Essay

aus der kälte

Zeitgleich mit der Machtübernahme von Wladimir Putin in Russland hat sich die Neue Rechte in Deutschland formiert. Sie eint der Kampf gegen das demokratische Europa und sein Wertesystem …

„Russland ist ein Rätsel, umgeben von einem Mysterium, das in einem Geheimnis steckt.“

Winston Churchill in einer Radioansprache (1939)

„Wir Nationalisten glauben an keine Wahrheiten. Wir glauben an keine allgemeine Moral. Wir glauben an keine Menschheit als ein Kollektivwesen mit zentralem Gewissen und einheitlichem Recht. Wir glauben vielmehr an ein schärferes Bedingtsein von Wahrheit, Recht und Moral durch Zeit, Raum und Blut. Wir glauben an den Wert des Besonderen.“

Ernst Jünger, „Das Sonderrecht des Nationalismus“, in: Publizistik (1926)

„Einige Nationalisten sind nicht weit von der Schizophrenie entfernt, denn sie leben recht glücklich inmitten ihrer Träume von Macht und Eroberung, die keinerlei Verbindung zur physischen Welt besitzen. (…) Der Gefühlsdrang, der unvermeidlich und für das politische Handeln vielleicht sogar nötig ist, sollte mit einer Anerkennung der Realität einhergehen.“

George Orwell, Über Nationalismus (1945)

„Die einzelne Nation ist in ihrer Bewegungsfreiheit durch die Integration in die großen Machtblöcke außerordentlich beschränkt. Man sollte nun daraus aber nicht etwa die primitive Folgerung ziehen, daß deswegen der Nationalismus, wegen dieser Überholtheit, keine entscheidende Rolle mehr spielt, sondern im Gegenteil, es ist ja sehr oft so, daß Überzeugungen und Ideologien gerade dann, wenn sie eigentlich durch die objektive Situation nicht mehr recht substantiell sind, ihr Dämonisches, ihr wahrhaft Zerstörerisches annehmen.“

Theordor W. Adorno, Aspekte des neuen Rechtsradikalismus (1967)

„Eine Welt ohne Wir ist die denkbar fremdeste Welt.“

Michael Köhlmeier, Wenn ich WIR sage (2019)

Arcanum ist das lateinische Wort für Geheimnis und meint soviel wie „das Weggeschlossene, im Kasten Verborgene“, das heißt, wie die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Eva Horn in „Der geheime Krieg – Verrat, Spionage und moderne Fiktion“ (2007) bemerkt, „es ist nicht verfügbar, weil es von einem Verbot (wie von einem Deckel, einem Behältnis, einem Verschluss) der Weitergabe entzogen ist. Dies unterscheidet es von den anderen Seinsweisen des Geheimen, mysterium und secretum.“ Arcanum leitet sich ab von arca, das soviel bedeutet wie Kasten – oder aber auch Sarg. Und Särge sind es – Särge der mit Polonium Verseuchten, der Vergifteten, Hingerichteten oder im Krieg in der Ukraine Getöteten: Arcana imperii, Staatsgeheimnisse. „Die Geheimnisse des Staats sind die Verbrechen des Staats“, schreibt Horn. Und die modernen Arcana imperii – sie sind die Welt der Geheimdienste, die Geheimnisse des Militärs (Wissen über Waffentechnologien), gelegentlich auch der Polizei und Geheimpolizei (Zensur und Medientechnologien) et cetera. Allein über sie zu verfügen – das sichert Wladimir Putin die Macht.

Stets eröffnet das Staatsgeheimnis „einen Raum der Diskretion, einen Raum außerhalb der Sphäre des Gemeinsamen, der Konsense und der Moral“, schreibt Horn. In einer demokratischen Struktur werden Staatsgeheimnisse zu einer Art „Pathologie der Macht“, wie sie es nennt, in Putins Russland zu Exzessen der Geheimhaltung, der heimlichen Gewalt – und führen zur frenetischen Verdächtigung: Alle sind verdächtigt, feindliche Agenten zu sein – der Verrat, die Aufklärung, ist eine permanente Bedrohung. Misstrauen, Verbot, Zensur und Inszenierung regieren. Krieg, wie er nicht genannt werden darf, wird zur „Staatsparanoia“, die Wahrheit soll verschwiegen werden, intransparent und im Dunkeln bleiben.

Die arcana imperii folgen der Logik des langjährigen Geheimdienstlers, für den das persönliche Gewissen, Moral, keine Rolle spielt. Sie implizieren „Verhaltenslehren der Kälte“, schreibt Horn, eine Studie des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen zitierend. Deshalb „bleibt die Möglichkeit, dass aus den Geheimnissen der Regierung die Verbrechen hervortreten, unkontrollierbar gegeben“, bemerkt sie. Für Horn ist klar: „Das Staatsgeheimnis eröffnet einen `rechtsfreien Raum´, in dem staatliche Macht sich ohne öffentliche Kontrolle in ihrer Reinform Geltung verschafft. In diesem Raum herrscht Krieg, und es gelten bestenfalls noch Regeln oder Abkommen der Kriegsführung, nicht mehr die Gesetze des zivilen Lebens.“ Verdeckte Operationen, covert actions, der Geheimdienste wie solche „des russischen Geheimdienstes FSB sind nur die schrillsten Beispiele dieser Entrechtlichung unter dem Schutz des politischen Geheimnisses“ – Spezialoperationen wie solche im Donbass sowieso.

Herrschaft nicht nur in Form von Gesetz und Strafe auszuüben – die „Mittel der Geheimhaltung und des heimlichen Agierens“, wie Horn fortfährt, sind „Maßnahmen, die eine Aufhebung oder Aussetzung des Rechtlichen voraussetzen oder vollziehen. Die modernen arcana imperii sind ein auf Dauer gestellter Ausnahmezustand, eine permanente (Selbst-)Suspendierung der Rechtsordnung, in deren Raum die Möglichkeit reiner, `rechtsfreier´ Gewalt eröffnet wird.“ Das Staatsgeheimnis verweist insofern immer auch auf die Macht als dem, „was nicht debattiert werden muss und sich nicht rechtfertigt“, schreibt sie. „Darin liegt noch kein Verbrechen per se … aber die immer gegebene Möglichkeit dazu, Taten zu begehen, die nicht legitimiert werden müssen“. Das Staatsgeheimnis setzt sich über die legitime Ordnung hinweg. Das gilt insbesondere dann, wenn Möglichkeiten der politischen Partizipation abgestellt sind und so etwas wie öffentliche Kontrolle (unabhängige Medien) oder eine kritische Opposition nicht existiert.

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Die Urszene des Verrats, gleichsam archetypisch, ist vielleicht die des Judas. Auch wenn das Motiv für den Verrat hier unklar ist: Gier jedenfalls war nicht der Grund – der geringe Judaslohn kaum der Rede wert (in den Evangelien erwähnt ihn auch nur Matthäus). Die Alternative zur Psychologisierung des Verräters „ist die Dämonisierung“, schreibt Eva Horn. Und zumindest schlagen Lukas und Johannes vor, Judas als vom Satan besessen zu betrachten. „Die Säkularisierung des Satans ist der Feind“, fährt Horn fort, „der Feind die irdische Version des großen Widersachers. Der Feind täuscht, verführt und verleitet zum Seitenwechsel, jener bösen conversio des Verrats. Und wie der Satan verbirgt er sich in scheinbar harmlosen Gestalten. In dieser Säkularisierung des Satan-Motivs im Verrat liegt der irreduzibel theologische Rest jeder politischen Abtrünnigkeit: Immer geht es um Abfall vom Glauben und von einer Gemeinschaft der Gläubigen.“

Während die Synoptiker es bei dem Blickwechsel zwischen Jesus und Judas belassen, kündigt Jesus bei Johannes den Verrat an. Auf die Antwort, wer der Verräter sei, antwortet Jesus (Joh 13, 26-27): „`Der ist es, dem ich den Bissen eintauchen und geben werde.´ Und er tauchte den Bissen ein, nahm ihn und gab ihn dem Judas, dem Sohn des Simon Iskarioth. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Jesus aber sagte zu ihm: `Was du tust, das tue bald!´“. Diese Geste von Jesus ist ambivalent, wie Horn ausführt, indem sie zwischen der Entlarvung des Verräters und einer Wahl, einem Auftrag liegt; als ob Jesus Judas zum Verräter erwählt. Ist der Verräter hier nun so etwas wie ein Abtrünniger im Hinblick auf eine Gemeinschaft – oder ist es umgekehrt der Mächtige, der jeden zum Verräter erklären kann?

In formaler Hinsicht ist der Verrat stets ambivalent. Auch die Blickwechsel beim Abendmahl und der Kuss im Garten Gethsemane sind „Zeichen einer Verständigung, in der Freundschaft und Feindschaft ins Zwielicht ihrer Ununterscheidbarkeit treten“, wie Horn bemerkt. Denn deutlich wird so, dass Judas als Verräter – die Figur des Verräters im Allgemeinen – stets Freund und Feind gleichermaßen ist, das heißt, „(n)ur als Freund kann der Verräter zum Feind werden“, erklärt sie: „Die spezifische Verletzung, die der Verrat zufügt“, die Kränkung mitunter, „kann nur ein Freund zufügen“.

„Die in unser Wir aufgenommen sind, können sogar unsere Feinde sein“, schreibt der Schriftsteller Michael Köhlmeier in „Wenn ich WIR sage“ (2021) in diesem Zusammenhang und stellt die Frage: „Ist es ausgeschlossen, dass ein Feind, ohne dass er zuvor seine Feindseligkeit mir gegenüber abgelegt hat, Teil meines Wir werden kann? Dass ich in einer Wir-Gemeinschaft mit meinem Feind stehe?“ Das Problem ist, erklärt Eva Horn, dass Freund und Feind – wie Judas zeigt – unerkennbar werden und „ständig neuer, phantasmatischer Bestimmung (bedürfen). Damit tritt im Verräter ein Bereich des Irregulären im Verhältnis von Subjekt, Gemeinschaft und Souveränität hervor“. Der Verrat wird so letztlich zum Symptom einer Krise des Politischen im Sinne des Zerfalls von Loyalitätsbindungen – und der Verräter insbesondere als potentiell feindlicher oder „ferngesteuerter Agent“, wie Horn es nennt, „zum Emblem einer Gesellschaft, die ihre eigenen inneren Mechanismen – ihre Formen von Wissenszirkulation, ihren Mediengebrauch, ihre soziale und informationelle Vernetztheit – nur noch mit höchster Ambivalenz beobachten kann.“

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Folgt man dem rechts-konservativen Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt (1888-1985), besteht die Entstehung der modernen Staatlichkeit in der territorialen Ordnung eines Gebietes. Alle Politik beginnt für ihn im Hinblick auf diese Ordnung beziehungsweise mit der Unterscheidung zwischen dem, was sich diesseits und jenseits der Grenze dieses Gebiets befindet – zwischen „Freund und Feind“ also, wie er selbst sagt. In „Der Begriff des Politischen“ (1932) schreibt Schmitt in diesem Zusammenhang: „Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, die äußersten Intensitätsgrade einer Verbindung oder Trennung … zu bezeichnen; (…) Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch hässlich zu sein; er muss nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist, so dass im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind“, die die „Negation der eigenen Art Existenz“, die „seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“ bedeuten, wogegen es um die „seinsmäßige Behauptung der eigenen Existenzform“ geht.

Für Schmitt setzt der Begriff des Staats das Politische voraus – das wesentlich durch diese Unterscheidung von Freund und Feind definiert wird. Daraus jedenfalls entwickelt er den Begriff vom Staat als einer „politischen Einheit“ eines Volkes beziehungsweise eines „homogenen Volkskörpers“, der eben dadurch bestimmt ist, dass er sich gegen andere Existenzformen abgrenzt. In dieser Abgrenzung respektive Formierung liegt für ihn die verfassungsgebende Gewalt der Nation begründet, deren rechtliche Ordnung insofern stets auch eine territorial gebundene darstellt.

Alle Politik beginnt Schmitt zufolge insofern mit einer Grenzziehung – und das dadurch gewonnene Territorium regiert der Staat über die Organisation der Menschen, die darin leben. Problematisch allerdings wird es dann, wenn Freund und Feind, wie von Eva Horn diagnostiziert, nur noch mit höchster Ambivalenz beobachtet werden können beziehungsweise unerkennbar sind. Dann werden Geheimdienste in politischen Systemen zu „unverzichtbaren Mitteln ihrer Regierungstechniken, ihrer Kriegführung und ihrer außenpolitischen Informationsgewinnung“, bemerkt sie. „Moderne Macht beruht in fundamentaler Weise auf Geheimnissen und Geheimhaltung, auf Ausspähung, Täuschung, Desinformation und Verrat“, schreibt Horn, wobei insbesondere der Verrat zur Signatur des Politischen im Kalten Krieg des 20. Jahrhundert geworden ist. Und zwar deshalb, weil die Geheimnisstruktur moderner Regime „die Macht `verratbar´ macht“. Schlimmstenfalls werden Geheimdienste dann zu gewalttätigen Organisationen, „die gleichsam die `schmutzige Arbeit´ staatlicher Macht erledigen“.

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Putin war seit 1975 im Kader der konspirativen Elite des „Komitees für Staatssicherheit (KGB)“ der Sowjetunion – und wurde 1985 als „Hauptoperativbevollmächtigter“ zu seinem ersten und einzigen Auslandseinsatz geschickt: nach Deutschland, da er fließend Deutsch spricht. Stationiert wurde er allerdings nicht in der Zentrale in Berlin, sondern in der Residentur Dresden. Hier in der Provinz sollte Putin auch den Fall der Mauer erleben. Die Journalistin Katja Gloger berichtet in „Putins Welt“ (2017) in diesem Zusammenhang von einem Ereignis in den Folgetagen des Mauerfalls, bei dem Putin mit aufgebrachten Demonstranten vor der KGB-Residentur konfrontiert war, wo gerade eiligst Dokumente vernichtet wurden. Da die Bitte um Unterstützung vom sowjetischen Militärkommandanten unbeantwortet blieb, gab sich der Geheimdienstoffizier Putin, in bester Agentenmanier, als Dolmetscher aus und sprach mit der versammelten Menschenmenge, bis die sich schließlich tatsächlich – murrend zwar, aber friedlich – zerstreute. Trotz dieses Erfolgserlebnisses – „Vielleicht wurde dieser Tag für ihn“, schreibt Gloger, „wirklich zum Symbol einer Kapitulation und jener viel zitierten `größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts´, als die er den Zusammenbruch der Sowjetunion später bezeichnete.“

Die Situation, die Gloger hier beschreibt, ähnelt einer Szene, die Manès Sperber beschrieben hat und die Helmut Lethen als Urszene seiner bereits genannten Studie über „Verhaltenslehren der Kälte“ (1994) in der Zwischenkriegszeit, der Weimarer Republik, in der Einleitung beschreibt: Den Zusammenbruch der bisherigen Gesellschaftsordnung am Ende des Ersten Weltkriegs erlebt dort ein Offizier unmittelbar, als er, von der Front kommend, am Bahnhof einem Zug entsteigt und sich plötzlich inmitten einer Masse meuternder Soldaten wiederfindet, „dem rohen Publikum“, wie Lethen schreibt. Ein „akute(r) Einbruch des Selbstwertgefühls“ überfällt den stolzen Offizier angesichts der feindseligen Menge, wie Lethen erklärt, es ist ein Moment der Beschämung: „Scham ist die Reaktion auf die Wahrnehmung, in den Augen der Fremden degradiert zu sein. (…) Sein Habitus des unaufhaltsamen Schreitens wird gebrochen, der Kontrollblick, den er zurückwirft, unterlaufen; so wird er Objekt der demütigenden Inszenierung“. Der Offizier beginnt zu laufen und flüchtet schlließlich unter dem Gelächter der Menge. Lethen spricht in Zusammenhang mit dem hier beobachteten bürgerlichen Autoritätsverlust nach dem Zusammenbruch der Monarchie auch von einer „Schamkultur“.

Anders als der Offizier, der nicht weiß, wie er sich im Ausnahmezustand nach dem Ersten Weltkrieg verhalten soll, gewinnt Putin mit einem geschickten Manöver – indem er sich als Dolmetscher inszeniert –, souverän die Kontrolle über die Situation zurück. Als case officer des sowjetischen Geheimdienstes weiß er, wie der britische Historiker Samir Puri in „The Great Imperial Hangover“ (2021) schreibt: „Persuasion, emotional intelligence and political acumen are the real weapons of choice. Patience is essential to the profession, and the artistry of performance is also key. To be a skilled case officer is to appeal to multiple audiences in a convincing manner, without contradicting oneself, even when under pressure, and projecting a personal image that is completely convincing in the contexts in which it is deployed. Risks are embraced for the good of the mission and are not avoided. At the same time the case officer ought to be a pragmatist, willing to cut his or her losses and walk away from a failing endeavour. `Tradecraft´ is the term given to the skills of the intelligence officer as masters of dissimulation.“

All das hat Putin verinnerlicht – der Offizier bei Manès Sperber noch nicht. Aber die demütigende Szene und die mit ihr verbundene „Blamage“ – neben „Ehre“ und „Schande“ ein „Schlüsselwort der Nachkriegswirren“, wie Lethen es nennt – ist nur der Anfang, denn die Haltung des Offiziers in seiner „verletzten Ehre“ ändert sich bald: „(D)ie Rache der Offiziere ließ nicht auf sich warten. (…) Um die Scham zu überwinden, maskieren sich die Gekränkten in den neuen politischen Bewegungen“ und werden zur „kalten persona“, bemerkt Lethen. Will heißen: „Es wird so etwas wie den Karneval des Faschismus geben. (…) Wer diesem sozialen Klima der Beschämung entgehen und sich unterscheiden sollte, mußte Attitüden der `Kälte´ einsetzen und sich eine Verhaltenslehre zulegen“, erklärt er.

Was das bedeutet, beschreibt Lethen am Beispiel der Auseinandersetzung von Carl Schmitt mit der „Schuldkultur“ in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, respektive der „Schamkultur“ nach dem Ersten Weltkrieg. Schmitt betrachtete bereits die Verfassung der Weimarer Republik als eine, wie Reinhard Mehring in seiner Einführung zu „Carl Schmitt“ (2011) schreibt, „rechtliche Sanktionierung des Friedensvertrags von Versailles, den er, wie weite Kreise der Bevölkerung, als `Diktat´ der Sieger von 1918 und ungerechten Frieden empfand“. Kein Zweifel kann außerdem darüber bestehen, berichtet Mehring, „dass Schmitt in den Jahren 1930 bis 1933, beim Zusammenbruch der Weimarer Republik, für einen starken Reichspräsidenten und einen autoritären Verfassungswandel optierte und dann die Machtübernahme der Nationalsozialisten seit dem März 1933 vehement befürwortete“, sogar im selben Jahr noch NSDAP-Mitglied wurde. 1939 schreibt Schmitt dann beispielsweise in „Der Reichsbegriff im Völkerrecht“ darüber, dass unter Adolf Hitler inzwischen ein neues, „machtvolles Deutsches Reich entstanden (ist). Aus einer schwachen und ohnmächtigen ist eine starke und unangreifbare Mitte Europas geworden, die imstande ist, ihrer großen politischen Idee, der Achtung jedes Volkes als einer durch Art und Ursprung, Blut und Boden bestimmten Lebenswirklichkeit, eine Ausstrahlung in den mittel- und osteuropäischen Raum hinein zu verschaffen und Einmischungen raumfremder und unvölkischer Mächte zurückzuweisen. Die Tat des Führers hat dem Gedanken unseres Reiches politische Wirklichkeit, geschichtliche Wahrheit und eine große völkerrechtliche Zukunft verliehen.“ Unübersehbar ist aus einem rechts-konservativen ein völkischer Autor geworden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird dann insbesondere auch bei Schmitt deutlich, was Theodor W. Adorno in einem Vortrag zu „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ bereits 1967 festgestellt hat, als er bemerkte: „Ich darf sozialpsychologisch hier vielleicht sagen …, daß ja im Jahr 1945 die wirkliche Panik, die wirkliche Auflösung der Identifikation mit dem Regime und der Disziplin, nicht, wie etwa in Italien, stattgefunden hat, sondern daß das bis zuletzt kohärent geblieben ist. Die Identifikation mit dem System ist in Deutschland nie wirklich radikal zerstört worden …“ Lethen schreibt in diesem Zusammenhang etwas ausholend: „Schmitt wiederholt nach 1945 ohne Fortune eine Attitüde, die nach dem Ersten Weltkrieg dem Zeitgeist entsprochen hatte: er eliminiert die Elemente der `Schuldkultur´, Gewissensnot und Zerknirschung, und errichtet noch einmal das künstliche Reich einer heroischen `Schamkultur´ . Der peinlich ins Auge springende Unterschied besteht freilich darin, daß das Phantasma der `Schamkultur´ nach dem Zweiten Weltkrieg keinen öffentlichen Raum zur Verfügung hat, in dem es sich hätte entfalten können, weil im Zeichen des Nürnberger Tribunals … und der Entnazifizierung `Schuldkultur´ offiziell vorgeschrieben ist, so daß Schmitts Schamkultur unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden muß.“

Lethen beschreibt also zunächst die unterschiedliche Situation nach den beiden Weltkriegen: Geht es Schmitt nach dem Ersten Weltkrieg „um die `Schande´ des Zusammenbruchs, die nach den Regeln eines Männerbundes rückgängig gemacht werden mußte“, spricht er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von der „`Ehre´, die ihm als besiegtem Feind entzogen wurde“. Und zwar deshalb, weil er 1947 von den Alliierten verhaftet und als possible defendant (potentieller Angeklagter) bezüglich seiner „Mitwirkung direkt und indirekt an der Planung von Angriffskriegen, von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in Nürnberg befragt wurde. Es kam zwar nie zu einer Anklage gegen Schmitt, dennoch erlebte er die Gefangenschaft und die Zeit danach, so Lethen, „als Beschämungsritual, in dem er sich, plötzlich den Blicken einer ressentimentgeladenen Fremdwahrnehmung hilflos ausgesetzt, so isoliert wie diskriminiert, abpanzern muß“.

Seinen Gefängnisaufenthalt in der Zelle des amerikanischen Lagers empfindet Schmitt als Entblößung: „Am nacktesten ist der Mensch, der entkleidet vor einen bekleideten Menschen gestellt wird“, schreibt er in „Weisheit der Zelle“ (1947). „Die Kleidungsstücke, die man mir gelassen hat“, fährt er fort, „bestätigen nur die objektive Nacktheit“. Mit dem Panzer, den sich Schmitt deshalb anlegt, wird er zur kalten persona: Für Schmitt, dem bei der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Justiz und der juristischen Legitimation des Nationalsozialismus eine wesentliche Rolle zukam, „zählt nicht die Mahnung des individuellen Gewissens“, so Lethen, sondern nur „die Verachtung des Publikums, die sich in der öffentlichen Beschämung auswirkt“.

