Essay, Neu

Patricio Guzmán, Engel der Geschichte

Nur wenn auch die Schattenseiten der Geschichte in der Erinnerungskultur eines Landes berücksichtigt werden, kann es Walter Benjamin zufolge gesellschaftliche Versöhnung geben. In diesem Sinn versucht Patricio Guzmán in seinen Dokumentarfilmen die ganze Wahrheit über die chilenische Vergangenheit ans Licht zu bringen. Dazu verknüpft er Geschichte, Politik und Landschaft seiner Heimat zu einem einzigartigen Gewebe. Für Helmut Schreier

„Das Exil ist für mich (…) wie ein Kontinent, der in Inseln zerfällt, wo jeder in seinen eigenen Landschaften und Erinnerungen lebt. Das Exil ist nicht wie ein riesiges Land, in dem wir alle zusammen sind. Es ist etwas sehr Persönliches“, sagt die chilenische Künstlerin Emma Malig in dem Dokumentarfilm Salvador Allende (2004) von Patricio Guzmán, der, aus dem Off, erklärt: „In Emmas Malerei entdecke ich jenes Chile, das ich erlebe: ein zerstückeltes Land, wegdriftende Inseln, die nicht zueinander finden.“ / Malig: „Wenn man zurückkehrt, meint man, etwas wieder zu finden, das man zurückgelassen hat, aber das stimmt nicht.“ / Guzmán: „Wie lebt man, wenn man sich in der Heimat und im Ausland fremd fühlt? Wo lebst du?“ / Malig: „In einer Utopie, einem Ort, den ich erfinde, um weiterzumachen. Sonst kann es sehr hart sein, nirgendwo daheim zu sein. Ich stelle mir ein Schiff vor, das keinen Hafen hat und davon treibt …“

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„(W)enn es je einen ganz und gar Vereinzelten gegeben hat, so war es Benjamin“, schreibt Hannah Arendt 1968 über Walter Benjamin. Es waren die Machtübernahme der Nationalsozialisten Ende Januar und die Massenverhaftungen nach dem Reichstagsbrand Ende Februar, die ihn als jüdischen Schriftsteller Mitte März 1933 nach Paris ins Exil gezwungen hatten. Dort lebte er praktisch ohne Einkommen in prekären Verhältnissen – finanziell nur unterstützt von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer vom Institut für Sozialforschung, das mittlerweile von Frankfurt nach New York verlegt wurde –, als im September 1939 mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen der Zweite Weltkrieg beginnt. Noch im selben Monat wird Benjamin, wie auch zahlreiche andere Flüchtlinge aus Deutschland, als „feindlicher Ausländer“ im Arbeitslager Château de Vernuche in Varennes-Vauzelles, unweit von Paris, interniert. Nach dreimonatiger Haft wird er aus der Haft entlassen und kann Ende November ins verdunkelte Paris zurückkehren, wo er in den nun folgenden Winter- und Frühjahrsmonaten 1940 seinen letzten Text – insgesamt 18 geschichtsphilosophische Thesen und zwei Anmerkungen in „Über den Begriff der Geschichte“ – schreibt.

Frankreich stand schon seit 1939 im Krieg mit Deutschland – und als im Juni 1940 die Niederlage der französischen Armee unmittelbar bevorstand, beschließt Benjamin, sich angesichts der drohenden Bombengefahr in Sicherheit zu bringen und die Stadt zu verlassen. Bald darauf schon hat die Gestapo „seine Pariser Wohnung mit Bibliothek (er hatte `die wichtigere Hälfte´ aus Deutschland retten können) und einen guten Teil der Manuskripte beschlagnahmt“, schreibt Hannah Arendt, „und er hatte Grund, sich auch um die Manuskripte Sorge zu machen, die er noch vor seiner Flucht … durch Georges Bataille in der Bibliothèque Nationale hatte unterbringen können.“ Vor allem das überwiegend im Exil in Paris geschriebene, unausgearbeitet gebliebene „Passagen-Werk“ konnte so die Zeiten überdauern. „Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben“, schreibt er darin. „Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie setzen zu können, ist das Entscheidende.“ Das „Passagen-Werk“ wurde 1981 glücklicherweise ausfindig gemacht und anschließend auch veröffentlicht.

Benjamin selbst aber war zeitlebens vom Unglück verfolgt: Es war „sein Ungeschick“, so Arendt, das ihn „mit einer nachtwandlerisch anmutenden Präzision jeweils an den Ort (leitete), an dem das Zentrum eines Mißgeschicks sich befand oder doch wenigsten befinden konnte“. Denn nicht nur, dass sich Frankreich für ihn als Falle erwiesen hatte, ist nun auch „bekanntlich auf Paris nie eine Bombe gefallen; aber Meaux, der Ort, an den er sich begab, war ein Truppensammelplatz und wohl einer der sehr wenigen Plätze in Frankreich, die in jenen Monaten des `drôle de guerre´ [wie man diese auch als Sitzkrieg bezeichnete Phase vor dem eigentlichen Kriegsausbruch in Frankreich nannte] ernsthaft gefährdet waren.“ Wenn sich Benjamin nicht ohnehin schon in Gefahr befand, stolperte er in sie … „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der `Ausnahmezustand´, in dem wir leben, die Regel ist“, schreibt er in dieser Zeit in der VIII. geschichtsphilosophischen These und folgert: „Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.“

