Die Weinlandschaft des Rheins war schon immer auch eine bedeutende Mythensammlerin für die deutsche Kultur. Im 19. Jahrhundert erhält sie darüber hinaus politische Bedeutung …
„Ist es der Duft der Rebenblüte oder der edle Geist des Weines, der uns überströmt? Oder weht uns der frische Hauch des Rheintals an …? Ist es der königliche Fluß selbst …? Sind es seine gepriesenen, vielbesungenen Ufer, sind es die sanft geschwungenen Rebenhügel oder die starren Felsen, von denen Schlösser und Burgen niederblicken? (…) Sind es die geschichtlichen Erinnerungen oder die alten, vertrauten Sagen? Ist es die schöne Gegenwart oder die lachende Zukunft, was uns vor die Seele tritt, wenn der Name Rhein uns ergreift? Dies alles erschöpft den Zauber des Wortes nicht …“
Karl Simrock, Übersetzer des Nibelungenliedes und Winzer (1838)
Landschaft existiert nicht nur als materielle Wirklichkeit, sondern stets auch als kulturelle Konstruktion – Natur wird immer auch kulturelle und politische Bedeutung beigemessen. Landschaft ist insofern verbunden mit einer geistigen, imaginierten Topographie. Neben dem Wald kommt in diesem Sinn insbesondere der Weinlandschaft des Rheins im 19. Jahrhundert ein ideeller Wert zu: Wie der Wald wird auch der Rhein zum politischen und kulturellen Zentrum für die deutsche Kultur – zu einem Symbol für das kulturelle Selbstverständnis und die nationale Identität. Er wird zu einer Art deutscher Identifikationslandschaft, noch bevor 1871, vor 150 Jahren, Wilhelm I. deutscher Kaiser und das Deutsche Reich gegründet wird: „Deutschland“ gibt es bis dahin noch gar nicht, sondern besteht aus 36 selbstständigen politischen Einheiten, die nur eine gemeinsame Kultur und Sprache haben. Der Rhein sollte diese Einheit symbolisieren, er ist, wie Herfried Münkler in „Die Deutschen und ihre Mythen“ (2009) feststellt, „als ein für die nationale Identität der Deutschen bedeutsamer Mythensammler anzusehen. Er hat die Funktion der in Deutschland lange fehlenden Hauptstadt übernommen, die es zu verteidigen galt.“
Rheinlandschaft
Mit der Entstehung der Alpen vor über 135 Millionen Jahren entspringt auch der längste Fluss Deutschlands, der Rhein. Zunächst floss er noch ins Mittelmeer, dann vor etwa 2 Millionen Jahren in die Donau, bevor ihm in der Eiszeit die Eisbarrieren im Alpenraum den Weg versperrten. Erst nach dem Ende der Eiszeit, als die Gletscher vor etwa 10.000 Jahren abgeschmolzen waren, kehrte in die Flusstäler eine Phase relativer Ruhe ein. In der Zeit nach dem Transport der großen Schmelzwassermengen konnten sie sich ihren relativ gleichmäßigen, heutigen Lauf durch die Landschaft suchen. Das gilt auch für den Rhein, dessen Gefälle freilich im schweizerischen Oberlauf, wo er (bis zur Mündung in den Bodensee) noch „Alpenrhein“ genannt wird, wesentlich größer ist als in der Nähe der Mündung im niederländischen Wattenmeer, weshalb aus dem Wildbach im Verlauf seiner 1.230 Kilometer Länge auch ein träger Strom wird. Wie Hansjörg Küster in seiner „Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa“ (2010) bemerkt, ist der Rhein „in den Alpen ein Wildfluss mit großer Kraft, im Bodensee fließt er fast überhaupt nicht. Dann entwickelt der Fluss vor dem Rheinfall, aber auch anderswo am Hochrhein wieder enorme Kraft …“
Bevor der Rhein Basel erreicht, fließt er eine Zeitlang nach Westen, um sich ab hier wieder nach Norden zuzuwenden, bis er auf das große Taunusmassiv bei Wiesbaden trifft. Der Rhein durchfließt hier einen geologischen Graben – die Oberrheinische Tiefebene, auch Oberrheingraben genannt -, dessen Entstehung auf das Tertiär zurückgeht und der etwa 300 Kilometer lang und etwa 30-40 Kilometer breit ist. Flankiert wird diese Grabensenke von den Mittelgebirgen Schwarzwald und Odenwald im Osten, sowie den Vogesen und dem Pfälzerwald im Westen.
Die etwa 30-40 Kilometer breite Ebene des Oberrheingrabens entstand, als vor etwa 50 Millionen Jahren ein ursprünglich 400-500 Millionen Jahre altes Gebirgsmassiv wie ein Tonnengewölbe einstürzte. Früher einmal bildete die Ebene den mittleren Bogen der Bergrücken der Mittelgebirge, heute wird sie vom Rhein beherrscht, der sie also zwar nicht geschaffen hat, sie jedoch als Abfluss zum Meer nutzt.
Der Oberrheingraben ist Teil einer gewaltigen Grabensenke, die sich von Skandinavien bis Ost-Afrika zieht. So gelangt durch die sogenannte Burgundische Pforte in den südlichen Vogesen auch warme, mediterrane Luft über das Rhônetal ins Rheintal und sorgt hier für ein insgesamt gemäßigtes, warmes Kontinentalklima – und perfekte Bedingungen für den Anbau von Weinreben in diesem nördlichen Randklimabereich für Weinbau. (Das Klima in Baden ist insgesamt mild und der Kaiserstuhl – ein sich aus der Rheinebene erhebender Vulkankegel, auf dem fast ein Drittel der badischen Weine wächst – die wärmste Region Deutschlands mit den meisten Sonnenstunden.)
Überhaupt gehen Anthropologen davon aus, dass das Zeitalter der Menschen in Europa hier im Rheingraben seinen Ausgang nahm, darauf verweisen auch die namensgebenden Fundorte: Schon lange bevor sich der moderne Mensch, der Homo sapiens, in Europa ausbreitete, lebte vor 600.000 Jahren sein enger Verwandter, der Homo heidelbergensis, im Rheingraben, mit dem das Menschenzeitalter in Europa begann. Ihm folgte dann der Neandertaler (benannt nach einem Tal im Rheinland). Der Rheingraben war also schon immer eine Kulturlandschaft.
Hier im Oberrheingraben, entlang der Weingebiete Badens, fließt der Fluss mit einem niedrigeren Gefälle durch den Sand und Kies auf dem Talboden, auf dem er seinerseits Geschiebe und Sediment ablagert. Hier wird der Rhein langsam zum Strom, der sich durch den Graben schiebt, vorbei am Pfälzerwald und dem Niersteiner Roten Hang in Rheinhessen bis an den großen Rheinbogen (das sogenannte „Rheinknie“) bei Wiesbaden und Mainz, wo ein Taunus-Ausläufer den Fluss aufhält und ihn zur Richtungsänderung nach Westen zwingt, er also noch einmal seine Richtung wechselt und von Osten nach Westen bis kurz nach Rüdesheim entlang der Weinberge des Rheingaus fließt.
Dann jedoch bricht der Rhein im Mittelrheintal durch das Rheinische Schiefergebirge und wird noch einmal zum Wildfluss: an der fünf Kilometer langen Binger Pforte. Hier, wo sich die waldigen Hügel von Taunus und Westerwald am rechten, Hunsrück und Eifel am linken Ufer an den Fluss herandrängen, durchbricht der Rhein das Mittelgebirge und verbindet den breiten Oberrheingraben mit der Tiefebene des Niederrheins.
Beim „Binger Loch“ beginnt der Mittelrhein mit seinen gefährlichen Querströmungen, wenige Kilometer unterhalb von Rüdesheim, wo der Rhein schmaler wird, jäh seine Richtung ändert und wieder nach Norden schwenkt. Mit seinen Riffen und Stromschnellen war das „Binger Loch“ früher unüberwindlich, weshalb Waren umgeladen und auf dem Landweg nach Lorch transportiert wurden und erst dort erneut auf Schiffe verfrachtet beziehungsweise von dort auf dem Landweg am rechten Rheinufer nach Geisenheim gebracht wurden, um dort wiederum auf ein Schiff zu kommen.
Das „Binger Loch“ bezeichnet eine natürliche Sperre: Als sich der Rhein nach der Eiszeit einen Weg durch das Rheinische Schiefergebirge bahnte, konnte er beim jetzigen Bingen ein querliegendes Riff aus Quarzit nicht aus dem Wasserweg schaffen. Er musste daran vorbei, aber das Riff ließ für die Durchfahrt nur einen wenige Meter breiten Spalt frei, weshalb Waren entweder auf dem Landweg nach Lorch umgeladen werden mussten oder auf kleinere Schiffe, für die rheinabwärts in Bacharach eigens ein großer Belade-Hafen gebaut wurde.

Quarzit ist etwa 400 Millionen Jahr alt (aus dem Devon) und gehört damit, wie Schiefer, zu den ältesten Gesteinen Rheinhessens. Es kommt hier nur bei Bingen (am Rochusberg) vor, wo es den Randbereich des Rheinischen Schiefergebirges (Taunus und Hunsrück) im Norden bildet. Das Binger Quarzit entstand, als sich sandige Sedimente eines Meeresbeckens zunächst zu Sandstein und im Verlauf der Zeit zu Quarzit verdichtet haben. Nach Ende der Eiszeit bildeten sich darauf natürliche Böden, die jedoch aufgrund der menschlichen Eingriffe (Weinbergsterrassen am Rochusberg) nicht mehr zu erkennen sind.
Der Quazitgehalt im Boden beträgt bei Bingen bis zu 98 Prozent. Er beeinflusst hier, beim 16 Hektar großen, biodynamisch arbeitenden Weingut Riffel eine ganze Ortswein-Linie. Der „Binger Riesling Quarzit“ ist ein nicht ganz schlanker Wein mit leichter Petrolnote in der Nase, lebendiger Säure, feiner, flintiger Mineralik und exotisch anklingenden, feinfruchtigen und zitrischen Noten sowie einer zurückhaltenden Kräuterwürze.