Nach seiner schriftlichen Befragung und der anschließenden Entlassung aus dem Nürnberger Gefängnis in der amerikanischen Zone kehrt Schmitt „nicht nach Berlin als Forum eines schmähenden Publikums zurück“, sondern geht in die Provinz nach Plettenberg, wo er sich „keiner Beschämung ausgesetzt (glaubt)“. Hier richtet er, wie Lethen weiter ausführt, „seine Aufmerksamkeit auf das ungesicherte Terrain der Nachkriegsgesellschaft, und wie schon in den zwanziger Jahren, so gilt auch jetzt: Wenn die Horizonte der Orientierung zusammenbrechen, schlägt die Stunde der Verhaltensregeln.“

Dem Modell des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián (1601-1658) folgend, notiert Schmitt 1948 einige Maximen (veröffentlicht in seinem „Glossarium“), an denen er sich fortan orientieren möchte. Gracián hat in seinem „Handorakel“ (1647) eine Verhaltenslehre für Personen entworfen, die, wie Lethen ausführt, „über keinen inneren Kompaß verfügen, wenn sie sich auf lebensgefährlichem Terrain bewegen; den inneren Regulator, das Gewissen, hatte der Jesuit entfernt. In einer Situation, die bodenlos erscheint und in der sich die Moral auf die Einhaltung taktischer Regeln reduziert, bedarf die Person der äußeren Stimme“ für Situationen, die anders nicht mehr regulierbar scheinen. Eine der sieben Maximen von Schmitt, der in der Nachkriegszeit seine Definitionsmacht als Jurist, seine Stimme gewissermaßen, verloren hatte, lautet: „Wenn Du in einen laut schreienden Sprechchor hineingerätst, mußt Du den Text so laut Du kannst mitschreien. Alles andere wäre Dein sicherer häßlichster Tod. Dein Gehör und Gehirn würden von Außen zerschmettert, wenn Du Dich nicht durch Mitschreien von Innen davor schützen würdest; …“

Um in einer Phase der Orientierungslosigkeit Souveränität zurückzugewinnen, formuliert Schmitt seine Verhaltensregeln, allerdings als „rein physische Abwehrmittel“, wie Lethen bemerkt, unter Ausklammerung der Moral und des Gewissens. Seine Maximen sind insofern rein funktionale Techniken, die an die Stelle einer natürlichen, organischen Persönlichkeitsentwicklung treten. Sie versetzen die Person in eine Art permanenter Alarmbereitschaft, das heißt, aus der Kränkung des Souveränitätsbewusstseins heraus formuliert Schmitt Verhaltensregeln, die eine „Welt der Mobilmachung“ entwerfen – gewissermaßen als „epochale Fehlhaltung“ der kalten persona. Wie schon in der Weimarer Republik verhindert in Deutschland auch in der Nachkriegszeit die „Schmach“ der Niederlage insofern, Lethen folgend, „die Überleitung der Kriegsgesellschaft in eine Friedensgesellschaft“.

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„Nach dem Zweiten Weltkrieg traf die psychologische Kriegsführung der Alliierten (besonders vonseiten der Amerikaner) dann die Deutschen. Die `Reeducation´ hatte nachhaltige Auswirkungen auf unsere nationale Identität und Kultur.“ Dieser Satz könnte von Carl Schmitt sein – er stammt aber von Tino Chrupalla, Vorsitzender der „Alternative für Deutschland (AfD)“. Er sagte ihn auf einer „Sicherheitskonferenz“ in Moskau 2021, in Gegenwart des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu. Chrupalla referierte da über die Propaganda der Nationalsozialisten nach dem Angriff auf die Sowjetunion und wie sie versuchten, deren Bevölkerung „zu demoralisieren“, und fügte direkt im Anschluss besagten Satz hinzu. Die Entnazifizierung und Einführung der Demokratie in Deutschland wurde von Chrupalla so unmittelbar mit totalitärer Propaganda in Verbindung gebracht. Vom russischen Publikum gab es dafür Applaus …

… vom deutschen Bundestag dann aber keinen, als Chrupalla, drei Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und kurz nach der historischen Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers in diesem Zusammenhang am Rednerpult im Plenarsaal sagte: „(W)ir dürfen gerade in diesen Tagen Russlands Beitrag für Deutschland und Europa eben nicht vergessen. Auch dadurch wurde vor 32 Jahren die deutsche Einheit ermöglicht, untermauert durch den Abzug russischer Truppen im Jahr 1994. Dem müssen wir Respekt zollen, und das sage ich ganz bewusst auch als Ostdeutscher: Wir danken Russland bis heute dafür!“

„Chrupalla verkennt die historische Situation“, kommentiert die Berliner „taz“ die Äußerungen. Es geht aber innerhalb der AfD-Fraktion noch deutlich extremer, wie beispielsweise bei Eugen Schmidt – einem von „etwa 2,4 Millionen Menschen zählenden Russlanddeutschen und ihrer oft anders-ethnischen (meist russischen) Familienangehörigen, die seit 1950 als Aussiedler oder Spätaussiedler aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten nach Deutschland auswanderten“, wie Katja Gloger in „Fremde Freunde – Deutsche und Russen“ (2017) schreibt. Die Mehrheit von ihnen siedelte in den neunziger Jahren nach Deutschland aus, wo sie sich, wie Gloger ausführt, „lange nicht anfreunden (konnten), zu viel der `Sünde´ für sie. Sie fühlten sich als wahre Erben deutscher Kultur, Hüter konservativer deutscher Traditionen. Die eigene soziale und religiöse Gemeinschaft blieb ihr Rückzugsraum und Referenzrahmen; viele unter ihnen strenggläubig und konservativ.“

Der aus Kasachstan stammende Eugen Schmidt positionierte sich offensichtlich „am äußersten rechten Rand“ der AfD, wie vor ihm bereits andere Russlanddeutsche, ihr offizieller Vertreter, Heinrich Groth, beispielsweise, wie Gloger bemerkt. Wenige Tage nach Kriegsbeginn erklärt Schmidt, „Putins Propagandist im Bundestag“, in russischen Medien – beispielsweise im Propagandasender des russischen Verteidigungsministeriums –, auf russisch, dass es in Deutschland keine Demokratie und keinen Rechtsstaat gebe, keine Pressefreiheit, Andersdenkende mit Gewalt unterdrückt würden (während Putin zur selben Zeit Tausende Demonstranten verhaften lässt) et cetera.

Extreme Haltungen wie solche sind nicht Konsens in der AfD, das heißt, man hat sich inzwischen, nach kontroversen Diskussionen, immerhin dazu durchgerungen den „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ zu verurteilen – auch wenn das Positionspapier letztlich uneindeutig ist, verharmlosend und mitunter zynisch, wenn es beispielsweise heißt, dass man mit „zivilen Opfern auf beiden Seiten“ trauere. Deutlich wird nicht zuletzt auch an solchen Formulierungen, dass die Partei in der Frage des Krieges, wie die „taz“ schreibt, „genauso tief gespalten ist wie die gesamte extreme Rechte“, wobei die AfD nicht die Neue Rechte ist, sie ist nur unter den Einfluss der Neuen Rechten geraten, vor allem der extrem rechte, völkische Flügel der AfD um Björn Höcke und andere. Insofern stellt die AfD gewissermaßen den parlamentarischen Arm der Neuen Rechten dar.

Putin hat es in den letzten Jahren jedenfalls überall in Europa geschafft „Verbündete im rechtspopulistischen bis extrem rechten Lager“ zu finden – aber halt eben auch unter den eher Rechts-Konservativen innerhalb der AfD: Es begann 2014 mit Alexander Gauland, der nach der Parteigründung 2013 die russische Botschaft besuchte und sich vom Oligarchen Konstantin Malofejew – der die „Volksrepubliken“ in der Ukraine und russische Ultranationalisten nach Kräften unterstützt – nach St. Petersburg einladen ließ, und es setzt sich fort mit Alice Weidel, die letztes Jahr mit einer AfD-Delegation im russischen Außenministerium sowie von Parlamentsabgeordneten empfangen wurde. Schon wenige Monate zuvor wurde Tino Chrupalla vom russischen Außenminister Sergei Lawrow in Moskau wie ein Staatsgast hofiert. Belege über finanzielle Unterstützung für die AfD aus Moskau gibt es bislang nicht, gleichwohl ist die AfD mit ihrer Ablehnung der „Europäischen Union (EU)“, ihrem Antiamerikanismus und Antiliberalismus wie ein natürlicher Verbündeter – was umgekehrt genauso gilt. Und so stellt sich also in der AfD die Frage auch sieben Wochen nach Kriegsbeginn nach wie vor in aller Dringlichkeit: Wie nun umgehen mit Russland und dem Krieg? Zumindest in der Öffentlichkeit.

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„Im Felde unbesiegt“ – und dennoch ging der Erste Weltkrieg für Deutschland verloren, weil, wie General Paul von Hindenburg es ausdrückte, politische Kräfte in der Heimat (sozialdemokratische selbstverständlich), wie beim „hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen“ die mit dem stolzen Siegfried gleich gesetzte „ermattete Front“ von hinten mit einem Dolch durchstoßen hätten. Soweit die Legende, die vielleicht mehr noch als der Mythos vom Diktatfrieden, zur Zerstörung der Demokratiebewegung in der Weimarer Republik beigetragen hatte …

Ähnlich wie die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, wird auch in Russland die Zeit nach dem Niedergang und Zerfall der UdSSR empfunden: Man hatte zwar unter unvorstellbaren Opfern den Zweiten Weltkrieg gewonnen, empfand sich jetzt aber als gedemütigter Verlierer der Geschichte. Während die Sowjetunion in 15 unabhängige Republiken zerfiel, dominierte die USA und die NATO die weltweite Geopolitik – es war eine gefühlte Niederlage, zumindest für loyale Geheimdienstler wie Putin, für den die „geopolitische Katastrophe“ des Zusammenbruchs damit verbunden war: „tens of millions of our co-citizens and compatriots found themselves outside Russian territory“, wie Samir Puri ihn zitiert.

Mit dem Ende der Sowjetunion schwand Russlands machtpolitische Bedeutung in dem Sinne, den Carl Schmitt dem Reichsbegriff in dem bereits erwähnten „Der Reichsbegriff im Völkerrecht“ (1939) verliehen hat: Ihm zufolge „hat jedes Reich einen Großraum, in den seine politische Idee ausstrahlt und der fremden Interventionen nicht ausgesetzt sein darf. Der Zusammenhang von Reich, Großraum und Nichtinterventionsprinzip ist grundlegend.“ Entsprechend warnte jedenfalls bereits Boris Jelzin angesichts des westlichen Vordringens in den Einflussbereich Russlands schon vor einem „Kalten Frieden“, wie Gloger ihn zitiert. (Jelzin bezog sich mit seiner Äußerung auch auf die „Charta von Paris“ 1990, in der 32 europäische Staaten das Ende des Kalten Krieges erklärt und sich auf Demokratie verpflichtet hatten.)

Nach siebzig Jahren Diktatur durch die „Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU)“ machte sich die mit dem Zerfall der Sowjetunion verbundene Wucht der gesellschaftlichen Veränderung nun mit aller Macht als postsowjetisches Trauma geltend. Dieses Trauma galt es zu überwinden. Putin jedenfalls empfand die letzte Phase von Michail Gorbatschows Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umbau) nach seiner Rückkehr nach Sankt Petersburg (in den Dienst des Bürgermeisters, als Leiter des „Komitees für Internationale Beziehungen“), als Blamage, die er so beschreibt: „Mir war klar, dass die Sowjetunion an einer tödlichen Krankheit litt: der Paralyse der Macht.“ Eine solche Ohnmacht hatte er, wie Gloger weiß, zuvor schon einmal am eigenen Leib erfahren – als er das erste Mal verprügelt wurde: „Es war eine richtige Blamage“, sagte Putin selbst dazu. „Ich verstand, dass man in jedem Fall stark sein muss, egal ob man recht hat oder nicht. Man muss immer die Möglichkeit haben, auf eine Beleidigung zu antworten. Und zwar auf der Stelle. Auf der Stelle!“

Damit ihm das nicht noch einmal passiert, internalisierte Putin als Geheimdienstler alle pragmatischen Techniken der kalten persona, das heißt, für ihn ist Geheimdienstarbeit, so kann man mit Eva Horn sagen, „eine Politik, die Undurchsichtigkeit zur wichtigsten Grundlage der Erhaltung und Erweiterung von Macht empfiehlt und als Techniken Verstellung, List, Warten, Schweigen, Affektkontrolle und kluges Taktieren“. Und was hier für Putin in Zusammenhang mit seiner Geheimdienstarbeit gilt, bezieht er ab 1999, als er zunächst zum Ministerpräsidenten ernannt wurde und schließlich zum amtierenden Präsidenten, auch auf seine Regierungsarbeit. Schließlich war er, wie Boris Jelzin es beschrieben hat, dem Putin seinen politischen Aufstieg verdankte, „auf militärische Art standhaft“. Samir Puri formuliert es so: „What Putin brought to Russia is the turning of tradecraft into statecraft. (…) [Putin is] infusing Russian statecraft with the spy`s manoeuvrability.“

Es ist ähnlich wie bei Carl Schmitt, wenn der das Modell seiner Maximen auf den Staat zu übertragen scheint. Schmitt jedenfalls begreift den Staat unabhängig vom Politischen als eine Art Staatsapparat, der nicht politisch-moralisch, sondern funktional geregelt ist. Zumindest beschreibt er ihn jenseits der modernen Moralisierung des Politischen, jenseits der Rechtsordnung, als ein Gebiet reiner Sachtechnik: „Der moderne Staat“, schreibt Schmitt in „Der Begriff des Politischen“ (1933), „ist historisch aus einer politischen Sachtechnik entstanden. Mit ihm beginnt, als sein theoretischer Reflex, die Lehre von der Staatsräson, d.h. einer über den Gegensatz von Recht und Unrecht sich erhebenden, nur aus den Notwendigkeiten der Behauptung und Erweiterung politischer Macht gewonnenen soziologisch-politischen Maxime.“

Geheimdienst, Polizei, Militär und bürokratisches Beamtentum sind die „Exekutive“ des Staates. Ihr ist es, wie Schmitt schreibt, „vom technischen Gesichtspunkt aus egal, in welchem Dienst sie funktioniert …“. Entsprechend auch ist das Staatsgeheimnis in diesem Verständnis kein spezifisches Geheimnis inhaltlicher Art, sondern eher etwas wie eine „politische Sachtechnik“, sagt Horn, das heißt, „eine Art von Wissensverwaltung, die das politisch relevante Wissen auf eine möglichst kleine Gruppe von Ratgebern und den Souverän als Entscheidungsträger begrenzt“. Es ist, so Horn weiters, „eine Regierungskunst, die eine `Verhaltenslehre der Kälte´ (impliziert), die auf Diskretion statt Kommunikation, auf Intransparenz statt Authentizität und auf Effizienz statt Moral setzt.“

Ganz in diesem Sinn auch wählte Putin ehemalige Kollegen, sogenannte „silowiki“, aus den ihm vertrauten Geheimdiensten oder den sogenannten silowye ministerstwa, den Machtministerien wie Verteidigungs- und Innenministerium und anderer Sicherheitsstrukturen für die Leitung des Staatsapparats beziehungsweise die Administration Russlands. Mit den silowiki in der Administration und den vom Staat kontrollierten Unternehmen errichtete Putin ein System des Staatskapitalismus, das nach Angaben des Internationalen Währungsfonds über zwei Drittel des russischen Bruttoinlandsprodukts bestreitet. Nie ging es Putin insofern darum, ein liberales Wirtschaftssystem zu errichten, sondern er definierte sich von Anfang an als „gosuddarstwennik“, wie Gloger schreibt, „ein Mann des starken Staates. Es entsprach wohl auch seinem Selbstverständnis als KGB-Offizier, denn schon immer hatten sich die Kader des Geheimdienstes als `Männer des Staates´ verstanden“.

Nach der Präsidentschaftswahl 2000 blieben die demokratischen Einrichtungen der Verfassung (Parlament und Wahlen) zwar bestehen, sie wurden jedoch einer strikteren Kontrolle durch Putin und seine silowiki unterzogen. Putins Amtsführung wurde als „uprawljajemaja demokratja“ bezeichnet, wobei man das russische „uprawljat“ mit „verwalten, steuern, lenken“ übersetzen könnte, weshalb man auch von einer „Gelenkten Demokratie“ zu der Zeit spricht. Sie zeichnet sich einerseits durch Machtkonzentration aus, wobei Putin die Gewaltenteilung zunehmend abgebaut hat, sowie andererseits durch eine straffe Hierarchie, durch die parlamentarische und zivilgesellschaftliche Kontrolle von sich selbst berreichernden Herrschenden verhindert wird.

Hinzu kommt etwas, das Katja Gloger als „simulierte Demokratie“ bezeichnet, das heißt, Putin setzte ihr zufolge zunächst „weniger auf Repression und Unterdrückung als auf Bluff und Simulation des politischen Prozesses, Kontrolle der Massenmedien und vor allem auf Verführung“. Insbesondere staatliche Medienunternehmen dienen in Wahlkämpfen als „politische Maschinen“, die die Funktion von „Quasi-Parteien“ übernehmen, schreibt sie. Es ist ein System, bei dem Putin auf Loyalität und Macht setzt – die Grenze zwischen privatem Interesse und staatlichen Aufgaben jedoch ist dabei aufgehoben. Entstanden ist so eine Kleptokratie, bei der „Geld und politische Macht verschmelzen“, wie Gloger schreibt, wo „rund 100 Männer mehr als ein Drittel des Volksvermögens kontrollieren“. Und während in den Städten zwar eine „Mittelschicht mit etwa 30 Millionen Menschen“ gewachsen ist, verfügt noch immer etwa die Hälfte aller Erwachsenen nur „über ein Haushaltsvermögen von 871 Dollar – oder weniger. Putins neues Russland scheint so stark – und ist so schwach. Der im Februar 2015 ermordete Oppositionspolitiker Boris Nemzow formulierte die Risiken der Machtkonzentration in einem seiner Berichte knapp: `Willkür, Korruption, Dummheit, Clanwirtschaft, Unprofessionalität und Verantwortungslosigkeit´“.

Zunächst jedoch, so Gloger, schien Putin mit seinem Pragmatismus und seinem System der Gelenkten Demokratie „doch so effizient in den ersten acht Jahren seiner Herrschaft, als das Bruttoinlandsprodukt wuchs, das das Durchschnittseinkommen mit dem Ölpreis stieg und im Land endlich wieder Ruhe und Stabilität einkehrten, gar ein Gefühl der Sicherheit.“ Der Betrug an der Zukunft Russlands, das heißt, dass für die soziale und ökonomische Modernisierung des Landes praktisch nichts übrig blieb, sondern der Reichtum des Landes aus seinen enormen Rohstoffvorkommen monetarisiert, abgeschöpft und zumeist auf Offshore-Konten transferiert wurde („ofshorisazija“), stellte sich erst nach und nach heraus. Wie Katja Gloger weiß, wurden auf diese Weise seit 2008 mehr als 500 Milliarden Euro – beinahe zehn Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts – außer Landes geschafft.

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In der Sowjetunion zum Geheimdienstoffizier geworden, erlebte Putin das Ende der UdSSR als klägliches Scheitern. Die Paralyse der Macht, von der Putin sprach – sie wollte er überwinden. Er konnte sie, wie es sein damaliger Politikberater Gleb Pawlowskij formulierte, „einfach nicht akzeptieren“ – er wollte Revanche: „Putin gehörte zu denen, die bis Ende der 90er Jahre geduldig auf den Moment der Revanche warteten: auf die Wiederauferstehung dieses großen Staates, in dem wir einst gelebt hatten. Wir wollten nicht zurück zu einem totalitären Staat. Wir wollten vielmehr einen Staat, der respektiert würde“, sagt Pawloskij. Samir Puri zitiert Putin in diesem Zusammenhang mit dem Satz: „Whoever does not regret the passing of the Soviet Union has no heart, whoever wants it back has no brain“ und Pawlowskij ergänzt: „In diesem Sinne ist Putin ein sowjetischer Mensch, der sich Revanche zur historischen Aufgabe machte.“

In „Die Kultur der Niederlage“ (2003) erklärt der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch, dass sich der Impuls der Revanche beziehungsweise Rache vielleicht am besten am Verhaltenskomplex des Tausches begreifen lässt, den bereits Marcel Mauss (1872-1950) in seinen Ambivalenzen bei archaischen Gesellschaften beschrieben hat. Mauss zufolge muss beim rituellen Tausch jede Gabe mit einer etwas größeren Gegengabe wettgemacht werden. Die Folge ist nun „eine nie endende Tauschspirale, ein Tauschwettbewerb, ein Kräftemessen im Medium des Tausches, ein Tauschkampf“, wie Schivelbusch schreibt. Wer am Ende mehr empfängt als gibt, stört das Gleichgewicht und wird „entweder Feind, oder, wenn er sich als der Schwächere bekennt, Verlierer oder Sklave. Das Verb `sich revanchieren´ im Sinne von `eine gute Tat erwidern´ … enthält noch heute, wie `vergelten´, diesen bedrohlichen doppelten Boden.“

Ist aber schon die Gabe dem „Gesetz der erbarmungslosen Erwiderung“ unterworfen, so gilt das „umso offenkundiger auch für angetanes Unrecht, Leid, Gewalt“, schreibt Schivelbusch. Deshalb hat der neuzeitliche Staat ein „individuelles Racheverbot“ erlassen, mit dem seit dem 16. Jahrhundert „eine einschneidende Formalisierung und Ritualisierung der Vergeltung (erfolgte). Einmal auf der Ebene der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staaten. Hier wurden die Motive, die bis dahin ungeschrieben die Rache legitimiert hatten – Wiedergutmachung eines Unrechts, Bestrafung eines Gewaltakts –, festgeschrieben zur Begründung des `gerechten´ Krieges. Zugleich wurde der Krieg rationalisiert, gehegt, geregelt und … `gespielt´“, in Form des Kabinettskrieges, der stets eine begrenzte Zielsetzung hatte, außerdem strebte man eine weitgehende Schonung von Menschen und Objekten an.

Hier, in der regelmäßig durchgeführten saisonalen militärischen Partie des Kabinettskriegs, herrschte, wie Schivelbusch ausführt, „größtmögliche Kultiviertheit auf der Offiziersebene. Hauptmechanismus dieser Kriegskultur war die Revanche, die etwas anderes ist als die Rache“. Anders als bei der Rache, die als Tauschspirale ex negativo die Vernichtung des Feindes zum Ziel hat, begriffen sich die kriegführenden Heere und Staaten beim Kabinettskrieg als Gegner und sorgten dafür, „daß niemand endgültig aus dem Feld geschlagen wurde und beim nächsten Waffengang alle wieder mit von der Partie sein würden. Die Grundlage dieser Kriegskultur“, so Schivelbusch, „war merkwürdigerweise genau das, was der Staat als konkurrierende Privatgewalt verboten hatte: das Duell.“

Das Ideal des modernen Duells ist nicht die Vernichtung, sondern die gegenseitige Achtung und der Respekt der Duellanten, denn, wie der französische Historiker Francois Billacois schreibt, „die Ehre des Gegners ist für sie die Voraussetzung der eigenen Ehre“. Voraussetzung für das Gelingen eines derartigen Ausgleichs und die damit verbundene kathartische Wirkung ist allerdings, dass das Duell, wie Schivelbusch schreibt, „unmittelbar, Schlag auf Schlag, ohne … Verzögerung und Reflexion erfolgt“ – Putin hätte gesagt auf der Stelle. „Kommt es nicht zum sofortigen Gegenschlag, so erfolgt anstelle der Katharsis eine psychodynamische Stauung. Freud, der die gelungene (das heißt spontane) Rache als die kathartische Abreaktion einer traumatischen Einwirkung definiert, bezeichnet ihre gehemmte Form als hysterische Neurose (…) in die sich das traumatisierte, zum realen Gegenschlag nicht fähige (und zu der den Verlust akzeptierenden Trauerarbeit nicht willige) Ich zurückziehen und in der es sich austoben kann.“

Und Schivelbusch fährt fort: „Was auf der individualpsychologischen Ebene die Neurose, das ist auf der kollektiven die Mythenbildung. (…) Verstehen wir die aus der versagten Erfüllung des Rachewunsches entstehenden Mythen mit Freud als Phantasien, so führt uns dies einen Schritt weiter im Verständnis der psychischen Mechanismen der Niederlagenverarbeitung. Denn dann erscheinen die Mythen nicht nur als neurotische Gebilde, sondern zugleich als heilsame Schutzschilde und -räume … gegen eine ungeschützt nicht zu ertragende Realität. Ihre Funktion ließe sich mit der zur Heilung notwendigen Schorf- und Krustenbildung der Wunde, … den – mit Freuds Analogie – Schonungen und Naturschutzparks in der durchrationalisierten Landschaft vergleichen.“

Dabei führt nicht jede Niederlage, weiterhin Schivelbusch folgend, „den Revanche-Impuls aus. Voraussetzung dafür ist, im Duellkrieg einem Gegner unterlegen zu sein. Bei der Niederlage gegen eine Koalition von Mächten dagegen fehlt der für die Revanche notwendige Adressat; die Kompensation erfolgt in diesem Fall durch die Vorstellung `Viel Feind, viel Ehr´. `Die neue Ehre […] ist, daß wir zum Besiegten der ganzen Welt geworden sind und daher keinem Volk mehr Gewalt über uns zuerkennen können.´ Dieser Satz Eugen Rosenstocks über die deutsche Psychologie nach 1918 könnte ebenso über Frankreich nach 1815 gesagt werden. Daß die Verlierer in beiden Fällen nicht die Revanche, sondern die Revision (der Kriegsresultate) zur Zentralforderung ihrer Politik und Propaganda erhoben, bestätigt den Unterschied zwischen der Niederlage im Duell- und der im Koalitionskrieg.“

Schivelbusch schließt den Abschnitt über Rache und Revanche in seinem 2003, nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, erschienen Band über „Die Kultur der Niederlage“ mit dem Hinweis darauf, dass sich für den Verlierer eines Koalitionskrieges, falls für ihn die Revanche als Ausgleich entfällt, noch „eine andere Möglichkeit der Kompensation (eröffnet). Sie besteht darin , daß er sich als der eigentliche Widerpart der stärksten Macht der Koalition definiert. Damit erreicht er zweierlei: die Verkleinerung der übrigen Siegermächte … sowie die eigene Aufwertung“.

