„Jesus verkündigte das Reich Gottes und gekommen ist die Kirche“, bemerkte Alfred Loisy einmal. Ein Essay über die Anfänge des Christentums …
„Den Texten des Neuen Testaments müssen wir uns in einer Art stratigraphischen Herangehensweise nähern, uns Schicht um Schicht vornehmen. (…) Auch wenn es die narrative Anlage einer Geschichte ist, so blicken wir doch auf etwas zurück, was einem Blick durch Wasser ähnelt: je tiefer es ist, desto undeutlicher der Grund.“
Paula Frederiksen in „Die Geburt des Christentums“ (von Gérard Mordillat und Jérôme Prieur 2003)
In dem traditionellen jüdisch-orthodoxen Umfeld, in dem er aufwuchs, war Jesus ein Tabu, über das nicht gesprochen wurde, erklärt der israelische Schriftsteller Amos Oz in einem Essay zu „Jesus und Judas“. Umso schockierter war er, schreibt Oz, als ihm sein Großonkel, der bekannte jüdische Historiker Joseph Klausner (1874-1958), dann erklärte, dass dieser Mensch, wie Jesus damals im neu gegründeten Israel nur genannt wurde, einer von uns sei – ein Jude: „Nach Klausners Ansicht“, bemerkt Oz in seinem Essay, „lebte Jesus von Nazareth als Jude und starb als Jude. Es kam ihm nicht im Traum in den Sinn, eine neue Religion begründen zu wollen. Nein, er war Jude – ein aufrührerischer Jude, ein nonkonformistischer Jude, ein leidenschaftlicher Kritiker des jüdischen religiösen Establishments seiner Zeit“, einer unserer größten Visionäre, wie Klausner ihm erklärte.
Oz wurde neugierig – und begann verbotenerweise das Neue Testament zu lesen. Dann allerdings stieß er auf die Geschichte über den Verrat des Judas – und wurde skeptisch: Warum sollte Judas einen Mann verraten, der in ganz Jerusalem wohlbekannt war? „Um ihn festzunehmen, brauchten sie nicht Judas zu bezahlen“, bemerkt Oz, „(i)n meinen Augen ergab das einfach keinen Sinn. Außerdem merkte ich sehr schnell, dass diesem Bericht nicht zu trauen war. Es war einfach eine jämmerlich schlecht geschriebene Story … mit einem typischen Schurken … hässlich, unsympathisch, gierig, verräterisch, betrügerisch – all diese negativen Attribute wurden dem armen Judas angehängt. Dann dachte ich: Kein verantwortungsvoller Herausgeber hätte diese Geschichte in den Evangelien stehen lassen: Es ist eine üble Geschichte (…) eine hässliche Geschichte, alles andere als harmlos. In meinen Augen hat keine andere jemals von Menschen erzählte Geschichte ein solches Ausmaß an Hass, Verfolgung und Mord entfesselt wie diese Geschichte über den Verrat …“
Für Oz ist klar, dass diese Geschichte vom Verrat am Anfang des christlichen Antisemitismus steht und das Verhältnis zwischen Juden und Christen verseuchte: „Um so etwas zu tun, muss man sehr, sehr böse, geradezu teuflisch sein, aber zugleich auch sehr, sehr mächtig. Und genau diese Kombination von Eigenschaften – niederträchtig, sündig, böse, teuflisch und dabei insgeheim sehr mächtig – war das gängigste antisemitische Klischee überhaupt in den vergangenen zweitausend Jahren.“ Aber warum überhaupt diese Geschichte, fragt sich Oz: „Was wäre schlimm daran gewesen, wenn Jesus nach seiner Taufe von Galiläa über Samaria nach Jerusalem gegangen wäre, den Weg zur Kreuzigung und Auferstehung – ohne einen Judas … Ich meine – hätte das der Geschichte geschadet, wäre sie damit weniger überzeugend gewesen? Nein.“
***
Anders als im Christentum, für das Jesus natürlich von zentraler theologischer Bedeutung ist, spielt Jesus für jüdische Historiker wie Joseph Klausner nur insofern eine Rolle, als es ihm insbesondere auch darum ging, „den politischen oder gesellschaftlichen Status der Juden im christlichen Kontext der jeweiligen Zeit zu reflektieren“, wie Walter Homolka im Nachwort zu Oz` Essay schreibt.
Denn zu der Zeit, als Jesus stirbt, gibt es noch gar kein Christentum. Ein solches entsteht erst allmählich und insbesondere in der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem infolge der Niederschlagung eines jüdischen Aufstands durch die Römer im Jahr 70. Der Fall des Tempels – nicht der Tod Jesu, sondern er markiert den eigentlichen Wendepunkt in der Geschichte des Christentums und spaltet es in ein Vorher und Nacher: Ein Vorher, in dem Petrus lebt und vor allem Paulus, der zwischen den Jahren 50 und 60 seine Briefe schreibt, die damit als die ältesten von einem Christen geschriebenen Dokumente gelten. Ein Nachher, in dem die Evangelien geschrieben und später, zwischen 80 und 90 die Apostelgeschichte, die über die ersten Jahre der christlichen Bewegung berichtet, sowie schließlich um das Jahr 95 die Apokalypse des Johannes von Patmos über das Ende der Welt und das kommende Reich Gottes.
Damals bildete sich auch ein „normatives Judentum“, wie Homolka erklärt, und es „zeichnete sich immer stärker ab, dass Juden, deren Auslegung der Halacha von der Auffassung der Autoritäten abwich, zu Häretikern erklärt wurden. Frühe jüdisch-christliche Sekten, Gruppierungen, die allmählich immer mehr christologische Elemente in ihr Glaubensspektrum aufnahmen, gerieten zunehmend ins Visier dieser normativen Reaktion.“
Man muss sich die Entstehung des Christentums insofern als einen durchaus wechselseitigen Abspaltungsprozess vom Judentum vorstellen: Aus den eigenartigen Glaubensformen und Texten einer jüdischen Sekte, die die Römer für abscheulichen Aberglauben hielten, wird so das Christentum hervorgehen, eine neue Religion. Jesus stirbt, gekreuzigt durch die Römer unter Kaiser Tiberius (14-37), um das Jahr 30 noch als „König der Juden“ – dreihundert Jahre später aber wird sich Kaiser Konstantin (306-337) dann zum Christentum bekehren, das bald darauf sogar zur offiziellen Religion des Römisches Reiches werden und sich im gesamten Reich ausbreiten sollte. Rom hatte Jerusalem damit als Zentrum des Glaubens abgelöst – nun verstummte auch die jüdische Auseinandersetzung mit Jesus.
***
Kaiser Konstantin (306-337), geboren im heutigen Niš in Serbien, ist der erste Kaiser, der sich zum Christen bekehren ließ. Konstantin regierte zunächst in Trier an der Mosel, damals noch Augusta Treverorum genannt. Als unter Kaiser Trajan (98-117) das Imperium seine größte Ausdehnung erreichte und die Legionen scheinbar unaufhaltsam vorwärts drangen, war Augusta Treverorum bereits eine bedeutende Stadt im Römischen Reich und stieg bis zum Ende des 3. Jahrhunderts sogar zu einer der Hauptstädte der von Diokletian (284-305) errichteten römischen Tetrarchie auf: Bis Anfang des 4. Jahrhunderts war das Römische Reich durch die zahlreichen Eroberungen zu einem Weltreich geworden, das inzwischen nicht mehr nur von Rom aus und auch nicht mehr von einem Menschen alleine regiert werden konnte, weshalb die Macht nun zwischen vier Kaisern aufgeteilt wurde. Und einer von ihnen residierte auch in der Stadt der Treverer.
Augusta Treverorum wurde als „zweites Rom“ bekannt – und Konstantins Vater regierte hier als einer der vier römischen Kaiser der Tetrarchie. Konstantin gelang es nach dem Tod seines Vaters und der Auflösung der Tetrarchie im Jahr 306 die Macht in einem eigentlich usurpatorischen Akt an sich zu nehmen und so die Kontrolle über Britannien und Gallien (später auch noch Hispanien) zu erlangen.
Nach der Machtübernahme läßt Konstantin die Stadt umgestalten: Von den zahlreichen Bauten, die die Römer in Trier bauen ließen – die berühmte Porta Nigra wurde bereits im 2. Jahrhundert errichtet, genauso wie das Amphitheater – überragt die von Konstantin errichtete kaiserliche Palasthalle, die erst später zur heutigen Basilika wurde, mit ihren dreißig Metern Höhe alle. Sie wurde im Jahr 310 vollendet und ist zu der Zeit der größte Hallenbau nördlich der Alpen – eine architektonische Machtdemonstration des Imperium Romanum. Unter dem Triumphbogen im Inneren stand der Thron des Imperators, hier hielt Konstantin Empfang – ein Mann, der nach noch mehr Macht strebte. Deshalb beschließt er im Jahr 312 aufzubrechen, um die Alleinherrschaft im Römischen Reich zu erringen. In Trier läßt er seine Frau und seinen Stiefsohn als Statthalter zurück.
Konstantin wurde zum alleinigen Herrscher im Römischen Reich, als er sich gegen seinen Rivalen Maxentius durchsetzen konnte. Maxentius regierte seit der Auflösung der Tetrarchie im Jahr 306 durch einen nie anerkannten Staatsstreich von Rom aus Italien und – wegen der Getreidelieferungen wichtig – die besetzten afrikanischen Gebiete (Africa).
Maxentius versuchte seine fehlende Legitimation durch die Unterstützung des Volkes auszugleichen, das heißt er bemühte sich darum, seine Macht durch eine tolerante Religionspolitik abzusichern. Aber auch Konstantin war darum bemüht, seinen Status religiös zu klären und berief sich dazu auf Apollo und auf den mit ihm verbundenen Kult des unbesiegten Sonnengottes („sol invicto comiti“) – noch bis in die 310er Jahre hinein ersetzt in der Ikonographie konstantinischer Münzen die Sonne seinen Kopf oder reicht ihm den Globus. Und auch eine so genannte Kongregationsmünze von Konstantin zeigt, wie er dem Sonnengott Apoll gleich in einer Quadriga gen Himmel fährt, von wo aus ihm eine Hand – die Hand Gottes – entgegen gehalten wird.
Schließlich kommt es im Jahr 312 zur Konfrontation zwischen den beiden Rivalen an der Milvischen Brücke nördlich von Rom. Zweifelsohne drohte Konstantin zu unterliegen – wäre Maxentius nur in der befestigten Stadt Rom geblieben. So aber wurde die Entscheidungsschlacht durch Ereignisse für Konstantin entschieden, die an sich unerklärlich sind: zum einen folgte Maxentius angeblich einer günstigen Prophezeiung, die ihn zum Angriff im offenen Gelände ermutigte – während Konstantin in einer Vision ein untrügliches göttliches Siegeszeichen erschien, das signum crucis. Das Kreuzzeichen enthielt das Christusmonogram (Chrismon) und besteht entsprechend aus den griechischen Anfangsbuchstaben von Christus: einem „X“ für „Chi“ über einem „P“ für „Ro“. Es steht für Gottes Anwesenheit, wird zum schützenden Feldzeichen – und so zieht Konstantin also im Namen Gottes, im Zeichen des Kreuzes, in den Kampf.
Das göttliche Zeichen erschien Konstantin angeblich als Vision – die aber erst von Eusebius von Caesarea (264-340) und Lactantius (250-325) nach dem Geschehen beschrieben wird. Die beiden Kirchenväter bestätigen, dass es wirklich ein signum crucis gewesen sei. Lactantius – Lehrer von Konstantins Kinder – schreibt von einem Traum, während Eusebius sehr viel später erst von einer Vision berichtet, dabei allerdings nur wieder gibt, was Konstantin ihm erzählt hat. Es bleiben also berechtigte Zweifel – und der Verdacht liegt nahe, dass diese Legende weniger Konstantins persönliche Überzeugung widerspiegelt, sondern aus politischem Opportunismus heraus entwickelt wurde, um die Christen hinter sich zu wissen. Die waren in Rom zwar deutlich in der Minderheit und stellten wohl nur etwa fünf Prozent der damaligen Bevölkerung, waren im Römischen Reich aber bestens miteinander vernetzt und organisiert.
Konstantin erhoffte sich von den im gesamten Vielvölkerstaat verteilten Christen eine stabilisierende Wirkung: Die innerchristliche Organisation erfolgte von Beginn an im Untergrund und insofern parallel zur staatlichen, die im Grunde auch eher eine Herrschaftsordnung darstellte. Einem eher schwach organisierten Staat steht so ein starkes christliches System gegenüber mit Synoden, der hierarchischen Struktur der Bischöfe innerhalb, aber auch zwischen den Gemeinden, und mit metropolitanen Strukturen bis hin zu christlichen Vororten, den späteren Patriarchaten. Das ist ein System, das in sich wesentlich stabiler ist als das römische Herrschaftssystem, das – abgesehen von den Angriffen auf seine äußeren Grenzen zu der Zeit – immer wieder auch von usurpatorischen Umsturzversuchen bedroht war.
Vor dem Hintergund einer ständigen politischen Unruhe ist es von Konstantin nicht unklug, seine Religionspolitik auf die Christen zu stützen: Eine Kommunikation ist mit ihrer Infrastruktur einfach – und so förderte er auch den Bau von Kirchen und Basilika, ließ sich doch über die Bischöfe auch die Bevölkerung gut kontrollieren.
Eine christliche Bekehrung bei Konstantin selbst erfolgte allerdings wohl nur allmählich: Auch im Jahr 320 lässt sich noch keine typische christliche Thematik in seiner Ikonographie ausmachen – langsam jedoch verschwinden die Verweise auf den Sonnenkult. „Christ“ aber wurde er erst am Totenbett – was damals jedoch auch üblich war, denn mit der Taufe (im Büsserhemd) wurden einem alle Sünden vergeben. Als Ungetaufter war er der Kaiser aller, als getaufter nur weniger. Außerdem konnte sich Konstantin, zum Christ getauft, von dem von ihm aus unbekanntem Grund befohlenen Mord an seiner Frau und seinem Stiefsohn reinwaschen, da er annahm, dass im Christentum alle Sünden getilgt werden könnten: Angeblich standen seine Frau und ihr Sohn in einem Liebesverhältnis zueinander. Der jung verheiratete Stiefsohn wird des Ehebruchs mit seiner Mutter, der Frau Konstantins, beschuldigt – ein Staatsverbrechen. So wird Konstantin der erste christliche Kaiser, der Sohn und Frau hinrichten läßt.
Eine klare Hinwendung zur christlichen Bildsprache in Zusammenhang mit Konstantin ist erst nach dessen Tod im Jahr 337 auszumachen. Das finstere Kapitel am Ende seine Lebens bleibt in christlichen Quellen hingegen unerwähnt.
***
Für Joseph Klausner hat Jesus die Kirche nicht gegründet – und auch sonst nichts geschaffen, was konstitutionell die Grundlage dessen wäre, was dann zur Kirche wird. Er steht noch nicht einmal am Ursprung des Christentums, das heißt Jesus ist nicht der Begründer eines Schismas – also einer Glaubensspaltung innerhalb des Judentums –, sondern er hat sein Gottesbild innerhalb und für Israel gedacht: Jesus ist Jude und steht ganz innerhalb des Judentums, auch wenn er, wie vor ihm auch schon Johannes der Täufer, zur Erneuerung Israels und zur Neuinterpretation der jüdischen Überlieferung anregte – und auch zu einem neuen Gottesbild, das dem zornigen und strafenden Gott des Alten Testaments die Vergebung und Nächstenliebe gegenüberstellt.
Als Jesus stirbt, ist das für seine Gemeinde ein Schock – sie wissen nicht „Wohin?“, wie sie in Johann Sebastian Bachs Johannespassion verzweifelt rufen. Jesus` Hinrichtung am Kreuz, sein elendes Ende, bedeutete für seine Jünger den Zusammenbruch all ihrer Hoffnungen. Denn Jesus steht ursprünglich in einer prophetischen jüdischen Tradition, das heißt anfangs wurde in Jesus der Sohn Davids gesehen, der Messias Israels, mit dem man die Hoffnung verband, das Land von der römischen Besatzung zu befreien und das Königtum Israels wieder herzustellen. (In der Antike gibt es keine Trennung zwischen Religion und Politik.)
Das hebräische „Messias“ bezeichnet den „Gesalbten“ und wird später von den Evangelisten ins griechische „Christos“ („Gesalbter“) übersetzt, aus dem schließlich das latinisierte „Christus“ wurde. So erklärt zum Beispiel Johannes (1,41): „Wir haben den Messias gefunden! Messias heißt ‚der Gesalbte‘.“ „Christos“ bedeutet „derjenige, der geheiligt wurde“, aber auch einfach nur „der mit Öl benetzt wurde“, der „Pomadisierte“. Von ihm jedenfalls erhielten die nach der Zerstörung des Zweiten Tempels exilierten Juden, die „Christen“, ihren Namen. Zum ersten Mal so genannt wurden sie den Jüngern zufolge von römischen Behörden in Antiochia um das Jahr 35 – und da wurde die Bezeichnung „Christen“ wohl als Spottname benutzt: „Die Anhänger des Pomadisierten.“ Die Christen selbst bezeichneten sich bis ins 2. Jahrhundert jedoch nicht so.
Als Messias, Gesalbter, wird im Alten Testament (zum Beispiel in Jesaja 45,1) der von Gott eingesetzte „König der Juden“ als Nachfolger Davids bezeichnet (die Salbung mit Öl gilt schon lange als Ritus bei der Thronbesteigung eines Königs und wird noch heute bei Krönungen praktiziert – demnächst sicher auch wieder bei der Inthronisation von King Charles III.). Insbesondere seit dem historischen Propheten Jesaja, der um 740 vor Christus lebte, und der Zerstörung des Ersten Tempels 586 vor Christus durch die Babylonier sowie dem anschließenden Exil entstand die Erwartung eines Messias, eines zukünftigen Königs, der die Juden einen und von der Fremdherrschaft befreien werde und so das Reich David wieder herstellen werde.
Der Messias wurde lange nicht mit einer lebenden Person in Verbindung gebracht, sondern als Heilsbringer verstanden (zum Beispiel in den Psalmen 17 und 18). Erst mit der Besetzung Palästinas durch die Römer im Jahr 63 vor Christus taucht die Figur des Messias wieder auf – unmittelbar vor Jesus also und in Auseinandersetzung mit der römischen Besatzungsmacht. Nun wächst im jüdischen Volk die Hoffnung auf einen Befreier vom Römischen Reich.
Zu Lebzeiten jedoch wurde Jesus nie „Messias“ genannt. Es sind erst die Evangelisten, die die Messiasfigur mit Jesus neu besetzen – ohne ihn jedoch mit dem Messias im alttestamentlichen Sinn zu identifizieren. In den Evangelien erscheint Jesus vielmehr als ein endzeitlicher Prophet, losgelöst von nationalistischen, jüdischen Hoffnungen. Deutlich wird das am sogenannten Messiasbekenntnis des Petrus im Evangelium nach Matthäus (16,13-20): Hier antwortet Petrus Jesus auf die Frage: „Für wen haltet ihr mich?“ mit: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“, worauf ihn Jesus als „Felsen“ bezeichnet, auf den er seine Kirche bauen wird. „Dann befahl er den Jüngern, niemand zu sagen, dass er der Messias sei“, bemerkt Matthäus.
Der Messias-Begriff wird hier in einem christlichen Sinn umgedeutet: Jesus geht es, den Evangelien zufolge, nicht um die Wiederrichtung des alten Reich Davids oder eines irdischen Königreich Israel – er will nicht als Befreier von der römischen Besatzungsmacht auftreten, in diesem Zusammenhang verhängt er quasi eine Schweigepflicht –, sondern er will nach seinem Tod und seiner Auferstehung ein neues, göttliches Reich errichten, eben das Reich Gottes.
***
Der jüdische Prophet, der die Errichtung des Reich Gottes erhofft und von den Römern gekreuzigt wird, hat mit dem späteren Christus der römisch-katholischen Kirche nur wenig gemein. Seine Anhänger haben unmittelbar nach der Kreuzigung auch gar nicht die Absicht, eine neue Religion zu gründen. Sie sind vielmehr Juden, die das Ende der Zeit, die Apokalypse, erwarten und die Wiederkunft ihres Messias: In jüdischen Kreisen bestand zu dieser Zeit die Hoffnung, dass Gott die bestehende Welt verwandeln werde – in eine Welt, in der Gott herrschen werde und in der sein treues Volk Israel eine zentrale Position haben wird, als wichtigstes Volk der Welt. Sie gehen dabei davon aus, dass die Welt voller Sünde sei und deshalb erst untergehen müsse, um von Gott neu geschaffen zu werden. Und das glaubt auch Johannes von Patmos, der das Buch der Apokalypse, auch Offenbarung genannt, geschrieben hat – das letzte Buch des Neuen Testaments.
Wohl kein Text hat die Vorstellungen vom Weltende so geprägt wie die Apokalypse des Johannes. Eigentlich heißt Apokalypse „Entschleierung“ oder eben „Offenbarung“ und kommt von „apo“ für „fern ab“ und „kalypto“ für „entschleiert“ („kalpyso“ heißt „Schleier“). Doch das erste Wort des griechischen Originals, „Apokalypse“, wurde zum Gattungsbegriff für alle Untergangsszenarien: Im Grunde bis in die Gegenwart hinein werden die rätselhaften Sprachbilder vom „Buch mit sieben Siegeln“, einem „Tausendjährigen Reich“ und von „Armaggedon“ aus der Apokalypse benutzt, um in Krisenzeiten Spekulationen vom angeblich nahen Weltende Geltung zu verschaffen – obwohl Jesus selbst noch davon ausging, dass auch die bestehende Welt in das Reich Gottes verwandelt werden kann.
In der Offenbarung des Johannes wird die Erde jedenfalls zum Schauplatz einer Endzeit-Schlacht zwischen Gut und Böse, bei der der Erzengel Michael mit den himmlischen Heerscharen gegen den „roten Drachen“, den Vertreter der kosmischen Kräfte des Satans, kämpft. Ein Kampf, der auch über das Schicksal der Menschen entscheiden soll – und an dessen Ende die Wiederkunft des Messias und der Beginn der himmlischen Stadt Jerusalem steht. In ihr wird Gott Gestalt annehmen und mit ihm kommt dann auch das Ende einer Zeit des Schreckens und „(k)eine Nacht wird mehr sein …“ Darüber hat Johannes eine Vision, das heißt in der Offenbarung selbst heißt es, dass Jesus sie empfangen habe und seinen Engel sandte, um sie ihm mitzuteilen. Johannes wird so auch zu einem Propheten, der Hoffnung macht darauf, dass am Ende doch Gott der Sieger der Geschichte sein wird.
Wesentlich ist die zeitliche Nähe dieses Endes: Es liegt nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer in der Vorsehung der Gläubigen, dass das Weltende bald eintrifft und sie nur in der letzten Phase leben. Es ist gleichsam der Glaube an das Ende der Geschichte – und diese Endzeitstimmung ist auch der Grund, weshalb die Evangelien überhaupt aufgeschrieben werden. Erst ab dem Ende des 1. Jahrhunderts geht diese Vorstellung dann langsam zu Ende, als der Weltuntergang trotz aller Prophezeiung noch immer nicht stattgefunden hat. Bis dahin allerdings glaubte man, dass die Offenbarung des Johannes bald eintreten werde.