Seine lebensbedrohliche Lage deutlich vor Augen schreibt er im August 1940 an Adorno: „(D)ie völlige Ungewissheit über das, was der nächste Tag, was die nächste Stunde bringt, beherrscht seit vielen Wochen meine Existenz.“ Überall glaubt er nur noch „die Stimme des Unglücksboten herauszuhören“. Und so flüchtet Benjamin ziellos hin und her durch das unbesetzte Frankreich, zunächst nach Lourdes und von dort aus wieder weiter nach Marseille. Hannah Arendt, selbst nach Paris ins Exil geflüchtet, bemerkt in diesem Zusammenhang: „Flüchtlinge aus Hitler-Deutschland – `les réfugeés provenant d`Allemagne´, wie sie in Frankreich offiziell hießen – waren durch das Waffenstillstandsabkommen zwischen Vichy-Frankreich und dem Dritten Reich mit Auslieferung nach Deutschland bedroht, und die Vereinigten Staaten hatten zur Rettung dieser Kategorie – die notabene niemals die unpolitische Masse der Juden, welche sich dann als die bei weitem Gefährdetsten herausstellten, mitumfaßte – eine Anzahl von Emergency-Visen durch ihre Konsulate im unbesetzten Frankreich verteilen lassen. Benjamin war dank der Bemühungen des Instituts für Sozialforschung unter den Ersten, die ein solches Visum in Marseille erreichte. Er gelangte auch schnell in den Besitz eines spanischen Durchreisevisums, um nach Lissabon zu kommen und sich von dort einzuschiffen. Allerdings hatte er kein Ausreisevisum aus Frankreich, da die Vichy-Regierung, um der Gestapo gefällig zu sein, den deutschen Flüchtlingen die Ausreisegenehmigung zu diesem Zeitpunkt prinzipiell verweigerte.“

Trotzdem wollte Benjamin im September 1940 den Versuch unternehmen, illegal nach Spanien zu gelangen, um von dort über Portugal in die USA zu emigrieren. Die österreichische Widerstandskämpferin Lisa Fittko, die aus dem französischen Internierungslager Camp de Gurs hatte entkommen können und Benjamin bereits aus Paris kannte, sollte dabei seine Fluchthelferin über die Pyrenäen sein. Unterstützt vom sozialistischen Bürgermeister von Banyuls, einer kleinen Weinbaugemeinde nahe der Grenze, eingezwängt zwischen Mittelmeer und dem hier steil abfallenden Gebirge, fand sie einen Schleichweg vom französischen Roussillon über die östlichen Pyrenäen ins spanische Katalonien, in den Grenzort Port Bou, wie sie im Gespräch mit der Shoah Foundation (etwa 1:46:45 bis 2:09:10) erzählt.

Zusammen mit einigen anderen war Walter Benjamin einer der ersten Flüchtlinge, den sie auf diesem Pfad bis zur Grenze begleiten sollte, aber der herzkranke Benjamin, damals 48 Jahre alt, war körperlich schon nicht mehr auf der Höhe und die Überquerung der Pyrenäen für ihn eine kräftezehrende Anstrengung. Zudem trug er die ganze Zeit, wie Lisa Fittko in dem Gespräch bemerkt, „eine schwere Aktentasche“ mit sich. In „Mein Weg über die Pyrenäen“ (1985) berichtet Fittko: „Er hat gesagt: `Ich trenne mich nie von dieser Tasche. Die hat das Manuskript, das wichtiger ist als ich selber. Das ist mein Nachlass, und ich werd’s nie aus der Hand geben. Und worauf es mir ankommt ist, nicht in die Hände der Gestapo zu fallen – ich als Person und das Manuskript.´“

Nur mit Mühe schaffte Benjamin den Weg über das Gebirge, wobei er bei dieser Passage, wie Fittko berichtet, seinem eigenen Rhythmus folgte: „He was a very strange person and he figured out everything by his own logic. And he had figured out, that he will walk for so many minutes and then, wether he is tired or not, he will rest for so many minutes. And he had his watch and was held to go exactly by the watch. Wether he was tired or not – he got up and started walking slowly along …“ Nach einer gewissen Gehzeit legte Benjamin also seiner Logik folgend eine entsprechende Pause ein – erschöpft oder nicht (beiläufig erwähnt nur sei, dass er „unterm Saturn zur Welt kam – dem Planeten der langsamen Umdrehung, dem Gestirn des Zögerns und Verspäten“, wie er einmal schrieb). Als er das spanische Port Bou schließlich erreichte, sollte er dort jedoch keinen sicheren Hafen vorfinden, sondern es stellte sich heraus, „daß an diesem Tage die Grenze von Spanien gesperrt worden war und die Grenzbeamten die in Marseille ausgestellten Visen nicht anerkannten“, wie Arendt schreibt.

Die spanische Polizei in Port Bou teilte Benjamin mit, dass er am nächsten Tag an die mit den Deutschen kollaborierenden Franzosen ausgeliefert werden würde, was bedeutete, dass er in die Hände der Nationalsozialisten gefallen wäre. Die Situation erschien ihm Hoffnungslos, wie er in einer letzten Notiz bemerkt: „In einer aussichtslosen Lage habe ich keine andere Wahl als Schluß zu machen“, schreibt er. Dort, wo man später in einer der Buchten eine Gedenkstätte an ihn errichten wird, „(i)n einem kleinen Dorf der Pyrenäen, in dem mich niemand kennt, wird mein Leben sich vollenden.“ Ihm bleibe keine Zeit mehr für all die Briefe, die er noch hätte schreiben wollen …

So nimmt sich Walter Benjamin in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1940 mit einer Überdosis Morphin schließlich das Leben. – Als Bertolt Brecht davon erfährt, schreibt er: „Zum Freitod des Flüchtlings W.B. // Ich höre, daß du die Hand gegen dich erhoben hast / Dem Schlächter zuvorkommend. / Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend / Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben / Hast du, heißt es, eine unüberschreitbare überschritten. // Reiche stürzen. Die Bandenführer / Schreiten daher wie Staatsmänner. Die Völker / Sieht man nicht mehr unter den Rüstungen. // So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Kräfte / Sind schwach. All das sahst du / Als du den quälbaren Leib zerstörtest.“

Gründe für den Selbstmord gab es sicherlich viele – wie sollte er ohne Bibliothek leben, ohne seine Exzerpte und ausgedehnten Zitatensammlungen, in einem Land, wo er vermutlich, wie er sagte, als „letzter Europäer“ zu Ausstellungszwecken herumgereicht werden würde –, allein „(d)er Anlaß aber war ein ungewöhnliches Mißgeschick“, bemerkt Arendt. „Benjamin nahm sich in der Nacht das Leben, und seine Begleiter wurden daraufhin von den Grenzbeamten, auf die der Selbstmord doch einigen Eindruck gemacht hatte, nach Portugal durchgelassen. Die Visumsperre wurde nach einigen Wochen wieder aufgehoben. Einen Tag früher wäre er anstandslos durchgekommen, einen Tag später hätte man in Marseille gewußt, daß man zur Zeit nicht durch Spanien konnte. Nur an diesem Tag war die Katastrophe möglich.“