Auch dieser Option liegt, wie bei der Revanche, die wechselseitige Anerkennung zugrunde. Gleichwohl ist Schivelbusch aber auch klar, dass „(i)m totalen Krieg des Zeitalters der Massendemokratie“, die Revanche „keinen Platz mehr (hat), stehen sich hier doch nicht mehr einander respektierende Kriegerkasten und Herrscherdynastien gegenüber, sondern nationalistisch entfesselte öffentliche Meinungen, die im Gegner die Inkarnation des Bösen und den Weltfeind sehen, mit dem es keine Gemeinsamkeit und keinen Kompromiss gibt, sondern der nur zu vernichten oder, wie es nun heißt, ein für allemal unschädlich zu machen ist.“ Ziel des totalen Krieges der Moderne ist nicht die Verständigung, sondern die totale Unterwerfung des Verlierers unter den Willen des Siegers – und zwar als bedingungslose Kapitulation. Oder aber dessen Vernichtung. Egal ob in Moskau, Grosny, Aleppo, Butscha oder auch Mariupol.

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Für Gleb Pawlowskij ist Wladimir Putin also ein „sowjetischer Mensch“, was sich nicht nur in einem Revanchismus bemerkbar macht, sondern auch in Putins Sprache: „Seine sowjetische Sprache, die Sprache der Geopolitik, sein harter Pragmatismus, der an Zynismus grenzte. Aber Putin ist kein Zyniker.“ Vielleicht sagte Pawlowskij das auch im Hinblick auf eine Erklärung Putins aus seiner Zeit als Ministerpräsident, jedenfalls fand Putin damals „deutliche Worte“, wie der „Der Spiegel“ bemerkte: Mit „drastischen Ausdrücken“ habe er in Zusammenhang mit der Bekämpfung tschetschenischer Rebellen schon öfter agiert, am Tag nach der Bombardierung Grosnys 1999 durch die russische Luftwaffe aber holte er die „Verbalkeule“ heraus: „Wir werden die Terroristen überall verfolgen. Wenn wir sie in der Toilette fangen, werden wir sie da im Scheißhaus auch kaltmachen!“

Als von Boris Jelzin installierter Nachfolger hatte Putin damals, wenige Monate vor der Präsidentenwahl 2000, enorm schlechte Umfragewerte. Diese und ähnlich „vulgäre Äußerungen“ aber, so weiß „Der Spiegel“, ließen Putins Beliebtheit in der Bevölkerung ansteigen. Putin demonstrierte pragmatische Kälte und mitleidlose Härte gegenüber den Feinden, was vielen Russen als eine Art Neubeginn ihrer Post-Sowjetära erschien und letztlich auch zu Putins lange von niemandem erwarteten Wahlsieg führte.

Aber Kälte und Härte allein reichten nicht: Nach dem Zerfall des Sowjet-Imperiums und dem Ende von Glasnost und Perestroika hatte man nach Ideen gesucht, mit denen man das geistige Vakuum der russischen Nation füllen konnte. Es ging, wie Gloger ausführt, „um die Konstruktion einer neuen nationalen und kulturellen Identität: eine `geistige und moralische Wiedergeburt Russlands´“. Begründungen dafür fand man, wie Gloger bemerkt, in der sogenannten „Uwarow-Doktrin“ aus der Zarenzeit, benannt nach dem konservativen Ideologen Sergej Uwarow (1786-1855), wo Orthodoxie, Autokratie und Nationalität zur imperialen Staatsdoktrin beziehungsweise zu einem Aufruf zur Sammlung der russischen Nation wurde. Diese Prinzipien fanden sich denn auch – wenn auch in anderen Worten – bereits in Putins „Milleniumsbotschaft“ 1999 wieder, wie Gloger weiß: „Das Manifest war die faktische Regierungserklärung des gerade ernannten Präsidenten: `derschawnost´ – Russland als Großmacht. `Gosudarstwennitschestwo´ – Russland als starker, zentralisierter Staat. Und `patriotism´ – Patriotismus.“

Folgt man George Orwell, ist Putins „Patriotismus“ allerdings nichts anderes als „Nationalismus“ par excellence. Orwell zufolge, der schon immer einen Blick auf autoritäre Systeme hatte (in dem 1945 veröffentlichten „Animal Farm“ insbesondere auch auf das sowjetische) beziehungsweise die Herrschaft einer antidemokratischen Struktur über die Gesellschaft, besteht ein wichtiger Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus. In dem 1945 verfassten Essay „Über Nationalismus“ (2020) schreibt er diesbezüglich: „Mit `Patriotismus´ meine ich die Verbundenheit mit einem bestimmten Ort und einer bestimmten Lebensweise, die man für die beste auf der Welt hält, aber anderen Menschen nicht aufzwingen möchte. Patriotismus ist von Natur aus defensiv, militärisch wie kulturell. Der Nationalismus hingegen ist untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden. Das dauerhafte Ziel jedes Nationalisten besteht darin, immer mehr Macht und immer mehr Prestige anzuhäufen, nicht für sich selbst, sondern für die Nation …“

Orwell zufolge will der Patriot also keine Macht über andere, der Nationalist hingegen schon – und zwar immer mehr. In seinem Nachwort zum Essay schreibt der Soziologe Armin Nassehi deshalb auch von einer „Steigerungslogik“, das heißt, wie er ausführt, dass der Nationalismus „das Besondere des Eigenen“ betonen und „mit einer Erhabenheit versehen (muss), die sich bis ins Lächerliche steigern kann“. Das, womit sich der Nationalist identifiziert, muss, wie Orwell selbst dazu sagt, „nicht einmal wirklich existieren (…) er kann an dieser Überzeugung sogar dann festhalten, wenn die Fakten ihr auf überwältigende Weise widersprechen. Nationalismus ist Machthunger gedämpft durch Selbsttäuschung. Jeder Nationalist ist zur eklatantesten Schandtat imstande, aber er ist sich auch – im Bewusstsein, einer Sache zu dienen, die größer ist als er selbst – unerschütterlich sicher, im Recht zu sein.“

Auch im Nationalismus steckt insofern, wie Adorno in dem bereits oben erwähnten Vortrag zu „Aspekte des Neuen Rechtsradikalismus“ sagte, die Möglichkeit und das Potential, „daß sie Wahnsysteme steigern, und … mit Wahnsystemen eine sehr tiefe strukturelle Beziehung haben. – Hier spielt sicher eine erhebliche Rolle jener anthropologische Typ, den ich in der Authoritarian Personality den `manipulativen Typ´ genannt habe … Das sind also Menschen, die gleichzeitig kalt, beziehungslos, strikt technologisch gesonnen, aber ja in gewissem Sinn eben doch irre sind, wie also in einem prototypischen Maß es Himmler gewesen ist. Und diese merkwürdige Einheit von Wahnsystem und technologischer Perfektion, die scheint in der Aszendenz zu sein und in diesen Bewegungen überhaupt wieder eine entscheidende Rolle zu spielen.“

Dazu zählt für Adorno insbesondere auch die Verherrlichung des soldatischen Mannes – man denke nur an die durchaus sexistische Selbstinszenierung des reitenden Putins mit nacktem Oberkörper (dazu passt auch Putins obszöner Appell an die Ukraine kurz vor Kriegsbeginn: „Ob es dir gefällt oder nicht, meine Schöne, du musst es erdulden“) – oder die Fetischisierung alles Militärischen. „Unvergessen ist seine Rede an die Nation im Jahr 2018, die zur Waffenschau geriet“, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ in diesem Zusammenhang in dem Artikel „Aus allen Rohren“: „Putin zeigte animierte Videos von neuen Nuklearwaffen, Interkontinentalraketen und solchen, die mit Überschallgeschwindigkeit fliegen können. Der Präsident stellte sie als Reaktion auf die Aufrüstung des Westens dar. `Niemand wollte uns zuhören´, sagte er. `Hört uns jetzt zu!´.“ Schon damals hat Russland laut Friedensforschungsinstitut Sipri in Stockholm jährlich fast vier Prozent seines Bruttoinlandsprodukts – etwa 65 Milliarden Dollar – in die Modernisierung seiner Armee gesteckt und ist seit etwa fünfzehn Jahren regelmäßig unter den größten Waffeneinkäufern weltweit.

Da der Nationalist in seiner Selbstbezogenheit nur in Kategorien konkurrierenden „nationalen Prestiges und militärischer Macht“ denkt, wie Orwell schreibt, kreist sein Denken „stets um Siege und Niederlagen, Triumphe und Demütigungen“. Aber auch die Niederlage kann den Nationalisten nicht an der eigenen Überlegenheit zweifeln lassen, das heißt „von anderen gedemütigt zu werden oder wenigstens das Gefühl der Demütigung zu erleben, erzeugt erst recht Loyalität“, schreibt Nassehi. „Deshalb ist der Nationalismus im Orwell`schen Sinne aufklärungsresistent und auch moralisch nicht zu treffen. Noch die schlimmsten Verbrechen und Grausamkeiten sind für den Nationalisten irrelevant, wenn es um das Bekenntnis zum Eigenen geht.“ Oder wie Orwell selbst schreibt: „Es geht um Loyalität, und deshalb zählen Mitgefühl und Bedauern nicht mehr.“

Mit der Betonung des Besonderen des Eigenen verliert umgekehrt das Universelle an Bedeutung – und das gilt dann insbesondere auch für universelle Prinzipien wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus oder Demokratie. Außerdem grenzen sowohl Patrioten als auch Nationalisten das vermeintlich Besondere des Eigenen unweigerlich von einem Feindbild ab. Ein Feind sei nötig, „(d)amit ein so falsches Gebilde wie die Nation in den Herzen der Menschen überhaupt errichtet werden kann“, bemerkt der Schriftsteller Michael Köhlmeier in „Wenn ich WIR sage“ (2021) im Hinblick auf die Konstruktion eines solchen Feindbildes. „Dieser Feind wird aus vorhandenen Ängsten und Vorurteilen destilliert und gezüchtet, großgezogen und in jede öffentliche Frage eingearbeitet – so lange, bis wir ihn erkennen …“ und ihn gegebenenfalls wie ein lästiges Insekt ausspucken können: „Jedes Volk, und insbesondere das russische Volk“, so Putin in einem seiner irren Monologe Mitte März, „wird immer die wahren Patrioten von dem Abschaum und den Verrätern unterscheiden können, um diese einfach auszuspucken wie eine Mücke, die versehentlich in ihren Mund geflogen ist.“ Er sei aber davon überzeugt, „dass eine solche natürliche und notwendige Selbstreinigung der Gesellschaft unser Land, unsere Solidarität, unseren Zusammenhalt und unsere Bereitschaft, auf alle Herausforderungen zu reagieren, nur stärken wird.“ Für Köhlmeier ist klar: „Dieses Wir, das Wir der Nation, ist giftiger Sprengstoff! Er zerstört Städte und Herzen“ …

Anders als das Wir der Freundschaft oder der Familie, ist das Wir der Nation, wie Köhlmeier bemerkt, ein Konstrukt: „Die Nation“, schreibt er, „erschleicht sich die Emotionen des Wir, sie ist ein reines Produkt von Ideologie und Lüge, bereits ihr Name ist eine Irreführung, sie ist die Hölle des Wir – sie und ihr Patriotismus sind … die letzte Zuflucht des Halunken. Das Wir der Nation ist das Wir der Komplizen“ – es korrumpiert gewissermaßen den Begriff der Heimat, denn „(d)as Wir der Heimat bestimmt, wer dazugehört; das Wir der Nation, wer nicht dazugehört. Die Heimat schließt ein, die Nation schließt aus.“

Anders als Orwell unterscheidet Köhlmeier insofern nicht zwischen Nationalisten und Patrioten, sondern vielmehr zwischen Nation und Heimat: „Die Nationalisten, die Patrioten, wie sie sich gern nennen, die, die das Vaterland lieben, marschieren auf und befehlen mir ein Wir, indem sie die Wärme, die dieses Wort ausstrahlt, semantisch umleiten und in ein Konstrukt blasen, das mit den Regungen meines Herzens nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Wer uns einreden möchte, Nation und Heimat seien dasselbe, der lügt, und er weiß, dass er lügt, und er lügt, um unsere Gefühle für Zwecke einzuspannen, die unsere nicht sind.“

Manche Politiker, schreibt Köhlmeier, brauchen ein Feindbild, „um jenes Wir zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, das sie wiederum zur Durchführung ihrer Pläne brauchen. (…) Nationalisten und Patrioten sind gefährliche Leute, die Vorgeben, es sei gerade ihre Tugend, dass sie gefährlich seien. Sie behaupten, gefährlich zu sein für all jene, die für uns eine Gefahr seien. Halunken sind sie in Wahrheit … Ungeliebte, Hetzer, Lügner, Betrüger, Verräter an ihren eigenen Empfindungen und den Empfindungen derer, für die zu sprechen sie behaupten!“

Patriotismus, wie Putin ihn für sich beansprucht, ist insofern nichts als „eine Form von geistiger Okkupation“: Mit ihm werden Gefühle von ihrem eigentlichen Gegenstand, der Heimat, auf einen Gegenstand der politischen Propaganda übertragen. Das aber, so Köhlmeier, ist „das betrügerische Kerngeschäft von Demagogen“ – was bereits Orwell erkannt habe: „Die Liebe vom Menschen auf die Nation umzulenken, ist ein übler Trick. Orwell hat das früh durchschaut“, wird Köhlmeier auf der Rückseite von „Über Nationalismus“ zitiert.

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Nach den Parlamentswahlen Ende 2003, als Putins Partei „Einiges Russland“ („Jedinaja Rossija“) 305 von 450 Sitzen in der Duma („Gossudarstwennaja Duma“), dem Unterhaus der beiden russischen Parlamentskammern, erobern konnte, spätestens aber seit Putins Wiederwahl im folgenden Jahr, mehrten sich die Hinweise darauf, dass, wie Gloger sagt, ein „national-patriotischer russischer Konservatismus als eine Art neue russische Leitideologie“ etabliert werden sollte: „Russland ist kein Projekt“, erläuterte Putin, „Russland ist Schicksal“.

In „Über Nationalismus“ definierte George Orwell folgende Merkmale nationalistischen Denkens: Obsession, Instabilität und Gleichgültigkeit gegenüber der Realität. Obsessiv verfolgt der Nationalismus die Idee der Überlegenheit und Erhabenheit des Eigenen. Instabil ist das deshalb, weil mit ihr auch die einzige Realitätsgarantie eben diese selbtsterzeugte Obsession ist. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Realität, bemerkt Armin Nassehi, „ist dann eine logische Folge des Nationalismus, die sich auch daran erkennen lässt, dass man sich das Eigene in starken Erzählungen, gerne Ursprungsmythen über die Entstehen der eigenen Nation und ihrer Herkunft plausibel machen kann.“

Im Fall von Putin war das zunächst der Mythos von der „Kiewer Rus“, dem ersten Reich auf russischem Boden – in dem allerdings neben Russland auch Belarus und die Ukraine ihren Ursprung sehen: Das Kiewer Reich war eine Gründung skandinavischer Waräger, die entlang des Dnjepr praktisch alle (ost-)slawischen Stämme unterwarfen (die Slawen wurden so zu Sklaven) und sie in der „Rus“ zusammenschlossen. Der Übertritt des Kiewer Fürsten Wladimir zum orthodoxen Christentum im Jahr 988 und eine Massentaufe der Bevölkerung im Dnjepr wurde zum Gründungsdatum der nun rechtgläubigen Kiewer Rus – und die anschließend errichteten Klöster zum Symbol für die Geburt Russlands. Aber eben auch der Ukraine und von Belarus.

Bereits 1240 wurde die Kiever Rus von den Mongolen unterjocht und blieb in der Folge eine „historische Landschaft“ im Übergangsraum zwischen Polen und Russland, während in der Steppenlandschaft südöstlich des Dnjepr Kosaken siedelten, die als freie Menschen niemandem untertan waren. Ihr Aufstand 1648 gegen die Polen gilt in der ukrainischen Geschichtsschreibung als Beginn der Nationalstaatsbildung: Das Hetmanat unter dem Kosaken Bogdan Chmelnitzkij wird als erster selbstständiger Staat beschrieben – der sich allerdings bereits 1654 Moskau unterstellte. Der „Vertrag von Perejaslaw“, mit dem sich die Kosaken dem russischen Zaren unterstellten, wird von russischen und sowjetischen Historikern später als „Wiedervereinigung“ der Ukraine mit Russland interpretiert. Jedenfalls erhielt die Ukraine den Beinamen „Malorossija“ („Kleinrussland“), das unbefestigte Grenzland der freien Kosaken östlich des Hetmanats – der spätere Osten und Süden der Ukraine (das übersetzt „Grenzland“ bedeutet) – den Namen „Sloboda-Ukraine“.

Es war die Deutsche auf dem Moskauer Thron, Katharina die Große, die 1762 zur russischen Kaiserin wurde und die Vision verfolgte, Russland zu einem modernen Imperium zu machen. Während ihrer Regentschaft wurde Polen gleich drei Mal zwischen ihrem Reich und Preußen und Österreich aufgeteilt – und auch in den Süden wollte sie gemäß ihres expansionstischen Leitmotivs: „Ich kann meine Grenzen nur verteidigen, indem ich sie ausdehne“ vorstoßen. „Noworossija“ („Neurussland“) nannte sie jenen gewaltigen Raum – die weiten Steppen mit der fruchtbaren Schwarzerde –, der heute größtenteils zur Ukraine gehört und im Jahr 2014 zum Kriegsgebiet wurde: die weiten Steppen mit der fruchtbaren Schwarzerde – freies, brachliegendes Land, das bebaut und fest ins russische Imperium integriert werden sollte. Es sollte ihr Bollwerk gegen das Osmanische Reich werden. Und ihre Truppen eroberten es unter dem Oberbefehl von Fürst Grigorij Potemkin auch bald im Russisch-Türkischen Krieg 1768. Wenige Zeit späger, 1783, erfolgte dann auch die Annektion des Khanats der Krimtataren, also die Krim. Auf beiden Landstrichen durften fortan auch bäuerliche Siedler Land besitzen, und auch persönliche Freiheit wurde ihnen garantiert.

Aus dieser Zeit resultieren auch die heutigen Ansprüche Putins auf die Krim, die Nikita Chruschtschow 1954 der Ukraine übergeben hatte. Auf der Krim errichtete Potemkin damals die Flottenbasis Sewastopol, die als Stützpunkt der Schwarzmeerflotte eminente strategische Bedeutung hatte und Russlands imperiale Zukunft im Schwarzen Meer sicher sollte – wie heutzutage im Mittelmeer die von Putin 2016 errichtete russische Marinebasis in der syrischen Hafenstadt Tartus. Auf einer mehrmonatigen Reise besuchte die Zarin auch sie. Andere Orte waren noch nichts als „Potemkinsche Dörfer“: Kulissenlandschaften, um Katharina zu täuschen. Aber „Potemkins Dörfer waren keine Chimäre“, bemerkt Gloger in diesem Zusammenhang: „Die meisten von ihnen wurden Wirklichkeit. Städte, die heute zur Ukraine gehören. Sie heißten Charkiw, Dnipropetrowsk (das Zentrum der Rüstungsindustrie und lange ukrainische Machtbasis sowjetischer Generalsekretäre hieß vormals, der Zarin zu Ehren, Jekaterinoslaw), Donezk, Luhansk und Mariupol am Asowschen Meer“ – heute wieder eine Art trauriger Kulissenstadt, zu Ruinen gebombt, Mahnmal des rücksichtslosen russischen Furors im Krieg gegen die Ukraine.

Putin griff die Idee von Noworossija auf und propagierte sie zunächst. Doch als nach der Annektion der Krim 2014 abzusehen war, dass sich die Menschen im Donbass nicht für diese Idee begeistern ließen und auch der Krieg in den selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk abzusehen war, rückte Putin davon ab, „zumindest vorübergehend“, wie Gloger schreibt. „Doch es bleibt die Idee der `heiligen Rus´, des einheitlichen Kulturraumes slawisch-orthodoxer Russen, zu dem nach Moskauer Verständnis auch die Ukraine gehört. So sagte es Putin: `Wir sind faktisch ein Volk.´“ Putins streben nach der Wiederherstellung Russlands als einem Imperium erfolgt auf Grundlage dieser Idee.

„Reinterpreting and reinventing imperial traditions of statecraft does not mean re-creating the past. Restoring lost influence is not the same as rebuilding an empire, but imperial history looms large in the unfolding story of Russia`s fightback to a position of global significance“, schreibt Samir Puri. Gleichwohl beweist der Rückgriff Putins auf den Mythos der Kiewer Rus, dass der Nationalist, wie Orwell schreibt, getrieben ist „von der Überzeugung, dass sich die Vergangenheit ändern lässt“. Und da Geschichte „überwiegend in nationalistischen Kategorien“ gedacht wird, scheint dieser Bezug nur folgerichtig. Allein, es gibt eben auch Alternativen, wie Mikhail Zygar, langjähriger Chefredakteur von „Doshd“, dem letzten unabhängigen Fernseh-Sender in Russland (der zuletzt, vor dem endgültigen Verbot in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, nur noch Online empfangen werden konnte), in einem Kommentar schreibt: die Republik Nowgorod zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert.

Nowgorod ist eine der ältesten russischen Städte und liegt im Norden des Landes zwischen St. Petersburg und Moskau. Im 12. Jahrhundert wurde dort die größte parlamentarische Republik im mittelalterlichen Europa gegründet (das von der Ostsee bis zum Ural reichte): etwa hundert Jahre vor der Entstehung des englischen Parlaments wurde dort bereits eine sogenannte „Wetsche“, eine öffentliche Versammlung, gegründet, die eine „Posadnik“ wählte – einen Beamten, dem venezianischen Dogen ähnlich.

Erstaunlicherweise aber fand diese Geschichte nie Berücksichtigung in der offiziellen Geschichtsschreibung Russlands. „Es schien zu seltsam und politisch schädlich zu sein“, schreibt Zygar, „wenn man daran erinnerte, dass Russland nicht immer ein furchterregendes Reich war (…) Die Republik Nowgorod koexistierte damals friedlich mit dem Fürstentum Kiew. Als in den Jahren 1237-1241 die Nachfahren von Dschingis Khan ihren Feldzug nach Westen begannen und fast alle russischen Fürstentümer unter mongolische Herrschaft gerieten, blieb die Republik Nowgorod ein unabhängiger Staat, der nie von der Goldenen Horde erobert wurde, im Gegensatz zu Moskau.“

Die Geschichte des demokratischen Nowgorod endete im 15. Jahrhundert, als sich Iwan III., Großfürst von Moskau, nach dem Tod des letzten byzantinischen Kaisers dessen Nichte zur Frau nahm, das kaiserliche byzantinische Emblem des Palaiologos zum neuen Symbol Moskaus machte (noch heute ist der Doppeladler das Wappen Russlands) und sich zum Zar von Russland krönen ließ. Seine kaiserlichen Ambitionen erforderten eine territoriale Expansion – bald darauf griff er Nowgorod an und schlug es grausam nieder.