Quarzit ist extrem hart, härter als jeder bekannte Stein damals. Entsprechend konnte das „Binger Loch“ lange nicht verbreitert werden. Erst seit dem 11. Jahrhundert gelang das mehrmals, entscheidend dann mit dem neu erfundenen Schießpulver im 14. Jahrhundert, als das Riff auf neun Meter verbreitert werden konnte, 1893/1894 dann sogar auf 30 Meter. Aber erst die Eröffnung eines neuen 120 Meter breiten Kanals im Jahr 1966-67 führte dazu, dass dieser Engpass für die bis zu 200 Schiffe, die ihn heute täglich passieren, keine Gefahr mehr in sich barg. Ein echtes „Binger Loch“ gibt es nicht mehr, es existiert nur noch als kartografische Lokalität.
Wenige Kilometer flussabwärts, bei Oberwesel, beginnt sich die Landschaft erneut zu verändern: Sie geht von den weichen Tonschieferböden über zu hartem Sandstein. Deshalb entstanden eine Reihe von Talengen, dessen bekannteste sich bei Stromkilometer 554 befindet, wo der Rhein Strudel und Stromschnellen gebildet hat und wo ein Felsen ins Flusstal ragt, der im 19. Jahrhundert zum „Loreleyfelsen“ geworden ist.
Noch vor Bonn verlässt der Rhein die Umgebung des Schiefergebirges und tritt in das Kölner Becken ein. „Erst nach dem Durchbruch der Gebirgszüge des Rheinischen Schiefergebirges wird dieser Strom endgültig zum trägen Landfluss“, schreibt Küster. Ab hier, in der totalen Ebene des niederrheinischen Tieflandes, verliert die Landschaft gegenüber dem Rhein selbst an Bedeutung, der – je mehr er sich den Industriegebieten nähert – zunehmend als wirtschaftlich wichtigste Verkehrsader Deutschlands ins Bewusstsein rückt, bevor er schließlich in den Niederlanden in die Nordsee mündet.
Weinlandschaft Rhein
Das obere Mittelrheintal wurde 2002 von der UNESCO zur Welterbestätte erklärt. Die Begründung dafür liegt in der „langen Geschichte der Verbindung des Menschen mit einer aufregenden und vielseitigen Naturlandschaft“. Das Mittelrheintal sei insbesondere auch „eine herausragende organische Kulturlandschaft“, die besonders „von terrassenförmig angelegten Weinbergen“ geprägt ist.
Weinbau kam mit den Römern nach Deutschland. In der frühen Neuzeit wurde er, wie Hansjörg Küster bemerkt, „allmählich auf einige Kerngebiete eingeengt, dort aber ausgeweitet.“ Dabei sehen Weinkulturen in den einzelnen Landschaften immer unterschiedlich aus: Am Mittelrhein beispielsweise wird Weinbau an den sonnigen Hängen am Rhein betrieben. Man konnte hier die Rebstöcke auf Terrassen mit weichem Tonschieferboden an den steilen Hängen pflanzen, die mitunter aber auch gefährlich in das Flusstal ragen – dort, wo harter Sandstein vorherrscht, wie beispielsweise an dem von Heinrich Heine besungenen „Loreleyfelsen“.
In Rheinhessen hingegen überziehen die Weingärten überwiegend die Ebenen und das Hügelland abseits des Rheins. Die Weinanbauregion erstreckt sich nördlich der Pfalz am linken Ufer des Rheinknies zwischen Alzey, Worms, Mainz und Bingen. Mit 26.500 Hektar Rebfläche ist Rheinhessen das flächenmäßig größte deutsche Anbaugebiet, etwa die Hälfte der landwirtschaftlich genutzten Fläche wird hier dem Weinbau gewidmet. Diese Anbaudichte bedeutet, dass beinahe ein Viertel der gesamten deutschen Weinproduktion aus den 133 Weinorten in Rheinhessen stammt.
Während sich der Weinbau in Rheinhessen also überwiegend nicht unmittelbar am Rhein abspielt, so gründet sich sein guter Ruf dennoch auf die einzige Ausnahme davon: die Steillagen des Roten Hanges am Westufer des Rheins im Bereich Nierstein, wo einige der körperreichsten Rieslinge Deutschlands entstehen. Dieses als „Rheinterrasse“ bekannte Gebiet von Nackenheim über Nierstein bis Oppenheim bietet mit seiner mineralischen Hanglage aus Rotliegendem ideale Bedingungen für körperreichen Riesling. Hier liegt auch die älteste urkundlich erwähnte Einzellage Deutschlands: Niersteiner Glöck (im Jahr 742).
Obwohl diese Erwähnung erst auf das 8. Jahrhundert datiert ist, findet Weinbau am Rhein schon unter den Römern statt. Sie haben die Weinrebe mit nach Deutschland gebracht – und entlang des Rheins findet man selten Landschaften, in denen der Rebstock keine bedeutende Rolle spielt. Das gilt neben Rheinhessen insbesondere auch für die Weinanbaugebiete Rheingau und Mittelrhein.
Im Rheingau werden die besonders günstigen Bedingungen für das milde Klima dadurch gefördert, dass der Rhein nur hier in einer ungefähren Ost-West-Richtung fließt, wodurch die 3.100 Hektar Weinreben, die über 30 Kilometer am Nordufer des Rheins im Westen (sowie des Mains im Osten) optimal nach Süden hin ausgerichtet sind und den ganzen Tag von der Sonne beschienen werden, während die Wälder des Taunus im Norden vor frostigen Winden schützen. Auch der Rhein selbst sorgt dafür, dass kalte Luftströme sofort abtransportiert werden. Darüber hinaus erreicht der Rhein hier eine Breite von bis zu 400 Metern und wirkt so als riesiger Spiegel, der das Licht und die Sonnenwärme auf ideale Weise reflektiert.
So schafft der Rhein im Rheingau äußerst gute Bedingungen für Weinbau und es wird verständlich, warum sich die bedeutenden Weingebiete in Deutschland meistens an den Ufern von Flüssen in waldreichen Regionen befinden. Insbesondere für spätreifende Sorten wie den Riesling, der im Rheingau sogar zu 80 Prozent angebaut wird, sind die Umstände perfekt: Die durchschnittliche Jahrestemperatur des Rheingaus liegt deutlich über 10 Grad Celsius und auch die Zahl der Sonnenstunden ist um 20 Prozent höher als beispielsweise an der Mosel.
Nicht zuletzt aufgrund dieser milden Bedingungen sind die großen edelsüßen Rheingauer Auslesen legendär. Angeblich führten im Jahr 1775 „Unfähigkeit und Glück“ zur Entdeckung der Vorzüge der sogenannten „Edelfäule“, das heißt angeblich wurde auf Schloss Johannisberg die Spätlese entdeckt: In dieser Zeit gehörte das Schloss mit seinen ausgedehnten Weinbergen dem Abt von Fulda, ohne dessen Erlaubnis die Weinlese nicht beginnen durfte. 1775 verspätete sich der Legende nach der Bote des Abtes, der „Reiter Karl“, um zwei Wochen. Die Trauben waren da bereits von einem Pilz, Botrytis cinerea, befallen und schienen an den Reben zu faulen (die „Edelfäule“ bewirkt, dass die Frucht schrumpft und der natürliche Zuckergehalt steigt). Obwohl man dachte, die Ernte sei ruiniert, brachten die Trauben dennoch eine noch nie dagewesene Qualität. So war die Verspätung des Boten Grundstein für die „Spätlese“ (heute zählt nur noch das Mostgewicht).
Für den Weinbau sind Flüsse also wichtig, weil sie das Mikroklima im Weinberg beeinflussen. So hat sich auch am Mittelrhein der Rhein im Laufe von Jahrmillionen einen heute 200-300 Meter tiefen Graben in das sich mit Unterbrechungen hebende plateauartige Rheinische Schiefergebirge gefressen. Dadurch entstanden oft steile Hänge, auf denen die Reben in einem perfekten Winkel zur Sonneneinstrahlung stehen.
Über das Rheintal fließt warme Luft in die Region und über die steilen Hänge kalte Luft schnell nach unten ab, wo sie vom Rhein weggetragen wird. Dank der oft steilen, geschützten Hänge des Tals und der vom Rhein reflektierten Wärme ist das Klima mild (9,3 Grad Celius durchschnittlich), während der Boden (Schiefer, teilweise Vulkanerde) für die Rieslingtraube besonders geeignet ist.
Das Weinanbaugebiet Mittelrhein ist nur 456 Hektar groß und liegt auf etwa 65 Kilometern an steilen Hängen entlang des Rheins zwischen Bingen und Bonn. Die Produktion hier macht insgesamt weniger als 1 Prozent der gesamten Weinproduktion Deutschlands aus. So unbedeutend diese Zahl erscheint, so bedeutend ist die Landschaft, die von den bereits im Mittelalter terrassenförmig angelegten Weinbergen nachhaltig geprägt wurde. Die Mythisierung des Rheins bezieht sich insbesondere auf diese organisch gewachsene Kulturlandschaft am Mittelrhein.
Politisierung des Rheins
Kaum eine andere natürliche Begebenheit in Deutschland wurde so poetisiert und auch politisiert wie der Rhein. Dabei erfolgten die Bedeutungszuschreibungen – wie auch beim Wald – insbesondere vor dem Hintergrund der Bedrohung durch Napoleon beziehungsweise den „Erzfeind“ Frankreich.
Schon unmittelbar nach der Französischen Revolution, im Jahr 1772, besetzten französische Truppen das linke Rheinufer (die Pfalz und das später so bezeichnete Rheinhessen) und übernahmen die Kontrolle über den Rhein. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 wird die Auflösung der Staatenordnung des Römischen Reiches, und damit etlicher deutscher Länder, eingeleitet. Zementiert wird diese Auflösung dann durch die Kaiserkrönung Napoleons 1804 beziehungsweise die Niederlegung der Krone durch den Habsburger Kaiser Franz II. im Jahr 1806 und die Niederlage Preußens gegen das napoleonische Frankreich im selben Jahr (so wurden beispielsweise die rechtsrheinischen Gebiete der Kurpfalz ins neugeschaffene, vergrößerte Großherzogtum Baden integriert). Damit ist das Ende des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ offiziell besiegelt.
