisch-katholischen Exorzismusrituals ist. Sie nimmt Bezug auf zwei Stellen in der Bibel: Zum einen auf die Versuchungsgeschichte Jesu, wie sie im Matthäus-Evangelium (4,10) festgehalten ist, wo Jesus Satan mit dem Satz Vade, Satana! befiehlt von ihm abzulassen, und außerdem im Markus-Evangelium (8,33), wo Jesus Petrus anfährt mit dem Ausspruch Vade retro me, Satana!

Diesen Bedeutungszusammenhang nun schreibt Melsheimer um, indem er die exorzistische Beschwörungsformel umdeutet und den Namen als Verweis darauf nimmt, dass sein Wein Vade Retro nicht geschwefelt ist – und auch sonst nicht weiter mit „Teufelszeug“ bearbeitet wurde, also ohne Verwendung von chemischen Stabilisatoren, Hefenährsalzen und vielem mehr. Es handelt sich um einen unter ökologischen Kriterien hergestellten Naturwein, man möchte sagen einen auf ursprüngliche, traditionelle Weise hergestellten, naturbelassenen Wein. Vade Retro ist dann begriffen als Aufforderung, zurück zu kehren zum ökologischen Weinbau, „Methoden der biodynamischen Wirtschaftsweise zu nutzen“, wie er selbst schreibt, zum Wohle der Natur.

Entsprechend auch lagerte der Vade Retro ein Jahr lang unbearbeitet im gebrauchten Barriquefass. Seine Farbe hat er dabei nicht, wie bei einem Orange Wine, von der Maischestandzeit (hier resultiert die orange Farbe aus dem Kontakt mit der Schale, indem Farbpigmente, und außerdem auch Tannine, aus der Beerenhaut extrahiert werden), sondern allein von der Oxidation des Weines im Holzfass.

Schwefel wird im Rahmen der Weinbereitung normalerweise zur mikrobiologischen Stabilisierung des Weines verwendet, um eine bakterielle Verunreinigung auszuschließen. Um seinen Wein dennoch zu stabilisieren, hat Melsheimer auf einen biologischen Säureabbau verzichtet und dem Riesling seine natürliche ausgeprägte Säure gelassen: ein niedriger ph-Wert ist eine Alternative, Wein mikrobiologisch zu stabilisieren. (Allerdings kann zu viel Apfelsäure auch zu Fehltönen beziehungsweise einer ungewollten Sauerkrautnote führen.)

Die Benediktiner

Blickt man in der Geschichte zurück, ist das Vade Retro, Satana! in seinem Ursprung mit dem Benediktinerorden verbunden: Die Formel findet sich in einem Manuskript aus dem Jahr 1415 in der bayerischen Benediktinerabtei Metten. Von ihren Abteien aus haben die Mönche großen Einfluß auf den Weinbau ausgeübt, auch in Deutschland.

Seit dem Niedergang des römischen Imperiums lag die Weinproduktion hier praktisch brach. Die seit Karl dem Großen (768-814) erstarkenden Klöster, vor allem die Benediktiner aus dem Burgund, haben die Produktionsmethoden, die seit den Römern kaum Fortschritte gemacht hatten, entscheidend verbessert. Das macht sich, wie man heute vielleicht besser weiß, insbesondere bei Spätburgunder bemerkbar, den die burgundischen Mönche mit nach Deutschland brachten. Denn er ist anfällig gegen Fäulnis und auch sonst sehr arbeitsintensiv. Ein zu hoher Ertrag macht sich außerdem schnell negativ in der Qualität bemerkbar. Spätburgunder ist insofern ein Paradebeispiel für die These, daß Weinqualität zu einem überwiegenden Teil aus dem Weinberg kommt und nicht im Keller gemacht wird. (Riesling hingegen taucht erst sehr viel später in deutschen Weinbergen auf: im Jahr 1435 wird er zwar erstmals in einer Rechnung der Stadt Rüsselsheim urkundlich erwähnt, aber erst im Jahr 1720 entsteht der erste zusammenhängende Riesling-Weinberg in Deutschland, als die Benediktinerabtei in Johannisberg im Rheingau 294.000 Riesling-Rebstöcke pflanzt.)

Ihren Stammsitz hatten die Benediktiner im italienischen Kloster Montecassino nördlich von Neapel (den Orden gegründet hat Benedikt von Nursa, der von 480 bis 560 in Kampanien lebte) und in Cluny, das ein idyllisches Dorf im Burgund war, als hier am 11. September 910 die neue, von bischöflicher Autorität unabhängige, Benediktinerabtei geweiht wurde. Von hier aus sollte, nach der geistigen Krise und dem Niedergang des klösterlichen Lebens in Folge der Auflösung des Karolingerreiches, die Erneuerung der Kirche erfolgen. Und das Reformkloster Cluny sollte einen lang andauernden Einfluss ausüben. Schon Mitte des elften Jahrhunderts hatte sich die Abtei zum Zentrum eines Ordensverbandes entwickelt, dem tausendfünfhundert Klöster angehörten, davon etwa 160 in Deutschland.

Der Akzent des Ordensmottos ora et labora, bete und arbeite, verschob sich durch die Einführung von Konversen (Laienbrüdern ohne Priesterweihe), die die Arbeit verrichteten, bald auf ersteres und die Mönche konnten sich uneingeschränkt dem geistlichen Leben widmen. Gleichzeitig gelang es dem Orden jedoch, sich zunehmend Reichtum und weltlichen, das heißt politischen Einfluß zu verschaffen und gründliche Reformen auch außerhalb der Kirchenordnung durchzusetzen. Eine ursprünglich in der Auvergne entstandene Friedensbewegung beispielsweise wurde erst wirklich in weiten Regionen Frankreichs angenommen, als sich Cluny involvierte. Diese weltlichen Erfolge und die zunehmende Opulenz des Mönchslebens jedoch sorgten auch zunehmend für Unmut und führten zu einer „Krise des Mönchtums“: Sollte mönchisches Leben nicht in Kontemplation stattfinden und war nicht Bescheidenheit eine mönchische Tugend?

Die Zisterzienser und der Weinbau

Der Unmut einiger Benediktinermönche führte zur Gründung eines neuen Klosters in Cîteaux (lateinisch Cistercium, deutsch Zisterze, von dem sich auch der Ordensname herleitet), keine hundert Kilometer von Cluny entfernt. Etwas später wurde auch in Clairvaux eine Abtei errichtet. Hier wurde ein asketisches Gegenbild zur der von Schönheit und Pracht inspirierten Religiosität in Cluny entworfen: Scharf wandten sich die Zisterzienser gegen die Elite der benediktinischen Mönche in Cluny, gegen die Machtgelüste der römischen Kurie und die Prachtenfaltung in den Bischofskirchen. Sie forderten stattdessen Askese und Arbeit, die mönchischen Regeln des heiligen Benedikt sollten strenger ausgelegt, die Regelsätze gewissermaßen umgeschrieben werden – in freiwilliger Armut und Bescheidenheit.

Die Mönche in Citeaux wollten zu den einfachen christlichen Idealen zurückkehren und reformierten das Klosterleben. Angetrieben wurden sie dabei vom später so genannten Bernhard von Clairvaux (1090-1153), der im Jahr 1112 in das Kloster Citeaux eingetreten ist und bald zum Abt in Clairvaux wurde. Über den neuen Mönchsorden sagte er: „Hier treten nur Seelen ein. Das dient zu nichts.“ Unter ihm verbreitete sich der Orden der Zisterziensermönche, wie sie sich nannten, rasch. Wälder wurden gerodet, Flüsse reguliert – und ein Kloster nach dem anderen errichtet, zunächst im Burgund: in La Ferté, Pontigny, Morimond, Foigny, Troisfontaines und schließlich auch in Fontenay, dessen Bau Bernhard persönlich überwachte. Die Abtei in Fontenay gilt deshalb als wichtigstes Zeugnis für den bernhardinischen Plan, also die Umsetzung seiner Vorstellungen, wie ein Kloster und das monastische Leben auszusehen habe.

Anders als die Benediktiner hielten die Zisterzienser auch das labora des heiligen Benedikt in Ehren. Bernhard predigte: Demjenigen, der besonnen und nüchtern lebt, reiche als einziges Gewürz das Salz und der Hunger. Den Clunyzianern rief er mit Verweis auf die Benediktusregel entgegen, sie mögen das Nichtstun des otium mit der Arbeit vertauschen um so einen natürlichen Hunger anzuregen. Entsprechend übertraf ihre wirtschaftliche Tätigkeit, die sich vom Prinzip der klösterlichen Eigenwirtschaft löste und zunehmend marktorientiert war, die anderer Orden bei weitem. Ein Mönch der durch das Klostertor trat, unterwarf sich strengen Ordensregeln: Der Tagesablauf ist von harter Arbeit geprägt, ansonsten läutete schon Nachts um 2 Uhr die Glocke zum ersten Mal – sieben Mal täglich ruft sie die Mönche zum Gebet.

Die Klosterkirche von Fontenay entspricht in ihrer Schlichtheit ganz und gar den Vorstellungen des heiligen Bernhards. Anders als die meisten Zisterzienserkirchen besteht sie aus einem etwa 17 Meter hohen und 66 Meter langen Raum mit großen Arkaden. Der Chor ist quadratisch angelegt, sechs Fenster lassen reichlich Licht herein. Bei Sonnenschein taucht der gelbe Stein das Gotteshaus in mystisches Licht. Der Altar bestand zu Berhards Zeiten vermutlich aus einem einfachen Tisch, die figürlichen Reliefdarstellungen an der Wand dahinter wurden erst nach seinem Tod dort angebracht. Bernhard hatte in seinen Klöstern Abbildungen verboten – nichts sollte die Mönche vom Beten abhalten -, nur die Gottesmutter Maria war davon ausgenommen. Ihr waren grundsätzlich alle Zisterzienserklöster geweiht.

Über eine kleine Treppe gelangten die Mönche von der Kirche hinauf ins Dormitorium, den Schlafsaal im oberen Stockwerk. Sie schliefen in ihrer Kleidung, die Kapuze über den Kopf gezogen. Das Lager war hart – eine dünne Lage Stroh auf dem Boden, ein Tuch, eine Wolldecke und ein Kissen waren das einzige Zugeständnis an ein wenig Bequemlichkeit. Druch eine niedrige Wand waren die einzelnen Schlafplätze voneinander getrennt. Tagsüber konnten sich die Mönche in den Kreuzgang zurückziehen, wenn sie ihre Arbeit getan hatten. Hier waren sie unter sich – und mit Gott.