„Dreieinhalb Jahrhunderte später schrieb Nikolai Karamsin [1766-1826], der Begründer der russischen Geschichtsschreibung, sein klassisches Werk `Geschichte des russischen Staates´ [Geschichte des Russischen Reiches, 1818]“, führt Zygar aus. „Als Hofhistoriker, der direkt für Zar Alexander I. [1777-1825] arbeitete, schrieb er seine Geschichte natürlich im Interesse des Monarchen. Er musste beweisen, dass die Autokratie eine gottgegebene, natürliche, ewige Geschichte Russlands sei, sein einziger Weg und sein Schicksal. Zu dieser Zeit gab es den russischen Staat mit seiner Hauptstadt Moskau erst seit etwa 300 Jahren, kürzer, als die Republik Nowgorod existiert hatte. Karamsin strich die Republik Nowgorod einfach aus der Geschichte. Er erwähnte sie nur als Nebenzweig, als Sackgasse einer Entwicklung. Alle nachfolgenden russischen Diktatoren taten genau dasselbe mit der ältesten Demokratie Europas. Sie versuchten, sie zu vergessen und aus dem Gedächtnis zu löschen.“

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Inzwischen hat Putin jener Infanteriebrigade, der in Butscha von Ermittlern des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Kriegsverbrechen und massenhafte Tötungen von Zivilisten vorgeworfen werden – hunderte Leichen, auch mit auf dem Rücken zusammengebunden Händen wurden nach dem Abzug der Einheit gefunden –, per Dekret den Ehrentitel einer „Garde“ verliehen für „Heldentum und Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut (…) Ich bin überzeugt, dass ihr Soldaten und Offiziere Gardisten seid, weiter dem Eid die Treue halten werdet, der Heimat mit Ehre dient und verlässlich die Sicherheit und das friedliche Leben unserer Bürger schützt“, wird Putin zitiert.

Die Ehrung der Infanteriebrigade erfolgte in Abwesenheit der tapferen russischen Helden, der Aufenthalt der Garde bleibt geheim. Ansonsten wird für Ehrungen und höchste Auszeichnungen im Kreml in Moskau gewöhnlich der Georgssaal verwendet. Er gilt als der prunkvollste Saal des Großen Kremlpalastes und ist selbst benannt nach der höchsten Staatsauszeichnung des Zarenreichs, dem 1769 gestifteten und für herausragende militärische Errungenschaften vergebenen „Orden des Heiligen Georg“ („Georgskreuz“). Namensgebend für den Orden ist der Heilige Georg, der der Legende zufolge eine Stadt vor dem Bösen in Gestalt eines Drachens rettete, indem er diesen mit einer Lanze tötete – nachdem sich König und Bevölkerung dazu bereit erklärt hatten, sich taufen zu lassen. Das Motiv des reitenden Georg, der später zu Beginn der Christenverfolgung unter Diokletian (284-305) ein Martyrium erlitt (weshalb er in der orthodoxen Kirche als Erzmärtyrer verehrt wird), ist in Russland weit verbreitet und stellt unter anderem auch das zentrale Stadtsymbol Moskaus dar.

Sich des Symbolgehalts sicher wohl bewusst, wählte Putin den Georgssaal 2013 für seine Verkündigung der neuen „russischen Idee“ im Rahmen seiner Rede zur Lage der Nation: Das Entwicklungsmodell der demokratischen Staaten führe nicht zu Stabilität und Ordnung, sondern zu Dekadenz und Verfall. Russland führe „einen schicksalhaften Abwehrkampf gegen die dekadent-zerstörerischen Werte des Westens“, bemerkt Gloger, und Putin selbst erklärt: „Wir können beobachten, wie viele der euroatlantischen Länder de facto ihre Wurzeln ablehnen, einschließlich der christlichen Werte … Sie verleugnen moralische Prinzipien und alle traditionellen Identitäten: nationale, kulturelle, religiöse und selbst sexuelle. Sie setzen eine Politik durch, die die Familie mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gleichsetzt, den Glauben an Gott mit dem Glauben an Satan.“

Für Putin sind das Pathologien der Moderne, unheilbare Krankheiten, die den beginnenden Niedergang und baldigen Kollaps der modernen westlichen Welt markieren. Ihre Dämonisierung wird zum Schicksal der einzigartigen russischen Nation, die als Hüterin des wahren Christentums die heilige Verantwortung habe, Ordnung zu schaffen und zu erhalten. Das neue Russland – Putins Russland – versteht sich insofern als eine revisionistische Ordnungsmacht mit eigener, zivilisatorischer Mission: In der neuen russischen Welt wird Weltgeschehen als ein apokalyptischer Kampf zwischen Gut und Böse interpretiert, die Macht sakralisiert. In der Logik dieser „Radikalisierungsdynamik“, wie Gloger sagt, ist auch die Annexion der Krim oder jetzt die russische Großoffensive im Donbass nur ein Akt patriotischen Widerstands gegen den dekadenten „postchristlichen Westen“, wie der russische Außenminister Sergej Lawrow sagt. Gloger zitiert ihn mit den Worten: „Die Welt wird objektiv postwestlich, das heißt, das westlich-liberale Zeitalter ist gescheitert“ – „im Vordergrund steht jetzt das Nationale“. Damit definiert sich der Konflikt mit dem Westen auch kulturell. Spätestens 2013 begann „Russlands Konterrevolution gegen die Moderne“, schreibt sie.

In dieser Zeit jedenfalls beginnt Putin vom „wahren Russentum“ zu sprechen: Russentum bedeute Solidarität – im Gegensatz zum Individualismus des Westens; es bedeute Spiritualität – im Gegensatz zur Dekadenz, dem moralischen Verfall des Westens. „Russlands `Souveränität´“, beschwor er, „werde nur durch die patriotische Einheit des russischen Volkes errungen, das sich hinter seinem starken Herrscher sammelt“, zitiert ihn Gloger. Das aber bedeutete im Umkehrschluss, dass Kritik an Staat und Putin fortan als Angriff auf Russlands Souveränität und die Nation gewertet wurde. Gloger schreibt diesbezüglich: Wer sich „gegen die nationalpatriotische Welle stemmte, war nun nicht mehr Kritiker, sondern: Gegner und Feind“.

Putins Pragmatismus der frühen Jahre schlug um in Autoritarismus, Repression und aggressive Mobilmachung der Gesellschaft, sodaß man inzwischen durchaus von einem faschistischen Regime mit unübersehbarem „Legitmationsdefizit“ sprechen kann, das eben nur durch die „patriotische Euphorie“ über seine „strukturellen Schwächen“ hinwegtäuschen kann, wie Katja Gloger bemerkt: „Der in den ersten Jahren eher pragmatische Putinismus“, erklärt sie, „wurde nun zunehmend ideologisiert.“ Dazu wurden vor allem ein russisch-orthodoxer Nationalismus mobilisiert – aber insbesondere auch Sehnsüchte nach ehemals imperialer Größe, das heißt, die ideologisch beanspruchte moralische Überlegenheit gegenüber dem Westen wurde nun auch mit einer geopolitischen Mission verknüpft.

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Mit seiner sicherheitspolitischen Brandrede gegen die Hegemonie der USA auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hat Putin schon vor fünfzehn Jahren die geopolitische Neupositionierung Russlands eingeläutet. Diese Neupositionierung war unweigerlich mit der Abkehr von den USA und der von ihr geprägten Weltordnung verbunden: An die Stelle eines „monopolaren Modells“ der Welt sollte nun eine mulitpolare Welt treten – mit mehreren unabhängigen Zentren, Russland natürlich eines davon.

In seiner etwa halbstündigen Rede erhob Putin, schon lange vor dem Krieg in der Ukraine, faktisch Anspruch auf eine Zone privilegierter Interessen im postsowjetischen Raum. Und dass es ihm ernst war, sollte die Welt schon ein Jahr später feststellen: In Georgien – das sich nach 1990, wie die Ukraine, in Richtung Europäischen Union und NATO orientierte – hatten sich schon in den 1990er Jahren zwei autonome Gebiete, Abchasien und Südossetien, faktisch abgespalten und mit Putins Unterstützung eigene Machtstrukturen geschaffen. „Arm, korrupt und abhängig von Moskau waren Abchasien und Südossetien klassische Beispiele für einen `frozen conflict´, einen eingefrorenen Konflikt, den Moskau jederzeit eskalieren lassen konnte“, schreibt Gloger in diesem Zusammenhang. Ende Juli 2008 dann ließ Putin Truppen an der Grenze zu Georgien aufmarschieren, angeblich wegen eines Manövers – wenige Tage später jedoch war der Georgienkrieg dann bereits schon zu Ende.

Im Georgienkrieg praktizierte Putin genau das, was er den USA jahrelang vorgeworfen hatte, bemerkt Gloger: „doppelte Standards, die selektive Interpretation des Völkerrechts und gewaltsame Grenzziehung entlang einer Einflusssphäre. Seine nach jahrzehntelangem, erniedrigendem Rückzug wiedererrungene Großmachtstellung würde Russland durch Kontrolle über die `früheren Grenzlande des russischen Imperiums´ sichern, sie würden als ökonomisches Reservoir sowie militärischer Puffer gegen unerwünschte Übergriffe anderer Großmächte dienen.“

Georgien war nach Tschetschenien der nächste Schritt Putins dahingehend – womöglich aber auch in Richtung einer Idee aus den Zwanziger Jahren Russlands, die mit Alexander Dugin, dem langjährigen Leiter des Moskauer „Zentrums für konservative Studien“ und einem der führenden Ideologen des russischen Faschismus, wieder neu ins Bewusstsein trat: dem „Eurasianismus“. Mit dem Konzept des Eurasianismus ist Dugin Apologet einer geostrategischen Neuordnung der Welt durch ein euro-asiatisches Kontinentalbündnis unter der Führung eines vom westlichen Imperialismus befreiten, autonomen Russland. Dugins Ziel sei es, so der Politikwissenschaftler Claus Leggewie in „Anti-Europäer“ (2016), „Europa aus dem politisch-kulturellen Westen heraus(zu)brechen und von dessen Führungsmacht USA ab(zu)lösen, um es unter Führung der russischen Föderation mit deren asiatischer Landmasse, eventuell auch mit Territorien in Zentralasien zu einem Gebiet (respektive einer Zivilisation) namens Eurasien zu vereinen.“ Letztlich läuft das auf die Teilung des asiatischen Kontinents in zwei Einflusssphären hinaus: eine im weitesten Sinne chinesische und eine russische, zu der dann auch Europa gehören würde.

Gloger bemerkt, dass sich „(ü)ber den Begriff `Eurasien´ später das Wort `Imperium´ zurück nach Russland (schlich)“. Dugins Einfluss auf Putin in diesem Zusammenhang ist zwar unklar – Putin habe sich bislang nicht auf eine Ideologie festgelegt, schreibt Gloger –, gleichwohl jedoch traf Putin mit seiner Erklärung, Russland zur Bastion des christlichen Europa gegen die westliche Dekadenz und die amerikanische Hegemonie zu machen, „genau den Ton Dugins“, wie Leggewie bemerkt. Beide teilen jedenfalls die Überzeugung, dass die moderne westliche Welt „eine fundamentale geistige, kulturelle und politische Evolution nötig hat“, wie Dugin schreibt. Man kann in diesem Zusammenhang vielleicht von einer „diskursiven Wechselwirkung“ sprechen, wie Andreas Umland das in einem Essay zu „Alexander Dugin“ (2020) tut und ergänzt: „Die `Polittechnologen´ des Kremls steuern und fördern die Moskauer Rechtsextremisten sowie ihre Medienpräsenz je nach tagespolitischer Wetterlage.“ Und so passt es auch ins Bild, dass neuerdings Dmitiri Medwedew, inzwischen stellvertretender Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, wieder öffentlich von „Eurasien“ schwadroniert.

Für Dugin jedenfalls gehören die ehemaligen Sowjetrepubliken wie eben Tschetschenien, Georgien oder die Ukraine, aber auch Kasachstan und überhaupt alle ethnischen Russen zu Eurasien, als dessen expansive Führungsmacht er natürlich Russland sieht. Es geht ihm, wie der Historiker Volker Weiss in „Die autoritäre Revolte – Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes“ (2017) schreibt, um die „Wiederherstellung der alten kulturellen und räumlichen Ordnung Europas“ und die Wiedergeburt „eines autoritär-konservativen Russland“. Es bleibt dabei nicht bei einem ideologischen Konzept, sondern für die angestrebte Wiedergeburt Russlands wirbt Dugin spätestens seit der Eskalation der Georgien-Krise 2008 für ein offensiveres Vorgehen gegen den „amerikanischen“ Westen. Schon alleine um sich selbst zu schützen, müsse Russland „Europa erobern, eingliedern und anschließen. Wir würden Europa einfach zu unserem Protektorat machen“, zitiert das rechte Wochenblatt Junge Freiheit eine Videobotschaft Dugins vom April 2014 – kurz nach der russischen Besetzung der Krim.

Die 1986 von Dieter Stein gegründete Junge Freiheit ist neben der Monatszeitschrift Compact von Jürgen Elsässer vielleicht die bekannteste und wichtigste Publikation der Neuen Rechten in Deutschland – und Dugin mit seinem „rabiaten Antiamerikanismus“, wie Weiss sagt, attraktiv für sie. Gerne wird er zitiert mit seiner „kompromisslos heroischen Position“, wonach man, wie Dugin selbst sagt, „seinen Feind kennen und bereit sein (müsse), im Ernstfall auch zu töten und zu sterben“. „Wir brauchen eine Partei des Todes“, hatte er einmal geschrieben und rief im Krieg und vermeintlichen Endsieg im Osten der Ukraine, wie Leggewie weiß, bereits 2014 vehement dazu auf: „Ich glaube, man muss töten, töten, töten. Ich sage das als Professor“ …

Dugin dringt durchaus zu Putin durch – der erwähnt ihn tatsächlich in Zusammenhang mit der Annektion der Krim –, das heißt Dugin hat „Zugang zur Spitze eines imperialen System, dessen Herrschaftsmethoden Staatsterror durchaus einschließen. Zugespitzt könnte man formulieren: Dugin tötet nicht, er lässt töten“, schreibt Leggewie. Dieser Zusammenhang zwischen der konkreten militärischen Ausweitung der Konflikte wie in Georgien und der Ukraine in der Argumentation Dugins ist der Jungen Freiheit, wie Weiss bemerkt, dabei durchaus bewusst. Denn Dugins Ideologie läuft unweigerlich auf Krieg hinaus – für ihn ist „ein Konflikt der Zivilisationen unausweichlich“, schreibt Gloger. Denn er verfolgt eine historische Mission – wie auch sein Präsident: Im März 2014 verkündete Putin in einer historischen Rede im Georgssaal die Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation. Auf der Krim, in der Ukraine und anderswo – kein Opfer sei groß genug, sagte er dort, um die „russische Welt“ zu verteidigen. Selbst der Tod sei „schön, wenn er den Menschen dient, als Tod für einen Freund, für sein Volk oder sein Heimatland“.

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Alexander Dugin bemisst den russischen Großraum, wie er sagt, „nicht nach Staatsgrenzen, weder nach alten sowjetischen noch nach neuen post-sowjetischen, sondern nach dem Grad der kulturellen Durchdringung“. Das ist keine neue Idee, sondern er aktualisiert so nur Begriffe und raumpolitische Kategorien, die bereits bei Carl Schmitt eine wesentliche Rolle spielten. Dugin selbst bemerkt dazu: „Die Konzeption der `Rechte der Völker´, die von Schmitt entworfen wurde, und ebenso seine Theorie der `Ordnung der großen Räume´ und Imperien sind radikale Schritte über die Grenzen des anthropologischen Individualismus hinaus …“

Herrschte in den Dreißiger Jahren insgesamt ein geopolitisches Denken vor, dessen offensichtlichstes Anzeichen bald der zunehmend inflationäre Gebrauch des Begriffs „Raum“ – als „Lebensraum“, „Großraum“ oder „europäischer Raum“ – werden sollte, gilt das insbesondere für Schmitt: Nicht zuletzt mit ihm rückte die Geopolitik wieder ins Zentrum der Überlegungen – und mit ihr das der Neuen Rechten insgesamt gemeinsame Verständnis von „`Großräumen´ als eines ihrer spezifischen Merkmale neben der vulnerabel gewordenen `Identität´“, wie Weiss schreibt. Beide seien, wie er ausführt, „untrennbar miteinander verbunden, da in diesem Denken der Raum identitätsstiftend für die darin lebenden Völker fungiert, wie diese ihn wiederum prägen.“

Völkische Identität und Raum führt Schmitt vor allem in seinem nationalisierten Reichsbegriff unmittelbar zusammen, den er gewissermaßen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, 1939, zur geostrategischen Großraumtheorie erweitert, wie Weiss ausführt. Die von Schmitt beschriebene Verbindung von Raum und Identität eines Volkes hat zwar auch noch für eine weitere modernisierte Ideologie der Neuen Rechten Bedeutung: den „Ethnopluralismus“, also der Idee eines Nebeneinanders homogener Völker in „ihren“ ursprünglich angestammten Lebensräumen. Für Dugin aber spielt eindeutig die klassische völkische Verschränkung der beiden Begriffe in der Großraumtheorie die zentrale Rolle – und damit verbunden eine neue globale Raumordnung im Sinne eines russisch dominierten Imperiums.

In dem bereits erwähnten „Der Reichsbegriff im Völkerrecht“ erklärt Schmitt, dass jedes Reich „einen Großraum (hat), in den seine politische Idee ausstrahlt und der fremden Interventionen nicht ausgesetzt sein darf“. Entsprechend müsse dieser Raum vor Einflüssen „raumfremde(r) Mächte“ geschützt werden – was auch, im Sinne einer allgemeinen Stabilität – völkerrechtlich anerkannt werden solle. Gerade für Deutschland, das heißt, für das neu entstandene nationalsozialistische Deutsche Reich, sei diese Abschottung gegen kulturelle und politische Einflüsse von außen überlebenswichtig, weshalb er, wie Weiss bemerkt, unmissverständlich wiederholte: „`Der Zusammenhang von Reich, Großraum und Nichtinterventionsprinzip ist grundlegend´. Nur bei einer globalen Akzeptanz dieser Regel könne Frieden einkehren: `Sobald aber völkerrechtliche Großräume mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte anerkannt sind und die Sonne des Reichsbegriffs aufgeht, wird ein abgrenzbares Nebeneinander auf einer sinnvoll eingeteilten Erde denkbar und kann der Grundsatz der Nichtintervention seine ordnende Wirkung in einem neuen Völkerrecht entfalten.´“

Schmitts Abgrenzung des völkerrechtlichen Großraums mit klar definierten Interessenssphären hat seinen Ursprung vielleicht in seiner radikalen Ablehnung der Weimarer Republik, wo der Reichsmythos erstmals als Gegenbegriff zur demokratischen Grundordnung und die mit ihr verbundenen universalen Grundwerte wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit oder Pluralismus in Stellung gebracht wurden, um die territoriale, kulturelle und völkische Einheit zu verteidigen. Ähnlich liest sich das später bei Dugin, der 2014 in einem Gespräch sagte: „Unterschiedliche Gesellschaften haben unterschiedliche Werte. Es gibt keine universellen Werte. Die, die dafür gehalten werden, sind eine Projektion westlicher Werte. Die westliche Zivilisation ist eine rassistische, ethnozentrische Zivilisation. Jeder Westler ist ein Rassist – kein biologischer, wie Hitler, aber kulturell. Deswegen denkt er, es gebe nur eine Zivilisation – oder Barbarei.“

Schmitts Feindschaft gegen die Ordnung der Weimarer Republik jedenfalls „war zu einem wesentlichen Teil diesem Denken entsprungen, das im demokratischen Staat die Negation des Reiches sah“, schreibt Weiss. Deshalb müsse sich eine funktionierende Großraumordnung erfolgreich gegen den Universalismus der westlichen Gesellschaften „imprägnieren“, der ihrem Wesen völlig entgegengesetzt sei. Sein Reichsbegriff ist insofern in deutlicher Ablehnung eines demokratischen Universalismus formuliert, treffen hier doch „feindliche Grundprinzipien aufeinander“, wie er 1939 in „Großraum gegen Universalismus“ schreibt: Beide Begriffe stünden für den „Gegensatz einer klaren, auf dem Grundsatz der Nichtintervention raumfremder Mächte beruhenden Raumordnung gegen eine universalistische Ideologie, die die ganze Erde in das Schlachtfeld ihrer Interventionen verwandelt und sich jedem natürlichen Wachstum lebendiger Völker in den Weg stellt.“

Es ist dieser Satz, der wie kaum ein anderer die Haltung Schmitts wiedergibt, der in der Ideologie Dugins eine zentrale Rolle spielt, wenn er betont, dass eine solche Zivilisation wie jene des russischen Volkes, mit „mächtiger existenzieller Energie“, nicht der Herrschaft des Völkerrechts unterworfen sein darf, das „den Lauf der lebendigen, unvorhersehbaren Geschichte hemmt“. Kein Zweifel, dass Dugin hier an Krieg denkt – zumal dann, wenn man das von Schmitt postulierte Freund-Feind-Schema als geschichtlichen Motor nationalistisch-imperialer Politik begreift. Krieg ist dann nur die äußerste Steigerung des politischen Konflikts, wie Schmitt in „Der Begriff des Politischen“ (1932) schreibt: „Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß sie insbesonere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins. Krieg ist nur die äußerste Realisierung der Feindschaft.“

Für die deutsche (und europäische) Rechte gilt Schmitts Grundsatz von der Nichtintervention heutzutage offenbar auch in diesem Zusammenhang – jedenfalls insbesondere gegenüber der imperialen Politik Putins. So räumte zum Beispiel Alexander Gauland 2014 in einer Rede anlässlich der russischen Annexion der Krim ein – Putin verleibte sich die Halbinsel vor dem Hintergrund des Maidan-Aufstands in der Ukraine ein –, dass dieses Vorgehen zweifellos ein „völkerrechtswidriger Akt“ sei, schob aber umgehend die Beurteilung hinterher, „die Legitimität eines Handelns“ könne „anders beurteilt werden als seine Legalität“, wie Weiss ihn zitiert. „Für einen dezidiert Konservativen eine bemerkenswerte Relativierung“, schreibt Weiss: „Hier scheint zweifellos der Souveränitätsbegriff von Carl Schmitt hindurch, wonach sich echte Herrschaft daran zeige, dass sie sich auch über den rechtlichen Rahmen erheben könne.“ Gauland kritisierte anschließend, dass die geplante Ausdehnung der NATO bis an die russische Grenze Putin kaum eine andere Wahl gelassen habe: Da der Westen, „wie er durchaus zutreffend konstatierte“, so Weiss, die Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schamlos zur Expansion ausgenutzt habe, seien für Russland nicht mehr viele Optionen zur Wahrung seiner nationalen Interessen geblieben.

Noch immer argumentiert die Neue Rechte, dass die universalen Menschrechte gegen die Rechte der Völker stünden – und verteidigt so, über die „Volkstumsfrage“, gerade auch Putins irredentistisch-restaurative Kriegspolitik in der (Ost-)Ukraine: Die „Irredenta“, also die angestrebte Abspaltung eines von einer ethnischen Minderheit besiedelten Territoriums von einem Staat, um sich einem anderen der „eigenen“ Ethnie anzuschließen, wie jetzt im Fall der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, war nach dem Ersten Weltkrieg eines der Hauptprobleme – aus diesem Grund entstand auch der Völkerbund und das universalistische Völkerrecht. Der Drang, aus der Erbmasse der zerfallenen Großreiche ethnisch homogene Staaten zu bilden, führte zu zahlreichen neuen Konflikten. Ähnliche Krisen kamen nach dem Zerfall der Sowjetunion auf. Insofern wäre der Krieg, den Putin heute in der Ukraine führt, durchaus für die zwanziger Jahre typisch gewesen – und heute nur noch, wie Dugin das tut, im anachronistischen Rückgriff auf die achtzig Jahre alten geopolitischen Überlegungen Carl Schmitts aus der Hochphase des Nationalsozialismus plausibel.