Als Gegenreaktion auf Napoleon erwachte der deutsche Patriotismus und Nationalismus – und auch der Rhein gewinnt in diesem Zusammenhang wieder an Bedeutung: Schon seit dem Pfälzischen Erbfolgekrieg Ende des 17. Jahrhunderts unter Ludwig dem XIV., dem „Sonnenkönig“, war die Mythisierung des Rheins auch eine Antwort auf die im politischen Raum stehende Frage nach dem Grenzverlauf zwischen Frankreich und Deutschland. Frankreich definierte seine Grenzen schon immer über die Geografie und favorisierte „natürliche Grenzverläufe“ wie die Pyrenäen, die Alpen, den Atlantik – und eben den Rhein. Deutschland hingegen sieht, insbesondere seit Anfang des 19. Jahrhunderts, in der gemeinsamen Sprache ein verbindendes Element und definiert seine Grenzen entsprechend deutlich weiter westlich des Rheins, das Elsass inklusive. Diese unterschiedlichen Vorstellungen haben über mehrere Jahrhunderte immer wieder für Konflikte gesorgt und verschärften sich auch wieder.
Mit der Gründung des „Rheinbundes“ , also dem Staatenbund der aus dem Heiligen Römischen Reich ausgetretenen deutschen Länder, hat Napoleon seinen Einfluss bereits über den Rhein hinweg ausgeweitet. Mit der preußischen Niederlage verblieb den deutschen Nationalisten dann nur noch die Propagierung der kulturellen, sprachlichen Einheit. Entsprechend auch Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ (1807) – oder Ernst-Moritz Arndt, der den Deutschen zu Bewusstsein bringen wollte, dass – so der Titel einer seiner Schriften – „(d)er Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze“ (1813) sei. Ihm zufolge macht die Sprache die „einzige gültigste Naturgrenze“ aus, weshalb er das deutschsprachige Rheinland auch nicht bei Frankreich sieht.
Drastischer noch als bei Arndt kommt die Grenzfrage in Max Schneckenburgers Gedicht „Die Wacht am Rhein“ zur Sprache, das angesichts erneuter, offen geäußerter französischer Ansprüche auf das linksrheinische Gebiet 1840 verfasst wurde. Diese Ansprüche beschworen eine schwere politische Krise herauf, es drohte Krieg – und waren der Grund für eine beispiellose patriotische Rheinbegeisterung, die jetzt einsetzte. Die „Wacht am Rhein“, von Karl Wilhelm mit einer zündenden Melodie unterlegt, avancierte zur inoffiziellen Hymne im Kaiserreich:
„Es braust ein Ruf wie Donnerhall / Wie Schwertgeklirr und Wogenprall: / Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! / Wer will des Stromes Hüter sein? / Lieb Vaterland, magst ruhig sein./ Fest steht und treu die Wacht am Rhein! / (…) Der Schwur erschallt die Woge rinnt, / Die Fahnen flattern hoch im Wind / Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein, / Wir alle wollen Hüter sein! / Lieb Vaterland, magst ruhig sein: / Fest steht und treu die Wacht am Rhein.“
In der „Wacht am Rhein“ transportiert der Rheinmythos die Frontstellung gegen Frankreich, mit ihm wird also eine Art Verteidigungslinie gegen Frankreich installiert. Darüber hinaus wird mit dem Rheinmythos aber auch versucht, das Rheinland gegenüber Preußen als politisch-kulturelles Zentrum Deutschlands darzustellen, wie Herfried Münkler darzulegen versucht: „Die Rheinländer hegten ein Distanzgefühl gegenüber Preußen und seiner Betonung des Militärischen.“
Während sich die „Preußen“ unter den Nationalisten Arminius und die Hermannsschlacht im Teutoburger Wald zum Vorbild nahmen, um alle Kräfte gegen die französische Herrschaft zu mobilisieren, arbeiteten die Rheinländer und andere wie Ernst-Moritz Arndt an einer Mythisierung des Rheins.
Nach der Niederlage Napoleons bei der Völkerschlacht in Leipzig (1813) und dem anschließenden Wiener Kongress (1814/15), wo die politischen Verhältnisse im nachnapoleonischen Europa neu geordnet werden, wird Preußen das Rheinland anstelle von Sachsen als Entschädigung zugestanden. Preußen übernimmt damit die „Wacht am Rhein“, ohne das ursprünglich wirklich gewollt zu haben.
Dennoch wird der Rheinmythos nun auch insbesondere von den preußischen Hohenzollern mitgeschaffen: Sie initiieren, wie Münkler bemerkt, eine Reihe „denkmalpolitischer Bedeutungsinvestitionen, die den romantischen Charakter der Flusslandschaft unterstreichen sollen. (…) Sie sollten ein gemütvoller Ausgleich zu den auf Effizienz bedachten Funktionsprinzipien des preußischen Staates sein.“ Und König Friedrich Wilhelm II., der Romantiker auf dem Thron, hat sich dabei besonders hervorgetan, insbesondere durch die Restaurierung des bestehenden mittelalterlichen Kulturerbes am Mittelrhein, das entweder bereits von Ludwig XIV., dem „Sonnenkönig“, im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1689 oder später von Napoleon im Zuge der Entfestigung des Rheins zerstört wurde.
Der Mittelrhein stand dabei von Anfang an im Zentrum des Interesses, hat er doch in dichter Folge mehr Burgen aufzuweisen als irgendeine andere Landschaft der Welt. Die Rheinlandschaft mit den Burgen auf den bewaldeten Hügeln wird zur inspiratorischen Quelle romantischen Erlebens. Jedenfalls hat Friedrich Schlegel diese Verbindung von Landschaft und Zivilisation besonders herausgestellt. Von seiner Rheinfahrt 1806 berichtet er: „Für mich sind nur die Gegenden schön, welche man gewöhnlich rau und wild nennt; denn nur diese sind erhaben, nur erhabene Gegenden können schön sein, nur diese erregen den Gedanken der Natur. (…) Nichts aber vermag den Eindruck so zu verschönern und zu verstärken als die Spuren menschlicher Kühnheit an den Ruinen der Natur, kühne Burgen auf wilden Felsen – Denkmale der menschlichen Heldenzeit, sich anschließend an jene höheren aus den Heldenzeiten der Natur.“
Das in der Romantik wieder erwachte Interesse an der eigenen, deutschen Vergangenheit hat ab 1825 zu einem bis dahin nicht gekannten Wiederaufbau mittelalterlicher Ruinen geführt: Keine andere Nation hat in die Restaurierung mittelalterlicher Burgen so viel Geld und Energie investiert wie die deutsche am Mittelrhein. Deren Wiederaufbau sollten – wie die Errichtung nationalistischer Denkmäler – dazu führen, dass der Rhein zu einer patriotischen Herzensangelegenheit wird, die man gegebenenfalls auch leidenschaftlich verteidigt.
Mythisierung des Rheins
Die Mythisierung des Rheins hängt eng mit der Bedeutung zusammen, die das Rheinland im Mittelalter hatte: Lange war hier das kulturelle und politische Zentrum „Deutschlands“, bevor dieses Machtzentrum nach den Saliern (1024-1137) langsam zu verfallen begann und bis ins 19. Jahrhundert keine wichtige Bedeutung mehr hatte. Überhaupt war das Reich der schwäbischen Staufer (1138-1254) das letzte wirklich bedeutsame und Friedrich Barbarossa (1155 bis 1190) der letzte wirklich mächtige deutsche König – und bis zur Krönung von Wilhelm I. vor 150 Jahren jedenfalls der letzte deutsche Kaiser.
Mit der Übernahme der Kaiserkrone durch den Franzosen Napoleon und der Abdankung des Habsburger Kaiser Franz II. 1806 war die Reihe der auf Friedrich Barbarossa folgenden Kaiser gerissen und das Ende des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ offiziell beendet. Vor diesem Hintergrund beginnt nun insgesamt eine Art Rückbesinnung auf das Mittelalter, das, wie Münkler erklärt, „zu einer von den Deutschen dominierten Epoche“ verklärt wird. Und zum kulturellen und politischen Zentrum dieses aus mittelalterlicher Größe schöpfenden „Deutschlands“ wird der Rhein.
– Speyerer Dom –
Eine Reise durch die nationalpolitisch bedeutsamen Mythen am Rhein (von Süden nach Norden) beginnt insofern in Speyer, das in der Zeit der salischen Kaiser als Hauptstadt des Reiches angesehen werden kann. Wie Aachen seit der Zeit Karls des Großen (768-814) Krönungsstätte deutscher Könige ist – seither zogen 32 deutsche Kaiser und König auf ihrem Weg von der Wahl zur Krönung den Rhein entlang –, wurde Speyer seit dieser Zeit zur Grablege (von acht deutschen Kaisern) und zum spirituellen Zentrum des Reichs. Seit der Goldenen Bulle von 1356 ist Frankfurt Ort der Kaiserwahl und in Nürnberg findet stets der erste Reichstag statt. Dennoch behielt sich das Rheinland seine Bedeutung: Selbst wenn Gebiete wie Sachsen, Schwaben, Bayern und Lothringen zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörten, so war der wichtigste aller Bereiche doch im damaligen Franken: eben das Rheinland. Und auch die vier Kurfürsten, die den König wählten, hatten ihren Sitz hier: Es waren die Erzbischöfe von Mainz, Köln, Trier – gleichsam die größten Erzbistümer dieser Zeit – sowie der Pfalzgraf bei Rhein.