Über den Verfasser der Apokalypse, Johannes, weiß man nicht viel. Man ist sich sicher, dass er Jesus nicht selbst gekannt hat, keiner der Apostel war, und auch nicht der Autor des Evangeliums nach Johannes. Identität und Herkunft des Johannes bleiben aber ungeklärt – ebenso, warum Patmos Schauplatz seiner Vision geworden ist. Zumindest weiß man, dass er in den Jahren 93 bis 95 von Ephesos aus auf die fünfzig Kilometer entfernte, fast menschenleere Insel in der östlichen Ägäis verbannt wurde. Von dem Tempel, der hier im ersten Jahrhundert gestanden hat, sind nur noch Bruchstücke übrig, die in ein im 11. Jahrhundert gebautes griechisch-orthodoxes Kloster verbaut wurden. Hier soll Johannes seine himmlische Vision gehabt haben.
Von dieser Vision ist Johannes überwältigt und er sucht jetzt nach Quellen und Begriffen um sie überhaupt ausdrücken zu können, das heißt er kann sich nur Ausdrücken mit Hilfe der Sprache der Propheten des Alten Testaments – im Rückgriff auf die Propheten Ezechiel und Daniel, wenn beispielsweise von den „vier apokalyptischen Reitern“, den Boten des Unheils, oder dem „Thronsaal mit 24 Thronen“ die Rede ist. Jedenfalls ist er mit jüdischer und apokalyptischer Literatur vertraut, wo Gott in der Geschichte handelt und auch alle Zukunft beherrscht – und genau darum geht es schließlich auch in der Apokalypse.
Johannes benutzt zwar die Sprache des Alten Testaments, bezieht diese Motive nun aber durchaus auf reale Ereignisse seiner Zeit – und so haben das wohl auch seine Zeitgenossen verstanden. Denn zur Zeit des Johannes wird Jerusalem, wo er mit ziemlicher Sicherheit ursprünglich lebte, zum Ausgangspunkt eines Aufstandes: Das Schicksal der Tempelstadt scheint eng mit dem Leben von Johannes verbunden gewesen zu sein, jedenfalls erhoben sich die Juden im Jahr 66 gegen die römischen Besatzer. Vier Jahre später fällt das Zentrum des jüdischen Glaubens – und mit der Plünderung und Zerstörung des Tempels und ihrer Vertreibung aus der Stadt wird dem Judentum nun auch seine zentrale Kultstätte geraubt. Die Rache der Römer zielt hier zweifelsohne auf die Vernichtung der jüdischen Identität.
Möglicherweise ist Johannes Augenzeuge dieser Ereignisse, auf jeden Fall aber steht er in der Tradition der Apokalypse Jerusalems und betrachtet sich als jüdischen Anhänger von Christus, der diese Geschehnisse prophezeit hat – ebenso wie das nahe Ende der Welt. Das Erlebnis könnte jedenfalls der Grund dafür sein, dass er sich nun als Prediger für das Christentum betätigt und an der Nordküste des Mittelmeers entlang nach Westen wandert. Er folgt dabei den Spuren von Paulus, der bei seinen Missionsreisen die römische Provinz Kleinasien mit der Hauptstadt Ephesus zu einem Zentrum des frühen Christentums gemacht hat, auch wenn die Christen noch eine unbedeutende Minderheit in der griechischen Stadt bilden.
Ephesus ist zu der Zeit eine reiche Handelsstadt – und erlebt gerade, wie das römische Reich nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstands in Jerusalem, ihren Höhepunkt. Hier muss die Erinnerung an den Untergang Jerusalems für die exilierten Juden verblassen – kein Ort eigentlich für den Prediger des Weltendes. Seine Vorstellungen werden hier auch keineswegs von allen geteilt. Überhaupt ist das Christentum in Ephesos nur marginal vertreten und ohne echte Bedeutung innerhalb der zahlreichen religiösen Strömungen dieser Zeit. Die Archäologie jedenfalls hat bislang keine Hinweise auf das Christentum in Ephesos zu der Zeit gefunden – Kirchen wurden im ersten Jahrhundert ohnehin noch nicht errichtet.
Dann aber bricht im Jahr 79 der Vesuv aus und zerstört Pompeji und Herculaneum – für Johannes ein untrügliches Zeichen für ein vernichtendes Gottesurteil gegen Rom und darauf, dass das Weltende nicht mehr fern sein kann. Aber nicht nur für Johannes: Im römischen Reich brodelte es schon seit längerem, sollten doch alle dem römischen Kaiser wie einem Gott huldigen. Die Kulttradition bildet im Römischen Reich gewissermaßen das Fundament der staatlichen Ordnung und eine Störung dieser Ordnung wurde, wie Pedro Barceló in „Die Alte Welt“ (2019) bemerkt, „als Angriff auf die etablierten gesellschaftlichen Wertvorstellungen“ begriffen. Christliche Praktiken und das Bekenntnis zum Christentum gelten, wie Barceló ausführt, seit Kaiser Nero (54-68), der als der erste Verfolger der Christen gilt, als flagitium, also als Straftatbestand.
Insbesondere in der Frage des so genannten Kaiserkults sind die Gläubigen gespalten, gilt er doch als Ausdruck politischer Loyalität. Johannes ist einer von denen, die ihn kategorisch ablehnen – für ihn wäre das quasi ein Verrat an Jesus. Gleichwohl, so Barceló, konnte die monotheistische Ausschließlichkeit des Christengottes „seine Anhänger nie von synkretistischen Ritualen abhalten, ebenso wenig, wie die bestehende Strafandrohung seitens des Staates die Ausbreitung des Christuskultes verhindert hat“.
So huldigen die reichen Bürger von Ephesos also dem Kaiser – und richten sich gewissermaßen ihr Leben in der römischen Welt ein. Die einen wollen ihr Leben im Diesseits bewältigen – und hier hat dann auch Johannes` Vision des nahen Weltendes keinen Platz –, die Anderen aber wollen ihre Seele für das Jenseits retten. So steht pragmatische „Kompromissbereitschaft gegen Glaubensstrenge“, wie Barceló schreibt.
Wahrscheinlich weil Johannes den Kaiserkult verweigerte, wurde er schließlich in der Regierungszeit von Kaiser Domitian (81-96) nach Patmos verbannt. Aber auch in der Verbannung hört er nicht auf zu predigen – und so entsteht dann hier auch der Text der Offenbarung. Allerdings konnte beziehungsweise durfte Johannes vieles nicht offen benennen, das heißt er musste seine Botschaft verschlüsseln. Johannes schreibt beispielsweise (18,18): „Wer Verstand hat, berechne die Zahl des Tieres, denn es ist die Zahl eines Menschen, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.“ Laut jüdischer Gematria, die sich mit der Mystik von Worten beschäftigt und jedem Buchstaben des Alphabets einen Zahlenwert zuordnet, hat der Name „Kaiser Nero“ genau diesen Zahlenwert von 666. Die Übersetzung des Zahlencodes ergibt also, dass mit dem Drachen Kaiser Nero gemeint ist.
In die Regierungszeit von Kaiser Nero (54-68) fällt der Brand Roms im Jahr 64. Um von dem Gerücht abzulenken, Nero selbst sei der eigentliche Urheber des Feuers, wird ein Sündenbock gesucht – und bald in den Juden-Christen gefunden. Für sie ist mit dem brennenden und in Rauch gehüllten Rom angezeigt, dass der letzte Tag gekommen sei – und es gibt Mutmaßungen darüber, dass sie sich aufgrund der „freudigen Erwartung“ des Endes der Welt und der Wiederkunft Christi überhaupt erst verdächtig gemacht hatten, zumal es von den wenigen Vierteln der Stadt, die von dem Feuer verschont blieben, gerade auch ihre waren. Die Apokalypse würde so erst die Argumente für ihre erste Verfolgung liefern.
Wie dem auch sei – jedenfalls ereifert sich Johannes dreißig Jahre später noch immer gegen die Römer und Kaiser Nero: Für Johannes ist Rom noch immer der Sitz des Gegners seines christlichen Gottes, des „Antichrists“, und irdische Macht die Verkörperung des Teufels – jener Bestie, die getötet werden muss. Insofern ist die Offenbarung des Johannes durchaus politisch – es ist der einzige Text im Neuen Testament der sich mehr oder weniger offen gegen die römischen Machthaber stellt und zum Widerstand gegen das römische Imperium aufruft, während alle anderen auf Ausgleich bedacht sind.
Darüber hinaus steht Johannes aber gleichzeitig auch unter dem Eindruck des Bruchs zwischen Juden und Christen nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. So bezeichnet er die „falschen“ Juden – jene, die Jesus nicht als Erlöser anerkennen – auch als „Satanssynagoge“. Dieser Begriff taucht bereits in den Qumran-Schriften, die vermutlich von den Essenern verfasst wurden, auf – und deuten auf die Auseinandersetzungen innerhalb des Judentums um den rechten Glauben hin: Denn schon die Essener, die „Frommen“, übten Kritik am Tempelkult der Phärisäer (Schriftgelehrten) in Jerusalem, weshalb sie sich ans Tote Meer, in die Nähe der Jordanmündung, zurückzogen.
Auch Johannes der Täufer stellt sich hier am Jordan bewusst außerhalb der Institutionen, obwohl er dem Evangelisten Lukas zufolge sogar Sohn eines Tempel-Priesters gewesen sein soll: Bei ihm tritt an die Stelle des Tempelkults ein Tauf-Ritus, der auch mit einem Heilsmotiv verbunden ist, nämlich mit der Vergebung der Sünden: Von allen rituellen Waschungen des Judentums unterscheidet sich die Johannestaufe als originäre Schöpfung des Täufers insbesondere dadurch, dass sie einen sündenvergebenden Charakter hat. Ihr Sinn, so Reinhard Meßner in seiner „Einführung in die Liturgiewissenschaft“ (2001), „besteht in der Gewährung von Heil bzw. in der Verschonung vor dem [Jüngsten] Gericht. Dies ist für den Täufer an die Umkehr als Rückwendung zur göttlichen Lebensordnung (der Thora) sowie an die Taufe gebunden, welche eine ‚Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden‘ (Mk 1,4) ist. Umkehr und Taufe schaffen in der letzten Zeit vor dem Einbruch Gottes Sündenvergebung; sie treten damit im Verständnis des Johannes offensichtlich an die Stelle der Versöhnungsriten im Tempel“, wo am Versöhnungstag (Jom Kippur) einem Widder als Sündenbock symbolisch die kollektiven Sünden auferlegt wurden, bevor er in die Wildnis geschickt wurde (heute kreisen orthodoxe Juden alternativ auch ein Sündenhuhn drei Mal um den Kopf).
An diese innerjüdischen Auseinandersetzungen schließt nun gewissermaßen auch der Verfasser der Offenbarung an, jedenfalls richtet er sie in Form von sieben Sendbriefen direkt an die Gemeinden. Briefe sind für das Urchristentum grundsätzlich ein ganz wesentliches Mittel der Kommunikation und nicht nur Paulus war hierin ganz fortschrittlich. Über die Briefe kann – über Zeit und Raum hinweg – eine Gemeinschaft im Glauben entstehen. Die Offenbarung des Johannes wird so letztlich auch zu einem Zeugnis für den Kampf um die „Gottesfürchtigen“ beziehungsweise die Konkurrenzsituation zwischen christlicher Gemeinde und jüdischer Synagoge.
***
Unabhängig davon aber konnte die messianische Hoffnung mit Jesus` Tod am Kreuz für diejenigen, die an ihn glaubten, nur als gescheitert begriffen werden. Zwar predigte Jesus das Reich Gottes, das aber hat nie Gestalt angenommen – noch immer war Israel von den Römern besetzt. An ein himmlisches Reich Gottes dachten viele überhaupt gar nicht, sie konnten sich ein solches zumindest nur auf Erden vorstellen – auf dem Boden Israels, der von der Präsenz der römischen Besatzungsmacht endlich befreit wäre. Nicht zuletzt darum ging es auch den Jüngern. Lukas (24,19) beispielsweise schreibt in seinem Evangelium: „Wir aber hofften, er sei es, der Israel befreien werde.“ Befreien – das hießt damals ganz klar: der römischen Herrschaft in Judäa ein Ende zu machen. Und auch in der Apostelgeschichte (1,6) wird Jesus gefragt: „Wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel?“ Es wird erwartet, dass Gott mittels eines Gesandten Israel befreit.
Die Hoffnung im Judentum war die Herstellung einer Theokratie. Jesus selbst nahm eine abwartende Haltung ein, jedenfalls gibt es keinen Hinweis darauf, dass er gehofft hätte, tatsächlich über Israel zu herrschen und keine Quellen, die es erlauben würden Jesus` Wirken eine starke politische Bedeutung beizumessen (wenn Schriften das tun, sind sie alle nach Jesus` Tod entstanden). Sie alle deuten nicht darauf hin, dass Jesus die politische und militärische Befreiung Israels ein wichtiges Anliegen gewesen wäre oder besondere Bedeutung gehabt hätte, geschweige denn, dass er es als nötig erachtete, einen politischen und militärischen Aufstand zu organisieren. Das Reich, das er im Sinn hatte, war eben „nicht von dieser Welt“, wie ihn Johannes in seinem Evangelium (18,36) zitiert, weshalb Jesus eigentlich auch nicht im Widerspruch zum irdischen römischen Reich steht und Pilatus folglich auch keinen Grund hätte, ihn zu verurteilen – er findet keine Schuld an ihm. Die wird dann bekanntlich auch, insbesondere im Johannesevangelium, den Juden zugeschoben.
Den Evangelien zufolge hatte Jesus seinen Jüngern verheißen, dass sie das Reich Gottes gemeinsam erleben würden. Unmittelbar nach Jesus` Tod variieren nun die inneren Haltungen der Jünger, angesichts dieser Tatsache: Sie schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung – je nach Bericht. Denn unmittelbar nach der Kreuzigung herrscht unter ihnen Verwirrung: Für die Jünger ist unklar, weshalb der göttliche Wille durch den Tod Jesu am Kreuz ausgedrückt werden sollte, zumal das Reich Gottes nicht gekommen war. Und auch sonst hatte sich sein Tod ganz ohne Zeichen vollzogen – sieht man von der im Markusevangelium (15,38) geäußerten Metapher vom „zerrissenen Vorhang“ ab: Gemeint ist damit der Vorhang im Tempel in Jerusalem, der das Allerheiligste abtrennte. Der Riss soll bedeuten, dass Gott fortan nicht mehr dort wohnt – schließlich haben die Juden Jesus abgelehnt, verurteilt und hingerichtet. Deshalb habe Gott sich von ihnen zurückgezogen – und die endgültige Zerstörung des Tempels durch die Römer ist in diesem Verständnis dann nur die gerechte Strafe Gottes.
Schon unmittelbar nach der Verhaftung von Jesus in Jerusalem sind seine Jünger verängstigt aus der Stadt geflohen – nur wenige Frauen sind bei der Kreuzigung anwesend. Schon bald nach Jesus` Tod aber erscheint der Gekreuzigte dem Fischer Simon Bar Jona, Petrus genannt, dem Ältesten der Jünger und auch ihr Anführer. Er ruft daraufhin die Jünger wieder zu sich, die sich nun alle erst einmal in Jerusalem einfinden – und dort bald die gleiche Vision haben: Der Gekreuzigte ist von den Toten auferstanden – er ist tatsächlich der Messias. Damit haben sie nicht gerechnet: Die Nachricht von der Auferstehung Jesu trifft die Jünger völlig unvorbereitet.
***
Vor dem Hintergrund der Erscheinungen wird in den nun entstehenden Texten aus dem historischen Jesus von Nazareth über Jesus Christus schließlich der am Kreuz gestorbene und auferstandene göttliche Christus. Adolf Holl spricht in diesem Zusammenhang in „Jesus in schlechter Gesellschaft“ (2002) von einem „Vergottungsprozeß“, in dem „womöglich der Erfolg der Religionen begründet (liegt), da sie den Gläubigen dahingehend entlasten, sich nicht mehr ernsthaft mit Jesus messen zu müssen: Er macht es möglich, viele neue Menschen dem Glauben zuzuführen, ohne ihnen die Komprommisslosigkeit der ursprünglichen Jüngerschaft zumuten zu müssen.“ Es bedarf dazu nur der Befolgung bestimmter – später von Priesterschaft beziehungsweise der katholischen Kirche vorgegebener – Regeln, durchaus keiner harten.
Wie Holl bemerkt setzt der Vergottungsprozess bereits mit Paulus ein, der dem historischen Jesus – anders als die Jünger, die im Grunde das selbe entbehrungsreiche Leben führten wie ihr Vorbild – selbst nie begegnet ist, und findet seine Fortsetzung in den später entstandenen Texten des Neuen Testaments. Die Evangelisten konstruierten zwar noch Beziehungen zum alttestamentarischen Messias, schufen darüber hinaus jedoch eine Jesusfigur, in der der historische, politische Jesus komplett getilgt war. Das gilt insbesondere für das zuletzt entstandene Johannesevangelium, wo aus dem Leben Jesu das Leben Jesus Christus – eine zur Legende verarbeitete Biografie – wird.
Beim Evangelisten Johannes wird der politische Aspekt des Messias-Begriffs abgeschwächt und der galiläische Jesus, Jesus von Nazareth, nach seiner Kreuzigung letztlich sogar zum universalen Christus umgeschrieben: Schon im ersten Kapitel seines Evangeliums wird Jesus zum enthistorisierten, entkörperten „Wort Gottes“ (1,1), zum „göttlichen Logos“ (1,3), später zum „Licht der Welt“ (8,12). Ist der Jesus bei den Synoptikern noch etwas menschlicher gezeichnet, wird er bei Johannes zur endgültig zur göttlichen Lichtgestalt.
Mit der Vergöttlichung betont Johannes die Königsherrschaft Jesu – und manifestiert so gleichzeitig die Trennung vom Judentum: Dem wenn sich seine Anhänger nicht in dem Glauben zusammengefunden hätten, dass Jesus Gott ist, könnte man heute nicht von einer christlichen Religion sprechen. Schon in den synoptischen Evangelien hieß es: wer ist das nur, dass ihm sogar Wind und Wellen gehorchen? (Markus 4,41 und Lukas 8,25) Das ist gewissermaßen der Kern – das ganze Christentum hängt davon ab: Dass das Wort, der Logos, in Jesus Fleisch wird und letztlich wieder Gott selbst.
Genau genommen entwickelte sich Jesus zwar innerhalb des Judentums – auch wenn man ihn für einen großen Häretiker des Judaismus hält –, die christliche Religion aber bildet sich ab dem Moment heraus, wo Menschen behaupten, Jesus ist Gott – also in dem Moment, wo ein Glaubensbekenntnis die Gottheit dieses Menschen Jesus anerkennt, verkündet und öffentlich bekennt. In diesem Moment entsteht etwas völlig Neues.
Die Entwicklung hin zu diesem Bekenntnis allerdings war keine lineare, sondern wurde über Jahrhunderte erörtert und stand noch auf den Konzilen des 4. und 5. Jahrhunderts auf der Tagesordnung. Die Verwendung der Wörter „kyrios“ („Herr“), im Gegensatz zu „theos“ („Gott“) bedurfte einer dauernden Differenzierung: In welchem Maße war Jesus Gott? In welchem Maße war er der Gottessohn? Es gab unterschiedlich Ansichten – jeder wollte ihn so oder so festlegen, ihn zum Mensch machen oder ganz und gar zu Gott. Aber keine Ansicht konnte sich ganz durchsetzen – und so akzeptierte man schließlich das Mysterium, dass er wohl beides ist.
***
Als im Jahr 325 Streitigkeiten in der so genannten Ostkirche – ihre Ursprünge gehen auf die ersten christlichen Gemeinden und späteren Patriarchate in Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem zurück – ausbrechen, die die junge Christenheit sogar zu spalten drohen, beruft Kaiser Konstantin ein Konzil in Nicäa ein. Er tut das weniger, weil es ihm um die christliche Religion als Grundlage der ideologischen Einheit seines Reiches geht, sondern eher deshalb, weil er Einigkeit zwischen den Bischöfen braucht, die die Kirchengemeinden kontrollieren und so auch politische Stabilität garantieren. Und so sollen auf dieser ersten Versammlung, dem ersten ökumenischen Konzil, Unstimmigkeiten zwischen den Patriarchaten geregelt werden. Konstantin begreift sich als Garant der Ordnung – und macht die Kirchenangelegenheit damit zu einer Angelegenheit des Kaisers. Politik und Religion sind hier insofern noch miteinander verschränkt: Die Rivalität zwischen diesen christlichen Zentren beizulegen – das ist für Konstantin Kirchenpolitik. Es gibt von ihm deshalb auch nur eine Parole für das Konzil: Einigt euch!
Konstantin benutzte das Konzil, auf dem er als Kaiser eigentlich nichts zu suchen hatte, also um politischen Einfluss auszuüben: Für ihn steht die Einheit der Kirche im Vordergrund, die auch für sein Reich wichtig ist. Deshalb lud er auf seine Kosten alle 1.800 Bischöfe seines Reiches ein in seinen kaiserlichen Sommersitz in Nicäa, unweit von Konstantinopel – das Konstantin im Jahr 330 zu seinem neuen Hauptsitz macht. Konstantinopel verdrängt Rom so vom Rang einer Hauptstadt und entsprechend will es das Patriarchat dann auch zum offiziellen Sitz des des Christentums machen, weshalb es in den nächsten Jahrhunderten vehement versucht seine Vormachtstellung gegenüber den anderen vier Patriarchaten in Alexandria, Jerusalem Antiochia und vor allem Rom zu festigen. Vorerst aber geht es um das Konzil – und Konstantins Ruf folgen auch etwa 200 bis 300 Bischöfe und Dekane, vornehmlich aus den Ostkirchen, sowie zahlreiche Presbyten und Diakone, so dass schließlich etwa 2.000 Theologen an den zweimonatigen Debatten beteiligt sind.
Erst zwölf Jahre vorher wurde durch ein Toleranzedikt das Christentum als offizielle Religion des Römischen Reiches von Konstantin zugelassen. Einigen Bischöfen sah man die Verstümmelungen, die ihnen bei der letzten Christenverfolgung vor gerade einmal 15 Jahren zugefügt wurden, noch an – nun aber wurde insbesondere über die Dreieinigkeit von Christus, Gottvater und Heiligem Geist debattiert.
Auslöser für die Unstimmigkeiten in diesem Zusammenhang – und auch für das Konzil – war die inzwischen seit sieben Jahren im gesamten Mittelmeerraum diskutierte These des Presbyters Arius aus Alexandria (260-327), wonach Jesus dem Gottvater untergeordnet sei – er sei schließlich nur der Sohn und komme deshalb nach dem Vater. Er stellte damit die Frage, ob Christus Gott ist – und sich selbst gegen seinen Bischof und die Orthodoxie, der zufolge Jesus nicht der Erlöser sein könne, wenn er nur ein Geschöpf Gottes sei. Die Trinität frage nur nach dem Verhältnis von Heiligem Geist, Christus und Gottvater – sie stellt aber nicht die Frage, ob Gott verschiedene Existenzformen hat. Jesus sei vielmehr schon immer ein Teil Gottes gewesen und von diesem insofern auch nicht zu unterscheiden.
Auf dem Konzil wurde Arius verurteilt, aber es wurde auch klar, dass dringend ein Glaubensbekenntnis her musste – und so ließ Konstantin schließlich einen Kompromiss formulieren. In diesem so genannten Nicäischen Glaubensbekenntnis (Nicänum) heißt es über Jesus, er sei „gezeugt aus dem Wesen des Vaters und gezeugt und ungeschaffen, wesenseins mit dem Vater“. Jesus sei also nicht geschaffen worden, wie von Arius behauptet, sondern von Gott gezeugt worden (man verwendete dafür den Begriff „Homoousios“ für „von gleicher Substanz“, „von gleichem Wesen“). Von jetzt an stellte man den Sohn auf eine Stufe mit Gottvater – man machte ihn absolut wesensgleich. Entsprechend begreift man die Zeugung auch nicht im Sinne eines zeitlichen Nacheinander, sondern als einen ewigen Akt – eine ewige Zeugung. Schon am Anfang des Johannesevangeliums (1,1 und 1,14) heißt es: „Im Anfang war das Wort, der Logos“ und „das Wort, der Logos, wurde Fleisch“. „Christus“ als metaphysische Figur sei insofern immer schon da gewesen (vor dem historischen Jesus) – er sei deshalb vor aller Schöpfung.