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Auch noch nach Kriegsende argumentierte Carl Schmitt, wie Weiss schreibt, für „eine Wiedergeburt des `Reiches´ als autoritären Nationalstaat und Aspiranten auf eine globale Führungsrolle“ und klagte, dass das Völkerrecht „die Entthronung des Staatsbegriffs auf dem Weg eines Vorstoßes gegen den Souveränitätsbegriff in Angriff angenommen“ habe. „Dieses Lamento über den Verlust der Souveränität könnte genauso aus der Feder eines heutigen EU-Gegner stammen“, bemerkt Weiss: „Das Primat einer unbedingten Wahrung der nationalen Souveränität vor allem autoritärer Staaten gegenüber der Forderungen der Demokratien grundierte auch Schmitts Ablehnung internationaler Sanktionen. In ihnen sah er einen deutlichen Ausdruck doktrinärer Menschenrechtspolitik und damit einen wesentlichen Bestandteil des – hier zitierte Schmitt Mussolini – `Krieg(es) der Demokratien gegen die totalitären Staaten´.“

Mit der kategorischen Ablehnung von internationalen Sanktionen im Kampf gegen totalitäre Staaten, gegen die Souveränität von „Volk“ und „Raum“, hat Schmitt den heutigen Verfechtern autoritärer Herrschaft die Argumente gegeben. Claus Leggewie bemerkt in diesem Zusammenhang, dass in den ehemaligen Visegrád-Staaten wie Polen oder Ungarn die Europäische Union „immer anders betrachtet wurde als in Berlin und Brüssel. Während die Erweiterung dort stets eine supra- und postnationale Perspektive hatte, gilt Internationalismus in den einstigen Satellitenstaaten Moskaus als Einschränkung nationaler Souveränität, deren glückliche Wiederherstellung man sich vom Beitritt zu Nato und EU erhofft hatte – um erst in der Eurokrise und dann angesichts der Grenzöffnung für Flüchtlinge zu erfahren, dass man von Berlin und Brüssel Einschränkungen verordnet bekam. Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass rechtsgerichtete Eliten in Ostmitteleuropa sich in der Aversion gegen den europäischen Westen ausgerechnet dem Nachfolgestaat der Sowjetunion annähern.“

Leggewie macht darauf aufmerksam, dass nach 1990 zwar in allen ehemaligen Satellitenstaaten des Kreml liberale Demokratien eingeführt wurden, diese aber inzwischen in mehreren Staaten autoritärere Züge annehme und zu einer Art „plebiszitären Demokratie“ umgebaut wurde. Bei dieser handelt es sich zwar formal noch um eine Demokratie, in der Verfassungswirklichkeit aber um einen autoritären Staat. In „Legalität und Legitimität“ (1932) beschreibt Carl Schmitt „plebiszitäre Demokratie“ folgendermaßen: „Das Volk kann nur Ja und Nein sagen; es kann nicht beraten, deliberieren oder diskutieren; es kann nicht regieren und nicht verwalten; es kann auch nicht normieren, sondern nur einen ihm vorgelegten Normierungsentwurf durch sein Ja sanktionieren. Es kann vor allem auch keine Frage stellen, sondern nur auf eine ihm vorgelegte Frage mit Ja oder Nein antworten (…) Infolge dieser Abhängigkeit von der Fragestellung setzen alle plebiszitären Methoden eine Regierung voraus, die nicht nur Geschäfte besorgt, sondern auch Autorität hat, die plebiszitären Fragestellungen im richtigen Augenblick richtig vorzunehmen. Die Frage kann nur von oben gestellt werden, die Antwort nur von unten kommen. Auch hier bewährt sich die Formel … Autorität von oben, Vertrauen von unten.“

Schmitt schreibt das vor dem Hintergrund der Weimarer Demokratie, die ihm zufolge auf völlig veraltenen Prämissen aufbaue, die nicht mehr mit den gesellschaftspolitischen Realitäten zu tun hätten. Ihm zufolge konstituieren Öffentlichkeit und Diskussion die Idee des Parlaments – das „ewige Gespräch“, wie er es auch nennt -, in Wirklichkeit jedoch gebe es überhaupt keinen Willen zur Verhandlung, sondern die verschiedenen ideologischen Lager stünden sich unversöhnlich gegenüber: Es gebe nur noch Meinungs- und Interessenfronten – die politischen und sozialen Gegensätze sind in der Massendemokratie der Weimarer Republik so groß geworden, dass sie nicht mehr über die parlamentarische Demokratie integriert werden können. Stattdessen müsse „Demokratie“ seines Erachtens als Identität von Regierenden und Regierten aufgefasst werden, wobei das Volk Entscheidungen des Regierenden direkt über das Mittel der öffentlichen Akklamation legitimiert. Minderheiten- oder individuelle Freiheitsrechte bleiben so unberücksichtigt – sie spielen in diesem Verständnis keine Rolle.

In etwa so funktioniert Putins gelenkte Demokratie, in der gemäß seinem Credo: „Entweder wir sind souverän – oder wir lösen uns in der Welt auf und verlieren uns in ihr“ alle pluralistischen Tendenzen in der Gesellschaft zum „Schutz der kulturellen Identität des russischen Volkes“ untergeordnet sind, wie Leggewie bemerkt. Sie scheint das Ideal zu sein – insbesondere in Polen und Ungarn: Hier wie dort dominiert eine „identitäre Demokratievorstellung“, fährt Leggewie fort, „die das Volk über das Recht setzt“, das heißt, zunehmend werden in der Europäischen Union gültige Rechtsstaatsprinzipien wie Minderheitenrechte oder die Rechte unabhängiger Medien eingeschränkt beziehungsweise abgeschafft oder es wird sogar versucht, das Verfassungsgericht auszuschalten.

Geschieht der Demokratieumbau in Polen vielleicht noch etwas zurückhaltender, spricht der autoritär regierende Viktor Orban in Ungarn längst von einer „illiberalen Demokratie“, die sich von liberalen Dogmen und Wertvorstellungen befreit hat, um, wie er bereits 2014 sagte, „den neuen ungarischen Staat zu finden, der imstande ist, unsere Gemeinschaft in der Perspektive von Jahrzehnten im großen Wettlauf der Welt wettbewerbsfähig zu machen. Um dazu imstande zu sein (…) mussten (wir) aussprechen, dass eine Demokratie nicht notwendigerweise liberal sein muss. Etwas, das nicht liberal ist, kann noch eine Demokratie sein. Mehr als das: Wir mussten auch aussprechen, und es konnte endlich ausgesprochen werden, dass die nach dem staatlichen Organisationsprinzip der liberalen Demokratie aufgebauten Gesellschaften in den kommenden Jahrzehnten höchstwahrscheinlich nicht imstande sein werden, ihre globale Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten, vielmehr werden sie einen Rückschlag erleiden, wenn sie nicht zu grundlegenden Veränderungen fähig sind.“ Klarer kann man der Europäischen Union mit ihrem liberalen „Geschwätz“, wie Orban es nennt, eigentlich keine Absage erteilen.

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In der mittlerweile schon zweiundzwanzig Jahre dauernden Ära Putin hat sich Russland von einem taumelnden postsowjetischen Krisenstaat also in ein autoritäres, repressives und aggressives System verwandelt – nach Innen genauso wie in seiner geopolitischen Ausrichtung. Zurecht fragte Katja Gloger deshalb bereits 2017 in „Fremde Freunde – Deutsche und Russen“, warum in Deutschland „so viel Verständnis ausgerechnet für ihn, der mitten in Europa gewaltsam Grenzen verschob und die mühsam ausgehandelte europäische Friedensordnung infrage stellte? Woher diese Faszination für den langjährigen Offizier eines monströsen Geheimdienstes? Für einen, der wenige Woche vor den französischen Präsidentschaftwahlen Marine Le Pen empfing – die Frau, die Europa zerstören will? Und der auf der Welle des Rechtspopulismus reitend in Europa und anderswo mit `hybrider Kriegsführung´ genau das betreibt, was er doch sonst heftig kritisiert: regime change.“

Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck, der mit einem autoritären, diktatorischen Regime und der Staatssicherheit eine persönliche Geschichte verbindet, kann die langjährige deutsche Milde Putin gegenüber nicht wirklich nachvollziehen. Sie wirkt auf ihn wie eine nahezu „groteske Realitätsverweigerung“, wie er in einem Gespräch mit Gloger 2017 berichtet. Seine Begegnung mit Putin 2012, nach dessen erneuten Wiederwahl zum Präsidenten Russlands und der gründlichen, durchaus gewaltsamen Unterdrückung von Demonstrationen und Protesten in diesem Zusammenhang, verlief distanziert. Zu einem Gegenbesuch, wo Putin „sein Russland“ präsentiert hätte, ein Land „moderner Patrioten unter russischer Fahne, weltoffen, siegesgewiss und dem Präsidenten zugetan“, wie Gloger schreibt, kam es erst gar nicht.

„Was ist er gewesen?“, fragt also Gauck in besagtem Gespräch und gibt selbst die Antwort: „Ein kleiner Offizier, freiwillig einem Geheimdienst dienend, `Schild und Schwert´ der Kommunistischen Partei. Diese Partei hatte sich ein Sechstel der Erde unterworfen und ihr Herrschaftsgebiet auch in Europa ausgedehnt. Das System, dem er freiwillig diente, war immer auf dem Kriegspfad mit Demokratie. Es löschte die Herrschaft des Rechts, setzte brutale Macht absolut. (…) Und wie kamen Menschen in solchen Gesellschaften voran? Sie verinnerlichten drei Regeln: `Sei gehorsam! Passe dich an! Fürchte dich!´ Größer konnte Unfreiheit eigentlich gar nicht sein“, sagte Gauck und fügte hinzu: „Wladimir Putin war ein Agent der Unterdrücker, ein Agent niemals legitimierter Macht. Er ist antidemokratisch geprägt. Er zählt zu den führenden Figuren einer Internationale, die sich zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder neu gebildet hat: Der Internationale der Antimoderne“ – man könnte mit dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie auch sagen: der „Neuen Rechten“.

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Wie Adorno bereits 1967 in dem oben erwähnten Vortrag zu „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ in Zusammenhang mit der Gründung der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD)“ 1964 feststellte, scheinen die Menschen in Deutschland „in einer immerwährenden Angst um ihre nationale Identität zu leben, eine Angst, die zu der Überwertigkeit des Nationalbewußtseins sich das Ihrige beiträgt.“ Was ist Heimat? Was ist Nation und Patriotismus? Es sind in der Vergangenheit vor allem Konservative, die beanspruchen, die richtigen Antworten auf diese Fragen zu liefern (dieses „Geraune“, wie Köhlmeier es zurecht an einer Stelle nennt). Entsprechend ist bis etwa zur Jahrtausendwende eine politische Haltung Konservativ und Rechts – das gehörte zum Grundkonsens der demokratischen Gesellschaft. Inzwischen allerdings hat sich das politische Koordinatensystem verschoben, das heißt, wer sich heute demonstrativ Rechts verortet – wie die Neue Rechte um Götz Kubitschek, das von Erik Lehnert geleitete „Institut für Staatspolitik (IfS)“ im sächsischen Schnellroda oder die europaweit tätige „Identitäre Bewegung“ –, zieht die demokratische Grundordnung und mit ihr verbundene universale Grundwerte wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus oder Demokratie offen in Zweifel.

Wie für Putin in Russland, ist auch ihr Begehren, so sagt der Historiker Volker Weiss in der Dokumentation „Die alte Neue Rechte“ (2021) von Falko Korth, „die Wiederrichtung einer Vergangenheit, die es so nie gegeben hat“, bei der konservative Begriffe wie Treue, Ehre, Glaube et cetera im Zentrum stehen, „die aber eigentlich auch nur leere Symbole sind“. Es geht um Überzeugungen die bis in die Zeit der Weimarer Republik zurückreichen – um alte, radikal-nationalistische Konzepte in mutierter Form. Oder wie Claus Leggewie in diesem Zusammenhang ebendort sagt: „Das Rechte Denken hat bestimmte, elementare Merkmale, die sich seither nicht geändert haben. Das ist der Autoritarismus, das ist das völkische Denken, das ist die Ablehnung von Fremden, es ist der Widerstand gegen Migration, es ist ein patriarchales Weltbild, traditionelle Familie, es ist sehr stark auch Kirchengebunden …“

Aber so leer die von den Nationalisten beanspruchten Begriffe auch sein mögen – dass sie es sind, zeigt Michael Köhlmeier beispielhaft am Wir auf –, so anachronistisch und unzeitgemäß diese Konzepte im Zeitalter des Anthropozän auch erscheinen mögen – Adorno warnte bereits 1967: „Man sollte diese Bewegungen nicht unterschätzen wegen ihres niedrigen geistigen Niveaus und wegen ihrer Theorielosigkeit. Ich glaube, es wäre ein völliger Mangel an politischem Blick, wenn man deshalb glaubte, daß sie erfolglos sind. Das Charakteristische für diese Bewegungen ist vielmehr eine außerordentliche Perfektion der Mittel, nämlich in erster Linie der propagandistischen Mittel in einem weitesten Sinn, kombiniert mit Blindheit, ja Abstrusität der Zwecke, die dabei verfolgt werden. Und ich glaube, daß gerade diese Konstellation von rationalen Mitteln und irrationalen Zwecken … in gewisser Weise der zivilisatorischen Gesamttendenz entspricht, die ja überhaupt auf eine solche Perfektion der Techniken und Mittel hinausläuft, während der gesamtgesellschaftliche Zweck dabei eigentlich unter den Tisch fällt. Die Propaganda ist vor allem darin genial, daß sie bei diesen Parteien und diesen Bewegungen die Differenz, die fraglose Differenz zwischen den realen Interessen und den vorgespiegelten falschen Zielen ausgleicht. Sie ist wie einst bei den Nazis geradezu die Substanz der Sache selbst. Wenn Mittel in wachsendem Maß für Zwecke substituiert werden, so kann man beinahe sagen, daß in diesen rechtsradikalen Bewegungen die Propaganda ihrerseits die Substanz der Poltik ausmacht. Und es ist ja kein Zufall, daß die sogenannten Führer des deutschen Nationalismus … eben in erster Linie Propagandisten waren und daß ihre Produktivität und Phantasie in die Propaganda hereingegangen ist.“

Für Adorno ist „Rechtsradikalismus kein psychologisches und ideologisches Problem, sondern ein höchst reales und politisches“. Entsprechend gab es ihm zufolge im Nationalismus beziehungsweise Faschismus „nie eine wirklich durchgebildete Theorie“, sondern es kommt ihm vielmehr, wie Adorno sagt, „auf Macht, begriffslose Praxis, schließlich auf unbedingte Herrschaft“ an, „der Geist, wie er in der Theorie sich niederschlägt, (ist demgegenüber) etwas Sekundäres“. Diese Vorherrschaft einer begriffslosen Praxis aber habe nun auch Konsequenzen für die Propaganda, denn sie „gilt weniger der Verbreitung einer Ideologie, die, wie ich Ihnen sagte, viel zu dünn ist, als dem, daß Massen eingespannt werden. Die Propaganda ist also vorwiegend eine massenpsychologische Technik.“

Gerade im Zeitalter der Sozialen Medien und digitalen Plattformen haben Adornos Ausführungen nichts an ihrer Aktualität verloren. Ihm war klar, wie Volker Weiss im Nachwort zu „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ ausführt, „dass die politischen Zerstörungen, die von den rechten Demagogen produziert werden, keine Entgleisungen waren, die sich einhegen ließen, sondern Kalkül“. Für Adorno war klar, wie er schrieb, „daß die faschistische Propaganda mit ihrer verdrehten Logik und ihren phantastischen Verzerrungen bewußt geplant und organisiert wird“, auch wenn sie dabei „keiner diskursiven Logik“ folge, sondern allein „eine Art organisierter Gedankenflucht“ ist, die Affekte mobilisiert.

Grundlegend für erfolgreiche Propaganda ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Beschwörung des permanenten Ausnahmezustands. Für Adorno wird die Wirkung der Agitation zudem durch den kulturindustriellen Rahmen garantiert, dem sie selbst bis ins Detail entspricht. Weiss bemerkt dazu: „Im Internet-Zeitalter tritt die von Adorno konstatierte Kombination einer außerordentliche(n) Perfektion der Mittel mit einer völligen Abstrusität der Zwecke nun umso deutlicher hervor. Ihren Erscheinungsformen als Bots, Trolle und Fake News ist viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. (…) Noch immer gilt, dass ohne eine Reflexion auf die Mechanismen massenhaft produzierter Informationen und Kultur die Abwehr von Propaganda ein aussichtsloses Unterfangen bleibt, da Propaganda in diesem Rahmen überhaupt erst wirken kann.“

Heute hat die digitale Revolution die Massenkultur auf eine neue Ebene gehoben, und wie ihre historischen Vorläufer, versteht sich auch die zeitgenössische äußerste Rechte virtuos auf die Kombination von Propaganda und Technik, sodass man inzwischen mit Volker Weiss sagen kann, „dass sich die Hoffnung auf einen technisch vermittelten Demokratieschub nicht erfüllt, solange der kulturindustrielle Rahmen von Kitsch und Spektakel dominiert“.

Sind es hierzulande vor allem Soziale Medien, über die die Neue Rechte die öffentliche Meinung zu beeinflussen sucht, dominiert in Russland noch immer das Fernsehen: es ist, wie Gloger schreibt, „wichtigste Informationsquelle für 95 Prozent der russischen Bevölkerung“. Deshalb hat Putin noch nicht einmal ein Jahr nach seinem Amtsantritt 1999 die Kontrolle über fast alle wichtigen Fernsehsender übernommen, bis 2008 erlangte der Kreml – direkt und indirekt – bereits über 90 Prozent der russischen Medien die Kontrolle. Im Jahr 2015, weiß Gloger, sah die Fernsehlandschaft Russlands so aus: „Das `Erste Programm´ `ORT´ erreicht 99 Prozent der Menschen in Russland. Es gehört zu 51 Prozent dem Staat. Je 25 Prozent der Aktien halten der bislang unter allen Präsidenten erfolgreiche Oligarch Roman Abramowitsch sowie die `Nationale Mediengruppe´ NMG. An der NMG-Gruppe ist der Mehrheitsaktionär der Bank Rossija, Jurij Kowaltschuk beteiligt, loyaler Gefolgsmann Putins.“ Inzwischen hat mit dem Fernsehsender „Doshd“ auch noch der letzte unabhängige Sender aufgegben – die Verschärfungen in Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg tun das Übrige dazu.

Und so beschreibt Katja Gloger, die als Korrespondentin über zwanzig Jahre lang in Moskau gelebt hat, Putins Fernsehen: Es ist „ hochmodern, bunt, laut, unterhaltsam, emotional, schnell (…) Politik wird nur noch als grelles Spektakel dargestellt. Es gewinnt: die Position des Kreml. Auf Fakten kommt es dabei nicht an – auch für die Zuschauer nicht, schon gar nicht, wenn es um patriotischen Furor geht. Radikal und aggressiv im Ton, gleicht die virtuelle Realität des politischen Fernsehens einer Endlosschleife der Gewalt – und als schienen Konflikte nur mit Gewalt lösbar. Dabei ist nicht mehr wichtig, ob etwas `falsch´ oder `richtig´ ist. Die Grenze zwischen Fakten und Fiktion verschwimmt … (…) So schaffen Russlands Medien eine neue, konfuse Realität, der sich kaum noch jemand entziehen kann.“

Das Ergebnis ist messbar. Wie schon vor den Zustimmungswerten zu Putin jetzt (bei einer Umfrage von Ende März gaben 83 Prozent der befragten Russen an, dass sie Putins Vorgehen im Ukraine-Konflikt gutheißen), zeigen frühere Umfragen des letzten noch existierenden unabhängigen Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentr“ zur Frage, ob Russland Feinde habe, folgende Ergebnisse: 1989 antworteten 13 Prozent mit „Ja“, während dieselbe Frage 2013 – noch vor Ausbruch der Ukrainekrise – bereits 78 Prozent bejahten. Im März 2015, nach der Annektion der Krim, waren zwei von drei Befragten überzeugt: Russland wird durch innere und äußere Feinde bedoht. Gloger zitiert den Direkter des letzten unabhängigen Meinungsforschungsinstitutes 2017: „Unsere Umfragen zeigen eine rasante Radikalisierung und Militarisierung des Denkens. Mit mächtigen Propagandakampagnen werden die Menschen jetzt gegen äußere und innere Feinde gerichtet. So aggressiv und demagogisch habe ich dies noch nie erlebt. Es ist, als ob uns etwas Fürchterliches bevorsteht. Unaufhaltsam rollt es auf uns zu. So muss es in den 30er Jahren gewesen sein. Wir können uns nicht wehren. Und vielleicht wollen wir uns gar nicht mehr wehren.“

Umgekehrt gilt, wie der bereits erwähnte Journalist Mikhail Zygar sagt: „Journalisten sind jetzt Soldaten in einem Krieg.“ Und wenn Journalisten zu Soldaten werden – dann ist Information und Desinformation die wichtigste Waffe in einem nunmehr global geführten Krieg. Keinem dürfte das klarer sein als dem ehemaligen KGB-Offizier Putin, waren Desinformation und Manipulation doch auch schon im Kalten Krieg bewährte Mittel von Geheimdiensten in Ost und West. „Desinformation und Diversion werden von Geheimdiensten systematisch eingesetzt, um Misstrauen zu säen und politische Gegner zu verunsichern. Putin und seine Vertrauten haben diese Strategie aus dem klandestinen Repertoire des FSB-Geheimdienstes in die Politik einer Großmacht überführt“, schreibt Leggewie in diesem Zusammenhang. Und Professionalität und Perfidie der russischen Propagandamaschinerie dürften inzwischen ein Höchstmaß erreicht haben, das heißt, wie Leggewie fortfährt: „Errichtet wurde ein mediale Parallelwelt, die an die Propagandatechniken totalitärer Regime erinnert und dabei die Naziparole von der `Lügenpresse´ ausgibt“.