Der salischen Herrschaftsauffassung zufolge steht der Kaiser über dem Papst, nicht umgekehrt. Das führte zum Investiturstreit, den die Salier verlieren – und letztlich zur Trennung von weltlicher und geistlicher Macht: Das Kaisertum wurde desakralisiert, und dass unter dem Stauferkönig Friedrich Barbarossa die kaiserliche Kanzlei die Bezeichnung „Heiliges Römisches Reich“ einführte, war, Münkler zufolge, „bloß der Versuch, mit sprachlichen Mitteln zurückzugewinnen, was in der salischen Zeit politisch verloren gegangen war. Im Speyerer Kaiserdom ist die mythische Sakralität Gestalt geworden, auf die sich das erneuerte Kaisertum nördlich der Alpen gestützt hat.“
– Nibelungenlied –
Etwas rheinabwärts von Speyer liegt Worms, wo dem mittelhochdeutschen Nibelungenlied zufolge der Nibelungenhort ruht. Das um 1200 entstandene und in 39 „Aventiuren“ gegliederte germanisch-deutsche Heldenepos beschreibt im ersten Teil (1-19) die Geschichte des scheinbar unbesiegbaren Drachentöters Siegfried aus dem niederrheinischen Xanten am Burgunderhof in Worms: Erzählt wird, wie Siegfried – nachdem er das Volk der Nibelungen besiegt, sich ihren Schatz, Nibelungs Schwert Balmung und die unsichtbar machende Tarnkappe des Zwergs Alberich angeeignet hat – in Worms um die Burgunder-Prinzessin Kriemhild wirbt („[W]as ich von ihnen nicht als Freund erbitten kann, das werde ich mit Gewalt holen“). Der Burgunder-König Gunther verspricht ihm Kriemhild als Frau, wenn Siegfried ihm im Gegenzug hilft, Brünhild von Island („sie war nicht nur ausnehmend schön, sondern auch ungeheuer stark“) zur Frau zu bekommen. Dafür musste sie allerdings erst im Wettkampf besiegt werden. Also machten sie sich unter der Führung Siegfrieds auf den Weg über den Rhein, denn, wie er sagt, „`ich kann euch den Strom hinabführen, weil ich die rechte Wasserstraße gut kenne.´ (…) (E)dlen Wein, den besten, den es am Rhein gab, führten sie mit sich.“
Mit Hilfe Siegfrids und der Tarnkappe gelingt es Gunther, Brünhild zur Frau zu bekommen – allerdings erfährt sie später am Wormser Hof von Siegfrieds List. Hagen gelobt ihr nun, „dass Kriemhilds Mann dafür bezahlen müsse“. Als Siegfried auf einer Jagd aus einer Quelle trinkt, wird er von Hagen hinterhältig mit einem Speer erstochen. Im Vertrauen darauf, Hagen möge Siegfried vor Gefahren beschützen, erfährt er von der nichtsahnenden Kriemhild die einzige Stelle, wo Siegfried nach einem Bad im Drachenblut verwundbar ist: dort, wo ihm ein Lindenblatt zwischen die Schulterblätter fiel. Nach dem Tod ihres Mannes benutzt Kriemhild den Nibelungenschatz, um politische Freunde um sich zu scharen, die ihr helfen sollen, sich zu rächen. Um das zu verhindern, versenkt Hagen den Hort im Rhein. (Hagen und Kriemhild, deren zweite Heirat mit dem Hunnenkönig Etzel es ihr ermöglicht, Siegfrieds Tod zu rächen, sind auch die Protagonisten des zweiten Teils des Nibelungenliedes, der von der Ermordung der an Etzels Hof eingeladenen Burgunder durch Kriemhild erzählt.)
In Worms ließ sich das germanische Volk der Burgunder um das Jahr 406/07 nieder: Ihr König Gundahar, Namensgeber für den Gunther im Nibelungenlied, führte angeblich 80.000 von ihnen hierher. Ursprünglich kommen die Burgunder von der Insel Bornholm in der Ostsee, zumindest hieß die Insel im Altnordischen „Burgundarholm“. Für ihr Wormser Reich gibt es bislang zwar keinen archäologischen Beweis, im Jahr 435/36 jedoch versucht Gundahar sein Herrschaftsgebiet auszuweiten und zieht westwärts nach Gallia Belgica, die Region zwischen Rheinland und Seine, wo er allerdings von einer römisch-hunnischen Allianz vernichtend geschlagen wird. Dennoch wird es den Burgundern erlaubt, sich im Gebiet des heutigen Savoyen niederzulassen, bevor sie sich schließlich im Tal der Rhône und Saône niederließen – dem heutigen Burgund. In den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts erobern die Franken das Reich der Burgunder (sie behalten im Frankenreich aber eine gewisse Eigenständigkeit) und es kommt zur Verschmelzung von fränkischer und burgundischer Erinnerungskultur (aus der Zeit der „Völkerwanderung“ zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert gibt es eine reiche mündliche Erzählkultur germanischer Heldengeschichten, insbesondere der Siegfriedsage): Burgundische Erzählungen verbinden sich mit merowingischen und Geschichten aus dem altnordischen Sagenkreis zum Nibelungenlied. Jedenfalls richtet sich der Autor (womöglich waren es auch mehrere), wie der Übersetzer Otfrid Ehrismann in einem Nachwort des Nibelungenliedes feststellt, „nicht nach der modischen, aus dem französischen Westen herübergekommenen keltischen Artusdichtung, sondern sammelt Texte über die Zeit der alten heimischen, der germanischen Helden …“.
Anfang des 19. Jahrhunderts wird der vom Burgunderhelden Hagen im Rhein versenkte Nibelungenhort mit einer germanisch-deutschen Reichserneuerung beziehungsweise der Wiederherstellung des deutschen Kaisertums verbunden – jenem Kaisertum, das mit Napoleon verloren ging. Nach dem Sieg über Napoleon stünde der Bergung des Hortes nichts mehr im Wege, schreibt Max von Schenkdorf 1814 in seinem „Lied vom Rhein“ in diesem Zusammenhang: „Erfüllt ist jenes Wort, / Der König ist nun frei, / Der Nibelungen Hort / Ersteht und glänzet neu! / Es sind die alten deutschen Ehren, / Die wieder ihren Schein bewähren: / Der Väter Zucht und Mut und Ruhm, / Das heil`ge deutsche Kaisertum.“
Die Wiedererrichtung des Kaisertums jedoch sollte bekanntlich noch etwas dauern. Entsprechend wird der Epos von Richard Wagner unter Rückgriff auf Erzählungen aus der Edda in „Der Ring des Nibelungen“ grundlegend umerzählt: In Wagners vierteiligem Musikdrama (Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried und Götterdämmerung), entstanden zwischen 1848 und 1874, steht nicht die Auseinandersetzung zwischen Siegfried und den Burgundern am Wormser Hof im Vordergrund, sondern am Anfang steht der Nibelung Alberich, ein „Zwerg“, der die in einem Naturzustand lebenden, mit der Bewachung des Goldes betrauten Rheintöchter überlistet, ihnen das Gold aus den Tiefen des Stromes entreißt und daraus einen Ring schmieden lässt, der seinem Besitzer grenzenlose Macht verleiht, ihn aber auch in tiefes Unglück stößt. Die Rheintöchter singen: „Rheingold! Rheingold! / Reines Gold! / O leuchte noch / In der Tiefe dein lautrer Tand! / Traulich und treu / Ist`s nur in der Tiefe: / Falsch und feig / Ist, was dort oben sich freut!“
Anders als in den Interpretationen der Nibelungensage bisher geht es nicht mehr um die Bergung des Hortes, um die „Welt zu retten“ beziehungsweise das Kaisertum wieder herzustellen, sondern im Gegenteil: Die Rettung der Welt hängt davon ab, dass der Hort dem Rhein zurückgegeben wird (gewissermaßen „zurück zur Natur“ findet), nur so lässt sich der Fluch des Rings aufheben.
All das lässt Wagner in einer sagenhaften Vorzeit spielen, will jedoch „eine umfassende Aussage über den Zustand der Welt“ bieten, wie der Musikwissenschaftler Martin Geck meint: „Letztendlich hat er seine eigene Zeit im Blick.“ Wagner selbst ist 1848, zu der Zeit, als er mit dem „Ring“ beginnt, noch in Dresden an der bürgerlichen Revolution beteiligt. Während am 23. März in der Frankfurter Paulskirche die deutsche Verfassung beschlossen wird und Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die ihm am 28. März von der Versammlung angetragene Kaiserkrone am 3. April ablehnt, womit die erste bürgerliche Verfassung gescheitert ist, veröffentlicht Wagner am 8. April in einer Dresdner Zeitung eine furiose „Revolutionshymne“, in der die „Göttin der Revolution“ tönt: „Ich will zerstören die Herrschaft des einen über die anderen (…); ich will zerbrechen die Gewalt der Mächtigen, des Gesetzes und des Eigentums. (…) Zerstören will ich die bestehende Ordnung der Dinge, welche die einige Menschheit … in Reiche und Arme teilt, denn sie macht aus uns allen nur Unglückliche. Zerstören will ich die Ordnung der Dinge, die Millionen zu Sklaven von Wenigen und diese Wenigen zu Sklaven ihrer eignen Macht, ihres eignen Reichtums macht.“
Als die Revolution Anfang Mai 1848 in Dresden scheitert, muss Wagner, nach dem nun steckbrieflich gesucht wird, fliehen (der Hinweis, dass Wagner „von mittlerer Statur“ ist und „eine Brille trägt“ hilft nicht, ihn zu verhaften). Er begibt sich ins Exil in die Schweiz, wo er sich, die oft in Nebelschwaden getauchte Alpenlandschaft vor Augen, mit den Uranfängen des Siegfriedmythos beschäftigt, während er hofft, dass die Revolution zumindest in Paris noch erfolgreich sein möge – letztlich vergeblich. In einem Brief an Franz Liszt schreibt Wagner zu dieser Zeit: „Ich mußte daher meinen ganzen Mythos, nach seiner tiefsten und weitesten Bedeutung, in höchster künstlerischer Deutlichkeit mitteilen, um vollständig verstanden zu werden; nichts darf von ihm irgendwie zur Ergänzung durch den Gedanken, durch die Reflexion übrig bleiben …“ Ihm schwebe eine völlig neue Konzeption von Theater vor, an eine Aufführung könne er jedoch erst nach der Revolution denken, denn „erst die Revolution kann mir die Künstler und die Zuhörer zuführen, die nächste Revolution muß notwendig unserer ganzen Theaterwirtschaft das Ende bringen … Aus den Trümmern rufe ich mir dann zusammen, was ich brauche: ich werde, was ich bedarf, dann finden. Am Rheine schlage ich dann ein Theater auf und lade zu einem großen dramatischen Feste ein: nach einem Jahre Vorbereitung führe ich dann im Laufe von vier Tagen mein ganzes Werk auf. Mit ihm gebe ich den Menschen der Revolution dann die Bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten Sinne, zu erkennen. Dieses Publikum wird mich verstehen; das jetzige kann es nicht“ (zitiert nach Martin Gregor-Dellin, „Richard Wagner“, 2008).
Das ursprünglich für den Rhein geplante Theater kann Richard Wagner bekanntlich nicht verwirklichen. Erst der ihn abgöttisch verehrende König Ludwig II. von Bayern holt ihn 1864 zurück nach Deutschland und ermöglicht ihm 1876 den Bau eines eigenen Festspielhauses in Bayreuth, das Wagner mit dem Gesamtkunstwerk „Der Ring des Nibelungen“ eröffnet.