Das müssen alle Bischöfe als Glaubensbekenntnis unterzeichnen. Nur 20 weigern sich und werden in der Folge exkommuniziert und in die Verbannung geschickt. Zu ihnen gehörte auch Arius. Er wird später, auf der Synode von Antiochia im Jahr 341, jedoch rehabilitiert und posthum wieder in die Kirche aufgenommen – schließlich gelang es ihm doch auch, Eusebius von Caesarea zu überzeugen, der dann wiederum Kaiser Konstantin kurz vor dessen Tod taufen wird.
In Nicäa ging es vor allem um das Verhältnis des Vaters zum Sohn, ein paar Jahrzehnte später wiederholte sich das Szenario um die Frage nach dem Wesen und der Aufgabe des Heiligen Geistes – seltsamerweise aber ohne die Trinität selbst in Frage zu stellen.
***
Unmittelbar nach Jesus` Tod gab es noch keine Christen im heutigen Verständnis, sondern nur Juden, die offen bekennen: „Jesus ist Christus“, Jesus ist gestorben und auferstanden – er ist der Messias. Aber alle diese Kategorien sind zunächst noch ausschließlich jüdische Kategorien und die Christen insofern nur so genannte Juden-Christen. Insofern ist der Begriff „Christentum“ für das 1. Jahrhundert noch völlig anachronistisch – so etwas gab es damals noch nicht. Erst im 4. Jahrhundert kristallisiert sich die unterscheidbare und institutionalisierte Religion heraus, die man Christentum nennen kann. Gleichwohl wird dann erst das Glaubensbekenntnis, in Jesus den Christos zu sehen, den auferstandenen Jesus, die Kirche begründen.
Nach Jesus` Tod machte es den Jüngern der Glaube, dass er nicht tot, sondern auferstanden ist, möglich, die Krise zu bewältigen. In den ersten Glaubensbekenntnissen heißt es deshalb immer: er ist gestorben – und auferstanden. Der Glaube an die Auferstehung taucht allerdings erst allmählich auf: Jesus stirbt um das Jahr 30 in Jerusalem, die ältesten Dokumente die davon berichten stammen aus dem Jahr 50. Zu dieser Zeit schreibt Paulus seinen ersten Brief an die Thessaloniker (auch Thessalonicher genannt), dem weitere an andere christliche Gemeinden folgen, zwei davon auch an die Korinther.
In seinem ersten Korintherbrief schreibt Paulus (15,35-49), dass ein wiederauferstandener Körper nicht aus Fleisch und Blut sei – deshalb spricht er auch davon, dass der Körper Christi ein soma pneumatikon gewesen sei: ein geistiger Körper. Die etwas später, irgendwann zwischen den Jahren 70 und 100, entstandenen Evangelien widersprechen Paulus in diesem Punkt, denn nach dem jüdischen Verständnis dieser Zeit bilden Körper und Seele eine Einheit: Ohne Körper gibt es auch keinen Geist. Entsprechend wird der Leichnam von Jesus in den vier kanonischen Evangelien auch nicht als Geist dargestellt, sondern sein Körper trägt bei der Erscheinung bei den Jüngern die Stigma der Kreuzigung. In diesem Sinn betont beispielsweise Lukas (24,36-39) die physische Natur der Auferstehung und zitiert Christus mit den Worten: „Seht meine Hände und Füße: Ich selbst bin es. Fasst mich an und seht! Ein Geist hat kein Fleisch und keine Knochen, wie ihr es an mir seht.“
So gelingt es wohl, die Jünger, die noch zweifelten, wie Matthäus (28,16) berichtet, zu überzeugen – und auch den „Ungläubigen Thomas“, der dieser Begegnung nicht beiwohnte. Ihm erscheint Christus laut Johannes (20,27) sogar ein weiteres Mal und fordert ihn auf: „Leg deinen Finger hierher und schau meine Hände an, und streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Egal nun, wie der auferstandene Jesus den Jüngern erscheint – letztlich sind sich doch alle Evangelisten einig darin, dass Jesus nach seinem Kreuzestod auferstanden ist und es nur eine Frage der Zeit sei, bis er Wiederkehren werde und mit ihm das Reich Gottes: Seine Rückkehr geht mit dem Kommen der Gottesherrschaft einher, mit den letzten Dingen und dem Gericht halten. Eben darum heißt es in einem späteren Glaubensbekenntnis „er werde zur Rechten des allmächtigen Vaters sitzen, zu richten die Lebenden und die Toten“.
Dass Jesus jedenfalls auferstanden ist, beweist schon, dass er seinen Jüngern erschienen ist. Auch darüber berichtet Paulus im 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes (1. Kor. 15,5), wo er all diejenigen auflistet, denen Christus erschienen ist. Paulus gebraucht hier in Zusammenhang mit dem Osterereignis den Ausdruck „ophte“, was soviel bedeutet wie: „er ließ sich sehen“, „er wurde gesehen“. Was genau geschah, wird auch hier nicht klar, gleichwohl liegt hierin, in der Erscheinung des auferstandenen Jesus, ein Ursprung des Christentums.
***
Der erste, dem Jesus als Auferstandener Paulus zufolge erscheint ist Jesus` Jünger Kefas, genannt Petrus („Kefas“ ist das aramäische Wort für „Fels“, „Pétros“ die griechische Übersetzung davon). Der Erste zu sein, dem der auferstandene Jesus begegnet ist – das verlieh Petrus eine besondere Autorität, das heißt von nun an scheint er zum Nachfolger Jesu und Oberhaupt der Kirche erhoben zu sein. Aber schon zu Lebzeiten soll Jesus, Matthäus zufolge (Mt. 16,18), gesagt haben: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Tore des Totenreichs werden sie nicht überwältigen.“
Der Fels wird hier gewissermaßen zur Verbindungsstelle zwischen den Welten. Indem er zu Petrus sagt: du bist Petrus, übersetzt der „Fels“, der „Stein“, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, greift Jesus auf eine Symbolik zurück, die mit dem Tempel von Jerusalem – und damit dem Judentum – in Verbindung gebracht wurde. Denn es ist wie bei jüdischen Darstellungen vom Tempel von Jerusalem, die besagen, dieser Tempel ruhe auf einem Felsen, und zwar einem kosmischen Felsen (even shetiyyah), als jenem Ort, wo Himmel und Hölle in Verbindung zueinander treten.
Die Formulierung bei Matthäus hat das Bild von Petrus geprägt als einem, der quasi die Schlüssel zum Reich Gottes erhält. In den anderen Evangelien hingegen fällt sein Porträt nicht ganz so schmeichelhaft aus – wo Petrus Jesus, wie im Evangelium von Johannes, drei Mal verleugnet. Ein Porträt von ihm lässt sich insofern schwerlich erstellen, gleichwohl wird er mitunter zu einer symbolischen Figur aufgeladen, die Jesus im Urchristentum fortsetzen wird – zunächst in Palästina als „Säule“ der Jerusalemer Urgemeinde, dann geht er wohl – wie spätere Quellen berichten – nach Antiochia, Korinth und in die Türkei, später vielleicht auch nach Rom, wo er Gründer der ersten Gemeinde gewesen sein soll und das Martyrium erlitten habe: Angeblich soll Petrus vor der Verfolgung durch Nero im Jahr 64 aus Rom geflohen sein. Vor der Stadt aber begenete er der Legende nach dem Auferstandenen, der ihm sagte: „Ich gehe nach Rom, um ein zweites Mal zu sterben“, woraufhin Petrus umgekehrt sei. Petrus soll in Neros Circus, dort, wo sich heute der Petersplatz befindet, gekreuzigt worden sein – und zwar auf eigenen Wunsch hin mit dem Kopf nach unten, um sich nicht anzumaßen wie Jesus zu sterben (deshalb bezeichnet man ein umgedrehtes lateinisches Kreuz auch als „Petruskreuz“).
Dass Petrus in Rom gewesen sein soll – das wird im Neuen Testament allerdings nicht erwähnt. Trotzdem führt die römisch-katholische Kirche das Papsttum auf die Tradition zurück, dass Petrus der erste Bischof von Rom gewesen sei – auch wenn es historisch gesehen im 1. Jahrhundert noch gar kein Monepiskopat gab und die christliche Gemeinde entsprechend auch nicht von einem einzelnen Bischof geleitet wurde. Dennoch leiten die römischen Bischöfe ihren Anspruch auf das Amt des Papstes im Petersdom von seiner Autorität ab.
Aber nicht nur, dass sich die Päpste als Nachfolger Petri bezeichnen – das römisch-katholische Christentum insgesamt wurde auf der Grundlage des Matthäusevangeliums aufgebaut, wo er Petrus als „Felsen“ bezeichnet, auf dem er seine Kirche bauen wird. Liest man dort allerdings weiter, stellt man fest, dass das, was Jesus im 16. Kapitel Petrus zusagt, er im 18. Kapitel auch den anderen Jüngern zuspricht. Selbst im Matthäusevangelium wird Petrus also nicht als einziges Oberhaupt auf einen Sockel gestellt – und so gründet die Geschichte der katholischen Kirche seit 2.000 Jahren eigentlich auf einem Missverständnis.
***
Nach seinem Märtyrertod wurde Petrus irgendwo auf dem vatikanischen Hügel („mons vaticanus“) außerhalb der Stadtmauern von Rom begraben, dort, wo damals die Nekropolen in den weichen Tuffstein gegraben wurden. Schon bald wurde über dem vermeintlichen Grab von Petrus ein erstes Petrusmonument errichtet, eine kleine Kapelle, die für Pilger bereits im 2. Jahrhundert als Gedenkort fungierte und über dem später der Petersdom errichtet werden sollte. So entstand hier auf dem Hügel vor der Stadt also tatsächlich ein Ort, an dem Himmel und Totenreich miteinander in Verbindung treten – und der so an das jüdische even shetiyyah erinnert.
Der Gedenkort entstand, obwohl die christliche Religion zu dieser Zeit noch im Verborgenen praktiziert werden musste. Das änderte sich allerdings mit der Thronbesteigung von Kaiser Konstantin. Er erlässt 313 die Religionsfreiheit und lässt dann sogar Kirchen bauen, allen voran die Konstantinische Basilika, auch „Alt Sankt Peter“ genannt, auf dem vatikanischen Hügel – der mutmaßlichen Stelle des Petrusgrabes. Konstantin lässt auf der Nekropole mit Gräbern aus dem 2. Jahrhundert, aber auch noch älteren, die direkt auf Nero verweisen, das Fundament für die Basilika errichten – die dann im 16. Jahrhundert durch eine neue Basilika ersetzt wird, die sich noch heute über dem Petersplatz erhebt.
Die Konstantinische Basilika war etwa 100 Meter lang und damit seinerzeit die größte Kirche Roms. Die Apsis war mit einem riesigen Mosaik versehen, auf dem Jesus in der Mitte dargestellt war, neben ihm Petrus und Paulus, während sich am Boden der Apsis die Memoria befand – also die Gedenkstätte über dem Petrusgrab, an der Stelle, wo nach dessen Kreuzigung ein erstes Petrusmonument über der letzten Ruhestätte des Apostels errichtet wurde. Die Memoria ist der eigentliche Kern der Basilika – auf ihr gründet die Legitimation der päpstlichen Macht.
Die Memoria über dem Petrusgrab bestand aus einer Art Baldachin, der auf sechs Säulen ruhte, die noch heute erhalten sind und in der später neu errichteten Basilika verbaut wurden. Auf sie und auf ein marmornes Mausoleum, das zwischen den Säulen thronte, lief eine lange Sichtachse zu, wobei die Reliquie im marmornen Mausoleum die Achse bestimmt, auf der alle zukünftigen Altäre errichtet wurden – der erste entsteht dann im 7. Jahrhundert, hält aber den Eingang zum heiligen Grab darunter noch offen.
Nachdem sich das Christentum bis ins 7. Jahrhundert im gesamten Römischen Reich ausgebreitet hat, sich aber Konstantinopel als offizieller Sitz gegenüber Rom behauptet und seine Vormachtstellung auf der Grundlage des profitablen Orienthandels gefestigt hat, brauchte man in Rom einen ebenbürtigen Verbündeten, um sich gegenüber der Stadt am Bosporus zu behaupten. Man findet ihn in Karl dem Großen, noch bevor er zum Kaiser gekrönt wird. Er ist der mächtigste Herrscher seiner Zeit – und verbündet sich nun mit dem Papst.
Als im Jahr 799 auf den Papst Leo III. (795-816) ein Attentat verübt wird, sucht er Zuflucht bei Karl dem Großen. Seine Ankunft erfolgte zu der Zeit, als innerhalb des Frankenreiches bereits über die Übertragung der Kaiserwürde auf Karl nachgedacht wurde – und so sollten schließlich beide voneinander profitieren: der Papst findet einen mächtigen Schutzherrn – und krönt dafür Karl den Großen zum Kaiser. Die Zeremonie, die im Jahr 800 in der Konstantinischen Basilika stattfindet verändert die Ordnung der Welt, denn mit dieser Geste verleiht der Papst Karl dem Großen den Titel: Kaiser des Weströmischen Reiches. Damit markiert er offen den Bruch mit der Ostkirche in Form des Patriarchats Konstantinopel. Rom wird wieder Hauptstadt – die Hauptstadt des christlichen Westreichs.
Dieses Bündnis mit den Karolingern bringt dem Papst auch Schenkungen ein, die seinen Einfluss in Italien vergrößern. Immer mehr wird er zu einem Souverän mit echter weltlicher Macht und den damit verbundenen Verteidigungspflichten. So lässt Leo IV. (847-855) Mitte des 9. Jahrhunderts eine 12 Meter hohe Wehrmauer in Rom errichten, die drei Kilometer lang ist und von drei befestigten Toren durchbrochen wird, um die Basilika gegen Angriffe der inzwischen zur Gefahr für Rom gewordenen Sarazenen geschützt zu sein – die so genannte Leoninische Mauer. Durch sie entsteht die Civitas Leonina, die Leostadt. Sie besteht aus dem römischen Stadtteil Borgo, der damals noch außerhalb der Stadtmauern lag, und einem Großteil des – zur Versorgung der wachsenden Pilgerströme – immer stärker bebauten, nur etwa einen halben Quadratkilometer großen Gebiets um das Petrusgrab umfasste. Überreste der Mauer befinden sich heute im Westen der Vatikanstadt.
Der Papst residierte damals noch nicht auf dem vatikanischen Hügel, sondern im Lateranpalast innerhalb von Rom. Weil sich damals aber mehrere einflussreiche römische Familien um den Papstthron stritten, brauchte er einen Ort, an dem er besser geschützt ist. Nahe der Stadt, doch mit dem Tiber als natürlicher Barriere, bot sich der vatikanische Hügel an – allerdings fehlt noch ein Palast neben der Konstantinischen Basilika, der genügend Platz bot für die Kurie, also die Verwaltungsorgane des Papstes. Nikolaus III. (1277-1280 ) aus dem Geschlecht der Orsini gibt den Bau schließlich in Auftrag – und macht den Vatikan damit endgültig zu einem Ort der Macht.
Dieser Palast vom Ende des 13. Jahrhundert verbirgt sich heute im Zentrum der labyrinthischen Vatikanstadt, wo er – bis auf einen Turm – völlig verbaut und in andere Gebäude integriert wurde. Hier regiert der Papst nun abgeschottet vom weltlichen Leben im Kreise seiner Kardinäle, die ihn im Konklave gewählt haben. In dem neu errichteten befestigten Palast direkt neben der Konstantinischen Basilika behauptet das Papsttum seine politische Unabhängigkeit und manifestiert seine Macht – der Vatikan ist seither Sitz des Oberhaupts der katholischen Kirche. Von einer neuen Maurer geschützt wird der Palast noch um 20 Hektar Gärten ergänzt, die aus dem Vatikan ein regelrechtes Landgut machten.
Doch schon bald halten Nachfolgestreitigkeiten die Päpste dauerhaft von Rom fern. Sie weichen aus auf andere Residenzen im Kirchenstaat, zum Beispiel nach Orvieto, Perugia, Anagnia – und schließlich geht der Papsthof nach Avignon, wo die Wanderschaft 1305 endet. Ursprünglich geht es lediglich darum, durch die Wahl eines französischen Papstes, Clemens V. (1305-1314), den Zwist zwischen dem Papsttum und dem französischen König beizulegen. Doch politische Unruhen in Italien und Komplotte der einflussreichen römischen Familien zwingen auch Clemens` Nachfolger in Avignon zu bleiben. Letztlich regieren im Laufe des 14. Jahrhunderts insgesamt 9 Päpste von dem Palast in Avignon aus.
Verärgerte Reaktionen aus Rom lassen nicht auf sich warten: Bei jedem neuen Papst wird ein Botschafter nach Avignon entsandt, um zu versuchen, den Heiligen Stuhl wieder nach Rom zurück zu holen – denn das Schwinden der Macht schadet dem Ansehen der Stadt und mindert die Popularität des Vatikans. Mehr noch: Ohne einen Papst, der die Messe feiert, droht auch die Basilika zu verwaisen und in Vergessenheit zu geraten. Um weiterhin Pilger und Gläubige hierher zu locken, beauftragt man Giotto (1267/76-1337) damit, ein Triptychon mit Petrus an der Stelle des Papstes für den Hauptaltar der Konstantinischen Basilika zu schaffen. Petrus sollte so die physische Präsenz des Papstes ersetzen, der zu dieser Zeit nicht mehr in Rom weilte. Und es sollte die Pilger daran erinnern, dass sich hier das Grab des ersten Papstes befindet – und nicht in Avignon. Durch Giottos Werk behauptet die Basilika ihre Legitimität. Seine Symbolkraft wird so groß, dass sich die Päpste, als sie schließlich nach Rom zurückkehren, ein für alle Mal im Vatikan niederlassen und die nun fast 1.000 Jahre alte, baufällige Basilika renovieren lassen.
Mit dem Ende des Mittelalters erlebt Rom einen beispiellosen Aufschwung, von dem auch der vatikanische Hügel profitiert – die Renaissance. Im Jahr 1503 wird Guliano della Rovere zum Papst Julius II. (1503-1513) gewählt – er wird die Architektur des Vatikans nachhaltig prägen. Als erstes will er einen Palast errichten, der dem eines römischen Kaisers ebenbürtig ist. Mit dem Bau wird Donato Bramante (1444-1514) beauftragt, der für seine Kenntnisse der Antike bekannt ist. Er soll den Palast mit dem Belvedere verbinden – einer großen Villa auf dem Hügel gegenüber. Bramante entwirft für das ansteigende Terrain eine gewaltige Anlage aus Gärten, Terrassen und Galeriebauten – nach den Vorbild der Gärten antiker römischer Villen –, die das Gesicht des Vatikans grundlegend verändern wird. Aber auch diese Anlage ist heute kaum mehr zu erkennen und wurde durch drei Höfe ersetzt. Die Galerien allerdings bestehen noch heute – in ihnen sind heute die 26 vatikanischen Museen untergebracht.
Hier befindet sich auch die Laokoon-Gruppe, die Julius II. von einem römischen Funktionär erworben hat, der die Skulptur bei Arbeiten in seinem Weinberg entdeckte und ausgraben ließ. Der absolute Realismus der Laokoon-Gruppe aus dem ersten Jahrhundert vor Christus wurde in der Renaissance zum Maßstab für die Künstler dieser Zeit – allen voran für Michelangelo (1475-1664), der darin ein Vorbild für seine Körperstudien findet. Julius II. wünscht diese in Stein gehauene Unsterblichkeit aber auch bei sich selbst – und gibt bei Michelangelo ein riesiges Grabmal in Auftrag – dann jedoch beansprucht drei Jahre später plötzlich ein anderes Projekt das Vermögen des Vatikans und Michelangelo wird unerwartet freigestellt. Der Papst will nämlich von Donato Bramante eine neue Basilika bauen lassen, die den Status Roms als Hauptstadt des Christentums untermauern soll. Bramante schlägt dem Papst eine Basilika in Form eines griechischen Kreuzes vor, mit einer Zentralkuppel umgeben von vier weiteren Kuppeln. Er fügt hinzu: „Ich nehme das Gewölbe des Pantheons und hebe es auf die Bögen der Konstantinischen Basilika.“ Das Pantheon, im 1. Jahrhundert vor Christus gebaut, besitzt die größte Kuppel der Antike – das Symbol der Erhabenheit römischer Baukunst. Der Papst ist nach einigen Änderungen mit Bramantes Plan einverstanden, man fügt aber noch ein Mittelschiff hinzu. 1506 feiert man die Grundsteinlegung.
Um die gigantische Basilika, den späteren Petersdom, zu finanzieren, führt Julius II. den Ablass ein und verspricht allen, die den Bau finanziell unterstützen, die Vergebung ihrer Sünden. Während der Bauarbeiten wird die nahe gelegene Sixtinische Kapelle erschüttert. Sie gehörte zum mittelalterlichen Vatikanpalast und war schon damals ein wichtiges Gebäude, weil sich die Kardinale hier zum Konklave versammelten, um den Papst zu wählen. Die Wandgemälde, unter anderem von Botticelli (1445-1510), bleiben zwar unbeschädigt, durch die Decke aber zieht sich ein Riss – der neu verspachtelt und vor allem bemalt werden muss. Für diese Arbeit gelingt es dem Papst ein weiteres Mal Michelangelo zu engagieren, trotz dessen Widerwillen nach dem Fiasko mit dem Grabmal. Er willigt ein, die Decke der beschädigten Sixtina auszumalen. Vier Jahre lang arbeitet er ganz allein daran – und breitet schließlich die gesamte Geschichte des Christentums an der Decke aus, die Genesis, also die Schöpfung, komplettiert das Leben Jesu auf den Wandfresken aus dem 5. Jahrhundert. Am Vorabend von Allerheiligen 1512 wird die Sixtinische Kapelle schließlich mit einer Messe eingeweiht – und alle sind begeistert.
Dann aber veröffentlicht Martin Luther 1517 seine 95 Thesen und beschuldigt die Kirche der Götzenanbetung und der Korruption, vor allem aber der Monetarisierung des Seelenheils durch den Ablasshandel. Es ist die Geburtsstunde des Protestantismus. Die neue Konfession des Christentums breitet sich wie ein Lauffeuer aus und erreicht die meisten Länder des Heiligen Römischen Reiches und Skandinaviens. 1533 bricht zudem England mit dem Katholizismus und gründet die Anglikanische Kirche, mit dem Calvinismus kommt die Bewegung auch nach Frankreich. Der Vatikan ist in Zugzwang. Also gibt Papst Clemens VII. (1523-34) ein neues Altarfresko für die Sixtinische Kapelle in Auftrag – und Michelangelo schafft neben dem Deckenfresko auch noch das Wandgemälde „Das Jüngste Gericht“ hinter dem Altar, wie um daran zu erinnern, dass jenseits allen Theologenstreits Gott über Gut und Böse richtet.