An den Kreuzgang schließen sich in Zisterzienserklöstern die Gemeinschafts- und Versorgungsräume an. So gelangt man in Fontenay vom östlichen Kreuzgang durch einen großen Rundbogen in den Kapitelsaal, den Versammlungsraum der Mönche mit seinen stämmigen romanischen Säulen, die das Dormitorium darüber tragen. Nur im Kapitelsaal war die Schweigepflicht aufgehoben, hier wurden die Angelegenheiten und Belange des Klosters besprochen. Zunächst las ein Mönch aus der Heiligen Schrift vor, der Abt kommentierte das Vorgelesene dan und erteilte praktische Anweisungen für die Arbeit im Klostergut. Danach beichteten die Mönche: Mit lauter Stimme bekannten sie ihre Verfehlungen. Über Buße und Bestrafung entschied der Abt.

Schon bei der Trockenlegung von Sümpfen und der Bezwingung von Wildwasser beim Bau ihrer Abteien hatten die Mönche bemerkt, dass sich mit der Wasserkraft vieles tun läßt. So gebrauchten sie das Wasser nicht nur zum Trinken und Waschen und zur Bewässerung ihrer landwirtschaftlichen Kulturen, sondern auch für das Mühlrad und für das Hammerwerk, mit dem Metalle bearbeitet wurden. Erze aus der Umgebung wurden verarbeitet – und aus dem gewonnen Eisen wurde insbesondere auch andere Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände hergestellt. Die Schmiede von Fonenay – fast fünfzig Meter lang ist das Gebäude – war einer der ersten Industriebetriebe Europas.

Beim Bau des Klosters wurden große Arbeitsräume geschaffen. In dem einzigen beheizbaren Raum des Klosters konnten sich die Mönche im Winter aufwärmen. Hier wurden auch die wertvollen Schriften aufbewahrt, die von den schriftkundigen Mönchen kopiert wurden. Ansonsten waren die Mönche insbesondere auch in der Landwirtschaft tätig: Die Zisterzienser versorgten sich mit allem Notwendigen selbst, die Versorgung des Klosters sollte autark und unabhängig sein. Besonders auch der Weinbau war ihnen dabei ein Anliegen, schon unmittelbar nach der Ordensgründung in Citeaux pflanzten sie die ersten Weinstöcke in den steinigen Boden eines nahegelegenen Hanges. „Gab es ein besseres Pendant zur geistlichen Arbeit, als im Schweiße seines Angesichts aus Trauben das Blut Christi zu gewinnen?“, fragt Bart Van Loo in seinem Buch über die Geschichte des „Burgund“ (2020).

Es bleibt nicht bei dem einen Weinberg, unermüdlich pflanzen sie Rebstöcke überall in der Nähe ihrer Klöster. Die Zisterzienser begründen damit die reiche Geschichte des Weinbaus im Burgund. Im Jahr 1212 wird in einem Dokument erstmals das 50 Hektar große Clausum de Vougeaut erwähnt, ein ummauerter Weingarten, „clos“ genannt, im nördlichen Teil der Côte d`Or, den man vielleicht besser als den berühmten Grands Cru Clos de Vougeaut kennt (den sich heute 80 Weinbauern teilen). Und im Jahr 1273 bewirtschaften die Mönche alle Weinberge in Gevrey-Chambertin, ebenfalls im nördlichen Burgund. Auch im südlichen Burgund, in Meurseult, sind sie bald tätig.

Wie zahlreiche andere Klöster wird auch das Kloster in Fontenay im Verlauf der französischen Revolution 1790 enteignet – und drohte anschließend komplett zu verfallen. Im 19. Jahrhundert jedoch wurde es in seiner ursprünglichen Gestalt wieder aufgebaut. Eine große geistige Bewegung ließ sich nun freilich nicht mehr organisieren, aber so wurde zumindest das vollkommendste Abbild einer Zisterzienserabtei wiedererrichtet. Nach seinem Vorbild wurden damals in ganz Europa Zisterzienserklöster gebaut, über 700 sollten es werden. In Deutschland ist das prominenteste Beispiel – neben dem bereits 1136 errichteten Kloster Eberbach im Rheingau (das als Kulisse für die Verfilmung von Umberto Ecos Der Name der Rose diente, das von einer mysteriösen Mordserie handelt, die im Jahr 1327 eine norditalienische Benediktinerabtei erschüttert) – sicherlich die 1147 errichtete Klosteranlage Maulbronn – die einzige vollständig erhaltene Klosteranlage aus dem Mittelalter nördlich der Alpen.

Maulbronn war eine von vielen hundert Klostergründungen der Zisterzienser zu Lebzeiten von Berhard von Clairvaux: Schon bald nach den Klostergründungen im Burgund gelingt es ihm, die Verbreitung des Zisterzienserordens auch über den Rhein voranzutreiben. So erreichen zwölf Mönche aus Clairvaux 1147 über das Elsass auch das Tal der Salzach. Der Bischof von Speyer hatte ihnen dort Land überlassen – ein versumpftes, unwirtliches Waldgebiet am Fuße des Stromberges zwischen Heidelberg und Stuttgart – und sogleich beginnen die Mönche dort eine Abtei zu erreichten. Wie hier in Maulbronn, trugen die Zisterzienser überall in Deutschland zur Erschließung bisher noch unbewohnter Waldgebirge bei, indem sie ihre Klöster – oft weiträumige Klosteranlagen nach dem Vorbild von Fontenay – in dieser Weltabgeschiedenheit gründeten.

In stillen Tälern und Wäldern wollten die Mönche zur höheren Ehre Gottes beten und sich unabhängig von der Welt versorgen. So entwickelten ihre Abteien nicht nur zu geistlichen Zentren, sondern nach und nach auch zu wirtschaftlichen. Zum Kloster Maulbronn gehörten deshalb von Anfang an auch landwirtschaftliche Betriebe (sogenannte Grangien) und Nutzflächen sowie, aufgrund der Fastenregeln, oftmals auch Fischteiche, deren Wasser in einem ausgeklügelten Kanalsystem gesammelt wurde. Um Maulbronn lassen sich etliche solcher Teiche finden, in denen vermutlich auch Karpfen gehalten wurden. Sie sind etwas größer als Schleie und wurden im Mittelalter von den Zisterziensermönchen aus der Schwarzmeerregion zu uns gebracht. Weil die Zisterzienser fleißig waren, erwarb das Kloster rasch Eigentum. Außerdem wurden weitere Lagerhallen, Werkstätten und Mühlen gebaut.

Da Reichtum verlockend ist, entstand auch eine Klosterbefestigung. Damals wurde auch der Eingangsbereich der Kirche neu gestaltet. Bernhards Klöster sollten eigentlich einfach sein. So durften die Mönche für das Glockenwerk auch keinen Turm errichten. Ohnehin wollten die Mönche allein sein und keine weltlichen Pflichten haben. Deshalb war auch in ihren Kirchen kein Platz für eine Gemeinde. Nur die Mönche sollten hier ihre Gottesdienste feiern.

Die Kirche des Maulbronner Klosters wurde erst 31 Jahre nach Baubeginn, im Jahr 1178 eingeweiht – Bernhard von Clairvaux war zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben. Ursprünglich war der Innenraum der Kirche sehr sparsam ausgestattet, dann allerdings erhielt er im 14. und 15. Jahrhundert sein heutiges Gesicht – und zwar gegen alle bernhardinischen Bauvorschriften. Schon Anfang des 13. Jahrhunderts änderte sich der Baustil: aus bodenhaftiger einfacher Romanik wird nun reich gegliederte Gotik. So erhielt das ursprünglich einfache, flache Holzdach des Mittelschiffes jetzt ein geschmücktes Netzgewölbe. In den Ostchor wurden große Fenster gebrochen – die ursprünglich dunkle Zisterzienserkirche hat in ihrem Altarraum jetzt reichlich Tageslicht, dass das aus einem Stein geschlagenen Kreuz und Körper Christi des Maulbronner Kreuzes beleuchtet. Schließlich ist auch das Chorgestühl mit seinen 92 Plätzen ein typisches Werk der Spätgotik: Die kunstvollen Schnitzereien zeigen Szenen des Alten Testaments. Viele Stunden verbrachten die Mönche hier betend und singend – dem strengen Sinn des heiligen Bernhard hat das Gestühl aber sicherlich nicht entsprochen, hat er bildliche Darstellungen doch eigentlich verboten. Das gilt auch für den Hochaltar, der etwa zeitgleich mit dem Chorgestühl Mitte des 14. Jahrhunderts im gotischen Stilumgestaltet wurde. Die Holzreliefs am Altarblock stellten nun auch Szenen der Kreuzigung und des Todes Christi dar – und bis auf die Gesichter waren die Figuren früher sogar komplett vergoldet.

Nach der Reformation wurde das Land und auch das Kloster evangelisch – und die Zisterzienser mußten das Kloster verlassen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich einzig das Refektorium der Mönche, der Speisesaal, in seinem ursprünglichen Zustand: Er ist eine zweischiffige gewölbte Halle mit schmalen, hohen Rundbogenfenstern. An der Decke sind hier Ansätze einer ornamentalen Zeichnung zu sehen, die jedoch nicht weiter ausgefürt wurde. Der Refektorium ist sicherlich einer der schönsten erhalten Säle aus dem Mittelalter.

Maulbronn war nicht unbedingt für Weinbau bekannt, es waren aber die Zisterziensermönche die ihre Weinreben aus dem Burgund mit nach Deutschland brachten. So kam auch der Spätburgunder hierher – nach Malterdingen in Baden beispielsweise. Vor siebenhundert Jahren fanden die Zisterzienser in dem Gewann Mönchhofmatten dasselbe Kalksteinterrain vor wie im burgundischen Gevrey-Chambertin. So war „Malterdinger“ auch lange Zeit ein Synonym für Pinot Noir. Eine Liste mit Lagennamen, die auf die Mönche Bezug nehmen oder den Einfluß der Kirche für den Weinbau unterstreichen, wäre lang, der Mayschosser Mönchberg im Ahrtal, wo Benediktinermönche des Klosters zu Deutz Wein anbauten, ist nur ein weiteres Beispiel für eine solche Lage.