Ohne Schwierigkeiten könnte man Benjamins Leben als eine Folge solcher Katastrophen erzählen, so Arendt, er selbst hätte dem kaum widersprochen. Gerade deshalb aber ist es ein „so reines Zeugnis für die finsteren Zeiten und Länder des Jahrhunderts, wie das Werk, das mit so viel Verzweiflung diesem Leben abgezwungen wurde, paradigmatisch bleiben wird für die geistige Situation der Zeit“ – den „Augenblick, da die Politiker, auf die die Gegner des Faschismus gehofft hatten, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache bekräftigen“, wie Benjamin selbst im Juni 1940, im Exil, auf der Flucht, am Ende seines Lebens in der X. geschichtsphilosophischen These schreibt. Insbesondere die in diesen Thesen formulierten Überlegungen Benjamins „Über den Begriff der Geschichte“ – wo er „das politische Weltkind“ der am Boden liegenden Politiker zu retten beabsichtigt –, haben bis heute nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil! – würde der Dialektiker anfügen.

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Frankreich definierte seine Grenzen schon immer über die Geografie und favorisierte natürliche Grenzverläufe wie den Rhein oder eben auch die Pyrenäen. Andere Länder sehen in der gemeinsamen Sprache ein verbindendes Element und definieren ihre Grenzen entsprechend deutlich anders. Diese unterschiedlichen Vorstellungen sorgen bis heute immer wieder für Konflikte, in der Vergangenheit auch im Fall des Roussillon östlich der Pyrenäen: Diese Region gehört heute mit dem Languedoc zum Le Midi genannten Süden Frankreichs („Midi“ bedeutet, ähnlich wie „Mezzogiorno“ in Italien, „Mittag“ und ist abgeleitet vom Stand der Sonne um die Mittagszeit). Im Mittelalter wurde der Süden Frankreichs allerdings noch nicht Midi genannt, sondern Okzitanien. Denn zu dieser Zeit wurde hier Okzitanisch gesprochen – die Langue d`Oc. Das Roussillon aber gehörte damals nicht zu Frankreich, sondern seit 1258 zu Spanien – hier wurde schon immer die katalanische Sprache (català) gesprochen. Erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618 bis 1648), mit dem sogenannten Pyrenäenfrieden 1659, fiel es an Frankreich – behielt sich jedoch stets seine katalanische Kultur.

Auch wenn die Pyrenäen seither die natürliche Grenze zum spanischen Katalonien bilden – noch heute sind die Menschen im Roussillon von dieser gemeinsamen Kultur beeinflusst. Und noch immer gilt den Katalanen in beiden Ländern der in den östlichen Pyrenäen liegende Pic du Canigou gleichermaßen als Heiliger Berg, als spirituelles Zentrum ihrer Kultur und Quelle tellurischer Kraft gewissermaßen – unabhängig davon, dass die Landschaft, die von seinem schneebedeckten, über 2.750 Meter hoch aufragenden Gipfel steil zum Mittelmeer hin abfällt, eine Grenze markiert, die sich für Walter Benjamin letztlich als unüberwindlich erwiesen hat …

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Auch für den chilenischen Dokumentarfilmer Patricio Guzmán wurde ein Gebirge zu einem unüberwindlichen Hindernis – in diesem Fall die Anden, die sich als eine natürliche Barriere durch ganz Südamerika ziehen und dabei Chile, das sich auf der Pazifikseite ganz im Westen befindet, vom restlichen Kontinent – mithin der Welt – abgrenzt, geradezu isoliert, vielleicht aber auch schützt. Chile ist durchschnittlich nur 175 Kilometer breit, aber über 4.200 Kilometer lang – und scheint wie eingezwängt zwischen den riesigen Wassermassen des Pazifik im Westen und dem mächtigen Andengebirge im Osten, das sich über die gesamte Länge des Landes erstreckt. Es besteht eigentlich aus mehreren nebeneinander aufgereihten Bergketten, weshalb die Anden bisweilen auch einfach nur „Cordillera“ (spanisch für „Bergkette“) genannt werden. Etwa achtzig Prozent der Landfläche Chiles befindet sich in diesem Gebirge.

Ungeheure Kräfte sorgten für die Entstehung der Anden, denn hier treffen im Untergrund zwei gewaltige Lithosphärenplatten aufeinander: die pazifische Nazca-Platte schiebt sich hier nämlich unter die Südamerikanische Platte, wobei die eingeschmolzene Erdkruste der Nazca-Platte die zahlreichen noch aktiven Vulkane Chiles kontinuierlich mit Magma versorgt. Fast 3.000 erloschene und aktive Vulkane gibt es in den chilenischen Anden, darunter auch den 5.592 Meter hohen Láscar, einen der gefährlichsten Vulkane des Landes. Sie alle gehören zum Pazifischen Feuerring – einer Kette von Vulkanen, die sich um den gesamten Pazifik erstreckt und entstanden ist, weil sich die gewaltige Pazifische Platte überall in den Randgebieten unter die Kontinente schiebt und so entlang dieser Kette ihre zerstörerischen Kräfte entfaltet. Auch in Chile kommt es deshalb immer wieder zu heftigen Erdbeben und Vulkanausbrüchen.

Will Patricio Guzmán nun den weiten Weg über den Pazifik vermeiden, bleibt ihm keine andere Möglichkeit, als die mächtigen Gebirgsketten der Anden mit ihren in Chile über 6.000 Meter hohen Gipfeln zu überwinden, um in das Land seiner Herkunft zu gelangen. Denn wie zehntausende andere Chilenen und Chileninnen musste auch er nach dem Militärputsch unter General Augusto Pinochet 1973 aus dem Land fliehen.