Während der Protestantismus jeden Tag neue Anhänger gewinnt, verlieren sich die Pilger auf ihrer Suche nach dem Grab des Heiligen Petrus im heillosen Chaos der riesigen Baustelle für die neue Basilika. Wie soll man auf einer solchen Baustelle die heilige Messe feiern? Zumindest steht das, leider angeschlagene, Hauptschiff der alten Konstantinischen Basilika noch. Durch eine Mauer von der Baustelle getrennt, geht hier das religiöse Leben weiter. Das Ergebnis ist eine seltsame Hybrid-Struktur: halb Rohbau, halb Ruine. Das liegt daran, dass seit Bramantes Tod ständig die Entwürfe wechseln. So kommt es, das 1546 gerade einmal die vier Hauptpfeiler, der südliche Wandelgang und zwei Deckengewölbe fertiggestellt sind – von einer Kuppel aber ist noch nichts zu erahnen. Ein Schandfleck in der ewigen Stadt – gleich neben den Ruinen des Palatins und des Kolosseums. Deshalb soll der 72jährige Michelangelo nun Ordnung in die Angelegenheit bringen und den Bau fertigstellen.
Im Jahr 1547 wird Michelangelo Bauleiter der Basilika und bleibt es 17 Jahre lang bis zu seinem Tod 1564. Er zeichnet neue Pläne mit radikalen Änderungen: er verringerte die Dimension des Gebäudes, indem er die geplanten Chorgänge entfernte und den Bau nach oben hin öffnete. Vor allem aber beschloss er, das gesamte Gebäude außen mit Travertinstein zu verkleiden, einem weißen Kalkstein, der seit der Antike für Prestigebauten verwendet wird. Der Bau schreitet nun endlich voran – insbesondere auch, weil sich Michelangelo selbst um unscheinbare Details persönlich kümmert. Aber er ist jetzt 88 Jahre alt, hat 13 Päpste überlebt – und wird das Bauende des Petersdoms nicht mehr erleben. Bei seinem Tod fehlt immer noch die gewaltige Kuppel. Allerdings hat er zuvor ein Modell herstellen lassen, das von Filippo Brunelleschis (1377-1446) Technik beim Bau des Doms in Florenz inspiriert ist. Dennoch sollten weitere 24 Jahren vergehen, bis die Kuppel in Rom fertiggestellt ist. Erst 1590, mehr als 75 Jahre nach Baubeginn, erlebt die Basilika Sankt Peter im Vatikan ihre Krönung. Die Kuppel des Petersdoms wird zum Vorbild für die Kuppeln aller späteren Kirchenbauten.
Wenige Jahre nach der Fertigstellung des größten Sakralbaus der Welt werden die Reste der Konstantinischen Basilika abgetragen und an dieser so geschichtsträchtigen Stelle entsteht neuer Raum, den man alsbald mit einem Langhaus bebaut, wodurch aus der neuen Kirche ein Reliquiar der alten wird. Und auch der Petersplatz wird nun in eine riesige Bühne für die Auftritte des Pontifex maximus umgebaut, die entsprechend ausgestattet werden muss. Bereits 1586 – als die Kuppel fertig ist – wird hier mit einem Großaufgebot an Männern und Pferden ein gewaltiger Obelisk aufgestellt, unter dem Petrus gekreuzigt worden sein soll. Damit hat der Platz, dort, wo sich einst Neros Circus befand, in dem neben Petrus auch zahlreiche andere Christen gefoltert wurden, sein Symbol. Aber erst ein Jahrhundert später wird er zur berühmtesten Sichtachse der Welt, dank des Werks von Gian Lorenzo Bernini (1598-1680), der den Petersplatz mit 284 Säulen säumte, die von der Fassade des Petersdoms her kommend den Petersplatz halbkreisförmig in zwei vierreihig angeordneten Kolonnaden gewissermaßen zu umarmen scheinen. Bernini war es auch, der für den Großteil der prunkvollen barocken Innenausstattung des Petersdoms mit dem Baldachin über dem Petrusgrab verantwortlich zeichnet – und so die Theatralisierung des Glaubens auf die Spitze trieb.
***
Obwohl der Vatikan heute Sitz der katholischen Kirche ist und Rom schon bald Jerusalem als religiöses Zentrum abgelöst hat, ist unklar, wie das frühe Christentum hierher gelangte – wie es sich überhaupt ausgebreitet hat. Es gibt hierzu keine präzisen Quellen – nur das Neue Testament: Um das Jahr 50 schreibt Paulus mehrere Briefe an verschiedene Gemeinden, die für die ältesten Dokumente des Neuen Testaments gehalten werden (von den 14 veröffentlichten Briefen sind aber wohl nur sieben echte Briefe von Paulus). Geschrieben wurden sie zwischen dem Jahr 50 (1. Thessalonicher) und 56/57 (Römerbrief), der Philipperbrief womöglich auch erst im Jahr 62. Dann folgt das Markusevangelium im Jahr 70 und Lukas, der sowohl ein Evangelium geschrieben hat als auch, zwischen 85 und 90, die Apostelgeschichte.
Alle diese Texte entstehen erst ein oder zwei Generation nach der Kreuzigung und sie geben nur einen fragmentarischen, lückenhaften Überblick – sie liefern keine durchgehende Geschichte –, auch wenn sich Lukas um Kontinuität bemüht und die Apostelgeschichte deutlich als Fortsetzung seines Evangeliums zu erkennen ist. Man verfügt jedoch über keine anderen Quellen um zu rekonstruieren, was sich gleich nach Jesus` Tod ereignet hat. Folglich weiß man beispielsweise nicht, wie das Evangelium von Jerusalem nach Alexandria gelangte, ob es womöglich Pilger waren, die aus Jerusalem zurück kamen. In keiner Quelle steht, wer die Gemeinden in Rom, Alexandria, Ephesos oder Antiochia gegründet hat. Fest steht nur, dass es überall da, wo es zuvor jüdische Synagogen gab, später auch christliche Gemeinden geben wird. So wird sich zum Beispiel in Antiochia, dem Sitz des römischen Statthalters in Syrien, eine Gemeinde bilden, die von entscheidender Bedeutung war für die weitere Entwicklung des christlichen Glaubens. Aber mit Christentum hatte das noch nichts zu tun, denn es handelte sich damals noch um Juden, die den Glauben an den Messias annahmen – um Juden-Christen also, Christen im Sinne von „Jünger Jesu“, nicht um Anhänger einer Religion, die Christentum heißt. Es gibt zu dieser Zeit noch kein autonomes Christentum.
Unklar ist auch, warum die Jünger des Nazareners, die selbst aus der Provinz in Galiläa stammen, nach der Kreuzigung nach Jerusalem zurück kehren – eine Stadt, in der sie sich nicht auskennen, weil sie höchstens Mal zu Pessach hier sind. Zumal ihnen hier noch immer die Gefahr der Verhaftung droht. Es ist möglich, dass sie tatsächlich dem Ruf von Petrus gefolgt sind – auf jeden Fall aber müssen sie sich hier versteckt halten. Aber dass sie da sind – das verweist darauf, dass sie wohl auf die bald bevorstehende Apokaylpse spekulieren: Für die Jünger war klar, dass Jerusalem der Ort sein musste, an dem sich das von Jesus gepredigte Reich Gottes realisieren würde. Entsprechend sind sie hier, weil sie Jesus bei seiner Wiederkunft empfangen wollen.
Die Erwartung dieser Wiederkunft und Gegenwart Gottes – auch Parusie genannt –, des Reich Gottes, ist so groß, dass niemand in der Gemeinde mehr arbeitet, keiner mehr Kinder bekommt – und sich alles auf diese Verheißung ausrichtet. „Marana Tha!“, „Herr mein Meister, komm doch!“ – alle warten nur noch auf die Rückkehr. Die Erwartung der Parusie, des Endes der Zeiten, war im Urchristentum allgegenwärtig – als stünde es unmittelbar bevor. Aber offensichtlich geschieht diese Rückkehr nicht so bald …
Als klar war, dass das Ende nicht so bald kam, stand man nicht nur vor einem Glaubensproblem, sondern auch vor einem wirtschaftlichen, weil inzwischen die Mittel für den Lebensunterhalt ausgegangen waren. Und so musste dieses Modell bald aufgegeben werden, das heißt von nun an musste man eine andere Existenzform in Betracht ziehen um das Ausbleiben der Parusie auch auf Dauer umzusetzen. Für die weitere Entwicklung hin zum Christentum hatten die Veränderungen in dieser Zeit eine wichtige Bedeutung. Adolf Holl bemerkt im Hinblick auf die Änderung des Existenzmodells der ersten Gemeinde in Jerusalem: „Neben dem Vergottungsvorgang in der Vorstellungswelt der Christen ist der Wandel im Versammlungsgefühl konstitutiv für die katholische Kirche.“
Als das Reich Gottes ausbleibt stellte sich die Frage, warum es nicht kam? Gleichzeitig galt es, sich auf eine längere Wartezeit einzurichten und damit alles ein wenig zu systematisieren – Kirchen organisieren, ein System der Verantwortlichen, der Hierarchien und gewissen Solidaritäten schaffen. So geht es im Grunde auch allen Sekten, die ihre Hoffnungen nicht unmittelbar verwirklicht sehen und sich deshalb auf Dauer einrichten müssen. Hat eine Sekte das Ende der Zeiten prophezeit – wie beispielsweise die Zeugen Jehovas, die ihre Hoffnungen allerdings nicht auf die Parusie richten (die sei bereits 1914 erfolgt, als Jesus die Herrschaft im „Köngreich Gottes“ übernommen habe), sondern sie glauben an die Wiederherstellung eines irdischen Paradieses, nachdem vorher alle Nicht-Gläubigen in der Endschlacht von Harmagedon vernichtet wurden –, und es bleibt aus, dann gibt es zwei Möglichkeiten: entweder löst sie sich auf, oder aber sie rückt noch enger zusammen, indem sie sich mit einem Autoritäts- und Schutzmechanismus ausstattet, der sie Fortbestehen lässt.
Im Urchristentum hat das noch nichts mit der Organisation durch verschiedene geistliche Ämter zu tun, die am Ende des 1. und Anfang des 2. Jahrhunderts vorzufinden sind. Aber schon jetzt wird unterschieden zwischen den Predigern, den Propheten und jenen, die verwalten oder das geistliche Leben organisieren. Insofern lässt sich hier durchaus von einem ersten Organisationsstadium im Hinblick auf die später institutionalisierte Kirche sprechen. Und vielleicht auch in diesem Sinn taucht nun im im 5. Kapitel der Apostelgeschichte erstmals der Begriff „Kirche“ für die „Gemeinde“ auf, die sich bis dahin immer nur als „Gemeinschaft“ („Kommunion“) bezeichnete. Allerdings ist dabei noch Vorsicht geboten.
Die Apostelgeschichte ist auf griechisch verfasst und das entsprechende Wort für „Kirche“ lautet „ekklesia“. Es bezeichnet jede Art von „Zusammenkunft“ oder „Versammlung“ – und man kann diesen Begriff nicht so ohne weiteres mit „Kirche“ in unserem heutigen Verständnis übersetzen (oder wie im französische mit „eglise“). Das verleiht dem Begriff eine institutionelle Bedeutung, die er im 1. Jahrhundert so definitiv noch nicht hatte oder haben konnte. Adolf Holl bemerkt in diesem Zusammenhang: „Ist da die Kirche oder erst einmal eine Anzahl von Gemeinden ohne eine zentrale Institution – und das ist Kirche doch: nicht eine Vielzahl von Gemeinden, sondern Menschen, die das gleiche sagen, lesen und die gleichen Regeln akzeptieren. So weit ist es noch nicht.“
Etymologisch betrachtet hatte der Begriff „ekklesia“ außerhalb seiner Verwendung im Neuen Testament keinerlei institutionelle Bedeutung. In der griechischen Bibel bezeichnet der Begriff dann die versammelte Gemeinde Israels – und außerdem bezeichnete das selbe Wort in der griechischen Welt die Gemeinschaft der freien Männer, die innerhalb einer Stadt ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. So verbreitet sich dann die Meinung, dass mit dem Begriff „ekklesia“, „Kirche“, das Wesen der Gemeinde bestens wiedergegeben sei. Und so findet das Wort dann auch Eingang in die christliche Sprache und wird von einem bestimmten Zeitpunkt an bevorzugt verwandt. Nach und nach setzt sich der Begriff jedenfalls durch, um die Gemeinde der Christen in Abgrenzung zur jüdischen Synagoge zu bezeichnen.
***
Als Jesus um das Jahr 30 starb, konnte niemand voraussehen, dass seine Anhänger wenige Jahrzehnte später in ihm den Mensch gewordenen Gott sehen würden. Keiner von ihnen konnte ahnen, dass Jesus nicht wiederkehren und sich das Weltende immer weiter hinausschieben, dass letztlich statt des erwarteten Reich Gottes die Kirche kommen sollte. Das war auch nie in Jesus` Absicht: Das Reich Gottes, das er im Sinn hatte, unterschied sich wirklich ganz und gar von der Kirche, die sich dann im 2. Jahrhundert immer weiter institutionalisierte und ritualisierte.
Für Adolf Holl ist ganz klar, dass das nicht im Sinne Jesu war – der sich zeitlebens gegen das Priestertum stellte, deren kultische Tätigkeit zudem auch stets an einen heiligen Ort, einen Tempel, gebunden ist: Im Neuen Testament bedeutet „Priester“, wie Holl ausführt, „Kultdiener“ – man verwendet hierfür den griechischen Begriff „hiereus“ von „hieros“, „heilig“, der später dann auch dem Begriff der „Hierarchie“ zugrunde liegt: auch dieser Begriff stammt aus dem altgriechischen und wurde zusammengesetzt aus „hieros“ und „archē” für “Führung, Herrschaft” – und bezog sich zunächst lediglich auf die Religion, wo es als „hierarchia“ die Reihenfolge der sich abwechselnden Hohe- beziehungsweise Tempelpriester in Jerusalem bezeichnete.
Ursprünglich gab es im Judentum keine Priester: Zur Zeit Abrahams waren die Juden noch kein Volk, sondern Nomaden, und hatten entsprechend auch noch keine Ämter. Sie beteten und opferten ihrem Gott auf Altären, die sie vielleicht auf irgendeinem Felsen in der Nähe errichteten oder auf aufgeschichteten Steinen – wobei ihr Gott, darauf macht Adolf Holl aufmerksam, noch nicht „Jahwe“ war wie dann für Moses, sondern noch „El“, wie für die Wüstenbewohner im Sinai. Erst in Ägypten wurde aus dieser priesterlosen Gesellschaft ein Volk – und für dieses richtete der Gott Jahwe dann auch Ämter ein, die noch in der Person des Moses vereint sind: Er hat die Leitung inne, ist Prophet und Priester. In der Leitung wird ihm dann Josua folgen (Dtn. 34,9), diesem die Richter, dann Saul, David und die Könige, die ihr Amt dann erstmals vererben. Mose war auch der unvergleichliche Prophet (Dtn. 34,10), und Gott versprach ihm: „Einen Propheten wie dich will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen“ (Dtn. 18,18) – und zwar immer wieder, denn dieses Amt ist nicht erblich.
Das Priestertum jedoch ist das erste Amt, das aus dem allumfassenden Amt des Moses ausgegliedert wird – als er seinen älteren Bruder Aaron zum „Hohepriester“ weihte (Ex. 28,1) und mit ihm seine Söhne zu „Priestern der zweiten Ordnung“ (2. Kön. 23,4). Die dritte Ordnung kam den Leviten zu, die beim Gottesdienst assistieren beziehungsweiste „dienen“ (Num. 18,2) sollten. Für sie galt: „Damals sonderte der Herr den Stamm Levi aus, damit er die Lade des Bundes des Herrn trage, vor dem Herrn stehe, vor ihm Dienst tue und in seinem Namen den Segen spreche“ (Dtn. 10,8–9). Die nach Gottes Anweisungen gebaute Bundeslade enthält die Steintafeln mit den Zehn Geboten und ist bis heute das Symbol für den Bund Gottes mit dem Volk Israel. Die Leviten wurden von Gott zu jenem Priesterstamm berufen, der die Bundeslade während des Auszuges aus Ägypten und während der Landnahme Israels trägt – und so Gott inmitten des Volkes präsent halten soll, ihm gegebenenfalls auch die Leviten liest. Für alle aber gilt: Priester sind „Diener des Altars“ (Joel 1,13) und sprechen den Segen über das Volk, nachdem sie Gott geopfert haben.
Um 930 vor Christus errichtet König Salomo dann ein Heiligtum für die Bundeslade, obwohl Gott Samuel zufolge (2. Sam. 7,4-6) schon zu David gesagt hat: „Du willst mir ein Haus bauen, damit ich darin wohne? Ich habe nicht in einem Haus gewohnt … bis auf den heutigen Tag, ich bin umhergezogen in einem Zelt als Wohnung.“ Nun aber wird auf einem Felsen in Jerusalem ein erster Tempel errichtet – der dann allerdings von den Babyloniern im 6. Jahrhundert vor Christus zerstört wird. Erst nach der Heimkehr aus dem babylonischen Exil, etwa sechzig Jahre später, wird ein neuer Tempel gebaut. Nun etabliert sich „eine schriftkundige Priesterkaste mit starkem politischen Einfluß“, wie Holl schreibt. Und so blieb es auch bis zur Zeit Jesu – nur das Herodes um 20 vor Christus den Tempel neu errichtet hatte.
Die ritualistische Religiosität im Tempel, in deren Zentrum das Opfer steht, besonders an Pessach – „die beherrschende Idee ist der Kult“, schreibt Holl, „auf ihn hin ist alles angelegt“ –, steht schon früh in der Kritik. Bereits im 8. Jahrhundert vor Christus etwa bemerkt der Prophet Hosea (6,6): „Denn an Treue habe ich Gefallen und nicht an Schlachtopfern und an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern!“ Das Misstrauen gegen Kult und Ritual im Tempel, das auch von anderen Propheten geäußert wird, wird nun im Neuen Testament aufgegriffen. Allein schon, dass Jesus in Bethlehem zur Welt kommt, zeigt das Oppositionelle, wie Holl ausführt: „Denn nicht in Jerusalem wird Jesus geboren …, sondern in Bethlehem, und die erste Nachricht davon ergeht an die Hirten auf freiem Feld, keineswegs sprechen die Himmlischen zur Priesterschaft im Tempel zu Jerusalem.“
Jesus übernimmt die alttestamentarische Kritik an der priesterlichen Tempel-Religion – und man stellt ihn nach seinem Tod auch in die Tradition eines Gottes, der keinen Tempel braucht. Auf ein Jerusalem ohne Tempel, ein Reich Gottes ohne Priester, verweist dann ein letztes Mal die die Apokalypse des Johannes.
Paradoxerweise aber verwirklichen dann die Juden nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer genau das, was Jesus vorgeschwebt haben mag: eine priesterlose Religion. „Es ist nämlich eine historische Tatsache, dass die Juden nach 70 n. Chr. keine Priester mehr kennen“, bemerkt Holl, sondern nur noch den Rabbi – und der hat keine kultische Funktion mehr, wie noch die Tempelpriester. Adolf Holl bemerkt allerdings, dass es auch „ein ziemlich starkes Argument dafür (gibt), daß die ersten Christen tatsächlich eine Auffassung vertraten, die der herkömmlichen Tempel- und Priesterfrömmigkeit den Rücken kehrte: die frühen christlichen Gemeindevorsteher … hatten keinerlei sakrale Funktionen inne; ihre Leitungsaufgabe ähnelte sehr der eines jüdischen Vorstehers irgendwo in einer Gemeinde des damaligen Mittelmeerraumes.“
Schon gegen Ende des 1. Jahrhunderts ist unter den frühen Christen allerdings auch schon die gegenläufige Tendenz zu beobachten. Holl bemerkt in diesem Zusammenhang: „In einem Brief des römischen Christenvorstehers Clemens aus dem Jahre 96 n. Chr. ist allbereits von einer kultischen Hierarchie die Rede … obwohl es dann noch eine Weile dauerte, bis sich der christliche Vorsteher in Rom endlich den althergebrachten Würdenamen eines pontifex maximus zulegen konnte, also den Titel eines altrömischen Hohenpriesters. Auch dauerte es mehrere hundert Jahre, bis die Christen in großem Umfang Tempel zu bauen begannen und der dazugehörige Klerus die vorhandenen Positionen der staatlich anerkannten Priesterschaft besetzte.“
In der Ausgestaltung seiner Ämter greift das Christentum auf das dreistufige aaronitische Priestertum des Alten Testaments zurück, das heißt von „Priestern“ (hiereis) wollte man ganz am Anfang in Bezug auf die Amtsträger der Kirche noch nicht sprechen, man bevorzugte den Begriff „Presbyter“, der sich vom altgriechischen Wort „presbýtero” für „Älterer” herleitet. Damit bezeichnete man das Leitungsamt der frühen Christengemeinden – aus dem sich dann im 2. und 3. Jahrhundert das Amt des Priesters in der zweiten Ordnung des dreistufigen Weihesakraments entwickelte, sowie das des Diakons auf der dritten und das des Bischofs auf der ersten Stufe.
Dass diese Entwicklung hin zu einer institutionalisierten Kirche aber relativ zügig verlief – das zeigt ein Brief von Ignatius von Antiochien an die Kirche in Smyrna: Darin (Smyrn. 8,1) wird deutlich, dass sich, abgesehen von Propheten und Aposteln, die Ämterstruktur der Kirche bereits im Jahr 110 voll ausgebildet hat: Neben den Presbytern (Priestern) unterscheidet man hier im Hinblick auf das Weihesakrament auch schon Episkopen (Bischöfen) und Diakonen (Assistenten). Es ist diese Ämterstruktur, die sich dann in den christlichen Kirchen im Westen und Osten durchsetzen wird.
***
Unmittelbar nach der Kreuzigung versammeln sich die Jünger Jesu in Jerusalem. Von der Jerusalmer Gemeinde in dieser Zeit berichtet die Apostelgeschichte des Neuen Testaments. Lukas vermittelt dort den Eindruck, auch noch Wochen nach Jesus` Tod seien die Jünger alle noch hier – und er beginnt damit, dass der auferstandene Jesus seinen Jüngern erscheint, die ihm nur eine einzige Frage stellen (1,6): „Herr, wirst du noch in dieser Zeit deine Herrschaft wieder aufrichten für Israel?“ Wann wird das Königreich Israel zurückkehren? Das ist gewissermaßen – in den Augen des Verfassers – die ursprüngliche Erwartung der Jünger, die Ausgangssituation. Danach wird aber versucht, neue Prioritäten zu setzen – und in gewisser Weise ist die ganze Apostelgeschichte dieser Verschiebung der Prioritäten – und einer Neuinterpretation der neuen Zeit – vorbehalten.
Fünfzig Jahre nach der Kreuzigung, als Lukas die Apostelgeschichte verfasste, war klar geworden, dass das Reich Gottes auf Erden nicht zurückkehren wird, denn es hätte das Reich Israel mit einschließen müssen. Doch auch noch Jahre nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer konnte man diese eschatologische Hoffnung nicht loswerden – dann aber formuliert der Verfasser der Apostelgeschichte doch noch einen Ausweg: Lukas verschiebt den Fokus weg vom Ende der Geschichte, der Apokalypse, in die Geschichte selbst hinein. Denn in seiner Antwort auf die Frage der Jünger verkündet der Auferstandene (1,7-8) Lukas zufolge: “Euch gebührt es nicht, Zeiten und Fristen zu erfahren … Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über auch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein“. Es sind dies die einzigen Worte, die der Auferstandene in der ganzen Apostelgeschichte spricht – und genau das ist auch Lukas` Absicht: Denn wenn schon das Reich Gottes nicht in Sicht ist, so hält das eschatologische Szenario zumindest doch die Hoffnung bereit, die Gabe des Heiligen Geistes zu empfangen. So vollzieht Lukas die Verschiebung vom historischen, echten Reich hin zu einem sehr viel geistigeren Reich Gottes auf Erden, von dem der auferstandene Christus zeugt.