In Deutschland, aber nicht nur hier, sind die Zisterzienser für viele technische Innovationen und Entwicklungen im Weinbau verantwortlich, wie etwa die Veredelung der Reben, moderne Keltern, Barriquefässer oder den Bau von Steinmauern zum Schutz vor Wildverbiss. Wie bereits erwähnt, wurde auch das Kloster Eberbach im Rheingau im Jahr 1136 von Zisterziensern gegründet. Bis heute bewirtschaftet es in Assmannshausen einen Spätburgunder-Weinberg, der aus dem Rheingauer Riesling-Rebenmeer herausragt. Dass es sich bei diesem Weinberg aber ausgerechnet um den Höllenberg handelt, ist eine besondere Ironie der Geschichte.

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Essay

analogien und adaptionen

„Wie ein Amphitheater“ schmiegt sich der Mönchberg um das Weingut, schreibt der Deutzerhof aus Mayschoss im Ahrtal. Tatsächlich ähnelt der Weinberg mit seiner konkaven Formung und den eingearbeiteten Steinterrassen dem antiken Dionysostheater in Athen, das zum Modell für alle Theaterbauten der Römer werden sollte. Sie waren es auch, die den Weinbau in Deutschland begründeten …

Das Ahrtal

Vor etwa 325 Millionen Jahren faltete sich das Rheinische Schiefergebirge und schuf so die Voraussetzungen für die etwa fünf Millionen Jahre alte Ahr. Der Fluß schuf über Jahrtausende ein äußerst enges, wärmestauendes Tal mit steilen Hängen an beiden Seiten und damit eine warme Mikroklimazone, die erfolgreichen Weinanbau so weit nördlich überhaupt erst möglich macht. Denn das Ahrtal liegt geografisch zwischen dem fünfzigsten und einundfünfzigsten Breitengrad und damit eigentlich knapp zu weit nördlich der für den Qualitätsweinanbau als gut geltenden Temperaturzone zwischen dem dreißigsten und fünfzigsten Breitengrad (nur hier herrschen jährliche Durchschnittstemperaturen um die zehn Grad und hat der Rebstock eine klimatisch bedingte Ruhepause). Dennoch wird im Ahrtal auf 550 Hektar Wein angebaut – und überraschenderweise sogar hauptsächlich Rotwein, der so weit nördlich normalerweise nicht gut ausreift. Das Ahrtal ist in Deutschland damit das nördlichste zusammenhängende Rotweinanbaugebiet.

Eines der Weingüter, die sich im Ahrtal überwiegend auf den Anbau von Rotwein konzentrieren, ist der Deutzerhof – und einer seiner Spitzenweine der Spätburgunder vom Mayschosser Mönchberg. Wie im gesamten Ahrtal wird auch am Mönchberg überwiegend Spätburgunder angebaut, denn Spätburgunder ist früh austreibend und reifend und braucht eine lange Reife- beziehungsweise Vegetationsphase. Insofern ist er bestens geeignet für kühlere Regionen wie das Ahrtal – es muß sogar kalt sein, damit er wenig von seiner natürlichen Säure verliert und sich seinen schlanken Körper bewahrt beziehungsweise nicht zu „marmeladig“ wird (oft wird Spätburgunder an guten Rieslingstandorten angepflanzt). Andererseits aber darf es auch nicht zu kalt sein, damit er ausreifen und seine typischen Aromen ausbilden kann.

Der Mayschosser Mönchberg

All das ist im Ahrtal gewährleistet und am Mönchberg so gut realisiert, dass ihn der Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) sogar als Grosse Lage klassifiziert hat. Der Mönchberg ist somit eine von insgesamt vierzig klassifizierten Einzellagen an der Ahr (mit 46 Hektar mithin die größte), die die Anforderungen der Reben in idealer Weise erfüllt und höchste Qualität ermöglicht. Damit die Rebe nämlich ihren jährlichen Wachstumszyklus durchlaufen kann, müssen bestimmte Anforderungen erfüllt werden – neben genügend (aber nicht zuviel) Wasser, Sonnenlicht für die Photosynthese (etwa 1.450 Sonnenstunden im Jahr sind es im Ahrtal) und Nährstoffen aus dem Boden, ist dabei auch Wärme von entscheidender Bedeutung, damit die Reben wachsen und die Trauben reifen können.

Ist das Klima im Ahrtal schon vergleichsweise mild für die nördliche Lage (die Durchschnittstemperatur beträgt 9,8 Grad), ist es im Mönchberg nochmal etwas wärmer. Und das ist auch wichtig, denn die Rebstöcke stehen hier in 200 bis 220 Metern Höhe über Mayschoss. Sie wachsen auf einem Boden aus massivem Schiefer im Untergrund sowie einem kleinen Lehm- und Lössanteil und Schieferverwitterungsgestein (Grauwacke) an der Oberfläche. Für seinen im Mönchberg angebauten wurzelechten Spätburgunder verwendet der Deutzerhof einen kleinbeeriger Klon, der sich schon seit Jahrzehnten tief in den Schiefer gebohrt hat. Dadurch geraten die Weine mineralisch, wobei die kühle Mineralik des Schiefers durch den Lehm und Löss etwas abgepuffert wird, was sich im Spätburgunder dadurch bemerkbar macht, dass der Wein etwas weicher und früher zugänglicher ist.

Dieser Reifeeffekt ist aber insbesondere auch auf das warme Mikroklima im Mönchberg zurückzuführen, der durch die Ausrichtung der Rebflächen nach Süden und seine konkave Krümmung die Sonnenstrahlen den ganzen Tag über optimal einfängt. Oberhalb der Reben wächst Wald (Eifel), der den Weinberg nach Norden abgrenzt und gegen kalte Winde schützt. Die Hänge des Mönchberg sind perfekt zur Sonne hin exponiert, ermöglichen einen steilen Sonneneinfall, und haben viele Weinbergsmauern aus Schiefergestein, die die Wärme zusätzlich speichern und nachts wieder abgeben. Die natürlichen geografischen Bedingungen werden so bestens genutzt.

Mit den eingearbeiteten Steinterrassen und seiner konkaven Krümmung ähnelt der Mönchberg tatsächlich sehr einer antiken Sitztribüne, die man bisweilen auch – wie die Weinbergterrassen in den Mönchberg – in natürliche Abhänge gegraben beziehungsweise in Stein gehauen hat. Zum ersten Mal realisiert wurde das im Dionysostheater am Südhang der Akropolis in Athen. Es ist das älteste erhaltene Theater dieser Art und das älteste dieses Typus und wurde zum Vorbild für den gesamten griechischen Theaterbau: Von Athen aus verbreitet sich die muschelförmige Theaterform überall in der Mittelmeerregion.

Das Dionysostheater in Athen

In Athen befand sich seit der Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus, erbaut noch vom Tyrannen Peisistratos, das wichtigste Heiligtum des Gottes Dionysos. Es wurde am Südhang der Akropolis errichtet, wo man jährlich Ende März die Großen Dionysien feierte, das glänzendste Fest zu Ehren des Gottes. Das Heiligtum stand in direktem Bezug zum Theater, das im Prinzip „seine organische und funktionelle Erweiterung darstellte“, wie es in einem Katalog des Athener Akropolismuseums heißt. Denn ursprünglich war die Tempelanlage oberhalb eines runden Tanzplatzes errichtet worden, auf dem die heiligen Kultriten stattfanden. Diese erste orchestra (abgeleitet vom Verb orchoúmai für tanzen; Bei der Orchestra handelt es sich ursprünglich also um einen kultischen Tanzplatz) bildet den Kern des Dionysostheaters.

Seine heutige Form hat das Dionysostheater um 460 vor Christus erhalten, als das sogenannte theatron, von dem sich unser Theater ableitet, in den Burgberg der Akropolis eingearbeitet wurde. Zum theatron gehört neben dem bisher hölzernen, ab jetzt steinernen Zuschauerraum mir Platz für 16.000 Zuschauer, koilon genannt (für Keil, da die Zuschauerreihen mittels Treppen in mehrere Blöcke unterteilt wurde, die sich im steilen Hang von oben nach und unten keilförmig zuspitzen und der Tribüne so eine Muschelform geben), die kreis- oder später halbkreisförmige orchestra, um die die Zuschauerterrassen angelegt wurden, sowie als drittes Element die skene, anfangs ein Bühnengebäude, aus dem sich dann die (erhöhte) Bühne im eigentlichen Sinn entwickelte. (Ursprünglich fand sich in jedem antiken Theater auch noch ein Altar – und zwar mitten in der Orchestra –, was den essentiellen Charakter unterstreicht, den die rituelle Opferhandlung für die Entstehung des Theaters hatte. Entsprechend auch hat der Begriff des theatron einen Wandel durchgemacht, denn ursprünglich war damit nur die Zuschauermenge bei einem Opfer bezeichnet, später dann jede Anlage im kultischen Bereich, von der aus man religiösen Ritualen oder Prozessionen zusehen konnte – also der Zuschauerraum –, bevor er zum Theater als Gesamtanlage auch in unserem heutigen Verständnis wurde.)

Die Orchestra war ursprünglich einem Chor zugedacht, der hier seine Dionysos geweihten Kultlieder und Tänze aufgeführt hat – die im Laufe der Zeit immer epischeren Charakter annahmen und einen antwortenden Schauspieler hervorgebracht haben. Das ist die Geburtsstunde des Theaters in unserem heutigen Verständnis: Während der großen Dionysien traten maskierte, bocksgestaltige Chorsänger (sogenannte tragodoi, Bockssänger) mit kultischen Tänzen auf, denen im Verlauf ein einzelner, antwortender Schauspieler gegenüber trat. Damit vollzog sich ein entscheidender Schritt vom chorischen Tanz zum Drama (abgeleitet vom Verb dráo für handeln, spielen), in dem sich die Darstellungen mythischer Geschichten außerdem bald nicht mehr ausschließlich auf Dionysos bezogen. Dass die Tragödie zur festen Form gelangte, ist wesentlich Aischylos` Verdienst, indem er einen zweiten Schauspieler einführte, wodurch der zu einem dramatischen Konflikt verdichtete Mythos in These und Gegenthese ausgetragen werden konnte. Komplexer wurden die Dialogszenen noch, als Sophokles einen dritten Schauspieler einführte. Euripides schließlich komplettiert die Trias der klassischen Dramatiker.