Trotz des Rückgriffs auf die mittelaterlichen Mythen- und Sagenwelt war Wagner doch auch an einem aktuellen Zeitbezug gelegen (entsprechend verlegte der französische Regisseur Patrice Chéreau beispielsweise seine „Jahrhundert-Inszenierung“ des „Ring“ von 1976 in Anlehnung an die erste Wagner-Inszenierung in das kapitalistisch geprägte 19. Jahrhundert zurück). Wie auch immer man die Eröffnungsinszenierung interpretieren möchte, Wagners Zeitgenossen (sogar der Kaiser ist bei der Uraufführung anwesend) konnten Alberich nur allzu leicht als „Juden“ verstehen und, wie Geck bemerkt, „(t)atsächlich ist es kaum zu fassen, mit welcher Blindheit für große Zusammenhänge Wagner die `Intrige der Macht´, die ihn zeitlebens beschäftigte, in den jüdischen Geldspekulanten des 19. Jahrhunderts personifiziert sah und mit welchem Fanatismus er das Judentum auch generell beschimpft hat“.
Aber auch unabhängig von seinem Antisemitismus hat Wagner mit seiner Interpretation der Nibelungensage – ein anderer Rheinmythos taucht noch einmal mit „Lohengrin“ (Uraufführung 1850) auf, dem Sohn von „Parsifal“ (Uraufführung 1882) – „einen gefährlichen Nationalismus geschürt“, wie Geck meint. Nicht zuletzt durch Wagner hat das Nibelungenlied also im 19. Jahrhundert die Funktion eines Nationalepos übernommen und wurde auf vielfältige Weise politisch und ideologisch vereinnahmt. „(D)er aufklärerische Antikebezug, wie ihn die Klassik gepflegt hatte, wurde ergänzt durch immer häufigere Verweise auf das Mittelalter“ und mythologische Figuren wie Siegfried werden zu Helden der Deutschen stilisiert.
Auch in späterer Zeit werden moderne Mythen unter Verweis auf den mittelalterlichen Epos geschaffen, so zum Beispiel in der Dolchstoßlegende, mit der Hindenburg im Rekurs auf den „hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen“ zu begründen versucht, dass politische Kräfte in der Heimat die mit Siegfried gleich gesetzte „ermattete Front“ von hinten durchbohrt hätten und nur dadurch der Erste Weltkrieg verloren ging. Oder die sogenannte Nibelungentreue, die insbesondere im nationalsozialistischen Deutschland propagierte „Treue bis in den Tod“: Sie bezieht sich auf die Situation an Etzels Hof, wo Kriemhild den Hagen, den Mörder ihres Mannes, gefangen nehmen und töten lassen will. Die Burgunderkönige jedoch geben ihn nicht frei: „Wir wollten lieber sterben, als dass wir einen Mann / Hier als Geisel gäben: das stünde uns wohl übel an. / (…) Man findet an mir keinen, der einem Freund die Treue bricht.“
– Romantischer Mittelrhein –
Von Worms aus geht es nun auf dem Rhein entlang um das „Rheinknie“, den Rheingau entlang bis nach Rüdesheim und Bingen, „wo die Ufer des Stromes ihre lachende Miene verlieren, Berg und Felsen, mit ihren abenteuerlichen Burgruinen, sich trotziger gebärden, und eine wildere, ernstere Herrlichkeit emporsteigt“, wie Heinrich Heine schreibt. Hier biegt der Rhein nach Norden ab, durchstößt beim „Binger Loch“ das rheinische Schiefergebirge, und es beginnt der romantische Mittelrhein.

Rüdesheim wurde zum ersten Mal 1074 offiziell erwähnt. Bevor die Römer auf dem rechtsrheinischen Gebiet eine kleine Befestigung bauten, lebten bereits Kelten, germanische Ubier sowie im ersten nachchristlichen Jahrhundert Mattiaker hier. Von dort kontrollierten die Römer den Weg zu ihrem Limes, der sich noch etwas weiter ostwärts des Rheintals hinzog. Wie Glasfunde beweisen, hatte sich in Rüdesheim bis ins Jahr 1074 – der Ort ist jetzt ein fränkisches Dorf – der Weinbau durchgesetzt.
Im 15. Jahrhundert besaß Rüdesheim offenbar schon eine Stadtbefestigung, jedenfalls blühte zu dieser Zeit der Weinmarkt. Es entstanden technische Einrichtungen zum Verladen des Weins und auch eine ganz Wein-Transport-Flotte war bereits unterwegs. Aber auch sonst gedieh der Schiffsverkehr, denn hier endete die Rheinuferstraße: Um weiter zu kommen, musste man aufs Schiff umsteigen, die Durchfahrt durchs „Binger Loch“ war seit dem 11. Jahrhundert kein Problem mehr.
Etwa 225 Meter über Rüdesheim entstand in den Jahren 1877 bis 1883 am Waldrand ein monunmentales Denkmal: das Niederwalddenkmal, das als Nationaldenkmal für den Sieg über die Franzosen von 1870/71 angesehen werden kann und die Einheit des Deutschen Reiches (und heute Deutschlands) symbolisieren soll. Hauptfigur des fast 38 m hohen Denkmals ist die Germania, über 10 Meter hoch. Sie thront auf einem massiven Sockelbau als Personifikation des geeinten Deutschlands, in der Linken ein lorbeerumranktes Schwert und in der hocherhobenen Rechten die Kaiserkrone, die sie als Siegespreis zu vergeben hat.
Das Projekt „Niederwalddenkmal“ hat bei Reichskanzler Bismarck nur wenig Sympathie gefunden, stand die Germania als Symbol beziehungsweise Personifikation aller deutschen Staaten gegen den preußischen Führungsanspruch. Die Germania jedoch, bemerkt Münkler, „war ein die Personifikationen der deutschen Staaten – die Borussia wie die Bavaria, die Suebia wie die Saxonia – übergreifendes Symbol der ganzen Nation, das sich inzwischen fest mit der `Wacht am Rhein´ verbunden hatte, und so ließ sich das Projekt kaum blockieren“.
Während Deutschland nach der Reichsgründung und der Kaiserkrönung 1871 mit zahllosen Bismarcktürmen und Kaiser-Wilhelm-Denkmälern und -Eichen überzogen wurde, ist die Germania des Niederwalddenkmals einzigartig. (Als eine Art „Ausgleich“ mit den preußischen Interessen steht dafür rheinabwärts am Deutschen Eck in Koblenz – den Namen erhielt die Stelle, wo die Mosel in den Rhein mündet, 1216, als ein Deutschordensritter in der Nähe eine Niederlassung gründete – ein gewaltiges Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I. Und während auf dem Niederwalddenkmal aus der „Wacht am Rhein“ zitiert wird, sind am Deutschen Eck Verse aus dem bereits erwähnten „Rheinlied“ zu lesen: „Nimmer wird das Reich zerstöret, wenn ihr einig seit und treu.“) Vom Denkmal kann man die Aussicht über die Weinberge nach Rüdesheim genießen und über den Rhein nach Bingen an der Nahemündung mit der Burg Klopp.
Bingen war bereits eine keltische Siedlung namens „Binge“, was übersetzt soviel bedeutet wie „Graben“ oder „Felsenloch“. Und auch später, als die Römer hier ein Kastell bauten und ihre Rheintalstraße anlegten, behielten sie diesen Namen bei und nannten den Ort „Bingium“. Im vierten Jahrhundert entstand in Bingen eine christliche Gemeinde. Im 13. Jahrhundert dann muss Bingen bereits eine Stadt gewesen sein, denn sie war Gründungsmitglied des Rheinischen Städtebundes.
Auf einem Hügel über Bingen, dem Kloppberg, entstand auf den Ruinen einer römischen Anlage die Burg Klopp. Wann genau ist unbekannt, aber „sie war wohl eine der ältesten stabil gemauerten Festungen am Mittelrhein“, schreibt der Journalist Rolf Lohberg in „Kleine Geschichte des Rheinlandes“ (2010).
Die Römer brachten nicht nur den Weinbau mit nach Deutschland, sondern von ihnen lernten die Bewohner auch den Bau von Befestigungsanlagen. Anders als am Niederrhein wurden jedoch am Mittelrhein kleinere, nur regional bedeutende adlige Besitztümer nie zu großen Grafschaften oder Herzogtümern zusammengefasst. Entsprechend entstanden in der Region auch unübersehbar viele solcher Burgen wie Burg Klopp.
Bis zum 11. Jahrhundert gab es für den Burgenbau zwar strenge „Regalien“ beziehungsweise „Königsrechte“, wonach nur Könige und Reichsfürsten Burgen errichten durften oder solche Adlige, die damit beauftragt wurden. Diese „Regalien“ jedoch verloren im Hoch- und Spätmittelalter an Bedeutung und es begann der Bau der zahlreichen Burgen am Rhein zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert. Die wurden ursprünglich zur Beherrschung der Besitzungen errichtet und dienten auch zur Verteidigung der angrenzenden Siedlungen.
So wuchs mit der Errichtung einer Burg zwar einerseits die Sicherheit der Handelsstraßen, doch verkannten deren Besitzer im Wegzoll auch eine einträgliche Einnahmequelle, so dass die Kaufleute allein auf der Rheinstrecke zwischen Bingen und Koblenz bei zehn Zollstellen bezahlen mussten und mancher Burgbesitzer bald in den Ruf eines Raubritters kam. Dieses Unwesen blühte vor allem in der Zeit des Interregnums, einer Phase Ende des 13. Jahrhunderts (1245-1273), in der das Heilige Römische Reich ohne Kaiser und ohne funktionierende Verwaltung und Kontrolle war. In dieser rechtlosen Zeit herrschten Willkür und anarchische Zustände, die die Kleinstaaterei (gerade auch am Mittelrhein) förderten, die es dem Reich bis ins 19. Jahrhundert schwer machten, zu einem geschlossenen Staatsgebilde zu werden.
Da Handelsreisende und Kaufleute unter der Willkür litten, gingen mehrere Städte am Mittelrhein dazu über, sich gemeinschaftlich zusammenzuschließen: 1254 gründeten sie den „Rheinischen Städebund“, der denn später zum „Großen Rheinischen Bund“ wurde und 131 Mitglieder auf der gesamten Länge des Rheins umfasste. Hauptziel des Bundes war es, den Landfrieden zu gewährleisten und ungerechtfertigte Zölle und Steuern zu beseitigen – ehe der neue Kaiser Rudolf von Habsburg nach 1273 die Raubnester am Rhein zerstörte und die alte Ordnung wieder herstellte.