Zwar sind sind Sender wie RT (ehemals „Russia Today“) inzwischen verboten, gesendet wird aber weiterhin – und sei es nur im Netz. Das Narrativ solcher Medien jedenfalls bedient bei den Menschen hierzulande vorhandene Ängste und Verunsicherungen aufgrund außer Kontrolle geratener Globalisierungsphänomene genauso wie rechtskonservativen Nationalismus oder die Wut auf politische Eliten, die „Lügenpresse“ et cetera. Denn, wie Gloger schreibt, „Russlands Informationskrieger wollen den Westen mit seinen eigenen Mitteln schlagen: mit dem Menschenrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit. Vielfalt und Diskurs, Komplexität und Widersprüche dienen als Beweis für fehlende Objektivität. Wenn Objektivität ohnehin nicht existiert, so die Logik, braucht es auch Abwägung … nicht mehr. Dann ist alles Propaganda. So wird einseitige, bewusst verzerrte Systemkritik zum journalistischen Grundgesetz. Auf dem rechten Weg bleibt allein: Russland.“

Die Wende in der Berichterstattung brachte der Georgienkrieg 2008, weiß Gloger: In westlichen Medien wurde Russland als Aggressor dargestellt, der telegene, gut Englisch sprechende georgische Präsident Michail Saakaschwili als Opfer – für den Kreml eine grobe Manipulation der Fakten, ein Sieg der westlichen Propaganda im Kampf um die öffentliche Meinung. Es kam zu einem Strategiewechsel: Russlands Auslandsmedien sollten zum Instrument einer „nichtlinearen Kriegsführung“ werden, „jener hybriden Strategie der Ausdehnung und Absicherung, die der russische Generalstabschef Walerij Gerassimow im Januar 2013 dann so formulierte: `Die Regeln des Krieges haben sich verändert.´ Politische Ziele seien nicht mehr allein durch konventionelle Feuerkraft zu erreichen, sondern durch den `breit gestreuten Einsatz von Desinformationen, von politischen, ökonomischen, humanitären und anderen nichtmilitärischen Maßnahmen, die in Verbindung mit dem Protestpotenzial der Bevölkerung zum Einsatz kommen.´“

Es ist ein moderner Informationskrieg, in dem es fortan um Verunsicherung, Verwirrung und Spaltung des Westens geht – man könnte es mit Gloger auch als „Strategie der Zersetzung“ beschreiben: „Wenn niemand mehr glaubwürdig ist und nichts mehr Bestand hat, wenn Werte zerfallen, dann werden auch die russischen Wahrheit – wahr.“ Schon George Orwell hat in „Über Nationalismus“ geschrieben: „Jeder Nationalist ist getrieben von der Überzeugung, dass sich die Vergangenheit ändern lässt.“ Entsprechend glaubt er auch, dass in der nationalistischen Propaganda über Ereignisse so berichtet wird, dass sie „passieren, wie sie geschehen sollten (…) Die propagandistischen Schriften unserer Zeit kommen großteils offenen Fälschungen gleich“, schreibt er ganz im Sinne moderner „Fake News“ und ergänzt: „Materielle Fakten werden unterdrückt, Daten abgeändert, Zitate aus dem Kontext gerissen und so bearbeitet, dass sich ihr Inhalt verändert. Ereignisse, die, so das Gefühl, nie hätten stattfinden sollen, bleiben unerwähnt und werden letztlich geleugnet.“

Hinsichtlich der Gleichgültigkeit gegenüber der Realität, als einem Merkmal des Nationalisten, schreibt Orwell: „Alle Nationalisten verfügen über die Fähigkeit, Ähnlichkeiten zwischen ähnlichen Tatsachengefügen nicht zu erkennen. (…) Aktionen werden entweder als gut oder als schlecht erachtet, nicht aufgrund ihrer selbst, sondern je nachdem, wer sie ausführt. Es gibt so gut wie keine Untat – Folter, Geiselnahme, Zwangsarbeit, Massendeportation, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, Fälschung, Mord, die Bombardierung von Zivilisten –, die ihre moralische Färbung nicht ändert, wenn sie von `unserer´ Seite begangen wird.“

Befördert werde die Gleichgültigkeit gegenüber objektiver Wahrheit auch dadurch, „dass ein Teil der Welt vom anderen abgeschottet ist“, was es mitunter – wie im Falle Russlands inzwischen – beinahe unmöglich macht herauszufinden, was tatsächlich geschieht. Orwell schreibt in diesem Zusammenhang: „Bei den größten Ereignissen können oft echte Zweifel bestehen. (…) Man hat keine Möglichkeit, die Fakten zu verifizieren, man ist sich nicht einmal wirklich sicher, ob gewisse Dinge sich tatsächlich zugetragen haben, und man ist stets mit völlig unterschiedlichen Interpretationen aus unterschiedlichen Quellen konfrontiert.“

So treten Verschwörungstheorien an die Stelle überprüfbarer Fakten, wie Orwell schon 1945 zutreffend schreibt: „Die allgemeine Unsicherheit darüber, was wirklich passiert, macht es leichter, an verrückten Überzeugungen festzuhalten. Da nichts je so richtig bewiesen oder widerlegt wird, lässt sich noch die unmissverständlichste Tatsache schamlos leugnen. Zudem grübelt der Nationalist zwar ständig über Macht, Sieg, Niederlage und Rache nach, doch an dem, was in der wirklichen Welt geschieht, ist er irgendwie nicht so recht interessiert. Er will das Gefühl haben, dass seine eigene Einheit die Oberhand über irgendeine andere Einheit gewinnt, und das gelingt ihm umso leichter, wenn er einen Widersacher aussticht, anstatt die Fakten dahingehend zu überprüfen, ob sie ihm Recht geben.“

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Wie man den Otto-Katalog als gedrucktes Wirtschaftswunder bezeichnet hat, könnte man den Warenkatalog von Manufactum vielleicht als gedruckten Konservatismus begreifen. Dass nun aus dem inzwischen ausgegliederten Verlag Manuscriptum, der nach wie vor das Schriftlogo von Manufactum kopiert, ein Verlag der Neuen Rechten wurde, ist womöglich alles andere als ein Zufall – war doch in den letzten Jahren zunehmend deutlicher zu beobachten, das die Grenzen zwischen der extremen Rechten und dem Konservatismus – dessen wichtigste Forderung die Wahrung der bestehenden Verhältnisse, im materiellen wie im ideellen Sinne, ist – verschwimmen und beide verwechselbar werden. Enger geworden sind jedenfalls die Verbindung der Neuen Rechten zur klassischen parlamentarischen Rechten, und das betrifft nicht nur den aufgelösten völkischen Flügel der AfD.

Mehr und mehr finden inzwischen Begriffe wie „Leitkultur“, „Bevölkerungsaustausch“ oder auch „Ethnopluralismus“ Eingang in den konservativen politischen Diskurs, hinter denen sich ehemals eindeutig extrem rechte Positionen und Haltungen verbargen. Genau das aber zeige, folgt man der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl, dass das Erstarken der Neuen Rechten „zu Erosionsprozessen innerhalb der konservativen Milieus“ geführt habe, wie sie in „Radikalisierter Konservatismus“ (2021) schreibt. Konservatismus, so ihre These, sei inzwischen vom Rechtsradikalismus kaum noch zu unterscheiden. Ein Teil der Konservativen „popularisierte sukzessive Positionen, die zuvor nur in der extremen Rechten zu hören waren“, so Strobl. Sinnbildlich dafür steht vielleicht Botho Strauß, dessen „Anschwellender Bocksgang“ (1993) insofern gewissermaßen deutlich zu vernehmen ist.

Wie Thomas Assheuer in einem Essay zu „Botho Strauß“ (2020) bemerkt, ist Strauß „(a)us Sicht der rechtsintellektuellen Szene in Deutschland (…) nicht nur ein spiritus rector, sondern zugleich ein Scharnier ins bürgerliche Lager, ein trojanisches Pferd für den Ideentransfer …“, auch wenn zunächst noch nichts darauf hindeutete, daß er „zum Kronzeugen völkischer Intellektueller und Demokratieverächter“ werden sollte. Auslöser zu seiner Wandlung war womöglich die Begegnung mit den Theaterstücken Peter Handkes, mit dem Strauß, wie Assheuer schreibt, „ein leidenschaftliches Interesse an der menschenformenden Macht der Sprache (teilt). Mit großer Präzision zeige Handke, wie das Individuum durch gesellschaftliche Sprachmuster diszipliniert, wie es ab- und zugerichtet wird. (…) Dass die gesellschaftliche Sprache, ihr Vorrat an welterschließenden Bildern und kommunikativen Metaphern den Raum individueller Erfahrung formatiert: Das ist der Leitfaden, anhand dessen Strauß fortan das Bühnengeschehen verfolgt.“

Für Strauß wird immer deutlicher, dass der Kapitalismus in Deutschland nicht nur eine soziale Dimension besitzt, sondern auch eine symbolische, indem er Wortbedeutungen „pauperisiert“ und austauschbar macht wie Geld. „Ent-sprechend“ erscheinen die Figuren, wie Assheuer ausführt, „als subjektlose Subjekte, als Epiphänomene einer ihnen äußerlich bleibenden gesellschaftlichen Sprache. Sie sind frei, können aber mangels Sprache ihrer Freiheit keinen unverwechselbaren Ausdruck verleihen. Es gibt kein richtiges Leben in der falschen Sprache.“

Immer öfter erweckt Strauß nun den Eindruck, dass Deutschland nicht mehr von innen renoviert, sondern nur noch im Ganzen überwunden werden könne: Das kapitalistische System zerstöre nicht nur den Erfahrungsreichtum der Sprache, sondern sei eine Fehlentwicklung – eine „falsche Emanzipation nicht mehr vom jüdisch-christlich verstandnen Heiligen, sondern vom mythischen Sakralen“, wie ihn Assheuer paraphrasiert: „In Wahrheit habe die Geschichte die mythische Zeit nie verlassen und sei viel eher ein Kontinuum des Schreckens als des Fortschritts. (…) Unter dem Sakralen, das den Kern des Mythos ausmacht, versteht Strauß das `Immerwährende´ und Ursprüngliche, dazu zählen auch Tragik und Opfer. (…) Jeder Versuch, die unveränderbare Opferlogik der Geschichte soziopolitisch zu überwinden, muss scheitern, denn er provoziert notwendigerweise die Wiederkehr `verschleppter´ Gewalt und aufgestauter Tragik.“ Strauß selbst schreibt dazu in „Anschwellender Bocksgesang“: „Da die Geschichte nicht aufgehört hat, ihre tragischen Dispositionen zu treffen, kann niemand voraussehen, ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder verschleppt.“

Das Grundproblem für Strauß bestand also zunächst darin, dass das kapitalistische System die existenzerhellenden religiösen und kulturellen Vokabulare zerstört, in denen sich das Subjekt ursprünglich als ein sinnvolles erfahren konnte. Nun greift er, wie Assheuer schreibt, „das System selbst an … überhaupt die Trennung der Wertsphären von Politik und Kultur“. Strauß kritisiert in diesem Zusammenhang auch die „Negation des Tragischen“, wie Assheuer im Hinblick auf Strauß` Tragödie „Ithaka“ (1996) ausführt, wo die Insel, die unschwer als Allegorie auf die amerikanisierte deutsche Nation zu erkennen sei, von fremden Mächten belagert wird: „Die hasenfüßigen Pazifisten kennen weder Freund noch Feind, weshalb sie den Dienst an der Waffe erst einmal abgeschafft haben. `Zaghafte Jünglinge erhalten Trophäen, weil sie sich niemals an einer Waffe vergriffen.´“, wie Strauß selbst schreibt. „Nachdem die postheroischen Großmäuler alles Leben zum Stillstand gebracht haben, senkt sich eine bleierne Geschichtslosigkeit über die Insel und lässt die schöpferischen `Kräfte´ des Volkes `verfaulen´.“

Es ist diese Enttäuschung über nicht stattgefundene Befreiung von der Westbindung des deutschen Geistes und die nicht stattgefundene Rückkehr ins nationale Eigene nach dem Fall der Berliner Mauer 1989, die Strauß in „Anschwellender Bocksgesang“ verarbeitet – bedeutet Tragödie doch auch nichts anderes als, wie bereits in einem anderen Essay ausgeführt, „Gesang anläßlich eines Bockopfers“ …

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Laut Strobl lehnen Faschismus und Nationalismus wie auch der Konservatismus Entwicklungen der Moderne ab. Sie unterscheiden sich aber grundsätzlich von ihm „durch ihren dezidiert gesellschaftsverändernden, in gewisser Hinsicht revolutionären Charakter. Im Gegensatz zum Konservatismus wollen sie nicht (bloß) bewahren oder (reaktionär) ein altes Regime wieder errichten, sondern vorwärts in eine Zukunft, die jedoch auf Basis einer (fiktiven) mystifizerten Vergangenheit gedacht wird. Dieser Mythos ist zentraler Bezugspunkt und Selbstverständnis zugleich. Aus ihm speist sich die Vorstellung einer faschistischen Utopie, die es durch einen Umbau der Gesellschaft – entlang völkischer, nationalistischer, kultureller und biologistischer Determinanten – zu verwirklichen gilt.“

Die Neue Rechte unterscheidet sich aber nicht nur hinsichtlich ihrer Zukunftsvorstellung, sondern Im Gegensatz zur parlamentarischen Rechten (AfD), sieht man sich im Selbstverständnis der Neuen Rechten gerade auch in einem kulturellen Kampf gegen den demokratischen Parteienstaat. Anders als die auf parlamentarischer Ebene politisch agierende AfD arbeitet die Neue Rechte auf einer „metapolitischen“, das heißt kulturellen Ebene: man möchte die gesellschaftlichen Grundlagen, auf denen der kulturelle Kampf stattfindet, beeinflussen mit dem Ziel, eine kritische Masse zu erzeugen, die die Auffassung vertritt, dass zum Beispiel in der Parteiendemokratie das Problem liegt, und sich dort so etwas wie eine Alternative formiert. Denn, wie der Leiter des von Götz Kubitschek gegründeten und vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuften „Instituts für Staatspolitik (IfS)“, Erik Lehnert, in diesem Zusammenhang in der Dokumentation von Falko Korth sagt: „Die parlamentarische Vertretung des Rechten Gedankens, des konservativen Gedankens, hat ja in der Bundesrepublik im Grunde nie stattgefunden. Auch heute findet das im Grunde genommen nicht statt. Und deswegen ist die Neue Rechte eigentlich immer eine Bewegung gewesen, die sich vor allen Dingen als intellektuell verstand und als metapolitisch verstanden hat“.

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Mit ihrer metapolitischen, kulturellen Strategie will die Neue Rechte also zuerst die Köpfe erobern, erst danach dann eventuell Positionen oder – wie Alexander Dugin – Territorien. Es ist eine Strategie, die von der französischen Nouvelle Droite um Alain de Benoist übernommen wurde, die sich aber ihrerseits auch nur beim italienischen Theoretiker Antonio Gramsci (1891-1937), einem Marxisten, und dessen Theorie der kulturellen Hegemonie bediente. Wie so oft, kopieren die Rechten damit einfach eine an kulturelle Umwälzungen angelegte Strategie einer politischen Bewegung, die sie eigentlich bekämpfen. „Die Kulturrevolution“, schreibt Leggewie, „soll mit einer neuen Kulturrevolution unter umgekehrten Vorzeichen revidiert werden“.

Gramsci schrieb seine Überlegungen im Gefängnis der Faschisten nieder, als sich die Hoffnungen auf einen politisch-militärischen Erfolg der kommunistischen Revolution in Italien zerschlagen hatten: „Alle großen Revolutionen der Geschichte haben nichts anderes getan“, schreibt Gramsci, „als eine Entwicklung in die Tat umzusetzen, die sich zuvor schon unterschwellig in den Geistern vollzogen hatte. Man kann keinen Lenin haben, bevor man einen Marx hatte.“ Ihm zufolge genügt es in einer komplexen Industriegesellschaft also nicht, sich an die Macht zu putschen, sondern um die eigenen Ideen in die Wirklichkeit umsetzen zu können, müsse man ihnen zuvor breite gesellschaftliche Akzeptanz verschaffen. Erst dann könne der Machtwechsel erfolgreich sein. Formelle Macht aber, schreibt Strobl, war für Gramsci „nur der letzte Schritt einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung (…) um schließlich als `historischer Block´ an die Macht zu gelangen. Dazu braucht es aber eben kulturelle Hegemonie: Auf Ebene des öffentlichen Diskurses oder im Bildungsbereich muss es eine Übereinkunft geben, dass die eigenen Ideen, die eigenen Praxen, die eigene Sprache das Empfinden einer Mehrheit treffen.“

In der Neuen Rechten hat sich zuerst Alain de Benoist, Protagonist der französischen Nouvelle Droite, Gramscis Hegemonietheorie zu eigen gemacht. Er hat, wie Strobl ausführt, alles verworfen, was daran demokratisch oder marxistisch ist (…) um selbst an die Macht zu kommen. Dieser Gramscianismus von rechts (der Gramsci unrecht tut) ist die theoretische Leitlinie, nach der die Neue Rechte agiert. Und die angepasste Strategie zeigt sich vor allem auf dem Feld der Sprache“, schreibt sie.

Insbesondere auf dem Feld der Sprache diagnostiziert Strobl seither eine Radikalisierung und Verrohung des konservativen Bürgertums. „Die klassischen konservativen Milieus sind nicht bloß passive Empfänger der Agitation extremer Rechter. Es findet gleichzeitig eine Radikalisierung aus dem konservativen Bürgertum heraus in Richtung offenem Rechtsextremismus statt, und in der Neuen Rechten treffen diese beiden Bewegungen aufeinander. Dem liegt ein autoritäres Denken zugrunde, das auch in einem soziologisch verwandten Phänomen zum Ausdruck kommt – der rohen Bürgerlichkeit.“

Die Verrohung der Sprache beziehungsweise rohe Bürgerlichkeit ist für Strobl in einer kapitalistischen Gesellschaft ein „erstrebenswertes Ideal“ und gerade keine Ausnahmeerscheinung. Sie begründet das mit dem Soziologen und Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer, der gezeigt hat, wie Heitmeyer selbst schreibt, „dass unter einer dünnen Schicht zivilisiert-vornehmer (`bürgerlicher´) Umgangsformen autoritäre Haltungen verborgen sind, die immer deutlicher sichtbar werden, meist in Form einer rabiater werdenden Rhetorik“. Die Nähe zur kalten persona ist offensichtlich: Was Heitmeyer hier in den Blick nehme, so Strobl, „ist die Tendenz bestimmter bürgerlicher Schichten, gesellschaftliche Solidarität aufzukündigen und sie durch eine Ideologie der Härte zu ersetzen. Sie artikuliert sich in einem Fetisch der Eigenverantwortung, Effizienz und Leistungsmaximierung.“

Rohheit und Gewalt sind Strobl zufolge zwar in allen sozialen Schichten zu finden, aber bereits Heitmeyer habe festgestellt: „Der Unterschied besteht darin, dass die spezifische Rohheit des bürgerlichen Milieus (wegen der Fassade zivilisierter Umgangsformen) oft verdeckt zum Ausdruck kommt, dass sie aber dort, wo sie offensichtlich wird, die Form eines sehr selbstbewussten und machtbewussten Autoritarismus annehmen kann und dadurch (über Institutionen, Gesellschaftsclubs und Medien) großen Einfluss auf das soziale Klima hat.“ Von einer „wütenden Basis“ spricht in diesem Zusammenhang Volker Weiss in „Autoritäre Revolte“ (2017) und verweist dabei auf Thilo Sarrazin, der dieser „neuen Wut“ mit seinem „Deutschland schafft sich ab“ (2010) und der darin verbreiteten sozialdarwinistischen Thesen „Vorschub leistete“. Die Junge Freiheit wiederum titelte „Das Knirschen wird lauter“ in Zusammenhang mit einer Rede der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel 2018 im deutschen Bundestag, wo es nur vordergründig darum ging, wer denn „unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat“ sichert, vor allem aber darum, wer nicht. Weidels Ausdrücke in diesem Zusammenhang – die die Junge Freiheit zitiert – brachten ihr zumindest einen Ordnungsruf vom Parlamentspräsidenten ein. Eine „Verrohung der Sprache“ sieht die Junge Freiheit hier auch, natürlich aber von der anderen Seite. Nichtsdestotrotz aber ist die Rede der heutigen AfD-Vorsitzenden nur ein inzwischen prominentes Beispiel für Natascha Strobls These von der Radikalisierung des Konservatismus: „Wo sie“, Strobl meint die Konservativen Parteien, „angetrieben von der Dynamik der rohen Bürgerlichkeit, eine Bewegung hin zum Rechtsextremismus vollziehen, entsteht der radikalisierte Konservatismus.“

Vorbei scheinen dabei die Zeiten, wo der sprachlichen Provokation der Rechtspopulisten das vermeintliche Bedauern eines „Missverständnissees“ folgte. Man kann in diesem Zusammenhang nur hoffen, dass Donald Trump, der wohl den Gipfel der Provokationstaktik – völlig ohne missverständliche Zweideutigkeiten oder Entschuldigungen – erreichte, keine weitere großartige Gelegenheit dazu erhält.

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In Russland, den USA oder hierzulande: wo ein verrohtes, entmenschlichendes und völkisch-nationales Vokabular mehrheitsfähig ist, ist auch der Boden für Terror bereitet. Seinen Anfang nahm die Entwicklung hin zum radikalisierten Konservatismus womöglich mit Alain de Benoist – nach ihm ist es nun jedoch die sich seit 2012 konstituierende „Géneration Identitaire“, die als „Identitäre Bewegung (IB)“ Nachahmer in ganz Europa gefunden hat. Sie verlagert Benoists Adaption der Hegemonietheorie in den digitalen Bereich und eröffnet so neue Möglichkeit für die Neue Rechte, indem sie weniger auf Sprache, als auf Bilder, Memes und Videos setzt – auch ihrer eigenen „Guerilla-Aktionen“ im öffentlichen Raum, die sie medienwirksam inszenieren. Das wiederum haben die Identitären mit der sich parallel dazu in den USA entwickelten Alt-Right-Bewegung gemein. Strobl bemerkt dazu: „Jetzt, am Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, stehen wir also einer Neuen Rechten gegenüber, die sich vor allem über digitale Räume reproduziert und auf diesem Feld ihren Kulturkampf um die Köpfe der Menschen austrägt.“ Der Journalist Martin Steinhagen spricht in diesem Zusammenhang von „rechtsextremen Influencern“ in einem „Medienbiotop der extremen Rechten“.

Die Identitären geben sich zwar modern, aber auch sie propagieren nur eine völkische Ideologie mit dem Ziel eines ethnisch und kulturell homogenen Staats. Zwar achten Influencer wie Martin Lichtmesz oder Martin Sellner, Sprecher der österreichischen IB und der im deutschsprachigen Raum vielleicht bekannteste Identitäre, darauf, offene Bezüge zum Nationalsozialismus zu vermeiden, aber auch sie beziehen sich immer wieder auf fremdenfeindliche Verschwörungsmythen wie jene vom „Großen Austausch“ („Great Reset“), wonach ein Geheimplan zum Austausch der Mehrheitsgesellschaft durch islamische Einwanderer existiere, und sind insofern klar als Neue Rechte beziehungsweise rechtsextrem zu identifizieren. Nicht zuletzt auch deshalb hat der Verfassungsschutz die Identitären in Deutschland letztes Jahr als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft, während in Frankreich gerade sogar ein Verbot der „Géneration Identitaire“ geprüft wird.

Auch wenn die wenige hundert Mitglieder zählende Identitäre in Deutschland – deren Protagonisten beispielsweise aus radikalen Burschenschaften, der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD)“ oder der Neonaziorganisation „Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ)“ kommen – vielleicht nicht unmittelbar strafbar handelt, so verbreitet sie aber auf jeden Fall doch eine Ideologie, die immer wieder zu rechtsextremen Straftaten führt. Und es gibt offensichtlich auch Überschneidungen: Anders Breivik, der, wie Leggewie ausführt, „die in seinem Traktat 2083 – Eine europäische Unabhängigkeitserklärung formulierte Denkfigur der ethnischen Reinheit am 22. Juli 2011 mit grauenerregenden Terroranschlägen in die Tat umgesetzt“ hat, ist sicher das bekannteste Beispiel. Und der rechtsextreme Attentäter im neuseeländischen Christchurch hat genauso an die Identitäre gespendet wie der Mörder des hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke – abgesehen davon, dass auch hier die ideologischen Überschneidungen evident sind. Und auch wenn sich die Identitäre von rechtsextremen oder rassistischen Attentätern wie jene von Halle und Hanau immer wieder abgrenzen will, kann sie doch nicht bestreiten, mit ihrer antisemitisch und fremdenfeindlich kodierten Kulturarbeit im Internet auch für solche Taten zumindest den ideologischen Boden für solche Radikalisierungen mit bereitet zu haben. „Wir werden immer mehr“, hat Lübckes Mörder, wie Steinhagen berichtet, die ideologische Nähe zwischen rechtsextremen Tätern und Identitären in einer seiner Chatnachrichten jedenfalls beschrieben.

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Alain de Benoist hat für die Nouvelle Droite in Frankreich eine ähnliche Bedeutung wie der Publizist Armin Mohler (1920-2003) für die Neue Rechte in Deutschland, auch wenn der von Benoist mitinitiierte Rechtsruck in Frankreich insgesamt vielleicht noch wesentlich stärker ist als der hierzulande – wie aktuell ja auch bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl mit der europafeindlichen und rechtsextrmen Marine Le Pen als ernstzunehmender Gegenkandidatin zu Emmanuel Macron zu beobachten ist. So oder so gibt es Verbindungen: Die Entwicklung der deutschen Neuen Rechten verlief nicht unabhängig von der französischen Nouvelle Droite – umgekehrt aber auch nicht, beginnt alles doch im Nachkriegsdeutschland.