Die Theater des antiken Griechenland waren in der Regel in natürliche Hänge eingebettet, denn die Lage an einem Hang verringerte den Aufwand für den Unterbau des Zuschauerraumes. Das muschelförmige Koilon besitzt dabei viele Vorzüge: Wie die konkave Formung des Mayschosser Mönchberg die Sonnenstrahlen optimal einfängt, bietet die runde Formung des Koilon eine ideale Akustik, wie man beispielsweise noch heute auf jedem der 14.000 Sitzplätze im Theater von Epidauros unmittelbar erfahren kann. Unterstützt wird die Akustik dadurch, daß an natürlichen Hängen warme Luft von unten nach oben steigt und dadurch den Schall bis in die obersten Reihen trägt. So nutzt man auch hier, wie im Weinbau, einen natürlichen Effekt, der durch die Ausrichtung nach Süden, wie im Fall des Dionysostheaters, noch verstärkt wird.

Abgesehen von der einheitlichen Akustik bewirkt die Form des Koilon mit seiner architektonischen Einfachheit und Klarheit auch eine Einheit des Sitzraumes, in der das politische, demokratische, Selbstverständis der Athener Polis um 500 vor Christus zum Ausdruck kommt: Jeder Zuschauer hat bestmögliche Sicht und zugleich wird ihm bewußt gemacht, daß er Teil eines „einheitlichen Zuschauerkörpers“ (Hans Lauter) ist, in dem das Ganze der Polis repräsentiert ist. (Entsprechend wurden die Bürgervollversammlungen, ekklesiai genannt, von der agora, dem Marktplatz, nach der Fertigstellung ins Dionysostheater verlagert.)

Das römische (Amphi-)Theater

Als Bauform hat das griechische Theater auch in römischer Zeit keine nennenswerte Veränderung mehr erfahren, sie adaptieren diese – aus dem griechischen theatron wird das lateinische theatrum. Allerdings werden diese dank der von den Römern eingeführten Betonbauweise jetzt öfter auch freistehend errichtet und kreisrund. (Der Begriff Amphitheater bezeichnet ein Rundtheater!) Deren Bauweise, die ausführlich von Vitruv in seinem Werk De Architectura beschrieben wird, dienen auch als Vorlage für römische Umbauten älterer griechischer Theater. Das Dionysostheater beispielsweise in seiner heutigen Gestalt mit halbkreisförmiger Orchestra ist Resultat eines Umbaus nach römischem Muster. Oft wurde so die griechische Skene auch zur lateinischen Scaenae Frons, womit ein ganzes Bühnengebäude mit bemalten Kulissen bezeichnet ist.

Umgekehrt aber ist für Rom selbst keine heimische Theatertradition überliefert. Die römische Theaterkultur entsteht ausnahmslos durch die Übernahme griechischer Vorbilder. Mit diesen war man nicht zuletzt durch Aufführungen in Magna Graecia bekannt, wie beispielsweise in den griechischen Kolonien auf Sizilien, wo die Hellenen in Syrakus ein gewaltiges Theater errichtet haben – und nicht zuletzt den Weinbau kultiviert haben. (Die Hellenen bezeichneten Italien als oenotria, Weinland, wie Sizilien später zur Kornkammer des römischen Imperiums werden sollte. Noch heute verweisen autochthone Rebsorten wie Greco oder Aglianico, das von ellenico, hellenisch, stammt, auf die 2.500-jährige Geschichte der Griechen in Süditalien.)

Dennoch werden zur Zeit des Kaiser Augustus im ganzen römischen Imperium Theater gebaut, mit denen man politische und kulturelle Hegemonie zu demonstrieren versuchte. „Das Theater war der Bau par excellence, der diese Botschaft auch mit Inhalten versehen transportieren konnte. (…) Dem Machtpolitiker Augustus wird dabei nicht entgangen sein, dass sich im Theater wie sonst kaum irgendwo die Massen konzentriert zusammenfanden und dass dort ein exzellenter Ort der Kommunikation existierte“, bemerkt Rüdiger Gogräfe in diesem Zusammenhang. Sie wurden jetzt insbesondere auch benutzt für öffentliche Ehrungen, die vielen Statuen politischer Persönlichkeiten, die man mitunter noch heute im Umkreis dieser Theater findet, geben davon Zeugnis.

Die Römer in Deutschland

Das dürfte auch für Mainz gegolten haben, wo zwar kein vollständiges römisches Theater erhalten ist, aber auch hier, wo sich ein Zwei-Legionen-Lager befand, wurde am Fuß der heutigen Zitadelle ein römisches Theater errichtet, dessen Ruinen sowie einige wenige Artefakte noch zu sehen sind. Über die Veranstaltungen dort wird zwar leider kaum etwas berichtet, dennoch dürfte die Bedeutung des Mainzer Theaters nicht zu unterschätzen gewesen sein, zeigten sich doch einige dort ansässige Heerführer andernorts als „Männer des Theaters“ (Gogräfe), allen voran Kaiser Hadrian (er lebte von 76 bis 138 nach Christus), der zunächst in Mainz als Militärgouverneur stationiert war und später im Dionysostheater in Athen mehrfach geehrt wurde und auch in der Umgebung seiner Villa in Tivoli gleich drei Theater bauen ließ.

Nicht nur das Theater brachten die Römer mit nach Deutschland, sondern sie führten ebenso den Weinbau hier ein – auch an der Ahr. Hier allerdings wohl eher mit einzelnen Hausweinbergen und zur Selbstversorgung. Dafür sprechen Münzen des römischen Soldatenkaisers Gallienus (der von 260 bis 268 nach Christus regierte), die in einem Weinberg bei Neuenahr gefunden wurden.

Wie an der Ahr errichteten die Römer in unterworfenem Land ein eigenes System von Agrarbetrieben auf Basis der Villa rustica. Wer in einer dieser Villen lebte, dachte als Agrarier beziehungsweise Landwirt und führte einen arrondierten Betrieb in der Landwirtschaft. Entsprechend sollte, wie bereits Plinius der Jüngere ausgeführt hat, die Villa rustica auch angelegt sein. Im Hinblick auf die Auswahl des geeigneten Grundstücks schreibt der Agrarschriftsteller Columella (4-70) in seinen „Zwölf Büchern über Landwirtschaft“ („Rei rusticae libri duodecim), das neben Catos „De agri cultura“ das wohl bedeutendste erhaltene Werk über die Landwirtschaft aus römischer Zeit ist: „So wesentlich es ist, welcherlei Boden man bearbeitet und auf welche Weise man es tut, so ist es doch nicht weniger wichtig, wie man das Wirtschaftsgebäude anlegt. (…) Ein Landwirt wird … – nach Cato – den Boden seines Areals soweit in Beschlag legen, dass ‚weder dem Haus das Ackerland noch dem Ackerland das Haus fehlt‘. Wie dieses im ganzen gelegen sein soll, will ich im folgenden darstellen (…) Wer sich anschickt, ein Gebäude zu errichten, muss es nicht nur in einer gesunden Gegend, sondern am gesündesten Platz dieser Gegend tun (…) Erstrebenswert ist also eine in Wärme und Kälte gemäßigte Atmosphäre, wie sie etwa auf halben Hängen zu herrschen pflegt, wo sie nicht, in Niederungen eingesenkt, zur Winterzeit von Reif erstarrt oder im Sommer in der Gluthitze brät, noch zu den höchsten Erhebungen emporgehoben, bei den geringsten Windstößen und Regenschauern zu jeder Jahreszeit wütet. Die beste Lage ist also die am halben Hang …“ (genau hier, in der Mitte des Hanges, haben übrigens auch die Burgunder ihre besten Lagen für die Weinrebe verortet).

Villen wurden von den Römern bisweilen in der Nähe von Städten angelegt, nur in ihrer Nähe konnten überhaupt landwirtschaftliche Kulturen wie Weinberge angelegt werden, die erst nach drei Jahren eine erste Lese und damit Einnahmen ermöglichen: Erträge eines Weinberges konnte nur derjenige nutzen, der ihn perspektivisch anlegte. (Im Gegensatz zu den Germanen, deren Lebensweise sie zur beständiger Verlagerung ihrer Siedlungen zwang, wies das römische System des Ackerbaus Stabilität aus, genauso, wie ein Weinstock erst mit der Zeit die besten Erträge liefert, wenn sein Stamm verholzt ist.) Dennoch entwickelte sich der Weinbau unter den Römern – vor allem im Moselgebiet, aber auch am Mittelrhein, in der Pfalz, im Neckargebiet (sowie im Donautal in Niederösterreich). Wie Hansjörg Küster in seiner „Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa“ (2010) schreibt, ließen sich Oliven „aus klimatischen Gründen nicht nördlich der Alpen anbauen, aber die Techniken, die zur Behandlung des Ölbaumes erforderlich waren, wurden auf die Kulturen anderer Bäume übertragen, zum Beispiel das Okulieren und das Propfen.“

Die Erschließung einer Region erfolgte bei den Römern stets in den Flusstälern als natürlichen Verbindungswegen. So war es bereits in Frankreich, wo sie von Masalla (Marseille) aus das Rhône-Tal hinauf in die Provinicia Narbonensis (das heutige Languedoc) und bis ins Burgund (wo allerdings kein schiffbarer Fluß fließt) wanderten: Versorgungsgüter wurden aus dem Mittelmeergebiet durch einen geologischen Grabenbruch entlang der Route Rhône – Saône – Mosel bis an die Oberläufe von Rhein und Donau geschafft. Dieser Wasserweg diente ihnen für den Transport von Waren aus dem Mittelmeer nach Germanien – oder sie schafften Güter zunächst (zum Teil auch über Land) bis ans Basler Rheinknie, nach Augst, wo sie einen wichtigen Stützpunkt unterhielten, und von dort aus nach Mainz, Köln bis ins Rheinmündungsgebiet und sogar nach Britannien. Überall dienten ihnen die Flüsse als Transportwege für ihre mit Wein gefüllten, 35 Liter fassenden Tonamphoren. Wein kam, wie man Anhand von Tonscherben weiß (im ehemaligen Kölner Hafen aus dem 1. Jahrhundert nach Christus wurden Unmengen an Scherben gefunden, von denen 350 Pinselaufschriften, sogenannte „tituli picti“ tragen) aus Spanien, Südfrankreich, Italien, von Rhodos, Kreta und von der kleinasiatischen Küste. Süßes „defrutum“ – ein eingedickter Traubenmost – wurde aus Italien und Spanien an den Rhein geliefert.