Mit der Erfindung des Schießpulvers verloren die Burgen bis ins 16. Jahrhundert ihre Bedeutung. Nur wenige, wie die Rheinstein und die Ehrenbreitstein wurden zu Festungen ausgebaut. Viele verfielen, weil die Adligen sich wohnliche Schlossanlagen im Tal errichten ließen. Die restlichen Burgen fielen nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) den französischen Truppen Ludwig XIV. im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688-1697) oder den französischen Revolutionstruppen beziehungsweise Napoleon zum Opfer. Lediglich die Marksburg blieb aus der Zeit des Mittelalters erhalten.
Auch die Burg Klopp bei Bingen wurde 1689 durch französische Truppen des Sonnenkönigs zerstört. Nach 1853 sowie von 1857 bis 1879, in der Epoche der Rheinromantik, ließ man die Gebäude im Stil der rheinischen Burgen des 15. Jahrhunderts, neugotisch, wieder aufbauen.
Stromabwärts von Rüdesheim und Bingen, auf halber Stecke nach Assmannshausen, steht die Burg Ehrenfels. Heute eine Ruine, da sie ebenfalls 1689 im Pfälzischen Erbfolgekrieg zerstört wurde, entstand die Burg im Jahr 1210, um den Rheingau gegen feindliche Angriffe zu schützen, ab dem 14. Jahrhundert wurde dort aber auch Rheinzoll kassiert. Das allerdings geschah hauptsächlich auf dem 1298 errichteten Spähturm der Burg Ehrenfels, dem sogenannten Binger Mäuseturm. Er steht auf einer Rheininsel am „Binger Loch“, wo die Nahe in den Rhein fließt. Bevor der Rhein gezähmt wurde, war die Fahrt vom Mäuseturm stromabwärts gefährlich.
Den Namen hat der Turm, weil der Legende nach der Erzbischof von Mainz den Klagen der halb verhungerten Bauern nach einem besonders harten Winter ein Ende setzte, indem er sie in eine Scheune zusammenpferchte und in Brand stecken ließ. „Hört doch, hört, die Kornmäuse pfeifen!“, soll er gesagt haben, und sogleich huschte ein dichter Haufen von Mäusen aus der Scheune, jagte ihm nach bis in den Binger Mäuseturm, wo er zu Tode genagt wurde. Soweit die Legende. 1689 wurde der Turm wie so viele andere Gebäude zerstört. Der Romantiker auf dem Thron, König Friedrich Wilhelm von Preußen, ließ ihn 1856 in neugotischem Stil errichten – als preußische Grenzstation.
Burg Rheinstein wurde 1315 vom Mainzer Erzbischof gegenüber von Assmannshausen errichtet, um zu überwachen, dass die vom kaiserlichen Heer 1282 zerstörten Nachbarburgen (Reichenstein und Sooneck) nicht wieder aufgebaut wurden. Später wurde daraus eine Zollburg, die jedoch im 17. Jahrhundert verfiel, bevor die Burg 1823 von Prinz Friedrich Wilhelm Ludwig von Preußen gekauft wurde, der sie als erste der zerstörten Burgen am Mittelrhein in den folgenden Jahren nach romantisierenden Plänen Karl Friedrich Schinkels wieder aufbauen ließ.
Bacharach war ursprünglich eine keltische Siedlung und erscheint erstmals 1019 in einem verlässlichen Dokument. Zusammen mit der Burg Stahleck gelangte der Ort im 11. Jahrhundert in den Besitz der Pfalzgrafen, die den Ausbau von Bacharach beförderten und es zum Handels- und Lagerplatz für Holz aus dem Siebengebirge ausbauten, vor allem aber für den immer wichtigeren Weintransport auf dem Rhein. Der Holzhandel war zwar bedeutend, daneben aber machten insbesondere auch der Weinhandel sowie der Rheinzoll Bacharach neben Kaub zum einträglichsten Ort der Pfalz. Burg Stahleck wurde zur Zollburg.
Nachdem sich der Transport über Land nicht bewährt hatte, wurde in Bacharach ein größerer Hafen gebaut mit Verlade-Einrichtungen für größere Schiffe. Den Weinbaugemeinden oberhalb brachte das den Nachteil, dass ihre Weine unterhalb der Stadt fortan schlichtweg nur noch als „Bacharacher“ wahrgenommen wurde: Bacharach wurde zur „Marke“ . Allerdings war die weinwirtschaftliche Bedeutung seit dem 14. Jahrhundert mit der Erweiterung im „Binger Loch“ erheblich zurückgegangen – der Hafen versandete sogar.
Erst in der Zeit der Rheinromantik gewann Bacharach wieder an Bedeutung, Victor Hugo nannte es 1840 sogar „eine der schönsten Städte der Welt“. Und außerdem steht „(h)och am Hang über dem Ort“, wie Lohberg schreibt, „ein berühmtes Stück der Rheinromantik: die weithin sichtbare Werner-Kapelle“.
Mit ihrem gotischen Stil wurde die Kapelle gewissermaßen zum Vorbild für die neugotischen des 19. Jahrhunderts. Aber die Werner-Kapelle ist nun eben nicht nur ein herausragendes Beispiel für die Rheinromantik, wie Lohberg meint, sondern sie steht auch für den alten Judenhass: Der Legende einer lateinischen Chronik des 14. Jahrhunderts zufolge soll nämlich im Jahr 1287 der Tagelöhner Werner gemeinschaftlich von Oberweseler Juden ermordet worden sein, die sein Blut rituell für das jüdische Pessach-Fest verwendet haben sollen. Anschließend hätten sie den Leichnam des Knaben in den Rhein geworfen, der dann in Bacharach angeschwemmt wurde.
Gerüchte über den angeblichen jüdischen Ritualmord verbreiteten sich und es folgte eine Pogromwelle, nicht nur in mittelrheinischen Ortschaften (allein in Oberwesel und Bacharach wurden 40 Juden ermordet), sondern in der gesamten Region. Umgekehrt wurde Werner als christlicher Märtyrer verehrt und schließlich sogar zum Heiligen, dem eine eigene Kapelle – eben die Werner-Kapelle in Bacharach – gewidmet wurde.
Die Verehrung Werners war lange im Volkschristentum verankert, erst 1963 wurde Werner als Heiliger im Kalender der Diozöse Trier gestrichen. (Dennoch ist er nach wie vor als „Heiliger Werner“ in Verzeichnissen wie beispielsweise der 11. Auflage des „Lexikon der Heiligen und biblischen Gestalten“ (2010) des Reclam-Verlages zu finden.)
Diese anti-jüdische Legende wurde 1840 von Heinrich Heine in der leider Fragment gebliebenen historischen Erzählung „Der Rabbi von Bacherach“ aufgegriffen. Heine spricht hier die romantische Rheinkulisse zwar immer wieder an, blendet die bedenkenswerten Hintergründe der Werner-Kapelle aber nicht aus, sondern macht sie zum Thema: Die Erzählung beginnt am Vorabend des Pessachfestes im Haus des Bacharacher Rabbiners – die jüdische Gemeinde sitzt zusammen und die Feierlichkeiten haben bereits begonnen –, als sich die Tür öffnet und zwei Männer hereintreten und sprechen: „`Friede sei mit euch. Wir sind reisende Glaubensgenossen und wünschen das Passiahfest mit euch zu feiern.´ Und der Rabbi antwortete rasch und freundlich: `Mit Euch sei Frieden. Setzt euch nieder in meiner Nähe.´“ Nun sollte das Schicksal seinen Lauf nehmen, denn unter ihren Mänteln hatten die beiden Fremden eine Kinderleiche – den Leichnam des Werner – verborgen, die sie heimlich unter den Tisch legten. Als der Rabbi die Leiche entdeckt, ist es bereits zu spät: „Der Rabbi weiß in dem Moment: Das ist das Ende der Gemeinde. Das wird dazu führen, dass wir alle umgebracht werden. Er steht auf, ruft seine Frau, nimmt sie an der Hand und ohne auch nur rechts und links zu gucken, stürzt er aus dem Haus in die dunkle Nacht in Richtung Bingen davon.“
Die Flucht des Rabbiners und seiner Frau endet im Frankfurter Ghetto. Immer wieder kontrastiert Heine Bilder der romantischen Rheinlandschaft mit der Panik der beiden. So verbindet er die Rheinlandschaft mit dem jüdischen Schicksal: „Es war, als murmelte der Rhein die Melodien der Haggadah und die Bilder derselben stiegen daraus hervor – lebensgroß und verzerrt“, schreibt Heine.
Trotz aller Bestrebungen um eine Nationalisierung im 19. Jahrhundert, war der Rhein schon lange vorher auch Heimat der deutschen Juden, nachweislich schon seit 1.700 Jahren. Darauf, und auf die Widersprüchlichkeiten der Rheinmythisierung (die er selbst mit seinem Loreley-Gedicht ja auch wesentlich mitgeprägt hat), hat bereits Heinrich Heine aufmerksam gemacht – und darauf verweisen auch die zahlreichen Veranstaltungen zum diesjährigen Jubiläum von „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ (#2021JLID– Jüdisches Leben in Deutschland).
Eine herausgehobene Station der Rheinmythologie des 19. Jahrhunderts ist auch die auf einem Felsriff im Rhein stehende Pfalz beim Städtchen Kaub: Sie wurde zum Inbegriff des nationalen Befreiungsmythos, denn hier setzte der preußische Feldmarschall Blücher auf der Verfolgung von Napoleon in den frühen Morgenstunden des 1. Januar 1814 mit Hilfe von Schiffen aus Kaub und St. Goarshausen über den Rhein und marschierte, nachdem ein Brückenkopf gebildet war, mit dem Rest seiner 100.000 Mann starken Ersten Schlesischen Armee über eine schnell erbaute Pontonbrücke ans andere Ufer. Damit kamen die linksrheinischen Gebiete nach mehr als einem Jahrzehnt französischer Verwaltung wieder unter deutsche Herrschaft. Blüchers Rheinübergang bei Kaub wurde zum Symbol dafür, dass sich das Blatt der Weltgeschichte gewendet hatte: Napoleon wurde aus Deurschland „hinausgeworfen“.