Als politischer Journalist in den Nachkriegsjahren der Bundesrepublik vertritt Mohler ein rechts-konservatives Denken, das sich vehement gegen eine Demokratisierung der Gesellschaft richtet. Das Etikett „Konservativ“ beansprucht er dabei aber nicht für sich – er bevorzugt stattdessen den Begriff „Rechts“, wie er selbst in der Dokumentation von Falko Korth sagt, „da regen sich die Leute wenigstens auf“. Bekannt geworden ist Mohler insbesondere dadurch, dass er der deutschen Nachkriegsrechten mit seinem Buch „Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932“ (1949), wie Volker Weiss schreibt, „einen Mythos (stiftete), mit dem sie nach der Niederlage des Deutschen Reiches 1945 einen Neubeginn wagen konnte“. Es ist sein Versuch, die radikalen Rechten vom Vorwurf der Mitschuld an den Verbrechen der Nationalsozialisten zu befreien – es ist, wie Mohler selbst bei Korth sagt, „der Versuch zu zeigen, dass der Konservativismus keine überlebte Sache ist, und dass man auch nach Hitler konservativ sein kann“.

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs war ein unbefangenes Anknüpfen an die Ideen des Konservatismus und des Nationalstaats nicht mehr möglich. Anders als in Frankreich, wo seit Charles de Gaulle auch die Parole der nationalen Unabhängigkeit immer eine wichtige Rolle gespielt hat – die Nachkriegsgeschichte der Grande Nation beginnt gewissermaßen mit der Bitte De Gaulles an die amerikanischen Truppen, französischen Boden zu verlassen –, wäre eine solche nationale Politik von Adenauer in Deutschland von den Alliierten Besatzungsmächten natürlich sofort missbilligt worden. Stattdessen wurde hier, wiederum mehr noch als in Frankreich, die Idee eine post-nationalen Deutschlands geboren – eingebunden in die europäische Gemeinschaft.

Armin Mohler und andere lehnten die Westbindung und die liberale Demokratisierung strikt ab. Während die Bundesrepublik inzwischen internationale Bündnisse einging wie beispielsweise jenes zur NATO, will er die Deutschen von ihrer Angst vor der Vergangenheit befreien. Denn für ihn stand fest, dass damit unweigerlich ein „Identitätsverlust“ verbunden ist: Mit der Bindung insbesondere an die „Amerikaner“ hören die Deutschen auf, „Deutsche“ zu sein. Mohler spricht in diesem Zusammenhang von einem „Hitlerkomplex“, der dazu führe, dass alles, was der Deutsche tue und sage „irgendwie auf Hitler bezogen ist. Das heißt, er handelt nicht mehr direkt, er denkt nicht mehr direkt, spontan, er denkt immer zuerst, was hat der Hitler getan …“.

Stattdessen propagiert Mohler national-konservative Positionen, das heißt, er wollte einen starken, autoritären Staat und zurück zu den Ideen der radikalen Rechten der Zeit der Weimarer Republik. Wie Volker Weiss ausführt, ging es Mohler in „Die Konservative Revolution“ darum, „aus den unterschiedlichsten Autoren des deutschen Radikalnationalismus eine eigenständige Denkschule zu konstruieren, die er vom `Dritten Reich´ geschieden wissen wollte. (…) Mit der Erfindung einer `Konservativen Revolution´ sollte der durch Nationalsozialismus, Shoah und Kriegsniederlage belasteten deutschen Rechten wieder zu einer positiven Tradition verholfen werden. (…) Nicht zuletzt ging es ihm darum, dem Reichsbegriff als einer politischen Option gegenüber der jungen Bundesrepublik ein Überleben zu sichern.“

Wie schon in Zusammenhang mit Carl Schmitt deutlich wurde, ist die Welt nach dem Ersten Weltkrieg aus konservativer Sicht aus den Fugen geraten, das heißt eine Epoche der Sicherheit, die vom Staat selbst garantiert wurde, ging damit zu Ende. Mit dem Oxymoron der „Konservativen Revolution“, eigentlich ein Widerspruch, gab Mohler nun, wie Leggewie ausführt, „einer rechtsintellektuellen Strömung den Namen, die damals auf die Zumutungen der Moderne und die Unübersichtlichkeiten der Globalisierung reagierte. Mit den faschistischen Strömungen deckte sie sich nur partiell, sie teilte aber deren radikale Aversion gegen kulturellen Pluralismus und ihre Begeisterung für einen völkisch-autoritären Nationalismus.“

Die von Mohler in Zusammenhang mit der „Konservativen Revolution“ genannten Personen sind noch heute die Referenzfiguren der Neuen Rechten – allen voran der bereits öfter genannte Carl Schmitt, aber auch Oswald Spengler oder Ernst Jünger, dessen Sekretär Mohler lange war. Mohler versammelt in „Die Konservative Revolution“ Personen, die allesamt einer Demokratisierung der Gesellschaft skeptisch gegenüberstehen – sie alle eint das Denken in autoritären und nationalen Mustern. Ihre Postionen aus der Zwischenkriegszeit, strikt antiparlamentarisch und antidemokratisch, adaptiert Mohler nun für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Und ist damit nicht erfolglos – im Gegenteil, 1967 wird ihm sogar der Adenauer-Preis verliehen.

Es gelang Mohler tatsächlich, national-konservative Haltungen wieder salonfähig zu machen, das heißt, mit seiner „Konservativen Revolution“ traf Mohler sicherlich das allgemeine Denken seiner Zeit in der Bundesrepublik, in der der Westen, wie Korth sagt, „für die meisten Deutschen keine positive Vision war“. Die Allermeisten hatten „die Niederlage des Dritten Reichs, die Kapitulation, geistig noch gar nicht überwunden“, sagt Leggewie bei Korth in diesem Zusammenhang. Die Verbrechen der Nationalsozialisten sind damals zwar schon bekannt, doch für die meisten Deutschen spielen sie lange keine Rolle. Das befreite Deutschland gleitet stattdessen schweigend ins Wirtschaftswunder – und in den Wohlstand der Bundesrepublik.

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Mohler nahm sicherlich noch eine intellektualistische Position ein – eine, die Kubitschek und Lehnert heute wohl gerne hätten –, doch inzwischen existiert auch eine ganz andere Gegenwart des rechten Denkens, Handelns und Agierens. Denn 2013 wurde die AfD gegründet – die heute gemeinsame Politik mit Rechtsextremen und völkischen Ideologen macht. Trotzdem bezeichnet sich Alexander Gauland, einer der Mitgründer der Partei, heute noch immer als „konservativ“. Bei Korth sagt er: „Wenn sie heute den Begriff `Rechts´ nehmen, ist das ein polemischer Begriff der vieles beinhalten kann, aber der noch ungenauer ist als der Begriff `Konservativ´. Wenn sie `Konservativ´ heute definieren wollen, dann gibt es natürlich bestimmte Elemente, also die Ablehnung oder Skepsis gegenüber Globalisierung, das Festhalten an der Identität im Nationalstaat, Skepsis gegenüber einer Einwanderung aus nicht-europäischen Gebieten. Das heißt, Festhalten an kulturellen Überlieferungen – das würde ich heute als `Konservativ´ bezeichnen.“

Alexander Gauland ist, folgt man Volker Weiss, ein typisches Beispiel für die Wandlung und Radikalisierung eines ehemals Konservativen, das heißt dafür, „dass Konservative in dem Moment, wo sie sich in der Defensive wähnen, in dem sie sich überrollt sehen von Modernisierungsphänomenen, von Liberalisierungsphänomenen – in diesem Moment können Konservative aggressiv werden und letztendlich regredieren bis ins völkische Feld hinein“. Tabubrüche sind das Mittel der Wahl – in dieses Horn auch bläst Gauland: „Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die Zwölf Jahre“, sagte er in diesem Zusammenhang. „Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahre erfolgreicher deutscher Geschichte.“

Seit Mohler gehört zur Verschwörungslegende der Neuen Rechten die Erzählung von der gewaltsamen Einsetzung eines demokratischen Systems durch die Besatzungsmächte, vor dem Hintergrund, dass rechtes, konservatives Denken am Zweiten Weltkrieg schuld sei. So weit geht Gauland hier nicht – stattdessen ist es bei ihm die Verharmlosung und Relativierung der Vergangenheit, die dennoch den Resonanzraum für den Tabubruch bildet. Wie bei Mohler geht es letztlich auch hier um Vergangenheitsbewältigung, das heißt, hinter den kalkulierten Tabubrüchen steckt das Ziel, den inzwischen historisch gewachsenen Konsens aufzubrechen, die besondere Verantwortung der Deutschen für die Verbrechen des Nationalsozialismus in Abrede zu stellen. Es ist ein Kampf um unsere Erinnerungskultur, das heißt „um die deutsche Geschichte – wie wir sie in Erinnerung behalten, was wir mit ihr anfangen und was sie uns bedeutet. Dieser Machtkampf ist längst im Gange“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann bei Korth. Es geht um eine Revision der bundesrepublikanischen Geschichte: man möchte eine vollständige Neuausrichtung und zu einem Begriff von Nation, Volk und Staat zurück, der sich an der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg orientiert und „eben nicht die Brüche der Modernisierung der neueren bundesrepublikanischen Geschichte mitgemacht hat“, wie Volker Weiss ebendort sagt.

„Wortgewaltige Angriffe“, wie Weiss im Nachwort zu Adornos „Aspekte über den neuen Rechtsradikalismus“ schreibt, sind es auch, die eben insbesondere auch einer durch Adorno inspirierten historischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gelten, wenn Björn Höcke vom völkischen Flügel der AfD versucht, das Ende einer „dämliche(n) Bewältigungspolitik“ einzuleiten, und die „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordert, wie in einer Rede von 2017 in Dresden. „Diese Rhetorik kannte bereits die NPD“, schreibt Weiss in besagtem Nachwort, „Adorno fasst sie als Komplex `Schluß mit dem Schuldbekenntnis´ zusammen. Der Griff nach der Vergangenheit, in dem sich deutsche Rechtspopulisten der Gegenwart nicht von anderen Rechtsparteien der vergangenen Jahrzehnte unterscheiden, bestätigt, wie genau Adorno bereits die Motive jener erfasst hatte, die eine Überwindung des `Schuldkultes´ einfordern“ – wie beispielsweise auch die Junge Freiheit in „Der Selbsthaß blüht“ (2014): „Hundert Jahre nach der Geburt des `häßlichen Deutschen´ aus dem Geist der britischen Kriegspropaganda sollte es an der Zeit sein, Schuldkult und Nationalneurosen allmählich abzustreifen. Die unangenehme Seite des `typisch Deutschen´ ist heute der Schuldstolz, der sich lustvoll selbst an den Pranger stelllt, wo andere längst differenzierter hinschauen.“

„Wenn Rechtspopulisten heute fordern, man müsse die Bewältigung der NS-Vergangenheit und die Formen des Gedenkens überdenken“, schreibt Armin Nassehi im Nachwort zu George Orwell, „ist das exakt der Versuch, die Vergangenheit zu ändern, um sich in bestem Lichte darstellen zu können.“ Dabei ist es genau dieselbe Volte, die Mohler mit seinem Oxymoron der „Konservativen Revolution“ anbietet: ein Widerspruch in sich. Die Kränkung, die das Wissen um die Untaten der eigenen Nation darstellt, werden einfach umgekehrt. Stolz soll derjenige sein, der vergisst – Schuldig derjenige, der zu erinnern vermag.

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Anders als in Deutschland sind in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg rechte bis rechtsextreme Gedanken fester Bestandteil der politischen Kultur. Ab 1953 entsteht mit der „Union de défense des commerçants et artisans (UDCA)“ („Union zur Verteidigung der Geschäftsleute und Handwerker“) eine Protestbewegung, die in ihrem Kern von einem Anti-Modernen und rassistischen Impuls getrieben wird. Die UDCA ist für manche „die Stimme der Provinz gegen Paris“ und gründet auf Modernisierungs- und Globalisierungsängsten, die sich Populisten bis heute zunutze machen. Aus der Bewegung wird jedenfalls schnell ein Massenphänomen, die jene versammelt, die das Gefühl haben, abgehängt zu sein oder zu den Verlierern der wirtschaftlichen Entwicklung, der Globalisierung, zu gehören.

1956 ziehen Abgeordnete der UDCA in das französische Parlament ein – auf ihrer Liste steht auch ein gewisser Jean-Marie Le Pen. Der damals 27-jährige zog als jüngster Abgeordneter der UDCA in die französische Nationalversammlung ein. Es ist die Zeit des Algerienkrieges, an der sich die französische Rechte an der Seite der Kolonialmacht Frankreich positioniert. Auch Le Pen unterbricht seine Abgeordnetentätigkeit, um in Nordafrika um den Erhalt des „L´Algérie francaise“, des „Französischen Algeriens“, zu kämpfen. Der Verlust der Kolonie war Le Pen ein großes Trauma. Der Krieg aber erlaubte es der radikalen Rechten, den Nationalismus und ihre Ablehnung der antikolonialistischen Linken und der republikanischen Rechten von Charles de Gaulle offener und lauter zu artikulieren – was dazu führte, dass sie an Elan gewann. Als De Gaulle schließlich zustimmte, auf das Französische Algerien zu verzichten, wurde er von ihnen als „Verräter“ betrachtet.

Mit der Gründung der Fünften Republik durch De Gaulle 1958 verschwand die UDCA jedoch bald wieder aus der Politik. Der populistische Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen aber sollte bleiben – und seine Spuren lassen sich mit dem 1972 gegründeten „Front National“ bis in die Gegenwart nachverfolgen. Dennoch sollte es zunächst noch einmal zehn Jahre dauern, bis 1968 eine neue Generation der Rechten antrat: die Nouvelle Droite, die neue französische Rechte wird geboren. Auch für sie werden Mohlers in „Die Konservative Revolution“ formulierten nationalistischen Ansichten eine wichtige Inspirationsquelle werden.

Die Nouvelle Droite – das ist zunächst die 1968 von Alain de Benoist gegründete „Groupement de Recherche et des Etudes pour la Civilisation Européenne (GRECE)“, eine neofaschistische Denkfabrik, in der er eine ideologische Vorreiterrolle einnimmt (GRECE, französisch für „Griechenland“, auch deshalb, weil man an die griechische Antike anschließen und sich so vom Christentum abgrenzen möchte). Im antiken Griechenland sieht Alain de Benoist verwirklicht, was er wieder aufleben lassen möchte: eine aristokratische Gesellschaft, geführt von einer Elite. Er schreibt in diesem Zusammenhang: „Jede Diktatur ist verächtlich, aber verächtlicher noch ist jede Dekadenz. Eine Diktatur kann uns morgen als Individuen vernichten. Dekadenz jedoch vernichtet unsere Überlebenschancen als Volk.“

Benoist unterscheidet sich von anderen Rechten wie Armin Mohler dadurch, dass er nicht für einen neuen Nationalismus plädiert, sondern sogar dessen Überwindung fordert mit dem Ziel einer von den USA emanzpierten, europäischen Perspektive. Europa soll sich als eine eigenständige geopolitische Macht etablieren – die allerdings ethisch definiert sei und Migranten nicht-europäischen Ursprungs ausschließen solle. Europa wird von Benoist also völkisch definiert, es soll aber staatsübergreifend sein.

Für Benoist ist in diesem Zusammenhang klar, dass es die USA mit ihrem Turbokapitalismus und dem dazugehörigen Konsumverhalten ist, die die Welt in die Dekadenz und damit auch an den Rand des ökologischen Abgrunds geführt habe. Er plädiert deshalb für eine neue „Kultur des Maßhaltens“ und für einen „Abschied vom Wachstum“: Zweitausend Jahre „Entgötterung“ und Inbesitznahme der Materie hätten zu Entfremdung und Umweltdesastern geführt, mit der wir gegenwärtig konfrontiert seien. Die biblische Aufforderung, sich die Erde Untertan zu machen, sei der Beginn des ökologischen Desasters, in dem wir uns heute befinden. Es ist deshalb für Benoist nur logisch, dass sich Europa seiner eigenen kulturellen Wurzeln vergewissert und sich von der an den USA orientierten Wertegemeinschaft abwendet. In der griechischen Antike sieht er in diesem Zusammenhang eine Art „Ur-Gesellschaft“, die noch in Harmonie lebte insofern, als sie sich in „vollkommener Übereinstimmung mit ihrer kulturellen Matrix“ befand.

Auch die Idee des „Ethnopluralismus“ formuliert Benoist in dieser Zeit sowie den „Nonkonformismus“. Den Menschen „an und für sich“ gebe es nicht, so Benoist, er existiere nur als Inkarantion einer Kultur, einer Ethnie, eines Volkes, einer Nation. Nicht zuletzt deshalb auch sei die „Ideologie der Menschenrechte“ ein falsches Bewusstsein, denn ein universales Recht des Individuums auf Selbstverwirklichung widerspreche der menschlichen Natur: Identität wird „besessen, nicht erwoben. Sie ist schicksalhaft vorgegeben“. Nicht zuletzt deshalb – weil der Mensch gewissermaßen als Erbe seiner Kultur geboren wird – ist Identität bei Benoist keine individuelle, sondern eine politische Angelenheit. Deren Ziel ist die globale territoriale Trennung von identitätsstiftenden, ethnisch homogenen Gemeinschaften mit gemeinsamen kulturellen Erbe. Universelle Menschenrechte haben hier keinen Platz – sie dienen Benoist zufolge dem Westen nur als Vorwand für Expansion. Die eigentlichen Ziele wären wirtschaftlicher Art: Ausbeutung, Sicherung von Rohstoffquellen und der Einsatz von „Wallstreet-Kapital“ in global agierenden Unternehmen.

Alain de Benoist will diese Ideen langfristig in den Köpfen der Menschen verankern – ein strategischer, metapolitischer Kampf im „vorpolitischen Raum“, wie er sagt, beginnt. Es geht ihm insofern um eine Kulturrevolution von rechts: Er will ein neues politisches Paradigma begründen, das wiederum von Autoren der „Konservativen Revolution“ in Deutschland geprägt ist. Bis heute bildet GRECE Frankreichs geistiges Zentrum der Neuen Rechten.

Antonio Gramsci und seine Idee der Metapolitik beziehungsweise die Errrichtung einer kulturellen Hegemonie – das stammt alles von Benoist und wurde dann erst von der deutschen Neuen Rechten, zunächst von Mohler, übernommen. Ins Zentrum rücken so die Grundlagen dessen, was das Gemeinwesen bestimmt beziehungsweise bestimmen sollte: „Auf welchen Grundlagen passiert das, was jetzt politisch zu beobachten ist? Und wie lassen sich diese Grundlagen verändern, um politisch etwas zu verändern?“, wie Erik Lehnert bei Korth sagt. „Die Neue Rechte setzt also einen Schritt früher an, vor dem, was man politisch wahrnehmen kann.“

Es geht um die öffentliche Meinung und die Stimmung in der Gesellschaft – im Gegensatz zum Front National von Jean-Marie Le Pen allerdings, der unmittelbar politisch agiert, findet die kulturell orientierte Nouvelle Droite um Alain de Benoist zunächst keine politische Beachtung. Doch ihre rechtsradikalen Ansichten sickern nach und nach in die Gesellschaft ein, auch in die Deutsche.

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Es ist ein Tabubruch, als Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ (2010) veröffentlicht: Erstmals finden rechte und rechtsradikale Thesen ihr Echo im konservativen Lager, das heißt, ausgerechnet auch bei einem Sozialdemokraten. Volker Weiss bemerkt bei Korth in diesem Zusammenhang: „Die Diskursgrenzen wurden gar nicht so stark von der Neuen Rechten verschoben, sondern von Akteuren, die tatsächlich aus der bürgerlichen Mitte kamen … Thilo Sarrazin oder abgefallene konservative wie Alexander Gauland.“

Sarrazin behauptet, dass es eine Korrelation zwischen bestimmten Volksgruppen und einem bestimmten Intelligenzquotienten gibt – wir sollten also unsere Einwanderung steuern und nur die „Intelligenten“ ins Land holen. Damit stellt Sarrazin die Gleichheit der Menschen infrage, das heißt, er unterstellt, dass Menschen von Natur aus ungleich seien: Jedes Volk, jede Ethnie, unterscheide sich von der anderen. Das ist eine neue Form von Extremismus (Rassismus) – die grundsätzlich alle unseren universalen Werte und Glaubensgrundsätze in Frage stellt. Die Neue Rechte fordert, dass die Ungleichheit sich auch in Gesellschaft, Kultur und Politik widerspiegeln müsse. Und das heißt im Umkehrschluss – der These des „Ethnopluralismus“ entsprechend –, dass Völker in ihren angestammten Regionen bleiben sollen. Hinter dieser Forderung steckt, wie bereits erläutert, der rechtsradikale Mythos vom „Großen Austausch“ beziehungsweise der „Umvolkung“. Im Nachwort zu Adorno bemerkt Weiss in diesem Zusammenhang: „Ein autoritär agierender Nationalstaat wird von ihnen“ – den Besorgten vor dem „Großen Austausch“ – „nicht mehr als Bedrohung empfunden, sondern als Schutz und Inkarnation des `Eigenen´ ersehnt.“

Enthnopluralismus, Umvolkung, Remigration oder auch Reconquista, mit dem zur „Rückeroberung“ Deutschlands von der muslimischen Bevölkerung aufgerufen wird, sind allesamt relativ neue Begriffe (allerdings für altbekannte Bedeutungsinhalte). Anfangs steht der Feind noch links – oder wie Max Horkheimer, der lange gemeinsam mit Theodor W. Adorno im Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ tätig war, bereits in den 1930er Jahren angemerkt hat: im Spätkapitalismus verwandeln sich „die Völker zuerst in Unterstützungsempfänger und dann in Gefolgschaften“. Auch heute noch produziert die Verdrängung menschlicher Arbeit in prekäre Bereiche Kränkungen, weshalb beispielsweise Didier Eribon vor dem Hintergrund des Verfalls der politischen Linken in Frankreich auch fragt – darauf verweist Volker Weiss –, wer denn nun eigentlich „der Tatsache Rechnung“ trage, dass die Überflüssigen, also die prekär Beschäftigten und die verbliebenen Reste des Industrieproletariats, „existieren, dass sie leben, dass sie etwas denken und wollen“?

Es ist heutzutage wie in den 1930er Jahren: „Statt in einer abstrakt verwalteten Welt unterzugehen, wählen sie lieber die unmittelbar erlebbare Autorität“, schreibt Weiss, und macht darauf aufmerksam, dass „diese Aspekte eine große Lücke in der Debatte um die gegenwärtige autoritäre Revolte (markieren), die eben nicht alleine durch Rassismus geprägt ist“. Das verdeutlichen auch Ergebnisse einer Umfrage, die 2015 in Dresden auf einer Veranstaltung der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida)“ erhoben wurde: Wie Weiss bemerkt, gaben nur gut ein Viertel aller dort befragten Personen als Begründung für ihre Teilnahme an der Veranstaltung mögliche Bedrohung und Ängste durch den Islam, den Islamismus oder die Islamisierung an; Mindestens genauso viele Teilnehmer*innen hatten Ängste vor sozialem Abstieg, Kriminalität, Überfremdung und Identitätsverlust – auch eine allgemeine Unzufriedenheit mit „den Medien“ und „der Politik“ wurde häufig genannt.

In den Anfangsjahren der Neuen Rechten und noch lange darüber hinaus sahen viele Rechtskonservative ihre Werte durch die Liberalisierung der Gesellschaft bedroht. Mohler arbeitete zu dieser Zeit schon länger nicht mehr für Ernst Jünger, sondern inzwischen für Franz-Josef Strauß – den er gerne zu einem neuen Charles de Gaulle machen wollte. Strauß jedoch sei etwas zu „atlantisch“, wie er an einer Stelle sagt.

Die 1970 von Mohler gegründete Zeitschrift „Criticon“ versteht sich als konservative Gegenstimme zur Kulturrevolution von Links und trägt wesentlich zur Ausbildung der Neuen Rechten in Deutschland bei. Theorien aus der Zeit vor den Nationalsozialisten werden populär und eine Haltung, wonach, wie Erik Lehnert ausführt, „Fortschritt kein Selbstzweck ist, sondern sich gesellschaftliche Reformen vor allen Dingen rechtfertigen müssen, und nicht das, was besteht“.