Ansonsten legten die Römer überall, wo sie sich niederließen auch selbst Weingärten beziehungsweise eben Villen an. Wein von Mosel, Rhein und Donau wurde in Holzfässer, die nur in den Provinzen Gallien und Germanien zum Einsatz kamen, stromaufwärts verschifft. Diese Fässer war gewöhnlich aus dem Holz der Tanne hergestellt, die nur in Süddeutschland (Schwarzwald, Frankenwald, Bayrischer Wald) beziehungsweise im Alpenraum wächst (weshalb sich die Herkunft der Fässer und Verbreitungsgebiet des Weines auch relativ leicht bestimmen läßt).

Als die Römer unter Gaius Julius Cäsar in den gallischen Kriegen im 1. Jahrhundert vor Christus, also vor über 2.000 Jahren, immer weiter vorrückten, besetzten sie auch die Moselregion und gliederten das eroberte Gebiet in die römische Provinz Gallia Belgica ein. Zu dieser Provinz gehörte das ganze linksrheinische Gebiet vom Bodensee bis zur Nordsee, während sie das rechtsrheinische Gebiet nach der sogenannten „Hermannsschlacht“ den verschiedenen germanischen Stämmen überließen und ihm deshalb auch den Namen „Germania“ gaben. Neben dem Weinbau am Rhein hatte auch die Mosel sowie die Region um Trier zur Zeit des römischen Imperiums bald größere Bedeutung. Im 2. Jahrhundert wurde hier auch ein Amphitheater errichtet, das nach seiner Fertigstellung 20.000 Besucher fasste.

Tatsächlich ist Trier die älteste Stadt Deutschlands: Als Cäsar unter Kaiser Augustus Gallien eroberte und dem römischen Weltreich einverleibt hat, wurden die dort lebenden Treverer zu einem Stamm unter vielen im römischen Vielvölkerstaat. Sie arrangierten sich jedoch schnell mit der Weltmacht, vielleicht ließ Augustus deshalb vor 2.000 Jahren auf ihrem rechtsrheinischen Stammesgebiet, am Flussufer der Mosel, eine Stadt errichten, Augusta Treverorum, die heute als Trier bekannt ist. Weitab von den Frontlinien sollte von hier aus ein großes Gebiet verwaltet, das heißt Trier wurde der Sitz des Statthalters über drei Provinzen: neben zwei germanischen Provinzen auch noch Gallia Belgica.

Scheinbar überall drangen die römischen Legionen in den folgenden Jahren vorwärts. Unter Kaiser Trajan (98-117) erreichte das Imperium schließlich seine größte Ausdehnung. Das Imperium Romanum war zu einem Weltreich geworden das nicht mehr von Rom aus und auch nicht mehr von einem Menschen alleine regiert werden konnte, weshalb Diokletian (284-305) die Macht nun zwischen vier Kaisern aufteilte und die sogenannte Tetrarchie errichtete. Augusta Treverorum, das inzwischen „Treveres“, Stadt der Treverer, genannt wurde, war zu dieser Zeit bereits eine bedeutende Stadt im Römischen Reich und wurde nun sogar zur Residenzstadt für einen dieser vier Kaiser – es war der Vater von Konstantin dem Großen (270?-337), der später zum ersten christlichen Kaiser wurde.

Bis Anfang des 4. Jahrhunderts stieg Trier so zu einer der Hauptstädte des Römischen Reiches auf und wurde sogar als „zweites Rom“ bekannt. Entsprechend prunkvoll waren seine Bauten. Schon im 2. Jahrhundert wurde das bekannte Stadttor Porta Nigra als nördlicher Zugang zur Stadt errichtet. Nachdem es Konstantin nach dem Tod seines Vaters und der Auflösung der Tetrarchie im Jahr 306 gelang die Macht in einem eigentlich usurpatorischen Akt an sich zu nehmen und so die Kontrolle über Britannien und Gallien (später auch noch Hispanien) zu erlangen, begann er bald die Stadt umgestalten und erneuerte in diesem Zusammenhang auch das ursprüngliche Amphitheater.

Von den zahlreichen Bauten die die Römer in Trier errichteten, überragte die kaiserliche Palasthalle, die heutige Basilika, mit ihren dreißig Metern Höhe alle. Sie wurde von Konstantin im Jahr 310 vollendet und ist zu der Zeit der größte Hallenbau nördlich der Alpen – eine architektonische Machtdemonstration des Imperium Romanum. Unter dem Triumphbogen im Inneren stand der Thron des Imperators, hier empfing Konstantin seine Untertanen – ein Mann, der offensichtlich nach noch mehr Macht strebte. Deshalb ist er im Jahr 312 Richtung Rom aufgebrochen, um die Alleinherrschaft zu erringen – und tatsächlich besiegt er dort seinen Rivalen in der Schlacht an der Milvischen Brücke nördlich von Rom, nachdem ihm dort in einer Vision ein untrügliches göttliches Siegeszeichen erschien, das signum crucis. In Trier hatte er seine Frau und seinen Stiefsohn als Statthalter zurückgelassen, doch der jung verheiratete Sohn wird bald des Ehebruchs mit seiner Stiefmutter, der Frau Konstantins, beschuldigt – ein Staatsverbrechen. So wird Konstantin der erste christliche Kaiser, der Sohn und Frau hinrichten läßt.

Im Mittelalter waren dann die Bischöfe die Herren der Stadt. Kirchen wurden gebaut – und der gewaltige Dom entstand an der Stelle, wo zuvor der Kaiser regierte. Insbesondere die Zisterzienser sorgten nun für die Weiterentwicklung des Weinbaus in Deutschland – dass hier aber überhaupt Wein angebaut wurde, verdankten sie den Römern. Mit ihnen gelangte im ersten Jahrhundert Reben von Frankreich aus nach Deutschland. Auf den Muschelkalkböden an der Obermosel bei Trier pflanzten sie, so glaubt man, auch Elbling. Er gehört zu den ältesten kultivierten Weißweinreben Europas und wurde vermutlich schon vor 2.000 Jahren hier angebaut. Die Römer nannten ihn wohl Vitis Alba, die Weisse Rebe. Sprachforscher nehmen an, daß sich aus dem Wort Alba über die Begriffe Alben und Elben die Bezeichnung Elbling formte. Wie auch immer – die Römer erkannten schnell die guten Bedingungen für Weinbau in der Region. Und so wundert es auch nicht, dass „der überwiegende Teil des Weins, der in römischer Zeit an der Ahr getrunken wurde, von der Mosel kam“, wie Paul Gieler weiß. Das aber ist eine andere Geschichte.

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die rückkehr des dionysos

Dionysos gilt als Gott des Weines. Das jedoch war er nicht schon immer, das weiß der archaische Mythos. In ihm liegt auch die Wurzel unseres heutigen Verständnisses von Theater …

„`Erbarm dich, Mutter, meiner, töte meiner Schuld, / Meiner Verfehlung wegen nicht dein eigenes Kind!´ / Die aber, Schaum vorm Mund, die Augen hin und her / Wild rollend, nicht vernünftig, wie`s Vernunft heischt, war / Von Bakchios besessen, hörte nicht auf ihn. / Und packend mit den Händen ihm den linken Arm, / Gegen die Rippen tretend des Unseligen, / Riß sie heraus die Schulter; nicht aus eigener Kraft, / Der Gott gab ihren Händen Leichtigkeit des Tuns.“

Euripides, Die Bakchen

„Anläßlich der Bakchen begann ich … nach Überresten dionysischer Feiern zu suchen – immer auf der Suche nach den versteckten Quellen der körperlichen Energie. (…) Wir improvisierten endlose Stunden, versuchten unseren Körper insgesamt zu aktivieren, wollten seine dunkle und geheimnisvolle Seite kennenlernen, tanzten oftmals unbeholfen, aufgewühlt, kreiselnd, wollten die Welt neu ansehen und die Augen des Körpers dabei offenhalten, die Grenzen unseres Körpers erweitern – eines Körpers, der niemals weiß, dass er reift. Wir realisierten die Notwendigkeit, dass der Körper sich zur Neugestaltung bereithält, sich allen Reizen aussetzt, unablässig improvisiert und eine erotische Beziehung zur Tradition unterhält. Dass er sich bemüht, die Gegensätze zu vereinen und den wahnsinnigen Tanz der Kollision der Gegensätze zu tanzen. Es ist überwältigend, die Grenzen des eigenen Körpers als durchlässig wahrzunehmen, als offene Energieleiter, als Orte der Wandlung von Urstoffen. (…) Wir probierten, einen Aufstand tieferer Kräfte hervorzurufen, um die Wände einzureißen, die uns in der Versenkung in uns selbst festhielten, und Bilder aus dem Reich des Unbewußten an die Oberfläche zu bringen, hinwegzufliegen über unsere bekannten Grenzen.“

Theodoros Terzopoulos, Die Rückkehr des Dionysos (2016)

Dionysos gilt als Gott des Weines. Aber es ist unklar, wann der Wein in seinem Kult so dominierend wurde – wann der gezähmte, kultivierte Weinstock zu seinem Attribut wurde. Denn ursprünglich war er ein Gott des Wachsens und Gedeihens – überhaupt der strömenden Lebenskraft. Und blutig war auch das heilige Opfer ihm zu Ehren, der im Blut des Opfers lebendig ist. Von diesem Lebenssaft zu trinken – oder auch vom Wein –, heißt, sich mit dem Gott vereinigen. Unbändige Kräfte überkommen einen, weiß Euripides, aber auch Raserei und Wahnsinn. Er schildert, wie die von diesem Gott beseelten, ekstatisch schwärmenden Bakchen, vor ungeheurer, heiliger Wut rasend, furchtbare Zerstörung anrichten, Menschen töten – den eigenen Sohn gar –, Tiere zerreißen und Fetzen rohen Fleisches verschlingen … Dionysos ist hier die Verkörperung des dämonischen, manischen Rausches, ein Gott der Befreiung und orgiastischen Entgrenzung.

Entstehung der Tragödie aus dem Dionysoskult

Euripides Die Bakchen ist die einzige bekannte Tragödie, die den Mythos Dionysos und sein Mysterienkult zum Thema hat. Er lenkt hier den Blick auf die Ursprünge des griechischen Theaters, auf den Dionysoskult und die mit ihm verbundenen Riten, und schlägt die Brücke zurück zu den kultischen Opferriten, aus denen sich die Tragödie entwickelte. Denn begrifflich weist die Tragödie auf zeitlich weit zurückliegende, blutige Opferrituale hin: Einer Erklärung zufolge bedeutet Tragödie, griechisch tragodia, nichts anderes als „Gesang anläßlich eines Bockopfers“. Dem Mythos zufolge soll Ikarios, der dem heutigen Ikaria in Attika den Namen gab, nachdem er von Dionysos als erster „Grieche“ in den Weinbau eingeführt wurde, einen Ziegenbock, der die Blätter seines ersten gepflanzten Weinstocks abgerupft hat, aus Wut getötet und aus seiner Haut einen Lederschlauch gefertigt haben, um den herum dann getanzt wurde.