Die Wahl des Sozialisten Salvador Allende zum Präsidenten war 1970 insbesondere für die armen Bevölkerungsschichten Chiles zunächst mit der großen Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft verbunden, Guzmán erzählt davon in seiner Dokumentation Das erste Jahr (1971). Er war sein erster Dokumentarfilm und er wollte dort, wie er rückblickend in Salvador Allende (2004) erklärt, die „Gesichter des Volkes filmen. Allende war da“, sagt Guzmán, „er war Teil jener Menschenlandschaft, aber mir war nicht bewusst, dass es ohne ihn keine Geschichte gab.“ Denn was auch für Guzmán als Traum begann, endete nach wenigen Monaten abrupt und traumatisch im gewaltsamen und blutigen Sturz Allendes und einer 17 Jahre währenden Schreckensherrschaft.

Guzmán, der die Ereignisse damals auf der Straße mit seiner Kamera dokumentierte und die Aufnahmen später als Der Kampf um Chile (1975-1979) veröffentlichte, berichtet: „Die ersten Tage nach dem Putsch hatte ich echt Panik. (…) Ich wagte es nicht, hinauszugehen.“ Planlos durchforstete er seine Unterlagen, konnte sich aber nicht dazu durchringen, auch nur irgendetwas von dem, was sich angesammelt und was er bis dahin aufgezeichnet hat zu vernichten. „Ich wusste nicht, was tun. So vergingen drei oder vier Tage, bis die Polizei kam, um mich festzunehmen.“ Gemeinsam mit tausenden anderen politischen Gefangen wird Guzmán in einem Stadion in Santiago eingepfercht: „Wir waren hier mehrere Tausende. Ich war 15 Tage in Haft, ohne dass die Militärs wussten, wo sich meine Filmrollen befanden. Ich erinnere mich genau …“ Nur, dass er auch einen spanischen Pass hat, rettete ihn schon nach relativ wenigen Tagen aus den Fängen des Militärs. Gleichwohl muss Guzmán nun das Land verlassen. Über Umwege gelangte er nach Paris ins Exil, wo er noch heute lebt. Nach Chile ist er nie mehr dauerhaft zurückgekehrt.

Von seiner Heimat bleiben Guzmán im Exil in Paris nur Erinnerungen, was sich fortan vor Ort in Chile ereignet unklar. Richtet er den Blick zurück in seine Heimat, so versperren ihm die Anden die Sicht. Was mag aus dem Land seiner Herkunft inzwischen geworden sein? Während der Zeit des Exils, so erklärt Guzmán in Die Kordillere der Träume (2019), „erträumten (wir) uns Chile aus der Ferne. Die Kordillere ist mit ihrer Kraft und ihrem Charakter die Metapher dieses Traums.“ Die Kordillere – sie wird im Exil gewissermaßen zu seinem Heiligen Berg.

Inzwischen ist Guzmán 83 Jahre alt. Er hat länger im Ausland gelebt als zuvor in seiner alten Heimat. Die Diktatur ist seit über dreißig Jahren vorbei, Pinochet in der Zwischenzeit gestorben. Guzmán kann nach einem langen Leben im Exil, wo er mehr Zeit verbrachte als in seiner ursprünglichen Heimat, nun zwar wieder zurück in das Land seiner Herkunft und sich persönlich ein Bild vor Ort machen; Heute jedoch „(d)ie Gebirgskette zu überqueren, heißt an einen Ort zu kommen, der in tiefer Vergangenheit liegt“, erklärt Guzmán. Die Zeichen der Zeit standen damals auf friedliche Revolution, gemeinsam strebte man nach einer gerechteren und lebenswerteren Zukunft. Wenn er aber heute nach Santiago zurückkehrt, so Guzmán, sieht er nichts davon realisiert. „Eigentlich weiß ich nicht, wo ich bin“, sagt er. „Mir erscheint alles irreal. Ich fühle mich ein wenig wie ein Außerirdischer“ – wie in einem Albtraum.

Von den Träumen und Hoffnungen von damals ist nichts geblieben – sie sind zerborsten wie die Steine jenes Hauses, von dem er damals losgezogen ist, um Der Kampf um Chile zu realisieren: „Wir waren ein kleines Team von fünf Personen. Wir filmten alles: zuerst den Enthusiasmus, der uns sehr weit forttrug, uns alle und das ganze Volk. Danach die Spannungen, die zum Staatsstreich führten. Jeden Morgen gingen wir von hier aus los. Am Tag es Putsches kam ich zum letzten Mal hierher, mit der letzten Filmrolle. Ich hätte nie gedacht, dass `La Batailla de Chile´ bis heute überleben würde. Der Film ist wie der Spiegel einer Vergangenheit, die mich verfolgt.“

Blickt Guzmán auf den Ort seiner Herkunft, sieht er nichts als Verwüstungen: Das Haus, in dem, wie er sagt, „alle meine Erinnerungen“ festgehalten sind, ist heute nur noch eine verfallene Ruine, die Altstadt von Santiago gleiche einem Ruinenfeld, das Gedankengebäude von damals eingestürzt, ein Trümmerhaufen, die Hoffnungen und Träume der Vergangenheit darunter begraben. „Der Putsch war ein gewaltiges Erdbeben, das unsere Leben für immer verändert hat“, sagt Guzmán. Deshalb dieses bedrohliche Donnern, dass den Bildern immer wieder unterlegt ist – und dessen Bedeutung sich erst erschließt, als er später auf einen gewaltigen Vulkanausbruch schneidet, dessen dunkle Aschewolken den Himmel verdunkeln. –

„Nie sprach ich von der Einsamkeit, die mich seit jenem 11. September 1973 begleitet“, sagt Guzmán am Ende von Die Kordillere der Träume. „Es ist eine verborgene Angst, als wäre unter meinen Füssen etwas eingestürzt, wie bei einem Erdbeben. (…) Auf meiner Seele liegt noch immer die Asche meines zerstörten Hauses.“

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„Rede ich von der Schönheit der Kordillere, meine ich eine umfassende, dramatische, wunderschöne … ich rede von Kraft. Auch von Sanftmut. Es gibt nichts Zärtlicheres als die Täler, die berühmten Feuchtzonen. Nichts Sanftmütigeres … Wie sich das Gras bewegt. Das Gras, insbesondere die Yareta [eine in den Anden heimische Wüstenpflanze], wie sie seit Jahrtausenden wächst und diese grünen Hügel formt“, schwelgt der Steinbildhauer Francisco Gazitúa geradezu in romantischer Schwärmerei. Für ihn ist klar, dass hier, in den Anden, „die wichtigsten Gesetze der Poesie“ lagern. Schon vor langem hat er sich deshalb hierher, in die Berge, zurückgezogen, wo er aus dem Material seines Steinbruchs, diesen Gesetzen folgend, mächtige Skulpturen herausarbeitet. „Als Bildhauer hat mir die Kordillere meinen Platz zugewiesen“, sagt er.