Hatten die Jünger bis dahin vielleicht auf eine Befreiung von der römischen Besatzung und eine politische Wiederherstellung Israels gehofft, verkündet er nun ein gänzlich anders Programm: die Erfüllung besteht hier in einer vom heiligen Geist beseelten Zeugenschaft des auferstandenen Christus. Und tatsächlich heißt es des weiteren (2,1-4): „Als nun die Zeit erfüllt und der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren sie alle beisammen an einem Ort. Da entstand auf einmal vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie sassen; und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich zerteilten, und auf jeden von ihnen liess eine sich nieder. Und sie wurden alle erfüllt von heiligem Geist und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie der Geist es ihnen eingab.“
Sogleich macht sich die Gemeinde, Lukas zufolge, auf und verkündet gewissermaßen als erste Tat die Auferstehung Christi all denjenigen, die sich wegen des großen jüdischen Pilgerfestes Schawuot um das Jahr 30 zu Pfingsten in Jerusalem aufhalten. Nach jüdischer Vorstellung hat Moses auf dem Berg Sinai nicht allein die schriftliche Thora erhalten, sondern auch ihre mündliche Auslegung – und so steht Schawuot für die „Gabe der Thora“. Das christliche Pfingsten hingegen steht für den Heiligen Geist, der über die Jünger Jesu gekommen sein soll – auch hier wird insofern ein ursprünglich jüdisches Fest gewissermaßen christianisiert, wie auch das jüdische Pessach zum christlichen Ostern umgedeutet und neu inszeniert wird.
Nach der Apostelgeschichte fegte also ein Sturm über die versammelten Gläubigen – der heilige Geist – der es ihnen erlaubte zu reden und predigen, „wie der Geist es ihnen eingab“. Dieses so genannte Pfingstereignis gilt genau deshalb auch als Ausgangspunkt für das missionarische Wirken der Jünger. Es entspricht gewissermaßen dem letzten Auftrag des Auferstandenen an die Jünger am Ende des Matthäusevangeliums, wo es heißt (28,18-20): „Und Jesus trat zu ihnen und sprach: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden. Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe. Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
Der auferstandene Jesus gibt seinen Jüngern hier den entscheidenden Auftrag, nämlich zu missionieren und zu taufen – ein zentraler Punkt im Christentum, der es außerdem vom Judentum unterscheidet, wo es keine Missionstätigkeit gibt. Die in diesem Auftrag eingearbeitete Taufformel „… auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes“ ist tatsächlich auch der erste Beleg für die Trinität. Sie ist aus den Taufritualen der ersten Christen entstanden und wurde auf mehreren Synoden diskutiert und von der katholischen Kirche schließlich in der elften Synode von Toledo im Jahr 675 als Dogma festgelegt.
***
Sieht man von der Apokalypse des Johannes ab – je jünger die Texte des Neuen Testaments sind, desto weniger stark wird die Dringlichkeit einer Wiederkunft Christi: Paulus erwartet sie noch zu seiner Lebenszeit, im Markusevangelium (13,1ff) heißt es dann, dass die Zerstörung des Tempels den Zeitplan Gottes einläuten würde, als ein Zeichen dafür, dass die Parusie unmittelbar bevorstünde. Und Matthäus und Lukas war bereits klar, dass die Zerstörung des Tempels kein Zeichen für seine Rückkehr bedeutet, weil sie auch eine Generation später immer noch ausbleibt. Sie mussten also die Überlieferung noch ein bisschen verändern. Mit dem Johannesevangelium schlägt die Theologie schließlich in eine ganz andere Richtung um. Deshalb kann man sagen: Je mehr Zeit vergeht, desto mehr schwindet die Erwartung. Das „bald“ in „das Königreich wird bald kommen“, muss notwendig anders definiert werden. Lukas tut das mit dem Pfingstereignis in der Apostelgeschichte: Den Jüngern, die vielleicht auf ein befreites Israel gehofft hatten wird hier etwas anderes verheißen, nämlich die Erfüllung durch den Heiligen Geist – durch ihn wird sich das Reich Gottes auf Erden realisieren.
Jesus war überzeugt, das Gottesreich würde sich noch zu seinen Lebzeiten offenbaren – deshalb kümmerte er sich nicht um seine Nachfolge. Diese Frage stellt sich erst nach seinem Tod – wobei eine Institutionalisierung hin zur Kirche durchaus nicht in seinem Interesse war. Im Neuen Testament sagte er, der gute Hirte, deshalb zu Petrus, dass er Christi Herde weiden solle (Joh 21,15–19), „und nachdem er dies gesagt hatte, sagte er zu ihm: Folge mir!“ Petrus wird so – wenn schon nicht zu seinem Nachfolger – zum Stellvertreter Christi.
Seit Beginn an beruft sich die römisch-katholische Kirche auf den Heiligen Petrus. Im Jerusalem der Jahre 30-40, unmittelbar nach der Kreuzigung, ist diese Geschichte allerdings unvorstellbar: Zwar wird auch hier Petrus als eine „Säule“ der Gemeinde genannt – aber die Bedeutung als Jesus` Nachfolger schreibt ihm nur das Matthäusevangelium zu, die anderen Evangelien schweigen diesbezüglich. Paulus schreibt in seinem zweiten Korintherbrief dann, dass Jesus nicht allein in Petrus, sondern auch in den Aposteln und deren Nachfolgern „Stellvertreter“ habe, die „an Christi statt“ (2. Kor 5,20), in persona Christi sein Amt ausüben. Mit ihm rücken also die Apostel als Gemeindeleiter in den Fokus – während die Apostelgeschichte nun einen ganz anderen Weg einschlägt und Jesus` Familie in den Vordergrund rückt, insbesondere dessen Bruder Jakobus. Aber hatte Jesus tatsächlich einen Bruder?
In den Evangelien gibt es zu Jesus` Familie unterschiedliche, sich auch widersprechende Aussagen. Laut Markus und Matthäus aber hatte Jesus Geschwister. Bei Markus fragen sich die Leute in Nazareth (6,3): „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria, der Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon, und leben nicht seine Schwestern hier bei uns?“ Und ähnlich heißt es bei Matthäus (13,55): „Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heisst seine Mutter nicht Maria, und sind nicht Jakobus, Josef, Simon und Judas seine Brüder? Und leben nicht alle seine Schwestern bei uns?“
Zum Problem für das christliche Bewusstsein werden die Geschwister Jesu erst in dem Augenblick, in dem Maria zur ewigen Jungfrau erklärt wird und die Doktrin von der wundersamen Empfängnis des Gottessohnes entsteht. Dass es aber so sein muss, dass eine „Jungfrau“ den Gottessohn gebärt – das hatte schon der erste große Prophet Jesaja vorhergesagt (7,14): „Die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären.“
Jahrhundertelang werden sich die Theologen nun mühen, das Unerklärliche zu erklären, dabei berichtet Markus, dessen Evangelium als das älteste gilt, überhaupt nichts davon, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde. Offensichtlich wusste er davon gar nichts. Die These von der lebenslangen Jungfräulichkeit konnte aber zum katholischen Dogma werden auf der Grundlage von anderen Texten aus dem 1. Jahrhundert, wo man mit der Jungfräulichkeit Marias wohl Jesus Geburt in das Davidische Umfeld platzieren wollte – deshalb auch der Versuch, Bethlehem als Geburtsort festzulegen, denn dem Alten Testament zufolge stammt David aus Bethlehem und auch der von den Juden erwartete Messias muss aus dem Haus David respektive aus Betlehem stammen.
Dass diese These aber einfach so übernommen wurde – das sagt viel über den theologischen Standpunkt zur Sexualität in der katholischen Kirche im 4. und 5. Jahrhundert aus, der Zeit also, in der die Doktrin formuliert wurde. So schreibt beispielsweise Augustinus (354-430) in seinen Bekenntnissen (Confessiones), dass die „Dünste aus dem Sumpf fleischlicher Begierde“ den „heiteren ruhigen Glanz der Liebe“ verfinstern und dass Schönheit nicht mit der „Lust dieser Augen meines Fleisches“, sondern nur „im Innersten“ wahrnehmbar sei. Darüber hinaus beschreibt er in seinem Gottesstaat (Civitas Dei) das Ideal einer beherrschbaren Sexualität, die dann von der Kirche als offizielle Sexualethik übernommen wurde: Schon im Paradies hätten Adam und Eva dem in der Genesis formulierten göttlichen Auftrag „Seid fruchtbar und vermehrt euch“ gehorchen müssen, doch erst mit dem Sündenfall sei die Begierde, die Lust, geweckt worden. Bis dahin erfolgte der Geschlechtsverkehr leidenschaftslos, und das männliche Glied „würde das Zeugungsfeld besät haben gerade so wie der Bauer die Saat ins Feld sät“. Entsprechend sei er in der Ehe legitim, weil die Menschen dort zeugen, ohne die „beschämende Wollust“ gekannt zu haben, denn auch die „Schamglieder“ wären mehr vom „Willen“ als von der „Lust“ beherrscht worden.
Das Maria Jesus unbefleckt empfängt ist die eine Sache, dass sie aber ewig Jungfrau bleibt – das ist eine spätere Entwicklung. Es gibt verschiedene theologische Ansätze, zumindest die Möglichkeit einer jungfräulichen Geburt einzuräumen. So hat man zum Beispiel darauf verwiesen, dass die Formulierung im Markusevangelium (6,3), Jesus sei ein „Sohn von Maria“ auch darauf hinweisen könnte, dass der Vater von Jesus unbekannt war, da zu jener Zeit die Leute gewöhnlich als die Söhne ihrer Väter bezeichnet wurden („Ben …“). Das ist eine andere These zum Verwandtschaftsgrad zwischen Jakobus und Jesus, nämlich dass Jesus das uneheliche Kind Marias sei. Nach dieser Legende ist Jesus Sohn eines römischen Soldaten namens Panthera.
Ende des 2. Jahrhunderts ist das so genannte Protevangelium des Jakobus (das womöglich ursprünglich Mariä Geburt hieß) entstanden, wo angedeutet wird, dass Josef Witwer gewesen sei und – als er Maria kennenlernte – bereits Kinder gehabt habe, die dann zu Jesus Halbgeschwistern wurden und nicht zu Kindern Marias.
Eine weitere Lesart hat sich gegen Ende des 4. Jahrhunderts durch den Heiligen Hieronymus (347-420) entwickelt, der die Bibelexegese stark geprägt hat: Er glaubt, die Brüder Jesus seien die Kinder einer anderen Maria, Jakobus also der Vetter von Jesus. Das ist zwar kaum glaubhaft – trotzdem blieb er es in der Überzeugung der Katholiken bis heute. Man kann das damit erklären, dass die Evangelien zwar auf Griechisch verfasst, aber zutiefst von einer semitischen Kultur geprägt sind. Und im Hebräischen meint „Bruder“ angeblich nicht unweigerlich eine biologische Verwandtschaft, sondern nur: „naher Verwandter“, wie eben der Vetter.
Für den Historiker allerdings gibt es keinen Grund, den Begriff „Bruder“ anders zu interpretieren, als im herkömmlichen Sinne. Denn im Griechischen gibt es für Vetter ein eigenes Wort. Außerdem bestätigt auch Paulus, das Jakobus der „Bruder des Herrn“ sei. Hätte er von einem Vetter sprechen wollen, hätte er dafür wohl auch das entsprechende Wort verwendet. Man muss also davon ausgehen, dass diese Brüder wirklich (biologische) Brüder waren und nicht nur im weiteren Sinne verwandt. Und das bestätigt im weiteren Sinne auch Jakobus` Zugehörigkeit zum Judentum.
***
Die ältesten Papyrusrollen des Neuen Testaments befinden sich Genf, London und Dublin. In einer der ältesten Versionen des Korintherbriefes zählt Paulus alle auf (1. Kor. 15,5-8), denen Jesus als Auferstandener erschienen ist – und unter ihnen war auch Jakobus. Keine andere Stelle im Neuen Testament verweist darauf, nur diese Stelle in Paulus` Korintherbrief. Das zeigt, dass Jakobus bei den Evangelisten keine bedeutende Rolle zugesprochen wird, das heißt Jakobus wird in den später geschriebenen Evangelien nicht weiter erwähnt. Ein paar Jahrzehnte zuvor allerdings ist er bei Paulus, auch im Brief an die Galater (1,19), noch extrem wichtig. Und auch in der Apostelgeschichte des Lukas taucht Jakobus auf – und zwar als eine der herausragenden Figuren der ersten Gemeinde in Jerusalem, die er in der Anfangszeit leitet.
Die Urgemeinde ist kurz nach Jesus Tod, noch zu Lebzeiten von Jakobus, Petrus und den Jüngern, von der Hoffnung getragen, dass das Reich Gottes, das heißt ein von der römischen Besatzungsmacht befreites irdisches Reich, unmittelbar bevorstehen würde. Aber alle streiten sie darüber, wem in dieser neuen Weltordnung Bedeutung zukommen sollte – es ging um die höchsten Ämter. Dass die Rolle des Jakobus in den Evangelien verschwiegen, in der Apostelgeschichte hingegen so betont wird, zeugt jedenfalls von den Machtkämpfen innerhalb der Gemeinde Jesu zu dieser Zeit.
Folgt man der Apostelgeschichte – das wird in den Evangelien nicht gesagt – versammelt sich die christliche Gemeinde Jerusalems schon bald nach Jesus` Tod um Jakobus. Seine Herrschaft beginnt Lukas zufolge dabei zeitlich mit dem plötzlichen Verschwinden von Petrus, dem ersten Leiter der Gemeinde. Es bleibt unklar ob durch Tod oder Exil – fest steht nur, dass Petrus zuvor, in den beiden ersten Jahrzehnten nach Jesus` Tod – dafür sprechen mehrere Texte –, das Oberhaupt der Gemeinde war. Warum er aber verschwindet, bleibt offen, das heißt in der Apostelgeschichte (12,1-16) wird plötzlich sein Ende erzählt: er sei verhaftet worden und in einem Gefängnis, aus dem er von einem Engel befreit wird, dann „ging (er) hinaus und begab sich an einen anderen Ort“. Das kann bedeuten, dass er fortan unablässig reist – oder er aber gestorben ist. Auf jeden Fall taucht er in Jerusalem nicht mehr auf – und damit ist dann auch der Weg frei für Jakobus: Er wird nun zum Oberhaupt der Jerusalemer Gemeinde, also gewissermaßen zu deren Bischof.
Jakobus sollte die Gemeinde bis zu seiner Ermordung im Jahr 62 leiten – und wird in dieser Zeit mitunter sogar „Bischof der Bischöfe“ genannt, womit er über Petrus stünde. Der Apostelgeschichte zufolge tritt er so gewissermaßen eine Art dynastische Nachfolge Jesu an – letztlich jedoch haben sich dann doch die Apostel durchgesetzt, das heißt das demokratische System der Wahl des Oberhaupts, was sich im Fall des römischen Papstes auch bis heute erhalten hat. Adolf Holl bemerkt in diesem Zusammenhang, dass damit auch beachtliche gesellschaftliche Kräfte freigesetzt wurden: Wie schon Jesus durch sein Evangelium der Nächstenliebe „das Mehrheitsgesetz der sozialen Hierarchie“ durcheinander geworfen hat, so habe sich mit der Wahl des Papstes auch in der kirchlichen Hierarchie des Mittelalters „erstmals ein Prinzip durchgesetzt, das in anderen Kulturen bisher praktisch überhaupt nicht vorzufinden war: der soziale Aufstieg aufgrund persönlicher Leistung“, wobei dieses Prinzip schon früh durch Korruption aufgeweicht wurde.
***
Nach dem Ausbleiben der Apokalypse muss sich die Gemeinde in Jerusalem umorganisieren. Zu den Machtkämpfen zwischen Jakobus und den Aposteln auf Führungsebene kommen nun auch die ersten Spannungen und Konflikte innerhalb der Urgemeinde: Obwohl Lukas in der Apostelgeschichte – die erst ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen verfasst wurde, aber die einzige Quelle zur Situation in der Jerusalemer Gemeinde ist – grundsätzlich versucht, eine friedvolle Stimmung zu zeichnen, wird nun plötzlich doch von Auseinandersetzungen berichtet. Lukas schreibt (6,1): „In diesen Tagen aber, als die Jünger zahlreicher wurden, kam es dazu, dass die Hellenisten unter ihnen gegen die Hebräer aufbegehrten …“
Die Hebräer sind wohl die Apostel mit aramäischem Hintergrund, während die Hellenisten von der griechischen Kultur geprägt sind. Jerusalem war zur Zeit der Kreuzigung von Jesus eine jüdisch-hellenistische Stadt: 40 Prozent der Ossuarieninschriften (insgesamt sind 280 erhalten) sind in griechischer Sprache. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung hatte Griechisch als Muttersprache – es handelte sich bei ihnen größtenteils um Rückkehrer aus der Diaspora in die Heilige Stadt, die sich zum neuen Glauben bekehrt haben.
Womöglich kam es zwischen beiden Gruppen zu Konflikten aufgrund sprachlicher Unterschiede, die dazu führten, dass man zwei verschiedene Gottesdienste abhalten musste, was entsprechend auch zu zwei verschiedenen Gottesdienstgemeinden führte. Doch die kulturelle Kluft verbirgt die Sicht auf andere Gegensätze zwischen den beiden ungleichen Netzwerken: Wie Lukas berichtet (6,1), begehren die Hellenisten deshalb auf, „weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung vernachlässigt wurden“. Es ging also um den sozialen Dienst der Urkirche – und der Vorwurf der Hellenisten an die Apostel war insofern ganz praktischer Natur: sie sollten sich weniger um die „Verkündigung des Wortes Gottes“ und mehr um die praktischen Belange der Gemeinde kümmern. Aus diesem Grund wurden nun sieben Vertreter der hellenistischen Gemeinde, unter ihnen Stephanus, von den Aposteln als Diakone eingesetzt: Sie sollten sich fortan um eine gerechte Verteilung der Lebensmittel kümmern – wie das heute von der Diakonie verrichtet wird.
Schon bald jedoch wirkten diese Diakone nicht mehr nur innerhalb der Gemeinde, sondern in der weiteren Umgebung auch als Evangelisten (Apg. 8,26-40). Stephanus jedenfalls wird von den Aposteln zunächst als Diakon eingesetzt, beginnt dann aber – wie die Apostel – als Prediger des Evangeliums außerhalb der Gemeinde tätig zu werden: Er tritt als christlicher Propagandist in den Diaspora-Synagogen in Jerusalem auf – und das stößt natürlich auf Widerstand seitens der jüdischen Priester dort. Schon bald eskaliert der Konflikt zwischen den Juden und den frühen Christen.
Die Synagoge in Jerusalem ging immer mehr auf Abstand zur christlichen Gemeinde. Sie wollte nicht, dass die Christen mit den Juden gleichgestellt wurden und das ihnen der gleiche Sonderstatus zukäme, den das Judentum als religio licita („erlaubte Religion“) im Römischen Reich genoss. Und es ist durchaus vorstellbar, dass es zu Denunziationen durch Mitglieder der Synagoge kam, die von dieser Vereinbarung profitierten. Jedenfalls wird Stephanus verleumdet und es kommt zur Anklage gegen ihn – die an jene gegen Jesus im Markusevangelium (14,58) anschließt, das heißt Lukas übernimmt diese Anklage nun in der Apostelgeschichte: Offenbar hat auch Stephanus unzulässige Kritik am Tempelkult geübt. Der Vorwurf in der Apostelgeschichte diesbezüglich lautet (6,13): „Dieser Mensch hört nicht auf, Reden zu führen gegen diesen heiligen Ort und gegen das Gesetz. Wir haben nämlich gehört, wie er gesagt hat: Dieser Jesus von Nazaret wird diese Stätte zerstören und die Bräuche ändern, die Mose uns überliefert hat.“ Stephanus diskutiert demzufolge mit den Juden über den Tempel und das Mosaische Gesetz – und setzt nun zu einer langen Verteidigungsrede an, die darin mündet, dass der von einem „vor Zorn rasenden und mit den Zähnen knirschenden“ jüdischen Mob gesteinigt wird (Apg. 7,54-59).
Die Steinigung von Stephanus soll um das Jahr 40 stattgefunden haben – und gesteinigt wurde laut dem jüdischen Historiker Flavius Josephus im Jahr 62 auch Jakobus. Der galt zunächst eigentlich als streng gläubiger Jude, einer, der sich an die Gesetze Mose und die Thora hielt. Allerdings wollte der Gang der Geschichte damals, dass von den Gesetzen Mose abgerückt wird. Das tat Jakobus wohl auch, dennoch wurde er als Oberhaupt der Gemeinde in Jerusalem, die anfangs die christliche Welt dominierte, zunehmend wie ein Fossil als anachronistische Figur wahrgenommen. Außerdem gewann die Kirche von Rom immer mehr Einfluss – und ihr Schutzpatron war insbesondere auch Petrus. Schließlich hat er posthum seine Identität komplett eingebüßt, als man aus dem Bruder Jesu seinen Vetter machte – und er also zu einem Opfer der fortschreitenden Ablösung vom Judentum wurde, die die Kirche vollzog.
Trotz des schleichenden Machtverlusts innerhalb der frühchristlichen Gemeinde soll Jakobus auf betreiben des letzten Hohepriesters des Zweiten Tempels, Ananus ben Ananus, der in ihm einen potentiellen Konkurrenten gesehen habe, hingerichtet worden sein. Seither ist er unter dem Namen „Jakobus der Gerechte“ bekannt, das heißt: dem Recht treu ergeben, als einer, der die religiösen Regeln strikt einhält – ein Asket. Die christliche Überlieferung integriert später auch einen Brief von ihm in den Kanon des Neuen Testaments, während sie sich ansonsten paradoxerweise darum bemüht, die Erinnerung an Jakobus vergessen zu machen.
Das ist bei Stephanus anders – aus dem gewissermaßen eine Kopie von Jesus gemacht wird, nicht allein was die Tempelkritik anbelangt. Denn auch der Tod des Stephanus wird zu einer Wiederholung der Leidensgeschichte Jesu gemacht, und zwar durch die beiden Sätze: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (7,60), was eine Analogie von Jesus` „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ ist, und mit „nimm meinen Geist auf“ (7,59), was Jesus` „Ich gebe meinen Geist in deine Hände“ entspricht. In der Apostelgeschichte wird das Martyrium des Stephanus, die Steinigung, insofern zu einer Wiederholung der Passionsgeschichte. Das läßt Jesus im Nachhinein als ersten Märtyrer erscheinen, während Stephanus das erste christliche Martyrium zugestanden wird – im Grunde aber das zweite. Die Bedingungen des Christentums werden so von der lukas`schen Theologie jedoch auf der Grundlage einer Legende entwickelt – was schließlich zu gravierenden theologischen Differenzen zwischen Hellenisten und Hebräern führt, das heißt, dass die Hellenisten in Jerusalem versuchen die Figur des Jesus mit Hilfe von Stephanus` Martyrium für sich in Beschlag zu nehmen, endet in einem ersten Bruch innerhalb der frühchristlichen Bewegung.