Zwischen Kaub und St. Goarshausen steht wohl auch das Wahrzeichen der Rheinromantik: ein mächtiger, 132 Meter hoher Schieferfelsen, Loreley genannt. (Die Bezeichnung Lay oder auch Ley stammt aus dem Keltischen und bedeutet „Schieferfelsen“, sie bezieht sich auf den felsigen Untergrund. In deutschen Weinbaugebieten werden gleich mehrere verschiedene Einzellagen „Schieferlay“ genannt, was eigentlich einen Pleonasmus darstellt.) Unterhalb des Felsens drängt sich der Rhein zu seiner schmalsten und tiefsten Stelle zusammen. Felsklippen und Strudel machten die Passage noch bis ins 19. Jahrhundert hinein zu einem gewagten Abenteuer, und die Schiffsmannschaft wurde zuvor durch drei Glockenschläge zum Gebet aufgefordert. Daneben war der Felsen schon im frühen Mittelalter für sein gutes Echo gerühmt, das man als Geisterstimmen deutete, und auch Legenden wie die von den „Sieben Jungfrauen von Schönburg“, die im Zorn die Schiffsböden aufrisssen, rankten sich um ihn.
Entgegen Heinrich Heines berühmter Wendung vom „Märchen aus uralten Zeiten“ ist die Geschichte von der schönen Loreley jedoch ein Produkt der Romantik, genauer eine Erfindung von Clemens Brentano (1778-1842). Schon in seinem 1811 entstandenen Rheinmärchen „Müller Radlauf“ ist von der Zauberin Lureley und ihren sieben Töchtern die Rede, die den im Basaltgestein versteckten Nibelungenschatz bewachen: „Sie ist die Hüterin vom Hort, / Sie lauscht und horchet immerfort, / Und höret sie ein lautes Wort, / Singt, tut ein Schiffer einen Schrei, / So ruft die Töchter sie herbei, / Und siebenfach hallt das Geschrei, / Zum Zeichen, dass sie wachsam sei.“
Und in der Ballade „Lureley“ berichtete Brentano, dass, wer auch immer von ihr angeschaut wird, ihr verfallen ist; nur der, den sie liebte, hat sie verlassen. Seitdem richtet sie alle Männer zugrunde, die ihr zu Gesicht kommen. Auch der Bischof, der sie deswegen vorgeladen hat, ist von ihr hingerissen; um die Welt vor ihr zu schützen, beauftragt er drei Ritter, sie in ein Kloster zu bringen, wo sie Nonne werden soll. Loreley bittet die Ritter, noch einmal auf den hohen Felsen zu dürfen, wo sie einen letzten Blick auf das Schloss ihres Geliebten werfen will. Oben angekommen, stürzt sie sich in den Rhein. Männerverzehrende Schönheit und tiefes Unglück werden so von Anfang an in der Gestalt der Loreley miteinander verbunden.

H. Hoffmann, „Loreley“, Postkarte von 1903
Als gefühlskalte „Femme fatale“ stellt sie auch Heinrich Heine (1797-1856) vor. Bei ihm wird Loreley zur rheinischen Sirene, die durch ihren lieblichen Gesang die Rheinschiffer anlockte und deren Boote am Schieferfelsen zerschellen ließ. Sein Gedicht „Lorely“ (1841) lautet: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, / Dass ich so traurig bin; / Ein Märchen aus uralten Zeiten, /Das kommt mir nicht aus dem Sinn. / Die Luft ist kühl und es dunkelt, / Und ruhig fließt der Rhein; / Der Gipfel des Berges funkelt / Im Abendsonnenschein. / Die schönste Jungfrau sitzet / dort oben wunderbar, / Ihr goldnes Geschmeide blitzet, / Sie kämmt ihr goldenes Haar. / Sie kämmt es mit goldenem Kamme / Und singt ein Lied dabei, / Das hat eine wundersame, / Gewaltige Melodei. / Den Schiffer im kleinen Schiffe / Ergreift es mit wildem Weh, / Er schaut nicht die Felsenrisse, / Er schaut nur hinauf in die Höh. / Ich glaube, die Wellen verschlingen / Am Ende Schiffer und Kahn. / Und das hat mit ihrem Singen / Die Loreley getan.“
Heine machte die Loreley mit seinem Gedicht weltbekannt. Sie wurde so auch zur Patronin und zum Wahrzeichen des Weinanbaugebietes und St. Goarshausen zur „Loreleystadt“. Die 1.500-Einwohner-Gemeinde wurde 1324 zur Stadt erhoben und durfte sich somit auch eine Stadtbefestigung anlegen. So entstand Burg Katz, die ihren Namen von ihren Erbauern, den Herren von Katzenelnbogen hat, die St. Goarshausen regierten. Um ihren Einfluss deutlich zu machen, „tauften“ sie die konkurrierende erzbischöfliche Burg Peterseck kurzerhand zu Burg Maus um. Mit einer eisernen Kette zum gegenüberliegenden St. Goar zwangen sie jedes Schiff, das ihre Stadt passieren wollte, zu stoppen und einen Durchlasszoll zu bezahlen. Dann allerdings wurden auch diese beiden Burgen 1806 von Napoleon im Zuge der Entfestigung des Rheins gesprengt.
Die 1245 erbaute Burg Rheinfels über St. Goar wurde bereits 1797/98 erobert und anschließend zerstört. Die französischen Revolutionstruppen vollendeten hier, was Ludwig XIV. in dem Pfälzischen Erbfolgekrieg nicht gelang. Danach wurde die Ruine als Steinbruch u.a. zum Wiederaufbau der Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz benutzt, bevor die ehemalige Burg 1843 vom Prinz von Preußen gekauft wurde, der damit ihren endgültigen Verfall verhinderte.
Rheinfels diente einst als Zollburg für rheinaufwärts fahrende Schiffe, ganz zum Unbill des 1254 gegründeten Rheinischen Städtebundes, in dem sich 59 Städte vom Oberrhein bis zur Mündung vereinigt hatten. Sie gingen militärisch gegen die etwa 30 Zollburgen vor – letztlich vergeblich: Rheinfels und der Zoll blieben. Heute ist die Burg die größte am Mittelrhein und besitzt auch den größten freitragenden Gewölbekeller Europas, der einst ein gemauertes 200.000-Liter-Weinfass aufnahm, was nochmal die Bedeutung des Weinbau am Rhein unterstreicht.
Nach Bad Salzig macht der Rhein zwei hufeisenförmige Schleifen, von denen die Bopparder Schleife die bekannteste ist. Boppard ist neben Bacharach und Leutesdorf vielleicht der bekannteste Winzerort am Mittelrhein. Nach einer weiteren Schleife gewinnt er die nordwestliche Richtung zurück. Hier liegt auf einem bewaldeten Bergkegel die Marksburg, die trotz ihrer strategisch günstigen Lage am Rhein nie umkämpft oder belagert wurde und daher als einzige mittelalterliche Burg am Rhein original erhalten blieb.
Auf der linken Rheinseite liegt, etwas weiter flussabwärts, Rhens, wo im 15. Jahrhundert die deutschen Kaiser nach ihrer Wahl und Krönung inthronisiert wurden.
Schloss Stolzenfels, das während der erfolglosen Belagerung der Festung Koblenz 1688/89 eingeäschert wurde, blieb als Ruine stehen, bevor die Stadt Koblenz sie 1823 dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen schenkte, der sie nach Plänen des berühmten Baumeisters Schinkel im englischen Stil der rheinischen Spätromantik ausbauen ließ. (Hier hatte sich der Preußenkönig auch eine Wohnung einrichten lassen.)
Bei der Belagerung von Koblenz durch die Heere Ludwig XIV. verlor die Stadt zwei Drittel ihres Baubestandes, wurde aber dennoch zur Residenz der Erzbischöfe. Unter preußischer Herrschaft (ab 1815) baute man die Stadt zur Festung aus: Die Festung Ehrenbreitstein entstand ab 1817 im Stil des Klassizismus.
In der Höhe der Rheininsel erstrecken sich auf 5 km Länge die Rebanlagen von Leutesdorf, des bedeutendsten Winzerorts am unteren Mittelrhein. Etwa 2.000 Bewohner hat der Ort, aber fast 1 Million Rebstöcke. Am unteren Mittelrhein ist die Dichte an Burgen nicht mehr so hoch wie am „romantischen Rhein“. Eine Ausnahme ist Burg Rheineck auf einer bewaldeten Bergkuppe bei Bad Breisig. Sie wurde wie viele andere Burgen 1689 zerstört, erfuhr aber 1832 einen völligen Neuaufbau.
Noch vor Bonn verlässt der Rhein die Umgebung des Schiefergebirges und tritt in das flache Kölner Becken ein. Hier liegt die Stadt Königswinter, am Rand des Siebengebirges. Das „Winter“ bedeutet nichts anderes als „Weinberg“, und der „König“ weist, so vermutet man zumindest, auf Karl den Großen hin, der hier ein Stück Weinland kaufte. Schon im Jahr 700 lag hier eine fränkische Siedlung namens „Winitorio“, was manche Historiker vermuten lässt, dass sich der Name „Königswinter“ direkt von dort abgeleitet hat.
Hier in der Nähe steht auch der sagenumwobene Drachenfels, wo einst ein Drache gehaust haben soll. Der Sage nach, die dann im Nibelungenepos übernommen wurde, tötete Siegfried aus Xanten das wilde Tier und badete in dessen Blut, um unbezwingbar zu werden. Im 18. und 19. Jahrhundert diente der Drachenfels als Trachyt-Steinbruch zum Bau der Außenfassade des Kölner Doms. Der Steinbruch wurde allerdings so verantwortungslos betrieben, dass Teile der alten Burgruine Drachenfels einstürzten. Dem setzte die preußische Regierung 1836 ein Ende, als sie den Drachenfels kauften. Gleichzeitig ordneten sie die Erhaltung des Laubholzbestandes im Siebengebirge an, das schließlich 1922 erstes deutsches Naturschutzgebiet wurde. In den Jahren 1881-1884 errichteten sie außerdem mit der Drachenburg eines der letzten Schlösser am Rhein.