Die Gesetze der Poesie – auch Jacint Verdaguer (1845-1902), dessen Epos Canigó (1886) den Berg erst zum „heiligen Berg“ der Katalanen verklärte, erkannte sie in der Landschaft seiner Heimat – und ursprünglich vielleicht sogar ganz konkret in jenen Steinen aus den Pyrenäen, durch die er von der Arbeit seines Vaters, eines Steinklopfers, vertraut war. Verdaguer gilt jedenfalls als bedeutendster Dichter der Renaixenca (Renaissance), also der Wiederbelebung der seit dem Mittelalter langsam vergessenen katalanischen Sprache und Kultur im 19. Jahrhundert. Dabei war Verdaguer eigentlich Priester – aber ist es nicht bezeichnend, dass er sich der Renaixenca zuwandte, nachdem er als 28-jähriger ab 1873 drei Jahre lang als Bordseelsorger auf einem der zahlreichen Auswandererschiffe zwischen Spanien und Amerika tätig war? „Süßes Katalonien / Heimat meines Herzens / wenn es sich von dir entfernt / stirbt es vor Sehnsucht / (…) Oh Seeleute, der Wind der mich fortträgt, / er lässt mich leiden! / Ich fühle mich so krank! Bringt mich an Land, / dort möchte ich sterben!“, schreibt Verdaguer in „L`Emigrant“ (Der Auswanderer). Nun, glücklicherweise war ihm der Rückweg in die Heimat nicht versperrt …

Die Renaixenca war eine durch und durch romantische Bewegung, schon damals aber stellte man, wie heute wieder, auch die Forderung nach politischer Autonomie, sodass hier Natur, Politik und Poesie untrennbar miteinander verknüpft wurden, indem die heimatliche Landschaft nun in der Poesie mit politischer Bedeutung aufgeladen wurde: Ähnlich wie der Wald in Deutschland zur Zeit der Romantik wurde der Canigó so zu einem wichtigen Symbol für das kulturelle Selbstverständnis der Katalanen und von Veraguer in seinem Epos mit zahlreichen identitätsstiftenden Mythen und Ritualen, wie etwa der Flama del Canigó (wo alljährlich an Sant Joan das Johannisfeuer von seinem Gipfel in alle Katalanischen Länder getragen wird – lange auch als Zeichen des Widerstands gegen die franquisitische Diktatur), verwoben.

So werden Landschaft und Natur in der Romantik letztlich symbolisch – und an die identitäts- und gemeinschaftsstiftende Bedeutung des Canigó als Heiligen Berg zu glauben, fällt Veraguer als Priester sicherlich genauso leicht, wie im Wein das Blut Christi zu erblicken. Was aber, wenn die „Konsistenz der Wahrheit“, wie Benjamin sagt, fragwürdig geworden ist, wie etwa im Barock, wo der Glaube nach Reformation, Gegenreformation und dem fürchterlichen Gemetzel des Dreißigjährigen Krieges erschüttert wurde wie die Welt für Patricio Guzmán mit dem Putsch – als wäre unter den Füssen etwas eingestürzt, wie bei einem Erdbeben?

Im Barock, so erklärt uns Walter Benjamin, ist das Verhältnis der Menschen zur Welt kein symbolisches, sondern ein allegorisches: wo sich der Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem im Symbol wie gottgegeben offenbart, ist er hier, in der Allegorie, auseinander gefallen, zu Asche zerbröselt wie Guzmáns zerstörtes Haus gewissermaßen, nur ein Trümmerhaufen ist von ihm geblieben. Geschichte zeigt sich hier nur noch als unaufhaltsamer Niedergang, alles ist Verfall und Tod geweiht: In der Allegorie, schreibt Benjamin, „liegt die facies hippocratica [der Gesichtsausdruck eines Sterbenden] der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. Die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz – nein in einem Totenkopfe aus“. Die Welt verwandelt sich hier in eine versteinerte, leblose Ruinenlandschaft, der Blick auf sie ist ein trostloser – wie bei Veraguers Auswanderer, dem mit der Heimat auch der Sinn des Lebens verloren scheint und der die Seeleute bittet: Ich fühle mich so krank! / Bringt mich an Land, / dort möchte ich sterben! Es ist ein melancholischer Blick, der der allegorischen Haltung zugrunde liegt. Von Schönheit, Kraft, Sanftmut und Zärtlichkeit ist hier keine Rede.

Den Gesetzen der romantischen Poesie unterlegen, kann Veraguer gar nicht anders, als dem Heimatlosen dieses Schicksal zuzuschreiben. Der Protagonist bei Benjamin hingegen hat sich dem Tod noch nicht ergeben, sondern sich nur aus dieser Welt des Leidens, schwermütig zwar, in die kontemplative Versunkenheit, die Reflexion, zurückgezogen. Unablässig sucht er dort in der Trümmerlandschaft, die er vor Augen hat, nach jenem Sinn, der sich schon lange nicht mehr von selbst offenbart. Er will wissen, verstehen, begreifen, und nimmt sich deshalb einzelne Trümmer heraus, um sie genauer zu betrachten, um sie miteinander zu vergleichen und Ähnlichkeiten zu entdecken. Er greift, wie Benjamin über den Allegoriker schreibt, „bald da bald dort aus dem wüsten Fundus, den sein Wissen ihm zur Verfügung stellt, ein Stück heraus, hält es neben ein anderes und versucht, ob sie zu einander passen: jene Bedeutung zu diesem Bild oder dieses Bild zu jener Bedeutung. Vorhersagen läßt das Ergebnis sich nie; denn es gibt keine natürliche Vermittlung zwischen den beiden.“

Da die Trümmer von sich aus keinen Sinn mehr ausstrahlen, kommt ihnen an Bedeutung nur zu, was der Allegoriker ihnen in der Reflexion verleiht. Die Allegorie wird so, wie Susan Sontag in ihrem Essay über Walter Benjamin schreibt, zu einem „Vorgang, der die Bedeutungen aus dem Versteinerten … hervorlockt“. Anders, und mit Benjamin gesagt: „Die Melancholie verrät die Welt um des Wissens willen. Aber ihre ausdauernde Versunkenheit nimmt die toten Dinge in ihre Kontemplation auf, um sie zu retten“, und zwar – wie Benjamin selbst die barocke Allegorie – vor dem Vergessen, in die Gegenwart.