Die Rekonstruktion des Dionysoskultes ist schwierig, da er der strikten Geheimhaltung unterlag und deshalb keine Aufzeichnungen existieren. Gleichwohl ist klar, dass in den Mysterienkulten, in denen neben Dionysos auch noch die mit ihm mythologisch und rituell eng verbundene Demeter verehrt wurde, der Glaube, dass im Tod ein neues Leben beginnt, eine zentrale Rolle spielte. Sowohl Dionysos als auch Demeter wurden in den Mysterien als Lebensmächte verehrt, die vom unausweichlichen Todesschicksal befreien. „Mysterienkulte glichen Initiationsritualen“, schreibt Christoph Kniest, „– `initia´ lautet die lateinische Übersetzung von `mystéria´ –, in denen auf spektakuläre, alle Affekte und Sinne involvierende Weise die Neugeburt der Initianden im Tod inszeniert wurde.“ Im Zentrum des Kultes steht dabei das blutige Tieropfer zum Wohl einer Gemeinde.

Der Begriff der Tragödie führt insofern zu den Ursprüngen der griechischen Kultur, die aus Opferhandlungen zu Ehren des Gottes Dionysos im Rahmen des Mysterienkultes besteht, die durch bestimmte Riten beziehungsweise rituelle Handlungen festgelegt sind. „Paradigmatisch werden im Verlauf der Opferhandlung Todeserfahrung und Todesfurcht der Menschen `durchgespielt´ und in dem anschließenden Opfermahl festlich-freudig überwunden“, wie Bernhard Zimmermann bemerkt. Dabei versteckt die opfernde Gemeinde ihre Identität hinter Masken und nicht der einzelne, sondern die Gruppe vollbringt das Opfer, die damit als Kollektiv Schuld und Verantwortung auf sich nimmt. Etliche Bestandteile der späteren Gattung Tragödie finden sich bereits hier.

Die alles zerreissende dionysische Kraft, die wilde Natur, die die gewohnte Ordnung gefährlich bedroht, wird gezähmt und kultiviert. Das Dionysische, das durch kultische Grausamkeit und die Darstellung von gräßlicher Raserei erschüttert, wird in der Tragödie durch eine strenge Form und sprachlichen Rhythmus gebändigt. „Griechisch ist: aus Gräßlichem Schönheit holen“, schreibt Hermann Bahr. An die Stelle des blutigen, Dionysos geweihten Opfers, tritt die geistige Opfergabe des Dramas der städtischen Polis in Athen, nun für den Gott des Theaters: In Athen entwickelte sich aus den kultischen Handlungen das Drama (abgeleitet vom Verb dráo für „handeln, spielen“) und die Veranstaltung von dramatischen Agonen beziehungsweise Theaterwettbewerben. Die an solchen Agonen teilnehmenden Männer waren in Ziegenfelle gekleidet und aus ihren Tänzen und Gesängen, den odaí, entwickelte sich die Tragödie.

Dionysien in Athen

In Athen – im Heiligtum des Dionysos am Südhang der Akropolis, das mit einem Tanzplatz, einer Orchestra (abgeleitet vom Verb orchoúmai für „tanzen“), verbunden war, aus der dann das Dionysostheater entstand – wird also der ungebändigte Rausch in rituelle Handlungen überführt und auf einen bestimmten Zeitraum festgelegt. In Athen gab es vier große Feste des Gottes Dionysos: die Ländlichen Dionysia im Dezember / Januar, die Lenaia – das „Fest der wilden Frauen“ – im Februar, das Fest der Anthesteria, bei denen der Gott selbst durch ein überlebensgroßes Masken-Idol vertreten ist sowie als großen Abschluß zu Beginn des Monats Elaphebolion, Ende März / Anfang April, die grosse Städtische Dionysia.

Die Aufführungen von Dramen wurde im Athen des 5. Jahrhunderts v.u.Z. zu einem festen Bestandteil des Festzyklus und waren eine Angelegenheit des gesamten Volkes, eines „dêmos“, der nach wie vor auch ein Kultzusammenhang blieb. Sie wurden in der Lenaia aufgeführt, insbesondere aber während der Städtischen Dionysia, wo am ersten Tag die sogenannten dithyrambischen Chöre aufgeführt wurden und an den folgenden drei Tagen der Agon beziehungsweise Wettbewerb der Tragödien aus je drei Tragödien von drei verschiedenen Dichtern sowie am letzten Tag ein Satyrspiel. Nach der dramatischen Spannung der Tragödien brachten die kleinen, geschwänzten und springenden Satyrn mit Pferdekörpern Bewegung auf die Szene; ihre grotesken, oft obzönen Gebärden und ihre ausgelassenen und heiteren Tänze riefen Gelächter hervor. Aus den Satyrn erwuchs die Komödie. Insbesondere Aristophanes (450 bis 388 v.u.Z.) beherrscht mit seinen, in der Tradition der Satyrspiele verfassten, Komödien – es sind auch die einzig erhaltenen –, vierzig Jahre lang das attische Theater.

Die Festlichkeiten in Athen begannen jedoch mit dem Einzug des Dionysos und seines Gefolges, bestehend aus dem Mänadenschwarm (Bakchantinnen), Satyrn und Silenen mit Tierfellen und Masken verkleidet und die Gesichter mit Weinhefe bestrichen. Natürlich zog nicht Dionysos selbst in die Stadt ein, sondern seine Maske, die zum einen als eine Art leibhaftiger Erscheinung (Epiphanie) des Gottes oder im Sinne einer zeremoniellen Preisgabe des eigenen Selbst (Ekstasis) der Gläubigen verstanden werden kann. Diese Maske wurde oftmals an Pfählen befestigt, um die sein Gefolge, die Mänaden, tanzte.

Mit der zeitlichen Festlegung und Einschreibung in den öffentlichen Kalender der Stadt hatten die kultischen Grenzüberschreitungen im Rahmen der Feierlichkeiten eine reinigende, kathartische Wirkung und gewährleisteten, nach Norbert Elias, daß das gemeinschaftliche Zusammenleben in der Polis nicht durch den unkontrollierten Ausbruch der im Dionysoskult kanalisierten und gebändigten Affekte gefährdet wurde.

Die Verehrung für Dionysos wurde ursprünglich auf dem Land gepflegt. Erst später – möglicherweise in jener Zeit, als „die Griechen siedlungsbegründend das Mittelmeer eroberten“ und die „Bedeutung des Weinbaus und vor allem des Weinhandels für die im städtischen Leben tonangebenden Grundeigentümer“ zunahm, wie Rudolf Weinhold anmerkt – fand diese Verehrung auch ihren Weg ins städtische Leben, die polis, wo bei den Dionysien Ende März die Wiederkehr des Gott des Weines und der Vegetation gefeiert wurde. Leitmotiv hier ist die Rebe, die symbolisch für den Gott auftritt und in ihrem Austrieb, Blühen, Reifen und Welken die Inkarnation seiner ewigen Wiederkehr ist.

Der Lebenszyklus der Weinrebe

Mit der Wiederkehr des Dionysos im Frühjahr beendet auch die Rebe ihre Winterruhe und beginnt ihren Lebenszyklus mit Austrieb und Blattwuchs im März. Schon mit dem Winterschnitt im Januar wird festgelegt, wieviele Knospen – Augen genannt – jetzt platzen sollen und damit, wieviele Triebe daraus wachsen sollen. Denn Reben bilden Früchte nur an Trieben, die aus solchen, im Vorjahr gebildeten Augen wachsen (wobei späte Fröste den Austrieb immer gefährden können). Deshalb wird beim Rebschnitt im Winter altes Holz entfernt und je nach Schnittart beziehungsweise Erziehungsform des Weinstocks festgelegt, wieviel Fruchtruten beziehungsweise Augen bleiben sollen.

Mit dem Rebschnitt wird versucht, das wildwüchsige natürliche Wachstum der Rebe zu zähmen und zu gewährleisten, dass alle Triebe im Frühjahr genügend Nährstoffe aufnehmen können. Dem Schnitt folgt das Biegen, denn Reben ranken von Natur aus nach oben. So wie der Dionysoskult in seiner ursprünglichen Wildheit im Theater, wird also auch die Rebe durch Schneiden und Biegen kultiviert beziehungsweise erzogen – Dionysos ist insofern Urheber jeder Kultur. Dazu befestigt man die Fruchtruten beispielsweise an einem vorgespannten Drahtrahmengerüst und bringt sie so in Form. Mit der Anordnung der jungen Triebe kann man die Menge an Sonnenlicht kontrollieren, die später ins Laubdach eindringt. In Regionen mit wenig Sonnenschein schafft ein Vereinzeln der Triebe ein offenes Laubdach, das den Trauben durch maximale Besonnung eine gute Reife ermöglicht. In Regionen mit intensivem Sonnenlicht hingegen verhindert eine Beschattung der Trauben Sonnenbrand, der eine unerwünschte Bitternote im Wein hervorrufen kann.

Im Mai folgen die Blüte und der Fruchtansatz, das dauert etwa zwei Wochen. Aus jeder Blüte wird eine Traube, wenn sie befruchtet (bestäubt) wurde und Hagel oder Regen das nicht verhindern. Klappt die Befruchtung nicht, spricht man von „Verrieselung“, eine Teilverrieselung im Sinne einer Ertragsreduktion ist aber von manchen Winzern durchaus auch erwünscht. Mitunter schneiden die Winzer nach der Blüte im Juni im Sommerschnitt auch einige Fruchtansätze weg, um die Qualität der verbliebenen Trauben zu verbessern. (Nach dem Menge-Güte-Gesetz beträgt die Erntemenge für einfachen „Deutschen Wein“ 300 Hektoliter pro Hektar, Spitzenweine hingegen haben nicht mehr Ertrag als 15-40 Hektoliter pro Hektar. Durchschnittlich werden in Deutschland 100 Hektoliter pro Hektar gelesen.)