Als in Frankreich in den 1970er Jahren deutlich wird, dass GRECE-Mitglieder für „Le Figaro“ schreiben, die größte Tageszeitung des Landes, führt das zu einem Skandal und der Einfluss der Nouvelle Droite, auch in der Politik, ist nicht mehr zu leugnen. Es folgte eine heftige Debatte über Pro und Contra der Neuen Rechten in dem Parteiebündnis „Union pour la Démocratie Française (UDF)“ des Staatspräsidenten Giscard d`Estaing, in der namhafte Vertreter zur Neuen Rechten gehörten. In Frankreich hat die Vergangenheitsbewältigung des Vichy-Regimes nie die Rolle gespielt, die sie in Deutschland hatte. Insofern ist das Tabu der Neuen Rechten hier wesentlich geringer und findet auch eine breitere Förderung im bürgerlichen Lager.

Aber auch in Deutschland ist man aufgeschreckt: Nach einem Interview mit Alain de Benoist 1979 spricht die damals noch wesentlich konservativere „Die Zeit“ erstmals von „Eurofaschisten“. Mohler sucht währenddessen neue Verbündete und unterstützt Franz Schönhuber – immerhin freiwilliges Mitglied der Waffen-SS und ehemaliger stellvertretender Chefredakteur des Bayrischen Rundfunks und Vorsitzender des Journalistenverbandes in Bayern – und die neue Partei „Die Republikaner“, die das politische System der Bundesrepublik von Innen, über die Institutionen, aushöhlen wollten. Es ging darum, über die Exekutive zu verfügen … Heute ist die Partei nach Erfolgen in den 1990er Jahren in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, auch wenn sie offiziell noch existiert. Ähnliches gilt auch für die 1964 gegründete „Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD)“, bei der letzten Bundestagswahl mit nicht ganz 65.000 Stimmen 0,1 Prozent der Gesamtwählerstimmer erhielt.

War der erste Aufschwung der Neuen Rechten in Deutschland noch eine Reaktion auf die Linke gewesen, vollzog sich der zweite am Ende des Blockkonflikts: Nach dem Fall der Mauer hoffte die Neue Rechte, die Zeitläufte endlich in ihrem Sinne mitbestimmen zu können – der Weg zu neuer nationaler Größe schien offen. Anfang der 1990er Jahre aber kommt es in Deutschland zu massiven fremdenfeindlichen Übergriffen in Hoyerswerda, Rostock, Moelln und Solingen. „Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderungen sind auch Zeiten von Ängsten und Orientierungslosigkeit“, heißt es bei Korth in diesem Zusammenhang, Worte können in einer solchen Situation „direkt zur Gewalt“ führen. „Der Zusammenhang zwischen der Agitation und der Tat des Terrorismus am Ende, also der politischen Agitation der Neuen Rechten und der Rechtspopulisten und dem Terrorismus ist eben darin, dass die einen den Feind markieren und die anderen ihn dann auch offensiv bekämpfen“, sagt Volker Weiss ebendort.

Außerdem stand die Neuordnung der Welt nach dem Ende des Realsozialismus in den 1990er Jahren im Zeichen der Globalisierung und nicht der Nationalismen: Nicht nur Deutschland, auch Europa wuchs in dieser Zeit zusammen. „Die letzten vergangenheitspolitischen Schlachten um das Ansehen der Wehrmacht, die Zwangsarbeiterfrage und den Anspruch auf die ehemaligen Ostgebiete wurden von der Rechten verloren“, schreibt Weiss.

Nichtsdestotrotz wurde in der Nachwendezeit Götz Kubitschek zu einem der prominentesten Vertreter der Neuen Rechten in Deutschland. In seiner Agenda gibt es eine enge gedankliche Verzahnung zu den Überzeugungen von Armin Mohler und Alain de Benoist. Gemeinsam mit Karlheinz Weißmann gründete er 2000 das „Institut für Staatspolitik (IfS)“ mit dem Ziel, Rechtsaußen-Diskurse gesellschaftsfähig zu machen: Es geht darum, sagt Erik Lehnert, „daß überhaupt noch daran erinnert wird, daß es eine deutsche Seele gibt. Dafür muß es einen Ort geben“. Auch hier, mit der Gründung des Instituts, kopiert die Neue Rechte nicht zufällig das Schriftlogo des in Zusammenhang mit Horkheimer und Adorno oben schon erwähnten „Instituts für Sozialforschung (IfS)“ – und okkupiert auch dessen „Kritische Theorie“. (Später kommt es zwischen Kubitschek und Weißmann zum Bruch und Weißmann begann, wieder für die Junge Freiheit zu schreiben, aus deren Reihen er wie Kubitschek kam.)

Außer dem Insitut für Staatspolitik gründet Kubitschek 2002 noch den Verlag „Antaios“ (vielleicht der wichtigste Verlag für Identitäre und Neue Rechte) und 2003 das Magazin „Sezession“. Der Name leitet sich von dem bereits erwähnten „Anschwellender Bocksgesang“ (1993) von Botho Strauß her, dem man den Status eines Manifests zugesprochen hatte: „Man muß nur wählen können“, schriebt Strauß dort, „das einzige, was man braucht, ist der Mut zur Sezession, zur Abkehr vom Mainstream. Ich bin davon überzeugt, daß die magischen Orte der Absonderung, daß ein versprengtes Häuflein von inspirierten Nichteinverstandenen für den Erhalt des allgemeinen Verständigungssystems unerläßlich ist.“ Ganz in diesem Sinn ging es Götz Kubitschek dabei von Anfang an nie um Realpolitik. „Das ist mir völlig egal“ hatte er in dem Zusammenhang einmal gesagt und direkt angefügt: „wenn ich über den Zustand der deutschen Seele nachdenke oder den Zustand … unseres kulturellen Daseins. (…) Das ist die eigentliche Substanz des Volkes.“ Die deutsche Seele – ohne Zweifel hat der Nationalismus seinen Ursprung in der Romantik

Für die Neue Rechte um Kubitschek, die sich bald gedanklich von der Jungen Freiheit absetzte, war spätestens mit Beginn der Regierungszeit von Angela Merkel 2005 das, was sie unter Konservatismus verstand, zugunsten einer europäischen Integration Deutschlands am Ende. Die CDU schien „endgültig nicht mehr für die autoritäre Restauration im Geiste des Völkischen Nationalismus zur Verfügung zu stehen“, schreibt Weiss in diesem Zusammenhang. Nicht zuletzt auch deshalb wurde 2013 die „Alternative für Deutschland (AfD)“ gegründet – auch wenn damit, wie Weiss fortfährt, „die Kluft zwischen einerseits revolutionär und andererseits parlamentarisch orientierten Neurechten“ wieder breiter zu werden schien.

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In Frankreich rückte 2011 Marine Le Pen an die Spitze des Front National. Sie will die Partei für eine gemäßigte Wählerschaft öffnen – die rechtsextremen Thesen ihres Vaters sind in der Öffentlichkeit fortan Tabu. 2018 erfolgte die Umbennung des „Front National“ in „Ressemble National“ mit der zentralen Botschaft: „Preference National“, Frankreich und die Franzosen zuerst. Die französische extreme Rechte ist breit gefächert, Marine Le Pen spielt „die kümmernde Landesmutter“. Zugleich gibt es eine neue intellektuelle Rechtsfront, die tief im bürgerlichen Milieu verankert ist, wie derzeitim Wahlkampf bei Eric Zemmour zu beobachten ist. Nicht zuletzt am Erfolg seiner rechtsextremistischen Thesen zur Immigration, die mittlerweile in allen Medien auf breiter Ebene diskutiert werden, ist auch der Erfolg der Metapolitik der Nouvelle Droite in Frankreich abzulesen. Sie prägen inzwischen wesentlich die öffentliche Meinung in der französischen Gesellschaft.

In den letzten Jahren hat Le Pen immer wieder die Nähe zu Putin gesucht. Er hatte sie 2017 in Moskau empfangen und ihr damals einen Kredit über 9,4 Millionen Euro zur Finanzierung ihres Wahlkampfes zur Verfügung gestellt, abgewickelt über die First Czech Russian Bank, ein russischer Geschäftsmann soll behilflich gewesen sein. Schon 2013 wurde Le Pen in Russland von hochrangigen Vertretern des Kreml empfangen, ein Jahr später hat sie – wie praktisch die gesamte europäische Neue Rechte – die russische Annexion der Krim verteidigt. Jedenfalls traten rechte Europaabgeordnete aus Frankreich, Belgien, Italien und Österreich als internationale Wahlbeobachter beim „Referendum“ über die Angliederung der Krim an Russland auf.

Bedeutender – oder beängstigender – aber als die finanzielle Unterstützung sind vermutlich die ideologischen Gemeinsamkeiten, steht doch für beide die nationale Souveränität über dem Multilateralismus beziehungsweise die Grande Nation über der Europäischen Union. Von diesem „Bündnis“ ist Le Pen bisher nicht abgerückt, auch wenn sie den Angriff auf die Ukraine öffentlich verurteilt hat. Unklar ist, was das im Falle ihrer Wahl zur Präsidentin wirklich wert wäre. Wie Claus Leggewie in „Europa zuerst!“ (2017) bemerkt, setzt Le Pen jedenfalls „auf die Wiederherstellung der historischen französisch-russischen Allianz, die im 19. Jahrhundert gegen das Deutsche Reich gerichtet war und heute gegen das enge Bündnis Deutschlands mit Frankreich“. Noch Mitte Februar hat sie die NATO außerdem eine „bellizistische Organisation“ genannt und Putins Argumentation übernommen, wonach die Osterweiterung des Bündnisses die Sicherheit Russlands massiv bedrohen würde. Sie hat bereits angekündigt, als Präsidentin Frankreich aus den gemeinsamen Kommandostrukturen der NATO zu lösen. Das käme zwar keinem Austritt gleich, gleichwohl wäre die nordatlantische Einheit dahin und die bisher doch geschlossene europäische Front gegen die russische Expansionspolitik in der Ukraine aufgebrochen. Und dass der Europäischen Union dasselbe Schicksal droht, ist nach Le Pens Worten auch klar: „Wie verbessert man die Euorpäische Union? Indem man sie zum Einsturz bringt.“

Wie für Le Pen ist Russland für alle in Europa interessant, die die Europäische Union mit ihrem Wertekanon ablehnen und stattdessen eine nationale Souveränität anstreben. Und dasselbe gilt umgekehrt natürlich auch im Hinblick auf die russisch-imperialen Pläne Putins, der die Europa-Gegner wie Le Pen genauso unterstützt wie die Neofaschisten der ungarischen Jobbik-Partei oder der bulgarischen Ataka – die Liste ist damit nicht zu Ende –, solange sie ihm zur Destabilisierung der Europäischen Union nützlich sind. Putin wird so gewissermaßen zur Lokomotive einer „Konservativen Revolution“ in Europa.

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Der Aufschwung der Neuen Rechten um Götz Kubitschek in den letzten Jahren war zweifellos verbunden mit ihrer Präsenz bei den „Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida)“. Gerade Kubitschek hielt hier erstmals Reden vor einem Massenpublikum – und er fand dort offenbar Resonanz. Volker Weiss bemerkt über einen Auftritt Kubitscheks in Leipzig: „Die Rede hatte eine große integrierende Kraft. Gerade weil sie das Gemeinsame aufrief und nicht das Trennende, konnte sie Einigkeit herstellen. Mit ihr verdeutlichte Kubitschek die Parole `Wir sind das Volk´, die die Demonstranten von der Wendezeit übernommen hatten und die nun wieder durch die Straßen hallte. Sie zeichnete dieses `Volk´ als eine unentrinnbare Gemeinschaft der Deutschen in der Geschichte. Aus dem Ruf des `Volkes´ nach seiner Rolle als Souverän wurde die Evokation einer überhistorischen Gemeinschaft `Volk´, in der demos und ethnos verschmolzen.“

Gleichwohl betont Weiss aber, dass Kubitschek in seiner Rede letztlich doch „eigentlich nur die uralten Motive des Nationalismus auf, die Schicksalsgemeinschaft der `Nation´ und das handelnde Kollektivsubjekt `Volk´ (aufbereitete). Die Rede präsentierte eine Geschichtsvorstellung, wie sie etwa aus Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes bekannt ist.“ Aber egal, ob man Spengler gelesen hatte oder nicht, „dir Rede kam beim Publikum sichtlich an“. Kubitschek schaffte es, „die neurechte Geschichtsdeutung von Spengler … für die Massen aufzubereiten. Sie zeigte beispielhaft, wie die Narrative des deutschen Radikalnationalismus von Pegida aufgenommen wurden.“

Die Neuen Rechten brüllen nicht mehr plump Parolen wie „Wir sind das Volk“, „Deutschland den Deutschen“ oder „Ausländer raus“ wie noch in Hoyerswerda, Rostock, Moelln und Solingen, sondern sie rufen nach „Remigration“ oder „Ethnopluralismus“ – und meinen aber genau dasselbe: An die Stelle des „Volks“ als Bevölkerung eines Staates wird nun einfach „Ethnie“ (ethnos) gesetzt – und jedes „Volk“ hätte schließlich eine unveränderliche kulturelle Identität (der oben, von Aleida Assmann angesprochene Machtkampf um unsere Erinnerungskultur, darum, wie wir die Geschichte erinnern, betrifft gerade die insofern immer schon imaginierte und niemals unveränderliche Identität). Diese kulturelle Identität müsse man vor „fremden“ Einflüssen schützen, und das gelinge durch Abgrenzung, geistig und territorial. Propagiert wird insofern ein „Rassismus ohne Rassen“, ohne das Freund/Feind-Schema aufzugeben: es geht dann gegen Migration im Allgemeinen und Migrant*innen im Besonderen – gegen alle, die der eigenen imaginierten Ethnie nicht angehören.

Es ist ein Merkmal der Neuen Rechten, die „Konservative Revolution“ dadurch vom Nationalsozialismus abzusetzen, „dass an die Stelle des kompromittierten und wissenschaftlich widerlegten Terminus `Rasse´ der diffuse Begriff `Kultur´ bzw. `Zivilisation´ tritt“, bemerkt Leggewie in diesem Zusammenhang. Man kann das bereits bei Carl Schmitt beobachten – er setzt sich dadurch von Antisemitismus ab –, aber genauso bei Alexander Dugin, der, wie Kubitschek, die Differenz der Kulturen betont und diese Differenz dann doch ethnisch bestimmt, also durch Abstammung und Herkunft. Leggewie bemerkt in diesem Zusammenhang: „Als wäre die Menschheit in durch Grenzen voneinander abgeschottete Teile zerfallen, sind `Differentialisten´ davon überzeugt, ihre eigene `Kultur´ habe durch Vermischung an Bedeutung verloren und sei vom Untergang bedroht.“

Dass die Pegida-Massenveranstaltungen für die Neue Rechte so erfolgreich werden sollte, war zunächst nicht abzusehen – und lag dann sicher auch an den Flüchtlingen, die nun unübersehbar aus Syrien an Europas Grenzen ankamen. Das in der nationalistischen Agitation immer schon entworfene Szenario einer äußeren Bedrohung der eigenen exklusiven Identität wurde nun zur Wirklichkeit für die „Patriotischen Europäer“.

Europäer? Der Begriff irritiert in diesem Zusammenhang vielleicht – wird Europa doch mit der Europäischen Union identifiziert und deren Institutionen, Regeln und Minderheitenrechte wurden im rechten Milieu schon immer abgelehnt: es mangle das identitätsstiftende Moment, die seelische Tiefe und historische Verwurzelung, das Erhebende. Der Begriff des „Abendlandes“ im Namen von Pegida hingegen, darauf macht Volker Weiss aufmerksam, ist nicht zufällig gewählt: Er verweist darauf, dass es im Verständnis der Rechten schon immer einen anderen Europabegriff gab, der nicht politisch definiert ist, sondern – ganz im Sinne des metapolitischen Ansatzes des Instituts für Staatspolitik – die Mobilisierung der Leidenschaften und die Verteidigung des „Eigenen“ ermöglichen sollte.

Bevor das Abendland Mitte der Sechziger Jahre durch einen säkularisierten Europa-Begriff abgelöst wurde, war es über Jahrhunderte mit dem Adjektiv „christlich“ untrennbar verbunden. Man wollte sich damit, mehr ideologisch als territorial, vom „islamischen Morgenland“ abgrenzen – und nur in dieser Möglichkeit zur Abgrenzung liegt auch das politische Kalkül bei der Benutzung des Begriffs durch die Neuen Rechten bei Pegida: es sollte primär als eine Art „Positionsbestimmung in Einwanderungsfragen“ dienen, wie Weiss sagt. Deutlich wird das auch daran, dass es der Begriff als „abendländische christliche Kultur“ zwar in die Präambel des 2016 beschlossenen Parteiprogramms der AfD geschafft hat, Alexander Gauland aber einschränkt: „Wir sind keine christliche Partei. Wir sind eine deutsche Partei, die sich bemüht, deutsche Interessen wahrzunehmen“, und dazu zähle die Verteidigung der eigenen „kulturelle(n) Tradition“ gegen eine „raumfremde Einwanderung“ (hier rekurriert er auf den Reichsbegriff von Carl Schmitt), die „vom Islam ausgehe“. Er selbst „verwende den Begriff `Abendland´ als Abgrenzung zum Islam´“ und erklärt: „Mit dem Sieg über die Türken vor Wien 1683 haben wir eine klare Trennung zwischen dem Abendland und dem osmanisch-muslimisch besetzten Territorien bekommen.“

Von seiner christlichen Bedeutung, die den Begriff über Jahrhunderte bestimmte, ist er bei Gauland genauso vollständig gelöst, wie dann bei Pegida – es sind ja auch drei Viertel der Sachsen konfessionslos. Artikuliert wird der rechte Protest hier insofern „eher diffus“, wie Weiss schreibt. Das aber erlaube dem „Abendland“ als Kampfbegriff noch einen weiteren Kurswechsel – nun ausgerechnet nach Osten: schon Ideologen des deutschen Nationalismus standen nicht zuletzt aufgrund der Niederlage im Ersten Weltkrieg dem Westen politisch wie kulturell ablehnend gegenüber. Für Oswald Spengler war in diesem Zusammenhang die Dekadenz das entscheidende Merkmal für den „Untergang des Abendlandes“ – wie heute für Putin, für den der Westen der Inbegriff des moralischen Verfalls ist. Dasselbe wiederholte sich nach dem zweiten Weltkrieg – mit dem Unterschied, dass nun im Osten Deutschlands auf dem Gebiet der „Deutschen Demokratischen Republik (DDR)“ ein Territorium entstand, das westlichen Einflüssen, politischen und kulturellen, weitestgehend entzogen war. „Es ist eine Ironie der Geschichte“, schreibt Volker Weiss in diesem Zusammenhang, gleichwohl bieten für Götz Kubitschek, wie er auf einer Pressekonferenz der Identitären Bewegung verlauten ließ, „gerade die ethnisch homogenen Gebiete Osteuropas und `Mitteldeutschlands´ als `große(r) Segen der Geschichte´ die letzte große Chance für das `christlich-europäische Abendland´, die Identität zu wahren“, wie ihn Weiss zitiert.

Kubitschek steht mit diesem Gedanken nicht allein – ähnlich sieht es auch Björn Höcke, wie Weiss bemerkt: „In einem Vortrag beim IfS in Schnellroda im November 2015 erinnerte sich der AfD-Mann Björn Höcke an den Mauerfall. Er habe am Abend des 9. November 1989 vor dem Fernseher gesessen und die Nachricht von der Grenzöffnung gehört. Er und sein ebenfalls national eingestellter Vater seien sich anschließend unter Tränen in den Armen gelegen. `Als wir uns voneinander lösten und uns anschauten, sagte mein Vater einen Satz, den ich niemals vergessen werde. Er sagte: `Das ist das Ende des deutschen Volkes.´ (…) Die DDR war trotz dieser ideologischen Ferne zu uns für ihn ein Staat, in dem noch diese über Jahrhunderte gewachsene und belastbare Vertrauensgemeinschaft intakt war.´ (…) Der so lange gefürchtete und bekämpfte Osten war von der Bedrohung zum Hort der eigenen ethnischen Identität geworden.“

Der Feind für die ethnische und kulturelle Substanz der Nationen Europas wird nun also nicht mehr im Osten, sondern im Westen ausgemacht. Im Osten wiederum liegt das wahre Europa. Getragen wird diese Weltsicht von einer ethnokulturellen Raumordnung, die das umkehrt, was in der antikommunistischen Ost-West-Konfrontation des 20. Jahrhunderts immer als Bedrohungsszenario skizziert worden war. Die ganze Nähe der Neuen Rechten zu Putin ist nur vor diesem Hintergrund verständlich, das heißt darin, dass er im Kampf der Kulturen „den Osten“ als Rettung für den in seiner Dekadenz dem Identitätsverlust anheimgefallenen Europäer präsentiert.

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„Hätte der Kaiser Jazz getanzt – niemals wäre das alles passiert“, sagte der Schriftsteller Hans Siemsen nach dem Ersten Weltkrieg …

Tatsächlich werden Krisenzeiten „häufig als Tanzzeiten erlebt“, bemerkt Wolfgang Schivelbusch in „Die Kultur der Niederlage“ (2003) im Hinblick auf die Situation in der Weimarer Republik. „Die übliche Erklärung des Phänomens lautet, daß die während des Krieges unterdrückten Triebenergien abreagiert werden: Tanzsucht als Teil der erotischen Entladung …“ Das mag zutreffen, entscheidend erscheint Schivelbusch aber, dass den Tanz in der Zwischenkriegszeit nichts mehr mit jenem der Vorkriegszeit verband: „Der Nachkriegstanz war ein amerikanischer Import“, schreibt er, Jazz, der eben nichts mehr mit in geraden Reihen marschierenden Truppen, dem Aufmarsch, zu tun hatte und „nicht mehr auf bestimmten Schritten und genau abgezirkelten Bein-, Arm- und Oberkörperbewegungen (basierte)“. Sondern Jazz „versetzte den Körper in eine vollkommen neue Rhythmik des Stampfens, Schwingens und Wiegens. Das motorische Zentrum verlagerte sich von den Beinen in Hüfte, Taille und Schultern; von dort aus erfaßte es den gesamten Körper und über diesen das Bewußtsein, was als Berauschung erlebt wurde. Man sprach von `Musikkapellen, die einen ohne Alkohol besoffen´ machten oder in einen hypnoseähnlichen Zustand versetzten. `Mit ausgeschalteter Vernunft und ausgeschaltetem Willen sich diesem Rhythmus zu überlassen, das ist ein schönes Gefühl, wie wenn man nach durchwachter Nacht endlich, endlich einschlafen darf.´“, wie Schivelbusch einen Zeitgenossen zitiert und fortführt: „Daran, daß mit der durchwachten Nacht das alte Regime gemeint war, wurde kein Zweifel gelassen.“

Und heute?

„Eastern and Western worlds. Cultural rather than geographic in division, the boundaries of East and West are not fixed, but vary according to the criteria adopted by individuals using the term“, schreibt der Künstler Max Eulitz in „Notes on 41“ (2021), wo er über einen Technolclub in Kiew kurz vor der russischen Invasion berichtet, und ergänzt: „Reality comes in more shades than the black and white (East and West) picture would suggest, but the general dichotomy holds true. An electronic music scene emerged in the capital Kyiv that created spaces to express individual freedoms previously impossible in public life before the Maidan Revolution. Sweaty, young bodies pulsating with Democratic aspirations are undeniably attractive. They embody the old image of a desenfranchised and oppressed youth hungry for freedom, a new generation`s desire for autonomy and a willingness to defy the elite“.

Und morgen?

„Was jetzt kommt, weiß niemand. Aber die Hoffnung, Teil der europäischen Völkerfamilie zu sein, in Freiheit und Selbstbestimmung, lässt sich nicht wegbomben“, sagt Eulitz in einem aktuellen Interview über die Menschen, die er in Kiew kennengelernt hat. „Die Zukunft hieß und heißt immer noch ganz klar Europa.“

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