Nach der Steinigung des Stephanus kommt es aber nicht nur zu einem theologischen Bruch innerhalb des Urchristentums, sondern auch zu einem großen Schlag gegen die Gemeinde in Jerusalem insgesamt. In der Apostelgeschichte schreibt Lukas (8,1) in diesem Zusammenhang: „An jenem Tag nun kam eine grosse Verfolgung über die Gemeinde in Jerusalem. Alle wurden versprengt über das ganze Land, über Judäa und Samaria, nur die Apostel nicht.“
Eine Verfolgung der christlichen Gemeinde konnte nur von den Priestern oder den Pharisäern ausgehen – also von der jüdischen Seite. Es handelt sich hier also um eine Christenverfolgung seitens der Juden von Jerusalem. Es ist die erste große Verfolgung (Nero war wohl derjenige, der die Christen erstmals systematisch verfolgen ließ), der die Urgemeinde ausgesetzt ist – und vor allem die griechischsprachigen Frühchristen zerstreuen sich nun im gesamten Römischen Reich. Seltsamerweise sind es die Apostel, die bleiben, obwohl doch vernünftigerweise sie zuerst hätten fliehen müssen. So jedoch gewähren sie, die der Thora verbundenen Juden-Christen, die beständige Fortdauer des Christentums in der Heiligen Stadt.
Die Situation in Jerusalem beruhigt sich dann in der Folge – während die vertriebenen frühen Christen für die Verbreitung des Christentums in der Diaspora sorgen werden. Sie ziehen nach Judäa und Samaria, wie es heißt, aber auch nach Rom und Antiochia in Syrien, wo Markus in der Zeit um das Jahr 70 vermutlich sein Evangelium schreibt, insbesondere an nicht-jüdische Christen gerichtet. In Antiochia entsteht zwanzig Jahre später auch das Matthäusevangelium, das dem Judentum am nächsten steht. Lukas verfasst sein Evangelium zur selben Zeit, aber womöglich in Rom. Jedenfalls lässt er dort die Missionsreise von Paulus enden und schreibt in diesem Zusammenhang von „Wir“ – als ob er persönlich mit ihm unterwegs gewesen wäre. Das zuletzt erschienene Evangelium stammt von Johannes und ist um das Jahr 100 in Ephesos entstanden. Auch er schreibt, wie die Synoptiker, in griechisch mit aramäischem Einschlag und spricht von einem „Augenzeugenbericht“. Es waren deshalb womöglich Jünger, die seinen Lebensbericht aufzeichneten.
Egal, wohin die ersten Christen ins Exil gingen – überall beginnen sie nun ihre Missionsarbeit. Zunächst dürften das noch ungläubige Juden sein, die sie zum Evangelium bekehren, rasch aber breitet sich die Missionierung aus und sprengt damit den traditionell ausschließlich jüdischen Rahmen. Die nun zum Christentum Bekehrten waren mehrheitlich so genannte Proselyten, also bekehrte Heiden. In diesem Zusammenhang nun tritt in der Apostelgeschichte auch erstmals Paulus prominent in Erscheinung.
***
Paulus wird vermutlich um das Jahr 5 im syrischen Tarsus geboren (das heute in der Türkei liegt), und zwar als Jude. Sein Vater gibt ihm den hebräischen Namen Saul (lateinisch Saulus) – nach dem ersten biblischen König Israels. Doch er bekommt wohl schon bei der Geburt noch einen weiteren Namen – und zwar den römischen: Paulus. Denn er ist zwar Jude, aber von Geburt an auch römischer Bürger. Aus Saulus wird insofern also nie ein Paulus – er ist schon von Geburt an Beides.
Paulus spricht Griechisch, die Weltsprache seiner Zeit, und wird streng nach der Heiligen Schrift, der Thora, erzogen, dem jüdischen Gesetz: 613 Vorschriften gibt es in den fünf Büchern Mose – genau 248 Gebote und 365 Verbote. Paulus lernt sie alle, verinnerlicht sie: Das Gesetz ist für ihn gewissermaßen die Norm des Lebens – wie auch für die anderen Pharisäer, denen er sich anschließt. Sie sind eine besonders fromme jüdische Bewegung, deren Anhänger strenger als andere nach dem Gesetz leben und die Reinheitsvorschriften, die eigentlich nur für die Priester im Tempel gelten, selbst auch einhalten wollen.
Wie viele andere Juden hofft Paulus auf den Messias, einen von Gott „Gesalbten“, der das Volk Israel aus der Knechtschaft befreit. Die Propheten haben ihn angekündigt, diesen Nachfolger des Königs David aus Betlehem. Obwohl er ihm nie begegnet – Paulus ist etwa 30 Jahre alt, als Jesus stirbt – muss es ihm als strenggläubigem Juden geradezu absurd vorgekommen sein, dass ausgerechnet ein Gekreuzigter der Messias sein soll. Er hält das wohl für eine Anmaßung – jedenfalls wird er in dieser Zeit zu einem strenggläubigen „Christenverfolger“, wie er später selbst in seinen Briefen schreibt.
Dann allerdings ändert sich sein Leben plötzlich dramatisch: auf dem Weg nach Damaskus umstrahlt ihn völlig unvermittelt ein Licht – in der Apostelgeschichte heißt es dazu (Apg. 9,1–19): „Als er unterwegs war, geschah es, dass er in die Nähe von Damaskus kam, und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht vom Himmel; er stützte zu Boden und hörte eine Stimme zu ihm sagen: Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Er solle in die Stadt gehen, dort werde ihm gesagt, was er tun solle. Es ist das so genannte Damaskuserlebnis – der Augenblick, in dem er vom Saulus zum Paulus wird, vom fanatischen Christenverfolger zu einem an Christus glaubenden „Apostel der Völker“, wie er selbst sagt. Allerdings schreibt er in seinen Briefen ansonsten merkwürdig wenig über diese Berufung, nur, dass er „Jesus unseren Herrn“ gesehen habe (1. Kor. 15,8-9): „Zuallerletzt aber ist er auch mir erschienen, mir, der Missgeburt. Ich bin nämlich der geringste [„Paulus“ heißt „der Geringste“] unter den Aposteln, der es nicht wert ist, Apostel [„Gesandter“, „Bote“] genannt zu werden, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe.“
Paulus verstand sich aufgrund dieser Vision als einen Kraft göttlicher Offenbarung auserwählten Apostel, obwohl er als einziger dieser Apostel Jesus selbst nie persönlich begegnet ist. Die Auszeichnung „Apostel“ wurde bislang nur jenen zuteil, die Jesus kata sarca kannten (Gal. 4,23), also Jesus als Gestalt von Fleisch und Blut. Paulus verweigert sich dieser Hierarchie – und fühlt sich dabei in keinster Weise den Jüngern Jesu unterlegen: Als letztem sei der Auferstandene auch ihm erschienen, so sei er berufen worden (Gal. 1,1). Durch die mystische Begegnung mit dem Auferstandenen (1. Kor. 9 und 15) fiele ihm eine mindestens gleichwertige Autorität zu.
Jedenfalls wird er nach seiner Wandlung nicht nur Missionar, sondern empfindet sich auch als die unmittelbar von Gott eingesetzte Autorität für die Verkündigung des Evangeliums. In Jerusalem hingegen, so berichtet es Lukas in der Apostelgeschichte (9,26) „fürchteten ihn (alle) und glaubten (ihm) nicht, dass er sein Jünger sei“. Für Paulus jedoch war Jesus auch kein Vorbild, wie er es für die Jünger ist, die versuchen ihm nachzuleben. Er interessierte sich nicht dafür, wie sich Jesus verhielt oder was er dachte und sagte, sondern wichtiger war ihm, welche Rolle Jesus im göttlichen Plan einnahm: Für ihn war unwichtig, ob Jesus „einer der unseren“ war, wie noch der jüdische Historiker Jospeh Klausner in „Jesus von Nazareth“ (1930) betont, sondern für ihn zählte vor allem, dass Christus für unsere Sünden starb und am dritten Tag von den Toten auferstanden ist und das er kam, um die Erlösung zu bringen – er wurde von Gott gesandt, um die Menschheit zu erlösen.
Nur vier Mal verweist Paulus auf die Worte des Herrn (1. Kor. 7,10; 9,14; 11,23-25 und 1. Thess. 4,16-17) und in allen Fällen stimmen sie nicht genau mit dem überein, was man aus den Evangelien kennt. Man hat daraus abgeleitet, dass Paulus über keine Biographie von Jesus verfügte, aber er interessierte sich schlichtweg nicht für das irdische Leben Jesu – das sei nicht der Kern der christlichen Botschaft (wenn er sagt, dass seine Gegner einen „anderen Jesus predigen“, wie in 2. Kor. 11,4, bezieht er sich vermutlich genau darauf). Mit der Zeit entwickelte Paulus so seine eigene Theologie – immateriell und körperlos gewissermaßen – und allein sie war ihm wichtig.
Tatsächlich hat sich das, was man heute orthodoxes Christentum nennt, erst im Laufe der folgenden Jahrhunderte herauskristallisiert. Aber dieses Christentum ist ein fundamental von Paulus geprägtes Christentum – eines, das insbesondere Abstand nimmt von der jüdischen Gestalt Jesu, der historischen Figur, die es bei Paulus nicht gibt. Jesus wird hier zum Christus, also zu einer göttlichen Persönlichkeit, die nicht mehr viel mit der Gestalt des Propheten und des Messias zu tun hat. Schon mit Paulus setzt insofern also jener Vergottungsprozess ein, den Adolf Holl als konstitutiv für die weitere Entwicklung des Christentums bezeichnet hat – nicht erst mit Johannes, dem Verfasser des vierten Evangeliums.
Noch allerdings hat sich diese neue Religion nicht durchgesetzt, und so trifft Paulus ein paar Jahre nach der Erscheinung, wohl im Jahr 36, einige Leute in Jerusalem, die Jesus noch persönlich kennengelernt haben. Unter ihnen ist auch die wichtigste Person des frühen Christentums: Petrus. Er bleibt 15 Tage bei ihm und Jakobus in Jerusalem, bevor er weiter wandert nach Antiochia, der vielleicht bedeutendsten Gemeinde außerhalb des Heiligen Landes zu dieser Zeit. In Antiochia – das nur Juden offen steht – leben zu der Zeit etwa 500.000 Menschen – es ist die erste Stadt, in der die Bezeichnung „Christen“ („Christianoi“) aufkommt, und auch Paulus sollte dort seine eigentliche religiöse Sozialisation erfahren. Auch wenn Paulus später als maßgeblich für die Entwicklung des Christentums angesehen wird – erfiunden hat er es insofern nicht.
Von den Christianoi in Antiochia wird Paulus als Apostel anerkannt und schließlich von der Gemeinde als Missionar ausgeschickt – und zwar zu den Nicht-Juden, den heidnischen Römern, die nach ihrer Bekehrung Proselyten genannt werden. Er selbst deutet seine Stellung als eine Art Pendant zur Rolle des Petrus als Apostel der Juden: als Missionar der nicht-jüdischen Völker des Mittelmeerraumes, als Apostel der Nichtjuden. In dieser Funktion wird Paulus seine unverwechselbare Identität entfalten – und dabei in 20 Jahren etwa 16.000 Kilometer zurück legen.
Das Römische Reich verfügt zu dieser Zeit über etwa 300.000 Soldaten, die den brüchigen Frieden im Reich sichern – das macht Paulus ausgedehnten Missionsreisen überhaupt erst möglich. Er missioniert und gründet Gemeinden in Philippi und Thessaloniki, Galatien und Korinth, einige Zeit bleibt er in Ephesos. Überall stiftet Paulus ein Bewusstsein einer neuen christlichen Identität – insbesondere auch durch seine Briefe an die Gemeinden: 7 authentische haben sich im Neuen Testament erhalten (Römer, 1. und 2. Korinther, Galater, Philipper, 1. Thessalonicher, Philemon) – sie sind somit die ältesten Worte, die von einem Christen erhalten sind, geschrieben wohl in den Jahren 50 bis 56.
Das letzte, was man von Paulus aus seinen Briefen erfährt, ist, dass er nach einem weiteren Besuch Jerusalems nach Rom aufbrechen will, um von dort nach Spanien weiterzureisen. Doch dazu kommt es nicht mehr, den er wird vorher im Tempel verhaftet und dem römischen Statthalter in Caesarea vorgeführt. Dreimal tritt in den folgenden zwei Jahren der Hohe Rat der Juden vor römische Instanzen und fordert den Tod des Paulus, doch stets ohne Erfolg. Nach römischem Recht hat er kein Verbrechen begangen – und so wollten die Römer ihn denn auch eigentlich aus der Haft entlassen, schließlich aber wird er, aufgrund seines römischen Bürgerrechts, nach Rom an das kaiserliche Gericht überstellt.
Die Apostelgeschichte berichtet nun von einem zweijährigen Arrest – dann bricht sie jedoch ab. Wann und wie Paulus umkommt, bleibt unklar, es wird aber ein Märtyrertod wie bei Petrus vermutet: Einer Version zufolge soll Paulus um das Jahr 64 nach mit dem Schwert geköpft worden sein. Das wäre zumindest nicht unrealistisch, denn tatsächlich ließ Nero nach dem Brand von Rom die für schuldig befundenen Christen so umbringen. Nach einer anderen Version soll er jedoch – gemeinsam mit Petrus – gekreuzigt worden sein.
Obwohl beide, Paulus und Petrus, als gemeinsame Gründer der Gemeinde Roms gelten, wird doch eher Petrus allein zugeschrieben, erster Bischof Roms gewesen zu sein. Auf ihn berufen sich jedenfalls die Päpste. Paulus aber ist es, der das Christentum in der Welt verbreitet – es mit einem universalen Anspruch verbindet. Und genau diese Universalität reklamiert dann auch die Kirche für sich, indem sie sich den Titel „katholisch“ gibt, der aus dem griechischen „katholikós“ entlehnt wurde und eben „umfassend“, „das Ganze betreffend“ bedeutet.
***
Paulus` Briefe gehören zu den wichtigsten Texten des Neuen Testaments – allein schon deshalb, weil Paulus ein Zeitgenosse von Petrus und den Aposteln war. Von den 14 Briefen aber, die in katholischen Fassungen des Neuen Testaments Paulus zugeschrieben werden, stammen jedoch nicht alle auch von ihm selbst: Mindestens einer wurde von jemand anderem geschrieben, nämlich der Brief an die Hebräer – den protestantische Ausgaben nicht zu Paulus` Briefen zählen. Hinzu kommen weitere drei Briefe, die fast allgemeingültig nicht Paulus zugeschrieben werden: die Briefe und Pastoralbriefe an Titus und Timotheus. Bleiben also noch zehn, auf die man sich mehr oder weniger umstritten geeinigt hat, das heißt, eigentlich sind es nur sieben, die einstimmig als authentische Briefe von Paulus anerkannt sind: die Briefe an die Römer und Galater, der erste an die Thessaloniker, die beiden an die Korinther, an die Phillipper und an Philemon.
Paulus` Briefe entstanden fast eine Generation vor den Evangelien – sie sind die ältesten Zeugnisse über die Ursprünge des Christentums, die uns zur Verfügung stehen. Aber Paulus stirbt noch, bevor im Jahr 66 in der Provinz Judäa der Aufstand der Juden gegen die Römer ausbricht. Die Revolte wird von Kaiser Titus (39-81) niedergeschlagen. Im Jahre 70 fällt Jerusalem – und der Zweite Tempel wird in Brand gesteckt und zerstört. Etwa 20 oder 30 Jahre später wird dann der Text geschrieben, der von den Anfängen der christlichen Bewegung berichtet und es erstmals auch erlaubt, Paulus` Briefe und seine Missionarstätigkeit in einen chronologischen Rahmen zu stellen – die Apostelgeschichte. Sie bezieht sich ab dem 9. Kapitel immer wieder auf Paulus, widerspricht ihm in ihren Aussagen allerdings auch immer wieder. Es ist sogar möglich, dass der Verfasser der Apostelgeschichte gar nichts von Paulus` Briefen wusste oder wissen wollte.
Lukas, der als Verfasser der Apostelgeschichte gilt, schreibt insbesondere auch deshalb, weil er ein lineares Bild der Ursprünge geben will – das dann die Geschichte des Christentums während der nächsten 2.000 Jahre bestimmen wird, als seine Schriften einen kanonischen Status erhalten. Dabei schreibt Lukas nicht – wie der römische Historiker Publius Cornelius Tacitus (58-120) es eigentlich für einen Geschichtsschreiber fordert – ohne Tendenz, das heißt Lukas schreibt klar mit einer christlichen Gesinnung.
Die heute bekannte Apostelgeschichte existiert in einer Fassung, in der sie ab etwa 160 verwendet wird. Es erstaunt aber, dass der Bericht von Lukas über die Ursprünge der christlichen Bewegung in der Gemeinde in Rom zwischen 140 und 170 unbekannt ist, obwohl sie zweifelsfrei auch schon lange vorher geschrieben wurde und nicht erst jetzt quasi erfunden wurde. Man ist sich ziemlich sicher, dass Lukas sie nach seinem Evangelium verfasste, zwischen den Jahren 80 und 90.
Lukas hat beide Texte – das Evangelium und die Apostelgeschichte – ursprünglich wohl als ein Werk verstanden, als Geschichte von Jesus und jene von Paulus, und bestätigt damit, dass die christliche Identität sich nicht jenseits von Jesus und Paulus begreifen lässt. Lukas ist der Erste, der das so sagt – einen handschriftlichen Beweis aber dafür, dass die beiden Texte ursprünglich ein gemeinsames Werk bildeten, gibt es nicht. Und insofern auch keinen direkten Beweis dafür, dass Lukas auch tatsächlich der Autor der Apostelgeschichte ist, auch wenn es daran nur wenig Zweifel gibt und die zahlreichen sprachlichen Übereinstimmungen zwischen den beiden Texten nur ein weiteres deutliches Indiz dafür sind.
Der historische Stellenwert der Apostelgeschichte ist zwiespältig, das heißt, einerseits ist sie, neben den Briefen, die einzige Quelle für die Ursprünge des Christentums, andererseits aber stimmen die Informationen leider nicht immer mit den Zeugnissen überein, die Paulus in seinen Briefen über sich selbst gibt. Die Briefe von Paulus wiederum genießen innerhalb des Neuen Testaments die größte Glaubwürdigkeit – aufgrund ihres Alters und der Nähe zu den ersten Gemeinden. Aber die Bedeutung von Paulus tritt erst später zutage, als seine Briefe im 2. Jahrhundert zusammengestellt und verbreitet werden und sich die Frage der Trennung zwischen Judentum und Christentum stellt. Und in diesem Zusammenhang tritt dann insbesondere ihr theologischer Wert in den Vordergrund. Wenn es aber darum geht, ob es sich hierbei um ein historisches Dokument handelt oder um Literatur ist die Antwort eindeutig: Alles, was im Neuen Testament zu lesen ist, wurde für die Veröffentlichung überarbeitet. Deshalb lässt sich nie mit Gewissheit sagen, was nun stimmt und was nicht – und deshalb sind die Briefe von Paulus genauso wie die Apostelgeschichte auch keine historische Chronik der Ereignisse, sondern eben Literatur.
Für Lukas ist Paulus insbesondere deshalb wichtig, weil er an ihm die Kontinuität in der Entwicklung des Christentums von den jüdischen Ursprüngen in Jerusalem bis nach Rom, das Jerusalem dann als Zentrum des Christentums ablöst, nachzeichnen kann. Wichtig ist für ihn dabei die Geschichte der christlichen Mission: von der ersten Predigt Petrus` in Jerusalem bis zu Paulus` Predigt in Rom, wo er mit der Bemerkung schließt, dass die Juden „nicht wollen, dass ich sie heile. So sei euch denn kundgetan: Das Rettende, das von Gott kommt, ist zu den anderen Völkern gesandt worden, und die werden hören“ (Apg. 28,27-28). Paulus besiegelt hier gewissermaßen, dass das Christentum endgültig universell geworden ist und seinem jüdischen Ursprung entwachsen. Gleichwohl aber ist Lukas als Verfasser der Apostelgeschichte auch klar, dass das frühe Christentum am Übergang zum 2. Jahrhundert doch auch davon geprägt ist, dass es innerhalb der jüdischen Welt nicht wirklich erfolgreich ist – und das insbesondere auch aus dem einfachen Grund, weil Jesus am Kreuz gestorben ist.
***
Mit Abstand betrachtet, ist Paulus jemand, über den wir aufgrund der Quellenlage am meisten Informationen haben – so erscheint er uns zwangsläufig bedeutsamer als andere wichtige Personen der urchristlichen Bewegung, Diese Bedeutung aber wird in der Apostelgeschichte noch zusätzlich unterstrichen. Lukas bemächtigt sich hier der Figur des Paulus und inszeniert sie gewissermaßen als die zentrale Figur der Urkirche beziehungsweise der christlichen Bewegung in ihrem Ursprung. Das liegt auch daran, dass er – bei aller Widersprüchlichkeit zwischen Apostelgeschichte und Briefen – ein Schema, das Paulus selbst in der Rhetorik seiner Briefen etabliert hat, unhinterfragt übernimmt: es ist das Schema des Vorher – Nachher, und es ist genau dieses Schwarz – Weiß, das die ganze Geschichte historisch unglaubwürdiger, aber literarisch vielleicht interessanter macht. Am deutlichsten wird das beim Damaskuserlebnis beziehungsweise bei der Verwandlung vom Saulus zum Paulus, die ja gewissermaßen der dramatische Kern der ganzen Biographie ist: Allen Erwartungen zum Trotz erwähnt Paulus nämlich an keiner Stelle seiner Briefe diese Episode, in der er dem Judentum abgeschworen hätte. Im Galaterbrief wird die Berufung des Paulus beziehungsweise die Bekehrung des Saulus nur ganz kurz erwähnt – während Lukas das Damaskuserlebnis und die damit verbundene Wandlung vom Saulus zum Paulus unhinterfragt in der Apostelgeschichte übernimmt und gleich drei Mal erwähnt (9,1-9; 22,6ff und 26,12ff), jedes Mal mit nur geringfügigen Abweichungen.
Indem er selbst sich als Sünder darstellt, konnte Paulus Gottes Werk – das sein Leben grundlegend veränderte – noch mehr herausheben. Dass er selbst sich jedoch gar nicht als Sünder begriff, sondern als gläubigen Juden – das verrät er in einer Stelle in seinem Galaterbrief (1,13-14), wo er schreibt: „Ihr habt ja gehört, wie ich einst als Jude gelebt habe. Unerbittlich verfolgte ich die Gemeinde Gottes und suchte sie zu vernichten. Und in meiner Treue zum Judentum war ich vielen Altersgenossen in meinem Volk weit voraus, habe ich mich doch mit ganz besonderem Eifer für die Überlieferungen meiner Väter eingesetzt.“ Als Sünder bezeichnet Pauls sich erst in dem Moment, wo er selbst zum Christ wird – und schließlich macht auch die vorchristliche Tradition aus ihm diesen Sünder.
***
Etwa 13 Jahre nach den ersten Treffen mit Petrus, wohl im Jahr 48, wandert Paulus erneut nach Jerusalem, um ein grundlegendes Problem zu klären: Paulus war den christlichen Gemeinden in Judäa unbekannt und betrieb seine Mission außerhalb Palästinas in der jüdischen Diaspora – und das wohl ausgesprochen erfolgreich, wenn man Lukas glauben darf. Gehör findet er dabei zunehmend auch unter den Proselyten – das aber ist vor allem unter den aramäischen Juden in Jerusalem, vor allem den anderen Aposteln, nicht unumstritten. Nach einem Zwischenfall unter jüdischen und nicht-jüdischen Christen in Antiochia beruft Jakobus, der die Jerusalemer Gemeinde zu dieser Zeit leitet, deshalb eine Versammlung der Gemeindevertreter Antiochias ein, zu der auch Paulus als Gesandter der Kirche Antiochias kommt. Im 15. Kapitel der Apostelgeschichte und im 2. Kapitel des Galaterbriefs wird über diese „Apostelkonzil“ (manchmal auch „Apostelkonvent“) genannte Versammlung berichtet: Es soll die grundlegende Frage geklärt werden, ob jemand Jude sein und das Mosaische Gesetz wahren muss, bevor er Christ werden kann, oder ob auch unbeschnittene Heiden getauft werden dürfen?
Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen – die in der syrischen Stadt Antiochia ihren Ausgang nahmen und, ähnlich wie schon beim Konflikt zwischen Stephanus und den Aposteln, eine ganz praktische Ursache hatten: In Antiochia lebte eine große jüdische Gemeinde, und man stellte sich die Frage, wie das Nebeneinander von statten gehen sollte. Die Synagoge besteht in dieser Anfangszeit des Christentums aus drei Kreisen: zunächst der engere Kreis der rechtmäßigen Juden (von Geburt an), um sie die Proselyten (die von einer nicht-jüdischen, also heidnischen Mutter abstammen, aber den jüdischen Glauben samt aller Bräuche ganz angenommen haben) und schließlich die Gottesfürchtigen am Rand.
Nun gibt es damals noch gar keine Messe – die Gemeinde aber ist hier noch eine Tischgemeinschaft: Es gibt das eucharistische Mahl, das gemeinsam geteilt wird. Gefeiert wird das Mahl des Herrn – und genau an diesem Punkt entsteht nun das Problem: Juden und Nicht-Juden zusammen in einer Tischgemeinschaft – das ist unmöglich. Denn entweder es sind alle Juden und essen koscher, oder keiner ist Jude. Beides gleichzeitig geht nicht. Man behalf sich damals mit einem erstes Speisegesetz, wie es bereits im Alten Testament formuliert wurde, das man als eine Art Mindeststandard anwendete – das grundsätzliche Problem aber war damit nicht gelöst.
Lukas beschreibt in der Apostelgeschichte den zentralen Punkt um den gerungen wurde: Jesus ist Jude, auch seine Jünger sind Juden – ihr Horizont scheint sich ohnehin ganz auf Israel zu beschränken – und in der Apostelgeschichte (10,42) werden ihm die Wort in Mund gelegt, dass die Apostel nur zum Volk Israel sprechen sollten. Nach Jesus` Tod jedoch gehen seine Anhänger, zunächst vorsichtig, dann aber immer entschlossener, auch auf die Heiden zu – gemäß dem Evangelium von Matthäus (28,19), wonach die Jünger „zu allen Völkern“, also (auch) den Heiden, gehen sollen und so gewissermaßen eine universelle Mission haben.
Insbesondere für die Apostel stellt sich die Frage, warum man sich nicht damit begnügte, den Glauben an Jesus nur unter den Juden zu verbreiten? Weshalb predigte man auch zu den Nicht-Juden? Schließlich werde schon beim Propheten Jesaja im Alten Testament genau darüber gesprochen: er hat die Erwartung, dass sich am Ende der Zeiten alle Völker sammeln und Israel anschließen werden – nun aber wird die Missionierung der Heiden bereits vor dem Zeitenende von Leuten wie Paulus vorangetrieben.
Es gab unzweifelhaft seit jeher eine jüdische Missionierung – nur so läßt sich die Tatsache erklären, dass bereits um das Jahr 50 etwa 10 Prozent der Bevölkerung des römischen Reiches Juden waren. Es gab also etwa 6 Millionen gläubige Juden und das Judentum war insofern auch keine geschlossene Gesellschaft mehr. Und das trotz Beschneidungsitual, das sicher einige Männer davon abgehalten hat – und sie wiederum sehr empfänglich gemacht haben dürfte, für eine Verkündigung, die diesen Akt nicht mehr notwendig machte.
Aber je mehr Heiden nun in die christliche Gemeinde eintraten, umso ausgeprägter wurden die nicht-jüdischen Merkmale der Gemeinde – desto mehr entfernte sich das Christentum vom Judentum. Diese Spaltung verursachte letztlich die Auseinandersetzungen, die dann insbesondere auch in einen Konflikt zwischen Paulus und den Aposteln gipfeln. Für Paulus ist die Spaltung durch das jüdische Gesetz verursacht, die den Nicht-Juden gewissermaßen aufgezwungen werden – weshalb er die Idee eines neuen Weges vertritt: und das ist der Glaube.
Paulus begeht erst in dem Augenblick auf, wo das Gesetz als Voraussetzung für das Heil betrachtet wird. Er akzeptiert die Thora unter dem Aspekt, dass sie das Verhalten ethisch reglementiert – aber sie dürfe keine Bedeutung als Weg zum Heil haben. Im Zentrum seiner Argumentation steht die Erlöserbotschaft: Wenn im Tod Jesu eine Heilsdimension liegt, so gibt es keinen anderen Weg zur Erlösung als durch den Glauben. Paulus predigte damit etwas völlig Neues, nämlich dass Jesus Gottes Sohn, und nicht nur der Erlöser des jüdischen Volkes, sei. Er war der Erlöser aller, er ist für die Erlösung der ganzen Menschheit gestorben. Und die Heiden können insofern auch gerettet werden, ohne zwangsläufig Juden werden zu müssen – sie müssen nur an Jesus als den wahren Sohn Gottes, den Erlöser, glauben. Dadurch erlangten sie die Gnade Gottes als Voraussetzung für ein Leben in Freiheit – und die Hoffnung auf ein ewiges Leben in der Herrlichkeit Gottes, Amen.
Paulus gilt als Gründer des nicht-jüdischen Christentums – einem, das sich nicht mehr an das jüdische Gesetz hält und das dann ab Mitte des 2. Jahrhunderts seine spezifische Ausrichtung erfahren wird. Es ist allerdings unklar, ob Paulus selbst an ein solches, unabhängiges Christentum glaubte, das heißt er hat im eigenen Verständnis vermutlich eher das Judentum innerhalb der römischen Welt umgestaltet, als dass er bewusst eine neue Religion gegründet hätte. Er selbst hat jedenfalls nie mit dem Judentum gebrochen – und lebte vermutlich sogar nach dem jüdischen Gesetz, das er doch so deutlich verurteilt, weil es einem doch die Freiheit nimmt, wie er im Römerbrief schreibt. Erst durch Jesus` Tod sei man „frei geworden vom Gesetz“ (Röm. 7,6) und so gilt (1. Kor. 6,12): „Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“
Aber selbst wenn Paulus das Judentum nur reformieren wollte, so hat seine Theologie doch zu einem Bruch zwischen Juden und Christen geführt, der mit Stephanus begann und nun endgültig besiegelt wird. In seinem ersten Korintherbrief (1. Kor. 6,19) schreibt Paulus davon, dass der „Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist“. Wenn jeder Einzelne Gott beziehungsweise den göttlichen Geist bereits in sich trägt, braucht es den Schöpfergott des Alten Testaments nicht mehr. Und wenn der Leib der Ort ist, an dem Gott weilt – dann ist es nicht der Tempel in Jerusalem. Entsprechend ist es auch, anders als im traditionellen Judentum, gar nicht mehr so wichtig in Jerusalem zu sein – und es geht insofern auch gar nicht mehr um die Herkunft oder Abstammung. Stattdessen wird für Paulus gewissermaßen die ganze Welt zum Heiligen Land.
Es kommt zum Bruch in der christlichen Bewegung – und das Apostelkonzil endet damit, dass das Missionsgebiet aufgeteilt wird. Tatsächlich wird das Apostolat des Paulus anerkannt, das heißt er soll künftig für die Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden, die Unbeschnittenen, zuständig sein. So beginnt mit ihm gewissermaßen die Missionierung der Welt – und gegen Ende des 3. Jahrhunderts werden bereits 10 Prozent der Bevölkerung des Römischen Reiches Christen sein, bevor sich das Christentum bis ins 7. Jahrhundert als offizielle Religon ganz durchsetzen wird.
***
Paulus hat keine religiösen Abhandlungen verfasst, seine Theologie entwickelt sich in seinen Briefen an die Gemeinden. Ungefähr ein Jahr nach dem Apostelkonvent in Jerusalem schreibt er seinen ersten Brief – an die Thessaloniker. Man hält diesen Brief für den ältesten Text des Neuen Testaments und datiert ihn auf das Jahr 50 oder 51. Der Brief gilt als authentisch, enthält aber drei Verse, in denen sich ein so heftiger Angriff gegen die Juden äußert, dass sie auch ein Jahrhundert später geschrieben worden sein konnten – zu einem Zeitpunkt, als die Spaltung zwischen Judentum und Christentum dann bereits vollzogen war. Nur so erklärt so erklärt sich vielleicht die Stelle (Thess. 2,14), in der es gegen die Juden gerichtet heißt: „Denn ihr, liebe Brüder und Schwestern, seid dem Beispiel der Gemeinden Gottes gefolgt – der christlichen Gemeinden in Judäa –, da ihr von euren Mitbürgern dasselbe erlitten habt wie sie von den Juden. Diese haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten, sie haben uns verfolgt, sie missfallen Gott und sind allen Menschen feind, weil sie uns daran hindern, den Völkern das Wort zu verkündigen, das ihnen Rettung brächte; so machen sie unentwegt das Mass ihrer Sünden voll. Aber schon ist der Zorn über sie gekommen in seinem vollen Ausmass.“
Diese antisemitische Passage, wonach die christlichen Prediger daran gehindert würden zu missionieren, passt in ihrer Polemik weder in den Brief, noch zu Paulus. Gleichwohl stützte sich jahrhundertelang die theologische Begründung des christlichen Antisemitismus insbesondere auch auf diese drei Verse aus dem Brief des Paulus an die Thessaloniker. Sie sind zwar schon in den ältesten Handschriften zu lesen, trotzdem lässt sich der Verdacht nicht vermeiden, dass diese eine im Nachhinein vollzogene Interpolation ist, dass man sie also später hinzugefügt hat.
Ein Indiz dafür, das diese Passage anachronistisch ist und erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts verfasst wurde, ist der darin erwähnte Zorn Gottes, der schon über die Juden gekommen sei. Denn eigentlich wird der ohnehin nur alttestamentarisch bedeutsame Zorn Gottes in der christlichen Auslegung mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 in Verbindung gebracht. Und wenn dem so ist – dann kann diese Passage nicht von Paulus stammen, der zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben ist. Unabhängig davon aber zeigt diese Passage noch einmal in aller Deutlichkeit an, dass die Trennung zwischen Judentum und Christentum inzwischen endgültig erfolgte.
***
Paulus ist sicherlich die entscheidende Figur in der Frühphase der Konsolidierung des Glaubens und der sich darauf entwickelnden Kirche – noch mehr als Petrus, die erste „Säule“ der christlichen Gemeinde in Jerusalem nach der Kreuzigung Jesu. Dabei war Paulus nicht der erste, der christliche Gemeinden gegründet hat. Bereits vor ihm sorgten griechisch sprechende Urchristen für die Verbreitung des Glaubens – und auch die Gemeinde in Rom existierte bereits als Paulus und Petrus dorthin gingen. Paulus ist insofern also keineswegs der Gründer der christlichen Bewegung, aber sicherlich eine ihrer wichtigsten Figuren.
Gleichwohl steht auch Paulus in der Nachfolge einer hellenistischen Tradition – er führt die Mission des Christentums in Antiochia weiter, in der er seine christlich-religiöse Sozialisation erfahren hatte. Er ist also nicht der erste, was Lukas als Verfasser der Apostelgeschichte übrigens auch betont. Antiochia ist in der Frühphase wichtig, daneben aber gibt es auch noch andere Strömungen im Christentum dieser Zeit – am bedeutendsten ist vielleicht das noch von Petrus geprägte jüdische Christentum in Jerusalem, das Paulus in Antiochien vorausgeht, sowie das johanneische Christenum auf der Grundlage des vierten Evangeliums und schließlich auch die Sprüche Jesu, die in den Evangelien von Lukas und Matthäus zusammengestellt wurden.
Paulus gehört insofern zu einer umfassenderen Konstellation des Christentums in ihrem Ursprung. Dass seine Theologie dann aber doch sinnbildlich für die christliche Identität wird, vor allem im lateinischen, das heißt dem römisch-katholischen Christentum, liegt vor allem daran, dass man ihm im Nachhinein eine beträchtliche Bedeutung zugesprochen hat – als man im 2. Jahrhundert das Vorhaben entwickelte, nach und nach einen verbindlichen Korpus an christlichen Texten zu erstellen. Dieser Kanon sollte dann die Glaubensregeln der Kirche bilden.
Ein erster solcher Korpus wird von Marcion (85-160) erwähnt, der Anfang des 2. Jahrhunderts als Theologe in Rom wirkt – bevor er sich mit der christlichen Gemeinde überwirft und nach der Exkommunikation seine eigene Kirche gründet, die sich verbreitet und dann drei Jahrhunderte lang bedeutsam bleiben wird.
Marcion durchbricht womöglich als erster jene Synthese, die Polykarp von Smyrna (81-167) mit der Herausgabe der Evangelien um das Jahr 120 bewirkt hat, indem er Paulus` Briefe zusammen mit dem Evangelium von Lukas – und zwar nur mit diesem Evangelium, obwohl zu dem Zeitpunkt auch schon die anderen bekannt waren. Aber er war der Meinung, nur Lukas und Paulus hätten die Botschaft Jesu verstanden – die Apostel hingegen gar nicht. Das war revolutionär, denn bis dahin war noch niemand so weit gegangen, zu behaupten, Jesus` Botschaft sei nur in bestimmten Texten zu finden.
Bis zu Marcion entstammte die Matrix des Christentums und die Elemente ihrer Offenbarung allein aus der hebräischen Bibel, das heißt dem Alten Testament. Das gesamte Konzept von Messias, Erlösung und Auferstehung ist durch und durch jüdisch. Neben der Verständigung auf einen Kanon christlicher Texte musste nun also auch der Status dieser jüdischen Überlieferung neu bestimmt werden. Marcion denkt dabei schon paulinisch, das heißt er geht von einem Gegensatz zwischen dem alttestamentarischen Gesetz (Thora) und dem neuen Evangelium, der „frohen Botschaft“, aus: Die Vorstellung eines zornigen, strafenden Gottes ist ihm zufolge unvereinbar mit den neuen Anschauungen – das seien Offenbarungen eines Gottes, der als liebender, barmherziger Gott handelt, wie Jesus ihn beschreibt – aber eben auch Paulus.
Bereits bei Marcion wird Paulus zur wichtigsten Figur für das Christentum nach Jesus – und dann in der Folge für manche so bedeutend, dass er eher als Jesus selbst als eigentlicher Begründer des Christentums gilt. Als Paulus` Briefe ab dem Ende des 2. Jahrhunderts für das Neue Testament zusammengestellt werden, ist er jedenfalls nicht mehr nur der Gründer der paulinischen Mission, sondern der Gründer des Christentums insgesamt. Dabei darf man seine Briefe nicht so lesen, als hätte Paulus selbst sie auch so geschrieben – denn eigentlich liest man sie nur in der Form, wie sie dann auf der Grundlage verschiedener Vorlagen des Korpus im 2. Jahrhundert abgeschrieben wurden. Marcion selbst erwähnt einen Korpus von 10 Briefen – und da er davon ausging, dass die Briefe des Paulus verfälscht seien, hat er sie auch in seinem Sinne überarbeitet herausgegeben, das heißt Marcion erstellte einen von allen Bezügen zum Judentum bereinigten Kanon von Paulus – und auch von Lukas.
Nach dem Fall des Tempels im Jahre 70, als die Zahl der Nicht-Juden in den Gemeinden wächst, wird die Beziehung zum Judaismus problematisch. Für eine Minderheit bleibt der christliche Glaube eine von vielen Formen des Judentums, für eine Mehrheit aber wird das Christentum zu einer neuen Religion, die definitiv mit dem Judentum bricht – was Marcion allen voran als erster vertritt. Er glaubte dabei, dass bereits Paulus eine neue, eigenständige Religion gepredigt, die sich völlig vom Judentum unterschied – so wie sich Gott und Vater von Jesus völlig von dem Gott des Judentums unterscheidet.
Die Anhänger von Jesus im 2. Jahrhundert sollten ihm zufolge also die Texte des Alten Testaments vergessen, denn mit Jesus sei eine ganz neue Religion entstanden – und so schuf er gewissermaßen das erste Neue Testament, das heißt Marcion definierte den Begriff „Neues Testament“ , das er dem Alten Testament gegenüberstellt. Indem Marcion aber den Gott der Christen vom Alten Testament ablöst begeht er eine Häresie – und das ist auch der Grund dafür, dass er von der Kirche ausgeschlossen wird.
Was seine definitive Ablehnung des Judentums betraf, so war Marcion der radikalste oder konsequenteste christliche Theologe des 2. Jahrhunderts. Seine Theorien werden die Entwicklung des Christentums entscheidend beeinflussen. Im Gegensatz zu Marcion aber wird die Kirche sich als eigentliche Erbin der jüdischen Überlieferung definieren, das heißt das Neue Testament in der Fassung des Marcion wurde von ihr nie autorisiert, schließlich ging es hier auch um eine kulturelle Definition des Christentums, ein gemeinsames Bewusstsein und eine doktrinelle Autorität, die von den Bischöfen ausgehen sollte.
Zum ersten veröffentlichten christlichen Kanon, der um das Jahr 160 herausgegeben wurde, gehören die Briefe von Paulus dann aber genauso wie die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Apokalypse. Andere Texte allerdings bleiben bis ins 4. Jahrhundert umstritten – Apokryphe, nicht-kanonische Schriften, machen zu der Zeit etwa das Zehnfache des Neuen Testaments aus. Das Neue Testament in seiner heutigen Form wurde dann aber tatsächlich erst im Jahr 1545 vom Trentiner Konzil angenommen. Erst damit war der Kanon offiziell abgeschlossen.
***
Im Jahr 66 bricht in Judäa, Galiläa und Samaria der jüdische Aufstand gegen Rom aus. Im Jahre 70 setzen die Truppen des Titus den Tempel in Jerusalem in Brand und plündern ihn. Das Judentum muss sich nun, da sie um ihren heiligsten Ort gebracht wurde, völlig neu konstituieren. So entstand das rabbinische Judentum, wie man es heute kennt – und das Christentum. In den beiden folgenden Jahrzehnten zwischen 70 und 90 folgten dann die großen Auseinandersetzungen zwischen Juden- und Christentum. Diese Konflikte endeten damit, dass die christlichen Gemeinden die Synagoge verlassen haben oder aus ihr ausgeschlossen wurden.
Der definitive Bruch findet jedoch erst mit dem zweiten jüdische Aufstand in den Jahren von 132 bis 135 statt, den der jüdische Militärführer Bar Kochba („Sternensohn“) anführt – und an dem die Christen dann überhaupt nicht mehr teilnehmen, offenbar begehren sie schon keine irdische Macht mehr. In dem Aufstand kommt zum letzten Mal eine jüdisch-messianisch Hoffnung zum Ausdruck – er wird aber niedergeschlagen und endete damit, dass der römische Kaiser Hadrian den Tempel nun vollständig schleifen ließ und den Juden verbot, dauerhaft in Jerusalem zu leben. Das hatte Folgen für das rabbinische Judentum, verlagert sich die jüdische geistige Elite nun doch nach Galiläa und Mesopotamien. Dort wird sich ein neu organisierendes Judentum um die Pharisäer herausbilden, zu dem das Christentum dann nicht mehr gehören wird. Die Christen aber – sie dürften den gescheiterten Aufstand ohnehin als das Ende des auserwählten Volkes gedeutet haben.
Historisch gesehen müssen sich die Christen jetzt selbst organisieren – auch wenn man sich das Christentum ohne das Judentum als Fundament noch gar nicht vorstellen kann. So dreht sich denn nun auch die sich entfaltende Auseinandersetzung der Christen mit dem Judaismus um die legitime Interpretation des gemeinsamen Erbes, des Alten Testaments: Um das Jahr 150 tritt in Rom Justin der Märtyrer (100-165), ein frühchristlicher Apologet und einer der ersten Kirchenväter, in Erscheinung. Er stammt aus Nablus und ist einer der ersten christlichen Theologen nicht-jüdischer Herkunft. Justin schreibt, also wollte er im Namen der Christen die Römer überzeugen, das Christentum endlich als unabhängige Religion anzuerkennen – und den Juden gegenüber bemerkt er, dass sie die Thora nicht richtig interpretierten. So argumentiert Justin anhand einer Übersetzung der Septuaginta, dass im 96. Psalm stünde: „… verkündet bei den Völkern“, was man aber auch mit „Heiden“ übersetzen könne. Außerdem unterstellte er den Juden, bei dem Satz „der Herr ist König vom Baum“ die Worte „vom Baum“ gestrichen zu haben – wobei er schon mit einer falschen Übersetzung in der Hand argumentiert. Schließlich hieße es bei Jesaja außerdem auch nicht, dass die „Jungfrau“ ein Kind empfangen würde, sondern nur „junge Frau“ et cetera. Justin behauptet also, die Thora sei gefälscht – und will so die Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum begründen.
Gegenüber einer allegorischen Bibelauslegung wie im Judaismus praktiziert Justin eine typologische Auslegung: alle Texte des Alten Testaments werden von ihm auf Christus bezogen, zumindest aber auf die christliche Wirklichkeit – die sakramentalen und kirchlichen Sachverhalte. Das ist gewissermaßen schon bei Paulus so, wenn er zum Beispiel im ersten Korintherbrief die Ereignisse im Buch Exodus so interpretiert, als ob darin bereits die christliche Taufe „unserer Väter“ beschrieben werde, wenn es heißt, dass sie „unter der Wolke waren, alle durch das Meer hindurchzogen und alle in der Wolke und im Meer auf Mose getauft wurden“ (1. Kor. 10,1). zufolge sei das christliche Sakrament der Taufe hier bereits im Alten Testament angekündigt ist. Das gelte auch für die Eucharistie (10,3): „Alle assen dieselbe geistliche Speise, und alle tranken denselben geistlichen Trank“, er fügte nur das Wort „geistig“ hinzu.
So beginnt schon mit Paulus eine Auslegung des Alten Testaments, die dann bei Justin zur radikal-typologischen Bibelauslegung wird, wo alles auf Christus bezogen wird – und das Judentum insofern auf Nichts gründe. Justin reklamiert so gewissermaßen das gesamte jüdische Erbe für sich und behauptet, dass das jüdische Erbe vollkommen im Christentum aufgegangen sei. Aber Justin – und nach ihm auch Irenäus (140-202), Bischof von Lyon und ebenfalls einer der Kirchenväter – vertreten hier eine äußerst heikle Position, indem sie sich einerseits gegen Marcion stellen, in erster Linie aber natürlich gegen die Juden.