Durch Ausbrechen oder Ausgeizen unerwünschter Triebe wird ausserdem der Wuchs gefördert: Das Laubdach wird ausgedünnt, um das Wachstum der Blätter und damit auch die Photosynthese einzudämmen und die Zuckerproduktion der Pflanze in die Trauben zu lenken. Es werden gezielt Blätter entfernt, um eine optimale Besonnung einzelner Trauben zu erreichen. Ausserdem wird oft mit einem Drahtrahmensystem versucht, das Laubdach offen zu halten, um eine gute Luftzirkulation zu ermöglichen, die Pilzbefall entgegenwirkt.

Jetzt im Sommer reifen die Beeren. Parallel dazu erfolgt die Véraison, das heißt die Umfärbung der Beerenhaut. Ursprünglich gab es nur rote Trauben, weisse sind Albinos (mit Gendefekt). Denn Rot ist eine Signalfarbe für die Tiere, daß die Trauben reif sind, was wiederum wichtig für die Verbreitung war.

Am Beginn der Traubenreife baut die Pflanze mit Metoxypyrazin einen Säure-Schutzmechanismus auf, der bei der Lese unreifer Trauben (zum Beispiel von Sauvignon Blanc oder Cabernet Sauvignon) ungewollte grüne, grasige Aromen verursacht, während etwa zur selben Zeit der natürliche Säuregehalt abnimmt. Neben Wein- und Apfelsäure (insbesondere sie wird bei Hitze oft auch zu schnell abgebaut) sowie Wasser, wird nun auch Stickstoff eingelagert. Bei zu schneller Reifung weist die Traube nur einen geringen Stickstoffgehalt auf, was den Gärungsprozeß bei der Spontanvergärung um mehrere Tage deutlich verlangsamt.

Die abgeschlossene Reifung bezeichnet man als physiologische Reife. Damit ist die Reife der Kerne gemeint – erst später, wenn die Kerne reif sind, erfolgt die Einlagerung von Zucker im Fruchtfleisch. Zucker ist zwar schon immer in der Pflanze, wird aber erst jetzt, ab August, als „Lockstoff“ in die Rebe eingelagert. Und zwar in Form von Fructose (das ist der Restzucker im Wein, mit einem hohen Kohlenhydratwert, den man sensorisch als breit und anhaltend am Gaumen wahrnehmen kann) und Glucose (mit einer eher kurzen sensorischen Wirkung). Ideal ist, wenn die physiologische Reife erreicht ist, ohne den maximalen Zuckergehalt erreicht zu haben, damit die Trauben nicht zu hohe Oechslegrade bei der Lese aufweisen und die Säure-Süsse-Balance in der Waage bleibt. Die Weinlese erfolgt in der Zeit von August bis Oktober, je nach Witterungsverlauf und physiologischer Reife der Trauben (kühles Klima beispielsweise verlangsamt zwar die Entwicklung der Trauben, dafür wiederum können diese aromatisch voll ausreifen und verlieren dabei nichts von ihrer Säure).

Eine Vielzahl von Schädlingen und Krankheiten kann die Reifung beeinträchtigen. Die verschiedenen Weinbaupraktiken unterscheiden sich hier insbesondere hinsichtlich der Verwendung von Schädlings- und Krankheitsbekämpfungsmitteln. Schon mit Beginn des Austriebs werden im konventionellen Weinbau oft Funghizide und Herbizide gespritzt – mehrere Male, je nach Witterungsverlauf, über das ganze Jahr verteilt. Diese künstlichen Mittel wurden synthetisch hergestellt und wirken systemisch, das heißt sie müssen nur ein Mal ausgebracht werden. Allerdings erschweren sie bei der Weinbereitung später auch eine spontane Gärung, denn mit den unerwünschten Pilzen werden auch die dafür notwendigen wilde Hefen, die eben wichtig für die „Angärung“ sind, zerstört (Hefen sind auch nur Pilze). Deshalb gibt es zwar seit den 1970er-Jahren gefriergetrocknete Reinzuchthefen – im Bereich Premiumwein gibt es aber keine Option zur Spontanvergärung.

Zum biodynamischen Weinbau

Weinbau macht in der Landwirtschaft innerhalb der Europäischen Union nur drei Prozent aus, aber zwanzig Prozent aller Pestizide werden hier verwendet. Deshalb suchen Winzer nach Alternativen zum konventionellen Weinbau. Entsprechend entwickelten sich schon früh unterschiedliche neue Weinbaupraktiken als eine Art Gegenbewegung: nachhaltiger, organisch-biologischer oder biologisch-dynamischer Weinbau. Alle versuchen auf ähnliche Weise Bodenpflege, Pflanzenschutz und Kellertechnik wieder bio- beziehungsweise ökologisch zu praktizieren. Das gilt auch für die Düngung, was konkret heißt, auf Herbizide, Funghizide und synthetische Stickstoffdünger zu verzichten und stattdessen über Kompost (Leguminosen) zu düngen, auf geschlossene Betriebskreisläufe zu achten und vieles mehr.

Mit seiner Orientierung am anthroposophischen Ansatz Rudolf Steiners unterhält der biologisch-dynamische Weinbau beinahe „eine erotische Beziehung zur Tradition“. Anders gesagt: Mit der Biodynamik feiert Dionysos gewissermaßen seine Rückkehr im Weinbau. Denn befindet man sich nicht auch hier, wie Theodoros Terzopoulos mit seinem Theater, „auf der Suche nach den versteckten Quellen der Energie“? Im biodynamischen Weinbau versteht man den Rhythmus der Natur als Zusammenspiel zwischen kosmischer Energie und den natürlichen Kreisläufen. Entsprechend aktiviert man die Energien nach den Mondphasen. Wie Terzopoulos versucht man, die „dunkle und geheimnisvolle Seite kennen zu lernen“. Die Böden werden als ebenso „durchlässig“ wahrgenommen, wie bei Terzopoulos die Körper: sie fungieren „als offene Energieleiter, als Ort der Wandlung von Urstoffen“, wobei sich der Boden quasi „zur Neugestaltung bereithält, sich allen Reizen aussetzt“. So vergräbt man beispielsweise mit Kiesel oder Kuhmist gefüllte Kuhhörner von Frühjahr bis Herbst über den Winter im Boden, wo sie Licht, Wärme oder Lebenskräfte anreichern. Dadurch verwandelt sich der Mist in eine humusähnliche Substanz, die, mit Wasser vermischt, im Weinberg als ausgleichendes und stärkendes Präparat versprüht wird.

Bioweinbau ist immer präventiv, nicht kurativ, denn wenn die Probleme da sind, ist aus ökologischer Perspektive kaum mehr etwas zu machen. Bei der Schädlingsbekämpfung kann aber auch er nur schwer auf Schwefel und Kupfer verzichten. Denn grundsätzlich wird Pilzbefall auch im biologischen Weinbau durch das Spritzen von Kupfer in Verbindung mit Schwefel in Form einer Kupfersulfatlösung (der sogenannten „Bordelaiser Brühe“) präventiv begegnet. Die EU erlaubt sechs Kilogramm reines Kupfer pro Hektar und Jahr – Demeter immerhin noch drei Kilogramm.

Um so wichtiger ist Biodiversität um ein Gleichgewicht herzustellen und insbesondere auch wegen der Stickstoffversorgung. Stickstoff ist ein zentraler Bestandteil allen Lebens und kann von der Pflanze nicht über die Luft, sondern nur aus dem Boden aufgenommen werden. Dafür hilft zum Beispiel Begrünung (von Demeter ist Bodenbedeckung vorgeschrieben), die darüber hinaus auch als natürlicher Erosionsschutz dient, sowie als Verdunstungsschutz und zur Durchlüftung des Bodens. Stickstoff ist entscheidend für die Fruchtbarkeit des Bodens und stickstoffhaltige Präparate (wie Hornmist und Hornkiesel im biodynamischen Weinbau) dienen der Aktivierung des Bodenlebens. (Stickstoff ist flüchtig und spaltet sich schnell unter anderem in Nitrat, daß das Grundwasser belastet, wenn es nicht wie bei Mist durch Stroh gebunden ist.) Da es keine ökologisch-systemische Pflanzenschutzmittel gibt, ist für Biodynamiker vorgeschrieben, mehrmals im Jahr verschiedene natürliche Präparate wie Schafgarbe, Brennessel Löwenzahn, Kamille, Eichenrinde, Schachtelhalm, Baldrian und andere auszubringen. Dadurch steigen natürlich die Arbeitsstunden im Weinberg und damit die Betriebskosten – dafür steht am Ende aber dann vielleicht auch ein Bio-Siegel: nach ökologischen Richtlinien beispielsweise von Bioland oder Ecovin, oder nach biodynamischen eben von Demeter.

Demeter, die Göttin des Getreides, ist sicherlich neben Dionysos die wichtigste in Mysterien verehrte griechische Gottheit. Weshalb sich das Drama nun ausgerechnet aus dem Dionysoskult und nicht aus Opferkulten zu ihren Ehren oder einer anderen Gottheit entwickelte, ist letztlich nicht zu klären und bleibt ein anderes Mysterium …

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Essay

vitis vinifera oder schöne aussichten

Vorhang auf! Friedrich Becker läßt seinen Blick über die Landschaft schweifen. Schöne Aussicht. Es mag ihm vielleicht ergehen wie Walter Benjamin an jenem Sommernachmittag …

Vitis vinifera ist die im eurasischen Raum meistverbreitete Rebenspezies und erbringt fast das ganze zu Wein verarbeitete Traubengut. Sie war ursprünglich eine in Symbiose mit Bäumen lebende Waldpflanze und kommt deshalb gut mit kargen Böden zurecht, da sie schon immer in genetischer Konkurrenz mit anderen Pflanzen stand. Bis zur Erntereife brauchen die Rebstöcke etwa drei Jahre, sieben bis acht Jahre bis zur Höchstleistung und sie werden mindestens zwanzig Jahre alt, mitunter aber auch viel älter.

Tausende von Rebsorten gehören zur Spezies Vitis vinifera. In Deutschland werden davon etwa 140 angebaut, wobei etwa 35 Sorten für die Rotweinbereitung geeignet sind (sie werden zusammen auf etwa 37.000 Hektar angebaut, was etwa 36 Prozent der Anbaufläche entspricht), über 100 Rebsorten werden für die Weissweinbereitung genutzt (auf einer Anbaufläche von etwa 66.000 Hektar beziehungsweise 64 Prozent). Große Bedeutung besitzen allerdings nur etwa zwei Dutzend Rebsorten, allen voran Riesling bei Weisswein mit etwa 22 Prozent und Spätburgunder bei Rotwein mit etwa 11 Prozent der Gesamtanbaufläche.