Die toten Dinge in die Kontemplation aufnehmen, um sie zu retten – damit diktiert Benjamin gewissermaßen das neue Gesetz der Poesie, das Patricio Guzmán dann für seine sogenannte Trilogie der Heimat aufgreifen wird, die er 2010 mit Nostalgie des Lichts beginnt, auf das 2015 Der Perlmuttknopf folgt und die schließlich mit Die Kordillere der Träume 2019 endet. Auf der Suche nach dem, was Heimat ist, verknüpft Guzmán hier – nach zahlreichen Dokumentationen zu den politischen Ereignissen in Zusammenhang mit dem Putsch – in drei philosophischen Essays jeweils eine andere charakteristische Landschaftsformation mit der Vergangenheit und Politik Chiles zu einem einzigartigen Gewebe aus allegorischen Verweisen. Gerade aber weil er in allen diesen filmischen Essays die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat ins Zentrum rückt, ermöglicht Guzmán einen völlig neuen Blick auf sein Heimatland – und letztlich auch weit darüber hinaus.

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Aufgrund seiner enormen Länge ist Chile ein klimatisch und landschaftlich ungeheuer kontrastreiches Land: Im Norden, am Südlichen Wendekreis, liegt die etwa 100.000 Quadratkilometer große Atacamawüste, eine der trockensten Wüsten der Welt, wo es an manchen Stellen seit der Zeit der spanischen Konquistadoren nicht geregnet haben soll. Die versalzten Hochebenen hier in den Anden weisen geradezu unwirkliche Landschaften mit ocker- und sandfarbenen Felsen und Schluchten auf. Das regenreiche Patagonien im Süden des Landes hingegen ist vom Wasser geprägt – hier erstreckt sich eine ausgedehnte Gletscherlandschaft über Feuerland weiter bis zum windumtosten Kap Hoorn.

Dazwischen, unweit der Hauptstadt Santiago, liegt eine weite, flache Senke – das Valle Central –, eigentlich eine Trockensteppe, die aber von mehreren Flusstälern von Ost nach West durchzogen wird, deren Flüsse zum einen die Niederschlagswasser aus den Anden in den Pazifik abführen, umgekehrt aber auch eine Art „Belüftungsschächte“ für kühle Winde und Nebel vom Pazifik darstellen. Neben diesen auflandigen Meerwinden ist der „Raco“ genannte kühle Fallwind aus den Anden der zweite wichtige Luftstrom in Chile. „Er kommt“, so erklärt es der Steinbildhauer Francisco Gazitúa in Guzmáns Die Kordillere der Träume, „am Abend und bringt einen andern Duft. Es ist der Duft der Felsen, des ersten Hügelzugs, ein säurehaltiges Gestein. Um die Anden kennen- und lieben zu lernen muss man den Ursprung des Windes kennen, der sie durchquert und uns etwas mitteilt über seine Musik, seinen Duft, über sein Aroma. Das Aroma von Stein, von Vegetation“.

„Heute riecht es anders“, sagte Guzmán schon zuvor – während das Bild gleichzeitig langsam von einem Stadtplan Santiagos auf strukturell identisch verlaufende Risse in einem Felsbrocken überblendet –, es ist „nicht dieselbe Luft, die ich damals einatmete“, der Wind aus den Bergen weht offenbar gerade nicht. Nun mag es in diesem Moment zwar windstill sein, in der Ferne sieht man vielleicht ein paar Wolken am Himmel, es muss aber ein gewaltiger Sturm gewesen sein, der hier unten alles zum Einsturz brachte und diese Trümmerlandschaft hinterlassen hat, in der sich Guzmán gerade befindet … – Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass es jener Sturm war, der auch Walter Benjamins Engel der Geschichte erfasst hat. Dieser Engel sitzt nicht weich und bequem auf einer der Wolken und stimmt dort, an den Saiten seiner Harfe zupfend, pausbäckig ein Halleluja an, sondern „(s)eine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst …“

Walter Benjamins Denkbild vom Engel der Geschichte entspringt den geschichtsphilosophischen Thesen (IX.) in „Über den Begriff der Geschichte“, die er kurz vor seinem Tod im Juni 1940 verfasst hat. Eigentlich handelt es sich dabei um eine Bildbeschreibung von Paul Klees „Angelus Novus“ (1920), eine aquarellierte Zeichnung, die Benjamin 1921 erworben hat und die ihn bis ins Pariser Exil begleitet hat. Klees Titel bezieht sich nun allerdings auf die jüdische Vorstellung nach der Gott in jedem Augenblick „eine Unzahl neuer Engel schafft, die jeder nur bestimmt sind, ehe sie ins Nichts zergehen, einen Augenblick das Lob von Gott vor seinem Thron zu singen“, wie Benjamin in „Agesilaus Santander“ noch 1933 erklärt. Im Elend des Exils aber, aus seiner Heimat vertrieben und im Angesicht der Trümmer seiner Existenz, verdunkelt sich Benjamins Blick auf diesen Engel – in dessen Augen sich für Benjamin nun die Kehrseite des vermeintlichen Fortschritts und das Entsetzen darüber widerspiegeln sowie die Trauer angesichts der kohlrabenschwarzen Erkenntnis, dass die gesamte Menschheitsgeschichte seit der Vertreibung aus dem Paradies wohl nichts anderes gewesen sein könnte als eine unsägliche Anhäufung menschlichen Leids.