Justins bekannteste Schrift ist sicherlich „Dialog mit Tryphon“, wo er einen Rabbiner namens Tryphon erfindet und ein fiktives Streitgespräch inszeniert, in dem das gerade entstehende Christentum mit dem Judentum konfrontiert wird. Er schreibt hier (43,1 und 2): „Wie nun der Anfang der Beschneidung mit Abraham, der Anfang des Sabbats, der Opfer, Gaben und Feste mit Moses gegeben war und – nach gegebenen Beweisen – der Grund dieser Verordnungen in der Hartherzigkeit eures Volkes lag, so fanden sie notwendig nach dem Willen des Vaters ihr Ende und Ziel in Christus, dem Sohne Gottes, der durch die Jungfrau aus dem Geschlechte Abrahams und dem Stamme Juda und David geboren war, und der – wie verkündet wurde und wie die Prophezeiungen darlegen – als ewiges Geschlecht und als Neuer Bund für die ganze Welt kommen sollte. Wir, die wir durch Christus zu Gott gelangt sind, haben nicht fleischliche Beschneidung erhalten, sondern eine geistige, welche Enoch und seinesgleichen beobachtet haben; da wir Sünder gewesen waren, haben wir sie in der Taufe durch Gottes Barmherzigkeit erhalten, wozu allen in gleicher Weise die Möglichkeit gegeben ist.“
Man hat es hie mit einer starken Neutralisierung der Alten Testaments zu tun: Durch Christus gehen wir auf direktem Wege zu Gott und brauchen das Alte Testament nicht mehr. Dass Justin – das orthodoxe Christentum insgesamt – aber dennoch daran festhält hat mehrere Gründe: Zunächst einmal ist das die erste Heilige Schrift. Ein weiterer Grund war sicherlich, dass neben andern auch die Marcionisten diesen Text ablehnten. Sie lenkten das Christentum in eine Richtung, der Justin nicht folgen wollte – und deshalb betont: das Alte Testament ist unser Text. Schließlich – und das war sich kein zu unterschätzender Grund – hielt man daran fest, weil es in der römischen Welt denjenigen, die den Status der Gesetzlichkeit des Christentums, den Status der religio licita (gesetzliche, zugelassene Religion) anstrebten, nur von nutzen ist, wenn man tiefverwurzelte, historische Bindungen nachweisen konnte. Denn für die Römer musste eine anerkannte Religion ihre historischen Wurzeln haben.
Für die römische Elite ist das Christentum zu dieser Zeit nichts als ein Aberglaube – der sich zum einen durch seine irrationale Natur charakterisiert, aber auch durch seine mangelnde Verankerung beziehungsweise fehlende Tradition. Anders als das Judentum hat es keine lange Geschichte – und wird auch nicht mit einem Land in Verbindung gebracht wie Judäa bei den Juden. Außerdem sind die Juden seit jeher Teil der Gesellschaft und mussten, aus Respekt vor ihrem Gott, auch nicht am Kaiserkult teilnehmen: Für die Römer ist die Religion Politik, es gibt keine Trennung zwischen Religion und Staat. Entsprechend auch ist die religiöse Geste auch immer schon eine politische Geste, das heißt die römische Religion ist eine Praxis mit genau festgelegten Ritualen, durch die eine Verbindung mit den Gottheiten hergestellt und deren Schutz erlangt wird. Aber es gibt keinen Inhalt, keinen Glauben.
Im 2. Jahrhundert stellten die Christen im Römischen Reich eine eigene Kategorie dar: Sie sind keine alte Stammesreligion – und darüber hinaus noch nicht einmal von ihrer alten Kultgemeinschaft, dem Judentum, abgefallen. Man kann davon ausgehen, dass die Römer das Christentum zunächst als eine Bewegung innerhalb des Judentums begriff. Dann allerdings wird diese Bewegung allmählich an ganz spezifischer Eigenständigkeit gewinnen. Das wird deutlich, wenn in Zusammenhang mit Nero von „Christen“ gesprochen wird und sich insofern ein Bewusstsein herausgebildet hat, dass sich eine eigene Gruppe gebildet hat.
Das Wort „Christen“ beziehungsweise „Christianus“ ist eine lateinische Wortbildung, bei dem an das griechische „Christ“ ein lateinisches Suffix gehängt wird. Das geschah in der römischen Zeit gegen Ende der Herrschaft von Caligula (37-41) und zu Anfang der Herrschaft von Claudius (41-54) und sollte die messianisierenden Juden bezeichnen, die ihren Impuls von einem gewissen „Christ“ bezogen. Messianismus aber unter dem Motto „Das Weltende steht bevor“ galt als kriminell, aufrührerisch – entsprechend war die Bezeichnung „Christianoi“ bereits für die Anhänger in Antiochien eine Bezeichnung für „Kriminelle“ (Apg. 11,26). Und dabei blieb es zunächst.
Justin und die Theologen des 2. Jahrhunderts befinden sich in einer konfliktträchtigen und paradoxen Situation: Sie erheben Anspruch auf das Erbe Israels, wollen ihren Nutzen daraus ziehen, und gehen in einer scharfen Polemik all die Juden an, die sich dem Christentum nicht anschließen wollen. Gleichwohl verweist diese Polemik darauf, dass der Abspaltungsprozess noch immer nicht wirklich abgeschlossen war – bis ins 4. Jahrhundert aber verschoben sich die Auseinandersetzungen der Christen dann zunächst sowieso mehr hin zu den Römern.
***
Vieles deutet darauf hin, dass sich das Christentum im 2. Jahrhundert allmählich im Römischen Reich verbreitete – von den Städten ausgehend auf das Ländliche. Zu Beginn des 3. Jahrhunderts gibt es im Mittelmeerraum wichtige Zentren des Christentums, vor allem im östlichen Raum: Jerusalem, Antiochien und eine beachtliche Zahl von Gemeinden (dann auch mit Bischöfen) in Kleinasien, Ephesos zum Beispiel. In Ägypten ist heute nur Alexandria bekannt, an der nordafrikanischen Mittelmeerküste gab es ansonsten aber auch noch eine bedeutende Niederlassung in Kathargo. Vereinzelte christliche Gemeinden gibt es auch in Spanien und Frankreich – das unumstrittene Zentrum des christlichen Glaubens aber ist zu dieser Zeit bereits Rom.
Überall im Römischen Reich stellten christliche Praktiken und das Bekenntnis zum Christentum seit Nero (54-68) einen Straftatbestand dar – allerdings sollte der Staat nach einer Weisung des späteren Kaisers Trajan (98-117) nicht allzu inquisatorisch sein, das heißt Rechtsstaatlichkeit und nicht Gewaltanwendung sollte das Auftreten der Institutionen bestimmen. So konnten die Beschuldigten ihre Unschuld einfach durch den Vollzug einer Opferhandlung beweisen. Die Behörden durften auch nur dann aktiv werden, wenn eine begründete Anzeige vorlag, wobei der Denunziant bei einer Falschanzeige vor Gericht sogar die Höchststrafe riskierte. Sein Schicksal lag somit in der Hand des Angeklagten – der seine Unschuld durch den einfachen Vollzug des Opfers beweisen konnte, jedenfalls sah man das Opfer als einen Akt der Solidarisierung mit der politischen Gemeinschaft – als ein Bekenntnis zum Imperium.
Trajan sah in den Christen offenbar weder eine ernsthafte Herausforderung der römischen Religion, noch eine den Staat zersetzende Kraft. Von einer von Märtyrern triefenden Opferungsgeschichte des Christentums kann ohnehin keine Rede sein: Dass die katholische Kirche erst im Konzil von Karthago (418) klären wird, welche Form der Busse man von den Verrätern abverlangen sollte, zeigt, dass die Sache offensichtlich nicht dringend war. Christen, die das Kultopfer hingegen verweigerten, erhielten sofort die Absolution, wie zum Beispiel Origenes (185-254), an dem Rom ein Exempel statuierte. Zwar überlebte Origenes die Folter, starb dann aber wohl an den Folgen. Insgesamt aber war die Zahl der Märtyrer wohl gering.
Nicht der römische Staat hatte Angst vor den Christen, sondern die christlichen Theologen zeigten sich beunruhigt durch die ungebrochene Attraktivität der traditionellen Religionspraktiken (auch die Apokalypse des Johannes, die oft als Indiz für eine Christenverfolgung gedeutet wurde, sollte wohl den inneren Zusammenhalt der Gemeinden stärken). Pedro Barceló bemerkt dazu in „Die Alte Welt“ (2019): „Die monotheistische Ausschließlichkeit des Christengottes konnte seine Anhänger nie von synkretistischen Ritualen abhalten, ebenso wenig, wie die bestehende Strafandrohung seitens des Staates die Ausbreitung des Christuskultes verhindert hatte.“
Anders als das Judentum war das Christentum aber eben keine alte Stammesreligion – und insofern hätte eine Anerkennung des Christentums auch eine neue Konzeption von Politik von den römischen Kaisern verlangt. Seit Augustus (63 v. Chr. – 14 n. Chr.) stellte der Kaiserkult eine bewährte Form der Kommunikation dar: Weil der römische Kaiser als Gott galt, gebührte ihm nach traditioneller Anschauung kultische Anbetung, womit das herrschende politische System stabilisiert wurde. Götterkult und Kaiserkult verschmolzen zum Staatskult. Ihrer Loyalität versicherten sich die Kaiser durch den Vollzug des Opferrituals.
Schließlich aber endete die Verfolgung der Christen ohnehin gänzlich nach dem grausigen Schicksal von Kaiser Valerian (253-260), dem nach einem gescheiterten Feldzug gegen die Sassaniden in Gefangenschaft die Haut abgezogen wurde. Frühchristlichen Autoren erschien das als eine gerechte Strafe Gottes für die Vergehen Valerians gegen die Christen, die er in den Jahren 257 und 258 verfolgen ließ. Dessen Sohn Gallienus stellte die Verfolgung jedenfalls ein – und einen Religionsfrieden her, der die nächsten vierzig Jahre anhalten sollte.
In dieser Phase konnte sich der christliche Glaube ungehindert ausbreiten, dann aber wuchs offenbar die Notwendigkeit, die Suche nach unverzichtbaren himmlischen Beschützern voranzutreiben, weshalb man ab dem Jahr 303 unter Diokletian (284-305) wieder begann, die Christen zur althergebrachten Reichsreligion zurückzuführen – und die Verfolgungsmaßnahmen in diesem Zusammenhang wieder verschärfte. Aber die Verfolgung brachte auch Märtyrer hervor – und damit wurden auch Vorbilder für die christliche Selbstbehauptung geliefert.
Der Begriff „Märtyerer“ kommt aus dem griechischen und bedeutet „Zeuge“, jemand, der sich für seine Sach opfert. Schon früh wurden Juden zu Märtyrern – und hier, in der hellenistischen Zeit, liegen auch die Wurzeln für das Märtyrertum. Im Judentum kannte man allerdings noch kein eigenes Wort für jemanden, der durch sein Opfer seinen Glauben bezeugt: Die Juden unterscheiden nicht zwischen Körper und Geist, das heißt sie leben in ihrem Leib, dem man nicht entkommen kann – wohingegen das Christentum nun von der Vorstellung lebt, dass Jesus auferstanden ist und auch nach seinem Tod weiterlebt.
Das Phänomen des freiwilligen Märtyrertodes geht wahrscheinlich auf Bischof Ignatius von Antiochia zurück: In einem seiner Briefe nach Rom, wo er um das Jahr 115 getötet wird, wird zumindest zum erstem Mal der Wert des Märtyrers als solcher gewürdigt (ohne dass er den Begriff Märtyrer verwendet hätte): Für ihn heißt Christ sein, Märtyrer sein – weil man dadurch Christus ähnlich ist. Im Standhalten der Qual demonstriert der Märtyrer die Überlegenheit Gottes über die menschliche Macht – in Wirklichkeit sei er dann der Bezwinger und nicht das Opfer.
Das Toleranzedikt des Galerius im Jahr 311, das auch von Konstantin (306-337) und Licinius (308-324) in Nikomedia und Mailand 313 bestätigt wurde, markiert dann aber schon bald das eigentliche Ende der Christenverfolgungen im Römischen Reich. Das Edikt wurde im Namen aller damals regierenden Kaiser herausgegeben und tolerierte die freie Religionsausübung, womit die Christen erstmals auch von der Verpflichtung zum Kaiserkult befreit waren.
Aufgrund der Verfolgungsedikte seiner Vorgänger musste Konstantin mit der Realität eines religiös geteilten Reiches umgehen, weshalb er gegenüber der heidnischen Bevölkerung auch weiterhin das Amt des Pontifex maximus versah – und der traditionelle Kaiserkult wurde auch weiterhin nicht verboten. Mit Konstantin setzte sich aber auch das Christentum im Römischen Reich durch – ohne schon zur offiziellen Staatsreligion zu werden. Und obwohl sie offiziell vom Kaiserkult befreit waren, gebührte dem zum Christentum neigenden Kaiser, aus christlicher Perspektive, Verehrung, weil er die christliche Gemeinde beschützte und den öffentlichen Vollzug des Gottesdienstes ermöglichte.
Man weiß nicht viel über die frühen christlichen Sakralräume – aber dass die in der Anfangszeit wirkenden Gemeindeleiter allmählich von einer hierarchisch gegliederten Klerikerschicht abgelöst werden, die schließlich auch das Bischofsamt durchsetzten. Ursprünglich spontan organisierte Gemeinden erhielten nun eine Neuregelung der Leitungsfunktionen und schließlich auch der Kirchenordnung. Dabei setzte sich auch eine um den Bischof kreisende Messliturgie durch, die das Gotteshaus neu strukturierte.
In der Zeit des Religionsfriedens nach Valerian verwandelte sich auch das Gotteshaus: die basilica (ursprünglich ein römisches Markt- und Gerichtsgebäude) wurde zum Prototypen des christlichen Kultraumes, auch im öffentlichen Raum. Die Begriffe Kirche (ekklesia), Basilika (basilica) oder Kathedrale (von der cathedra des Bischofs abgeleitet) sind Ergebnis einer historischen Entwicklung.
Mit der Machtübernahme Konstantins verschieben sich dann die religionspolitischen Koordinaten noch einmal: Christliche Basiliken wurden nun gestiftet, die Kirche von Abgaben und Steuern befreit. Mit Konstantin ersetzt dann das Kreuz in den neu errichteten Kirchengebäuden auch den alten Fisch als Symbol der Urkirche: „Fisch“ heißt auf griechisch „Ichthys“ – den Anfangsinitialien von: Iesous (Jesus) CHris (Christus) Teon (Gottes) HYios (Sohn) Soter (Erlöser). Die unter Konstantin erlassenen Gesetze räumten außerdem dem Klerus sehr weitreichende Privilegien ein – Häretiker aber verlieren ihre bürgerlichen Rechte.
Die häufige Präsenz des kaiserlichen Hofes in den Basiliken wertete diese auf und verlieh den Gottesdiensten zusätzlichen Glanz, dadurch aber ergab sich auch die Notwendigkeit, den Platz des Kaisers in der Kirche zu präzisieren: Eine sich stets verfeinernde Liturgie – womit auch der Klerus (insbesondere der Bischof) unverzichtbar wurde, wobei die Nutzung des christlichen Sakralraumes protokollarische und theologische Kriterien zugleich befolgte – sowie die Prachtentfaltung der Rituale und der Gotteshäuser verwandelten die ursprünglich bescheidenen Orte in Monumente der gesellschaftlichen Selbstdarstellung.
Schon bei den bereits christlich sozialisierten Nachfolgern Konstantins war ein Rückzug von der traditionellen Kultpraxis bei gleichzeitiger Intensivierung der kaiserlichen Präsenz bei den christlichen Feierlichkeiten wie Gottesdiensten, Bischofsysnoden oder Kircheneinweihungen zu beobachten, was eine gewisse Sogwirkung in der Bevölkerung erzeugte. Konstantin sah sich noch als Oberhaupt der Kirche – Gratian (375 bis 383) und Theodosius I. (379 bis 394) verzichten dann ganz auf das kaiserliche Oberpontifikat.
Mit sich der Göttlichkeit entsagenden christlichen Herrschern wie Konstantin II. (337-340) entstand bereits ein Problem im Hinblick auf die Beanspruchung der höchsten religiösen Autorität: Stand ein häretischer Kaiser höher als ein Kleriker? Mit dem Verlust der eigenen Göttlichkeit und der Verdrängung des Staatsoberhaupts aus dem Zentrum der Kultpolitik ging dem Kaiser nun ein weiteres beträchtliches Stück an Gestaltungspotential verloren. Schwindende Macht verringerte zudem die Notwendigkeit der Verehrung, bis sie schließlich kaum mehr eine Relevanz hatte.
Eine wesentliche Bedingung für die Ausbreitung des christlichen Glaubens hingegen war die straffe Organisation der Kirche. Die Institutionalisierung ist bereits um die Mitte des 3. Jahrhunderts beinahe abgeschlossen. So entstand eine für den Staat optimale Verwaltungsstruktur – die Bischöfe bildeten dabei seit der Regierungszeit von Konstantin eine Art Parallelmagistrat (das gute Aufstiegschancen bot, vor allem in Konstantinopel). Die Herausbildung einer anerkannten Hierarchie und die allmähliche Übernahme staatlicher Funktionen durch Bischöfe haben nicht nur zur Ausweitung des klerikalen Einflusses geführt, sondern auch die zunehmende Unentbehrlichkeit der kirchlichen Institutionen unter Beweise gestellt: Bischöfe werden, bedingt durch innere Krisen Roms, zu Stützen der Gesellschaft und Dienstleistungen wie Krankenpflege oder Armenfürsorge, die der Staat immer weniger erfüllen konnte, gelangten in die kirchliche Trägerschaft der Diakonie.
Trotz des Bedeutungsverlust des Kaiserkults hielt sich der christliche Glaube im öffentlichen Raum allerdings noch zurück und war noch eher im Privaten zu finden. Der Durchbruch zur religiösen Homogenisierung erfolgte dann jedoch mit Kaiser Theodosius (379-394). Unter Konstantin war das Christentum bereits eine zugelassene Religion, nun verwirklicht Thedosius die Christianisierung des Römisches Reiches, als er der Reichsbevölkerung den nicänischen Glauben vorschrieb: Theodosius war 394 der letzte Alleinherrscher des Römischen Gesamtreiches, aber bereits im Jahr 380 hat er mit dem so genannten Dreikaiseredikt „Cunctos populos“ in Thessaloniki (gemeinsam mit Gratian und Valentinian II.) die nominelle Religionsfreiheit des Christentums beendet und es zur offiziellen und einzigen Staatsreligion gemacht.
Fortan gingen Staat und Kirche getrennte Wege – ein in der Antike unbekannter Dualismus zwischen Staat und Kultgemeinde prägte von nun an die Geschicke der christianisierten Ökumene. Dass Theodosius außerdem auf den Ehrensitz des Kaiser im Altarbereich der Kirche verzichtete, ist der sichtbarste Beweise dafür, dass der Geistliche über den weltlichen Primatanspruch in Glaubens- und Kirchenfragen triumphierte: Der Kaiser ist vom Zentrum des Kultraumes gewichen – er wird nun selbst zum Gläubigen, und damit auch den seelsorgerischen Direktiven seines Bischofs unterstellt, dern nun auch gegenüber dem Kaiser alle episkopalen Vollmachten hatte.
Mit diesem Edikt allerdings erneuerte Theodosius auch die bereits von Konstantin erlassene Gesetzgebung gegen die Häretiker – was nun zu einer Mobilisierung der Christen führte, das heißt zu zahlreichen unkontrollierten Gewaltausbrüchen und Zerstörungen heidnischer Tempel, zum Beispiel im nordafrikanischen Karthago. Tatsächlich kennt die Antike ansonsten keine religiösen Konflikte – das bringen erst die Christen! Eines der ersten vermeintlich häretischen Opfer ist Pricillian (340-385) in Trier. Leitgedanke der von ihm gegründeten christlichen Bewegung ist das die Bemerkung von Paulus, wonach der eigene Leib ein „Tempel des Heiligen Geistes“ sei (1. Kor. 6,19) – und diesem Gedanken entsprechend befürwortete Pricillian eine strenge Askese, damit der Mensch Wohnung Gottes werden könne.
Darüber hinaus ist er für die Abschaffung der Sklaverei und Gleichstellung der Geschlechter, weshalb er auch Frauen als seine Anhänger aufnahm, wie die Katharer – und stellte sich damit gegen die Meinung der Kirche, zu deren Opfer er dann auch wurde: Gemeinsam mit einigen seiner Anhänger war er der erste Christ, der von anderen Christen wegen Ketzerei mit dem Tod bestraft wurde. Das Gebot der Nächstenliebe – offensichtlich gilt es nun nicht mehr. Der Nächste ist nur der, der dieselbe Linie verfolgt, ansonsten regiert Gewalt.
***
Von Rom endlich als Religion anerkannt, sind die Auseinandersetzung mit dem Judaismus und dem Judentum offensichtlich auch im 5. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen, als Justinian (482-565) als christlicher Kaiser den Thron von Byzanz bestiegen hatte. Zumindest in der gesellschaftlichen Wirklichkeit war das Problem noch aktuell. Die Tatsache, dass seine Rechtsprechung versuchte Christen und Juden zu trennen zeigt, dass dazu ein gesellschaftlicher Anlass bestand. Eine klare Trennung gab es wohl erst lange nach dieser Zeit – mit dem kulturellen Niedergang der mediterranen Städte und dem Beginn des Mittelalters. Aber ohne hier die Entwicklung vom Anti-Judaismus zum Antisemitismus nachzuzeichnen – ab jetzt wird die Geschichte des Christentums zur Schreckensgeschichte …
Historisch betrachtet sind die Beziehungen zwischen Christen und Juden über 2.000 Jahre lang problematisch, weil das Christentum aus dem Judentum hervorging und sich sehr früh – spätestens mit Justin – als das „wahre Israel“ („Verus Israel“) begriff. Damit wurde den Juden in gewisser Weise die Identität gestohlen – die religiöse Identität und ihre Rolle als Vermittler der Offenbarung.
Der Anfang des christlichen Antisemitismus wiederum, das ist für Amos Oz klar, liegt in der Geschichte vom Verrat des Judas. Doch Oz hat eine Theorie – denn Schmuel Asch, Student der Theologie und Protagonist seines Romans „Judas“ (2016), glaubt, „dass Judas von ganzem Herzen an Jesus geglaubt und ihn niemals verraten hat“. Als Jesus Zweifel hat und fragt: „Soll ich nach Jerusalem gehen? Soll ich lieber nicht nach Jerusalem gehen? Vielleicht werden sie mich in Jerusalem umbringen“, da glaubte Schmuel Asch stärker an Jesus, als er selbst an sich: „In der Provinz“, sagt Schmuel zu Jesus, „in irgendwelchen galiläischen Dörfern, Wunder zu vollbringen, bringt nichts. In Galiläa finden ständig Dutzende von Wundern statt – damals wie heute. (…) Wenn du aber die Welt retten willst, wenn du die Welt wirklich erlösen willst, musst du nach Jerusalem gehen.“
Judas wusste, wie man eine Botschaft wirkungsvoll präsentiert, schreibt Oz: „Du musst in Jerusalem gekreuzigt werden – und zwar nicht an einem ganz normalen Tag, sondern … am Vorabend des Pessachfestes, wenn Hundertausende Pilger die Straßen von Jerusalem füllen … Vor den Augen all dieser Menschen musst du dich kreuzigen lassen. Sie alle werden sehen, wie du heil und unversehrt vom Kreuz steigst. Dann werden sie auf die Knie fallen und du wirst sagen, liebt einander, und damit beginnt das Himmelreich. (…) Die Menschen werden einander lieben und das Himmelreich wird beginnen.“
Aber dann, am Kreuz, ruft Jesus „die verzweifeltsten Wort aus, die je gesprochen wurden: Eli, Eli, lama sabachthani? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (…) Er sagt nicht `Vater´ oder `mein Vater´, er sagt `mein Gott´. So oft hat Jesus Gott als Vater angesprochen – doch nicht jetzt. Jetzt ruft er: Gott, o mein Gott, warum hast du mich verlassen? Er stirbt am Kreuz, und Judas erkennt (…) Er hat das Licht seines Lebens getötet. Er hat seinen Gott getötet. Er hat den Menschen getötet, den er auf Erden am meisten geliebt hat.“ Im felsenfesten Glauben. Aus Liebe.