Noch bevor der Rhein in der niederrheinischen Tiefebene mit seinem Seitenfluss der Ruhr zu einer riesigen Industrieregion wird, passiert er den gotischen Kölner Dom, der im 19. Jahrhundert noch immer nicht zu Ende errichtet war. Als der Bau Mitte des 13. Jahrhunderts begonnen wurde, war Köln mit seinen 40.000 Einwohnern die bedeutendste Stadt Europas und durfte sich seit dem 12. Jahrhundert sogar neben Jerusalem und Konstantinopel „Sancta“, „Heilige Stadt“, nennen. Allerdings wurden die unbeendeten Arbeiten am Dom um 1560 eingestellt. Nun jedoch sollte der Dom unter preußischem Patronat fertig gebaut werden: „(E)s sollte das politische Symbol für die Vollendung des Reiches werden“, schreibt Münkler. Nach einer Bauzeit von knapp vier Jahrzehnten konnte er schließlich im Jahre 1880 in Anwesenheit Kaiser Wilhelms I eingeweiht werden.
Der Rhein im Fluss der Zeit
Der Rhein ist heute die wichtigste Wasserstraße Europas. Das war nicht immer so, denn die Flüsse des 18. Jahrhunderts sahen völlig anders aus. Und auch der Verlauf des Rheins war ein anderer. Im Gegensatz zu den begradigten Wasserstraßen von heute mäandrierten die Flüsse damals in ihrem Überschwemmungsgebiet und zogen Schleifen in der Mäanderzone (die an manchen Stellen so breit war wie der Oberrheingraben selbst, nämlich bis zu 40 Kilometer, die der Rhein in voller Breite ausnutzte). Oder sie nahmen ihren Weg durch unzählige Kanäle, die durch Sand- und Kiesbänke und Inseln voneinander getrennt waren. Allein 1.600 Inseln gab es entlang der 110 Kilometer am Oberrhein von Basel bis Straßburg, bemerkt David Blackbourn in seiner Geschichte der deutschen Landschaft („Die Eroberung der Natur“ von 2008).

Peter Birmann um 1800, „Der Oberrhein vom Isteiner Klotz bei Efringen-Kirchen rheinaufwärts gegen Basel“, © Kunstmuseum Basel/Martin P. Bühler
Der Rhein floss ursprünglich nicht gradlinig dahin, er hatte kein festgelegtes Bett, sondern insbesondere am Oberrhein grub er sich unzählige Rinnen. Und auf den Seiten fanden sich ausgedehnte Auenwälder. Das älteste dieser Flussbetten lässt sich auf 8000 vor Christus zurückdatieren. Für die verschiedenen Arten von Nebenarmen und Rinnen gab es verschiedene Begriffe, die sich auch heute noch auf der Landkarte finden lassen: Altrhein, Gießen, Kehlen, Schlute und Lachen. Für das mehr oder weniger trockene Land jenseits der Mäander und dazwischen gab es andere Begrifflichkeiten: Aue, Wörth (Werder), Grund oder Bruch.
Bis ins 19. Jahrhundert behielt der Rhein an seinem badischen Oberlauf (Oberrhein) seine Unvorhersehbarkeit, und es ist kaum verwunderlich, warum menschliche Ansiedlungen stets gefährdet waren. Alle Versuche, den Rhein zu bändigen (durch Dämme oder Durchstiche), waren vergeblich. Dann allerdings trat der 1770 in Baden-Durlach geborene Johann Gottfried Tulla auf den Plan, der – vom badischen Markgrafen unterstützt – nach ausgedehnten Studien der Hydrologie und -technik sowie des Berg- und Wasserbaus in ganz Europa 1812 einen Vorschlag zur durchgehenden „Rektifikation“ (Begradigung) des ungebärdigen Rheins zu Papier brachte. Seine Maxime war: „Kein Strom oder Fluss, also auch nicht der Rhein, hat mehr als ein Flussbett nötig.“
Tullas beispielloses Projekt einer „Rheinkorrektion“ wäre nicht zu verwirklichen gewesen, hätten französische Truppen nicht zuvor die linksrheinischen Gebiete besetzt und Napoleon nicht die politische Landkarte Deutschlands vereinfacht, indem er dem Heiligen Römischen Reich ein Ende machte und die zahlreichen rechtsrheinischen Territorien im Rheinbund zusammenfasste. Baden wurden etliche kleine rechtsheinische Gebiete angegliedert, wodurch seine Bevölkerung um das Sechs-, sein Territorium um das Vierfache wuchs. Der badische Markgraf wurde zwar nicht zum König gekrönt (wie der bayerische Kurfürst und der württembergische Herzog), aber er erhielt immerhin die Erzherzogswürde. Baden wurde damit zum bedeutenden deutschen Mittelstaat – einer von etwa drei Dutzend, aus denen das neue „Deutschland“ nach der letztendlichen Niederlage Frankreichs bestehen sollte.
Tulla standen somit nicht nur alle technischen Mittel zur Eindämmung des Rheins zur Verfügung, sondern auch die politischen Voraussetzungen waren damit gegeben. Jetzt saßen nur noch die Vertreter Badens und Frankreichs am Verhandlungstisch. Für Baden galt es, eine gemeinsam Identität für seine neuen Länder und Untertanen zu schaffen und versuchte deshalb, Frankreich die Rheinkorrektur als eine Lösung der Grenzfrage nahezubringen. Tatsächlich ging Frankreich auf dieses Angebot ein und so vereinbarten sie 1812, insgesamt erst einmal sechs Rheindurchstiche vorzunehmen – dann jedoch wurde die Vereinbarung durch den Zusammenbruch des Napoleonischen Reiches 1814 gegenstandslos.
Da Frankreich aufgrund der europäischen Friedensverträge von 1814/15 überall vom linken Rheinufer zurückgetrieben wurde (das Elsass ausgenommen), nahm Baden zunächst Verhandlungen mit Bayern auf (schließlich ermöglichte auch ein 1840 geschlossener badisch-französischer Grenzvertrag die Begradigung des Rheinabschnitts zwischen Baden und dem Elsass).
Trotz dieser Einigungen wurden Tullas Pläne doch erst in den Jahren nach 1870 ganz verwirklicht. Das lag auch daran, dass der Stand der Bautechnik damals noch nicht sehr weit fortgeschritten war. Grundsätzlich ging es dabei in einem ersten Schritt darum, die Rheinauen zu entwässern – die dann in Ackerflächen umgewandelt wurden – und in einem zweiten Schritt darum, den Rhein zu begradigen. Dazu musste aber erst in Handarbeit ein Leitgraben entlang des geplanten neuen Verlaufs des Rheins ausgehoben werden. „War der Graben bis auf seine beiden Enden ausgeschachtet“, erklärt Blackbourn, „wurden diese Verschlüsse entfernt, so dass der Fluss der Linie des geringsten Widerstands folgen und die kürzere Strecke nehmen konnte, wobei er durch die Kraft seiner Strömung das neue Bett erweiterte und vertiefte“.
Tullas Rheinbegradigung war das größte Bauvorhaben, das jemals in Deutschland in Angriff genommen wurde. Letztlich verkürzten seine Maßnahmen den Oberrhein um 82 Kilometer und den Niederrhein um 23 Kilometer, über 2200 Inseln wurden beseitigt. Das allerdings hatte auch mitunter gravierende Auswirkungen – nicht immer nur positive.
Der Grundgedanke in Tullas Plan hatte darin bestanden, das Hochwasser am Oberrhein durch die Fließgeschwindigkeit zu reduzierendes. Das geschah zwar auch, allerdings stieg dadurch auch die Gefahr beziehungsweise das Risiko schwerer Überschwemmungen flussabwärts, am Mittel- und Niederrhein (was insbesondere im 20. Jahrhundert deutlich wurde).
Schon die „Korrekturen“ beim Binger Loch, durch die das Riff nach und nach verschwand, waren zwar für die Schifffahrt ein Segen, aber für manche Lokalitäten eher ein Fluch. Denn dieses Riff staute den Rhein, nun floss er schneller, was einerseits zu Überflutungen führte, wo bisher keine stattfanden, andererseits sank der Grundwasserspiegel am Oberrhein dadurch plötzlich signifikant, weshalb zum Beispiel der Mainzer Dom in Gefahr geriet, der auf 20.000 Eichenpfählen gebaut wurde, die nun zu faulen begannen. Sie mussten nach und nach durch ein steinernes Fundament ersetzt werden (was im im Jahr 1909 geschah).
Etwa 85 Prozent der Oberrheinauen gingen durch die Maßnahmen verloren, 10.000 ha der vornehmlich badischen Rheinauen wurden trockengelegt. Aber diese Flächen wurden andererseits auch einer landwirtschaftlichen Nutzung zugeführt. Außerdem gelang es damit, die gefürchteten Bruttstätten für Malaria, Typhus und Ruhr auszutrocknen.
Tullas Kanalisierung des Rheins bewirkte einen Rückgang der Artenvielfalt. Vorher zählte man 45 verschiedene Fischarten im Rhein, die Begradigung machte dieser Vielfalt ein Ende und es wurde Zander und die nordamerikanische Regenbogenforelle als Ersatz für die verschwundenen Wanderfische (wie den Lachs) ausgesetzt.
Als es nach der Entwässerung der Rheinauen und der Begradigung des Rheins in einem dritten Schritt darum ging, den Fluss intensiver zu „nutzen“, expandierte zunächst der Schiffsverkehr (das Fahrwasser wurde durch sogenannte Buhnen verengt, wodurch sich die Fließgeschwindigkeit erhöhte und auch die Erosionskraft des Rheins: Er schnitt sich tiefer in den Untergrund, so dass ihn Schiffe mit größerem Tiefgang nutzen konnten). Außerdem wurden Staustufen für Wasserkraftprojekte geschaffen. Wo früher Mühlen standen, wurden jetzt Turbinen zur Energiegewinnung angetrieben. Die Turbine wird zu einem Symbol der Industrialisierung: Wo in der frühen Neuzeit viele Wassermühlen lagen, entstand im 19. Jahrhundert Industrie. Es begann die Ära der Industrialisierung, mit allen Problemen, mit denen wir heute konfrontiert sind. Das alles konnte Friedrich Tulla nicht vorhersehen. Unerwartet starb er bereits im Jahr 1828.
Es sollte noch eine Zeitlang dauern, bis im Jahr 1866 der deutsche Zoologe und Naturphilosoph Ernst Haeckel den Begriff „Ökologie“ prägte. Mit diesem Begriff war eine neue Denkweise verbunden, die den Menschen zwang, seine komplexen Wechselbeziehungen zu anderen Lebewesen und natürlichen Gegebenheiten zur Kenntnis zu nehmen. So wenig wie der Rhein an Bedeutung, so wenig hat dieser Begriff seither an Aktualität verloren …