Paul Klees Engel wird bei Walter Benjamin insofern zu einem Vexierbild, je nach Perspektive kann man seine Geschichte so oder so erzählen: mal singt er vor Gott ein Loblied darauf, wie sich alles entwickelt hat, mal ist ihm der Schrecken über die Ereignisse ins Gesicht geschrieben. Das aber bedeutet, dass Geschichte immer auch eine Kehrseite hat und jeder Erfolg auch seine Opfer fordert: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“, erklärt Benjamin die geschichtliche Dialektik in der VII. seiner geschichtsphilosophischen Thesen und ergänzt: „Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist.“

Vae victis! Wehe den Besiegten! – Für Benjamin wird die Geschichtsschreibung von den Siegern diktiert. In der tradierten Überlieferung hat sich insofern Herrschaftsgeschichte eingeschrieben – während das Schicksal der Opfer bisweilen verdrängt wird, unerwähnt bleibt oder dem Vergessen anheimgefallen ist. Aber nur im „Eingedenken“ dessen, was diesen Menschen – den namenlosen Opfern der Gewalt, den Unterdrückten, der Masse der vom Fortschritt ausgeschlossen, den Benachteiligten, den Elenden, denjenigen, die Benjamin in einer Übersetzung von Baudelaires „Alte Frauen (IV)“ als „Menschenschutt“ (débris d`humanité) bezeichnet hat – an Unglück widerfahren ist, ist auch Erlösung vom erlittenen Leid als Voraussetzung zur Wiedererlangung persönlicher Würde oder auch von Glück möglich. Um es mit Benjamins Worten zu sagen: „Die Reflexion führt darauf, daß das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat“, wie er in der II. geschichtsphilosophischen These schreibt. „Es schwingt, mit anderen Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Es besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Wir sind auf der Erde erwartet worden. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen.“

Eine schwache messianische Kraft – Hier kommt die Wirksamkeit eines jüdischen Messianismus bei Benjamin zum Ausdruck, dem zufolge erst der Messias selbst alles historische Geschehen vollendet und die Menschheit von ihrem Unglück befreit. Benjamin war nie völlig unbeeinflusst vom Judaismus. Während die jüdische Theologie aber im Messias „das Telos der historischen Dynamis“ sieht, betont Benjamin, dass das mit dem Messias kommende Gottesreich „nicht Ziel, sondern Ende“ der Geschichte sei. Daher habe „die Theokratie keinen politischen sondern allein einen religiösen Sinn“, während sich die „Ordnung des Profanen“ an der „Idee des Glücks“ aufzurichten habe. Und das sieht Benjamin mit der zunehmenden Hinwendung zum Marxismus in den Jahren des Exils mehr und mehr in der klassenlosen Gesellschaft verwirklicht, materialisiert. Benjamin assoziiert so jüdischen Messianismus mit historischem Materialismus, säkularisiert ihn gewissermaßen.

Insbesondere in seinem letzten, kurz vor seinem Tod verfassten Text, den geschichtsphilosophischen Thesen, wo er das Verhältnis von Judaismus und Marxismus schon in der I. These erläutert, greift Benjamin auf diesen Gedanken zurück. Das Glück aber – es existiert für Benjamin genauso wie das Unglück. Und diesem Unglück – den sozialen Katastrophen der Menschheit – wendet sich Benjamin zu. Erst in der Negation dieser Erfahrung, im Kampf dagegen, wird ihr Widerpart frei – oder wie Benjamin schreibt: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.“ Die „letzte Hoffnung“ sei niemals dem eine, „der sie hegt, sondern jenen allein, für die sie gehegt wird.“

Die Erfahrung, die Benjamin hier fordert, soll den dem Vergessen anheim gegebenen Opfern der Geschichte gerecht werden. Im Bruch mit der Vorstellung eines kontinuierlichen, seine eigene Gewalt verleugnenden Geschichtsverlaufs schaffe die Erinnerung an diese Menschen nämlich einen geschichtlichen Ort, von dem auch der Anbruch einer neuen, gerechteren Zeit – als noch verborgenes revolutionäres Potential gewissermaßen – spürbar ist. In der Katastrophe oder in der Gefahr können Kräfte freigesetzt werden, schwache messianische Kräfte, die die Geschichte erlösen (oder das Volk befreien) können – Hölderlin gemäß: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Oder wie Benjamin selbst es in der VI. geschichtsphilosophischen These formuliert: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen `wie es denn eigentlich gewesen ist´. Es heißt sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. (…) In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist.“

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Zu der die Geschichte rettenden Kraft muss aber auf der anderen Seite auch die Würdigung kommen. Sie ist, wie Benjamin schreibt, „Einfühlung in die Katastrophe. Geschichte hat nicht nur die Aufgabe, der Tradition der Unterdrückten habhaft zu werden, sondern auch, sie zu stiften …“ Was Benjamin hier fordert, gilt erst recht bei so traumatischen Erfahrungen, wie sie die Opfer des Terrorregimes in Chile machen mussten. Dort allerdings hat bis heute keine ernsthafte Aufarbeitung der Ereignisse stattgefunden, genauso wenig wie eine Würdigung der Opfer. Insbesondere das Militär verhinderte bislang die Etablierung einer neuen Erinnerungskultur.

In Chile wurden während der Diktatur grundlegende Menschenrechte missachtet. Der Staat war mit seinem gesamten Gewaltapparat – Armee, Polizei und Geheimdienste – über die komplette Dauer der Militärdiktatur an systematischen Folterungen und Misshandlungen von Gefangenen beteiligt, wie die beiden 1990 und 2001 eingesetzten Wahrheitskommissionen festgestellt haben. Allerdings hat die zuletzt eingesetzte Comisión Nacionál sobre Prisión y Tortura (die wegen des Vorsitzenden Bischof Sergio Valech Aldunate auch Valech-Kommission genannt wird) lediglich die Zahl von 27.255 politischen Gefangenen anerkannt, fast alle von ihnen (94 Prozent) auch Folteropfer, während die tatsächliche Zahl der Opfer vermutlich doch um mehrere Zehntausend höher liegt. Inzwischen wurde die Zahl der anerkannten Opfer zumindest auf 40.000 erhöht – bis heute aber wird ein gesellschaftlicher Versöhnungsprozess dadurch verhindert, dass die Zahl der tatsächlichen Opfer nicht ermittelt und die Verbrechen nicht rückhaltlos aufgeklärt sind.