Riesling und Spätburgunder werden, wie alle anderen Rebsorten auch, vermehrt durch Stecklinge (ein Abschnitt eines Rebentriebes, der eingepflanzt wird) oder mittels Absenkern (hier wird ein Abschnitt des Rebentriebes gebogen und eingegraben) – bei beiden Möglichkeiten handelt es sich um eine sogenannte vegetative Vermehrung, bei der die neue Pflanze mit der ursprünglichen genetisch identisch ist. Neue Rebsorten entstehen durch Befruchtung einer anderen Rebe (mit Pollen), durch Kreuzung zweier Rebsorten derselben Art beziehungsweise Spezies, oder durch Hybride (eine Verbindung zweier verschiedener Spezies).

Veredelung wiederum nennt man eine Technik, mittels derer eine Sorte von Vitis vinifera auf eine Unterlagsrebe gepfropft wird. Verwendung fand die Technik der Veredelung insbesondere zur Zeit der Reblauskrise Ende des 19. Jahrhunderts, indem man die resistenten Wurzelstöcke von Amerikanerreben oder Hybriden als Unterlagsreben für sogenannte Edelreiser von Vitis vinifera nutzte, die man darauf pfropfte. Diesen Montagevorgang bezeichnet man auch als Um- oder Grünveredelung, bei dem vorhandene Reben zurückgeschnitten werden, auf die dann eine Knospe oder ein Steckling beziehungsweise Reisig der neuen Sorte gepfropft wird.

Einer, der mit dieser Praxis der Grünveredelung heute experimentiert, ist Friedrich Becker in der Pfalz. In einer kleinen, über einem Kalksteinsockel thronenden Parzelle oberhalb der Großen Lage Heydenreich hat er vor ein paar Jahren Spätburgunder auf über 60 Jahre alte Gewürztraminerstöcke gepropft, den er wie im Burgund mittels einer sogenannten „selection massale“ aus dem eigenen Weinberg wachsen lässt und unter dem Namen „La Belle Vue“ seit 2015 vermarktet.

Die schöne Aussicht – Friedrich Becker lässt seinen Blick über die Landschaft schweifen. Es mag ihm vielleicht ergehen wie Walter Benjamin an einem Sommernachmittag, wenn er ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgt, „der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen“, schreibt er. Dieser Anblick, dieses Bild, ist für Benjamin eine unvergleichliche Erfahrung, in der „Einmaligkeit und Dauer so eng verschränkt sind wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit“ im technisch reproduzierten, massenhaft kopierten Abbild.

Mit dem Begriff der Aura rückt Benjamin den Wahrnehmungsprozess (aisthesis) innerhalb der ästhetischen Erfahrung in den Fokus. Aura bezeichnet hier einen intensiven sinnlichen Eindruck, eine mit dem Bewusstsein nicht vollständig zu erfassenden Erlebnisqualität, die auch durch die Aufmerksamkeit des sinnlich Wahrnehmenden bedingt ist: Aura wird in der Kontemplation sinnlich wahrgenommen, leiblich geatmet, sagt Benjamin – und dabei in einem unwiederholbaren Jetzt-Sinne erlebt, der zugleich der Zeitpunkt des Wahrzunehmenden und des Wahrnehmenden ist. Wie bei einer Aufführung im Theater sind beide vereint im Hier und Jetzt (hic et nunc) eines flüchtigen Ereignisses: Wie ansonsten nur für die Dauer der Aufführung im Theater, wird hier während des Naturerlebnisses etwas auf einmalige, unwiederholbare Art und Weise zeitlich und räumlich gegenwärtig, das sich ansonsten der Aufmerksamkeit entzogen hätte; wie die Aufführung im Theater ist auch die Aura immer gebunden an eine zeitliche und räumliche Gegenwärtigkeit, an die gemeinsame Gegenwart von Wahrnehmendem und Wahrzunehmendem. Einmaligkeit und Gegenwärtigkeit sind so konstitutive Merkmale der ästhetischen Erfahrung von Aufführung und Aura.

Benjamin verbindet seine Beobachtungen zum Begriff der Aura mit gesellschaftlichen Veränderungen: Der Erfahrung oder Erschließung der Wirklichkeit unterliegt ihm zufolge Veränderungen, die insbesondere auch sinnlich einsetzen. Die Industrialisierung des Produktionsprozesses führt zu gravierenden sozialen und technischen Veränderungen ebenso, wie sie die menschliche Wahrnehmung verändern. Insbesondere das Massenmedium Film synchronisiert diese Veränderungen mit der Wahrnehmung der Masse – und zwar über die Technik der Montage, wie Benjamin ausführt, mit der die Masse, das Proletariat, durch die Arbeit im industriellen Produktionsprozess vertraut ist. Hier wird die Wahrnehmungshaltung der Kontemplation durch die der Zerstreuung ersetzt und durch „Chocks“, wie Benjamin sagt, permanent gereizt. So werde die Zerstreuung zur Signatur einer neuen, massenhaften Wahrnehmung in der Moderne, bei der das kontemplative Moment aufgehoben ist.

In seinem Essay „Über einige Motive bei Baudelaire“ (1939) verbindet Benjamin die Veränderung der Wahrnehmung mit der Frage danach, welche Konsequenzen sich daraus für die Erfahrung und die Erinnerung ergeben. Er verknüpft dabei seinen Begriff der Aura mit der von Marcel Proust in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913-1927) so bezeichneten „mémoire involontair“ (unwillkürlichen Erinnerung). Proust zufolge wird Erfahrung durch das Bewusstsein („mémoire volontaire“) „aushebelnde“ Vorgänge möglich. In Bezug auf Sigmund Freuds „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) versucht Benjamin nun die Wahrnehmungsform „Chock“ in Anlehnung an das „Trauma“ als massive Reizwirkung auf Bereiche des Nervensystems zu entwerfen, die im Moment des auslösenden Ereignisses schutzlos gewesen sind – die der Schock durchdringt: Freud stellt die Rindenschicht des Gehirns, in dem er die Funktion des Bewusstseins lokalisiert, als eine „Rinde“ dar, die „durch die Reizwirkung so durchgebrannt ist, dass sie der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse entgegenbringt“. Im Moment eines Schocks durchdringen die elektrischen Potentiale der Nervenreize das reizaufnehmende, schützende Bewusstsein also, um ihre Spuren in das Gedächtnis einzuschreiben. Denn Freud zufolge kann das, was bewusst erlebt wird, nicht zugleich als ein Moment der Erinnerung aufbewahrt werden. Benjamin bemerkt in diesem Zusammenhang: „Den fundamentalen Satz von Freud … formuliert die Annahme, `das Bewusstsein entstehe an der Stelle der Erinnerungsspur´. Es wäre also durch die Besonderheit ausgezeichnet, dass der Erregungsvorgang in ihm nicht wie in allen anderen psychischen Systemen eine dauernde Veränderung seiner Elemente hinterlässt, sondern gleichsam im Phänomen des Bewusstwerdens verpufft´“.

Der „Chock“ funktioniert insofern als „Hinterlassung einer Gedächtnisspur“ in einem durch die massiven Reizeinwirkungen, denen Mensch in der Moderne ausgesetzt ist, ungeschützten, sensiblen System. Und „dass Bewusstwerden und die Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind“, steht für Benjamin fest. Erinnerungsreste sind ihm zufolge „oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewusstsein gekommen ist“. Freud zufolge ist es für „den lebenden Organismus … der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe als die Reizaufnahme“. Er ist der Auffassung, dass eine „übergroße Energie“, die vom Bewusstsein als Reizschutz unbemerkt in den psychischen Organismus dringt, einen zerstörerischen Einfluss hat, das heißt eine solche Energie hinterlässt im Gedächtnis eine Spur, die er eben als „Trauma“ bezeichnet. Um den psychischen Organismus in diesem Sinne schadlos zu halten, bedarf es einer gesteigerten Aufmerksamkeit des Bewusstseins, damit der Wahrnehmungsreiz nicht in die Erinnerung dringt. Diese „Chockabwehr“ ist für Benjamin durch „Gewöhnung“ zu erreichen. Dadurch aber, dass in der Moderne der „Chock“ und das „Chockerlebnis“ zur Norm geworden ist – damit ist für Benjamin die Gefahr verbunden, dass durch die „Gewöhnung“ an die Wahrnehmungsreize, das heißt durch die gesteigerte „Geistesgegenwart“, im Gedächtnis keine Erinnerungsspuren mehr eingeschrieben werden. Was Benjamin hier anspricht, ist die Frage, ob in einer durch das Erlebnis in Form des „Chocks“ geprägten Kultur so etwas wie Erfahrung überhaupt noch möglich ist?

Ähnlich wie bei der Montage, wo Bilder unterschiedlicher Herkunft miteinander verbunden werden, werden auch bei der massalen Selektion Reisige von einzelnen, ausgewählten Rebstöcken geschnitten und auf eine passende Unterlagsrebe gepfropft. Gewöhnlich werden mit dieser aufwendigen Arbeit jedoch keine komplett neuen Weinberge angelegt, sondern eher einzelne malade Rebstöcke ersetzt. Friedrich Becker gelingt es so aber, sich einen individuellen Stil zu bewahren – im Gegensatz zu den Monokulturen bei der sonst üblichen vegetativen Vermehrung durch Klonen-Züchtung in Rebschulen, wo die Rebstöcke als Klone dann eben alle genetisch identisch sind.

Friedrich Becker senior wird allgemein das Verdienst zugesprochen, Spätburgunder in Deutschland etwas „französischer“ gemacht zu haben, mit etwas mehr Säure und Tannin. Das liegt weniger daran, dass Becker auch Einzellagen im Elsass bearbeitet (die grenzüberschreitende Arbeit ist in seiner heimatlichen Ortschaft Schweigen üblich), sondern auch daran, dass er seine Spätburgundertrauben gerne mit einem hohen Rappenanteil (bis zu 80 Prozent) vergärt, weshalb man seine Lagenweine durchaus karaffieren sollte.

Nicht nur die Großen Gewächse Heydenreich, Kammerberg und Sankt Paul oder eben der „La Belle Vue“: Friedrich Becker hat den Spätburgunder hierzulande auf ein bis dahin kaum erreichtes Niveaus gebracht. Nichts trübt insofern die schöne Aussicht, oder?

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