Das hierüber bis heute Ungewissheit herrscht, liegt daran, dass die Aufklärung der Verbrechen der Diktatur staatlicherseits – insbesondere vom Militär – von Beginn an blockiert oder sabotiert wurde, wie Beatriz Brinkmann von der Menschenrechtsorganisation Centro de Salud Mental y Derechos Humas (Cintras) erklärt. Trotz der bereits 1988, nach dem Rücktritt von Pinochet, initiierten Transition in Chile (vom spanischen transición für Übergang), also der Rückkehr zur Demokratie und einer parlamentarischen Gesetzgebung sowie der Abschaffung der bis dahin verfassungsrechtlich garantierten Sonderrechte des Militärs 2005, konnten die Täter bis heute einen Mantel des Schweigens über die Ereignisse legen, sprechen allenfalls von „Auswüchsen“ oder „vereinzelten Exzessen“, die stattgefunden hätten. Ein ehrliches Mea culpa gab es jedenfalls nie.

Selbst wenn es ohnehin „keine Wiedergutmachung für die in unendlichen Foltersitzungen erlittenen Demütigungen, Angst und Schmerzen, und auch nicht für die Entwurzelung der Exilierten“ geben kann, wie Beatriz Brinkmann, selbst eine Überlebende der Folter, bemerkt, so haben Opfer von Menschenrechtsverletzungen doch zumindest ein Recht darauf, wie die Vereinten Nationen unter anderem in Artikel 14 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1984) festgelegt haben. Davon aber ist in Chile keine Spur: das Militär, das als einzige die ganze Geschichte kennt, aber lange alles abgestritten hat, weigert sich bis zum heutigen Tag, Verantwortung für ihre Menschenrechtsverletzungen zu übernehmen und ist dabei bis heute durch das Amnestiegesetz von 1978 geschützt, das eine effektive Strafverfolgung verhindert, sieht man von Einzelfällen ab, bei denen es auch zu Verurteilungen kam.

So kann von einem Versöhnungsprozess nach dem Vorbild der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (oder wie das zuletzt auch Milo Rau mit seinem „Kongo Tribunal“ (2017) demonstrierte) in Chile also keine Rede sein. Im Gegenteil, selbst die wenigen, völlig unzureichenden Erkenntnisse, die man bisher zu den Menschenrechtsverletzungen gewinnen konnte, sollen nicht an die Öffentlichkeit und bleiben aufgrund einer Verfügung des Präsidenten von 2004 noch bis Mitte des Jahrhunderts unter Verschluss.

Damit bleibt die Wahrheit also weiterhin im Dunkeln – obwohl es inzwischen sogar ein Recht auf Wahrheit gibt. Und dieses Recht, so zitiert Brinkmann aus einem Bericht von Louis Joinet an die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen, ist nicht nur ein individuelles, sondern „auch ein kollektives Recht, das historisch begründet ist und darauf abzielt zu vermeiden, dass sich in Zukunft diese Menschenrechtsverletzungen wiederholen. Gleichzeitig besteht von Seiten des Staates die `Pflicht der Erinnerung´, um geschichtlicher Desinformation vorzubeugen, die sich auf Revisionismus und Verleugnung gründet. Das Wissen um die Geschichte seiner Unterdrückung gehört, in der Tat, zum historischen Erbe eines Volkes und sollte als solches auch bewahrt werden.“

Gerade auch für die Geschichtsschreibung geht insofern eine große Verantwortung einher, gilt es doch, Geschichte in ihrer ganzen dialektischen Widersprüchlichkeit festzuhalten, die ganze Wahrheit in allen ihren Facetten. Oder wie Benjamin seine geschichtsphilosophischen Thesen fortsetzt (III. These): „Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu.“ – Wer also schreibt die Geschichte?

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Für seinen Dokumentarfilm Salvador Allende (2004) kehrte Patricio Guzmán das erste Mal nach seiner Flucht vor dreißig Jahren aus dem Exil nach Chile zurück. Den Auftakt seiner Heimkehr sollte die Begegnung mit dem Mann bilden, der damals sämtliche Wände Chiles mit dem Namen Allendes bepinselte, „Mono“ Gonzales, der erzählt: „Die Wände gehörten dem Volk. In Chile gehörten die Medien der Rechten, also war die Straße für uns, was die Schlagzeile für die Zeitungen ist. Während der Kampagne der Unidad Popular [für die Präsidentschaft Salvador Allendes 1970] waren die Straßen wichtig, um das Volk zu gewinnen. Sämtliche Mauern und Wände sollten den Namen Allendes tragen.“

Sofort nach Pinochets Machtübernahme wurden diese Mauern dann jedoch übermalt – der Name Allendes sollte aus der Geschichte gestrichen werden, die Erinnerung an ihn ausgelöscht, ausradiert werden, wie das Haus Allendes, das die Luftwaffe mit einigen abgeworfenen Bomben in die Luft sprengte. „Der Linke wurde zum Feind, an dem sich dieser Feuersturm entzündete“, erklärt der Schriftsteller Jorge Baradit in Die Kordillere der Träume. „Für die Rechte war er kein Mensch. (…) Er wurde zu einem Dämon, den man eliminieren musste. Wie schon kommentiert kommt man auf eine Logik ganz im Sinne der Nazi-Ideologie. (…) In Chile gab es einen Sturm, den man archetypisch nennen könnte, das Gute gegen das Böse … Eine Erblindung, eine mythologische Blindheit: `Wir kämpfen gegen Dämonen´, die den Weg freimachte, den Anderen zu entmenschlichen und ihm mit Strom zu misshandeln, ihn zu zerstückeln, zu vergiften, zu zerstümmeln, zu verstümmeln, explodieren und verschwinden zu lassen. Ein wütiger Wahn …“, die Verblendung wagnerianisch geradezu: „Wahn! Wahn! Überall Wahn! / Wohin ich forschend blick in Stadt- und Weltchronik, / den Grund mir aufzufinden, / warum gar bis aufs Blut die Leut sich quälen und schinden / in unnütz toller Wut?“

Die Militärs installierten eine Schreckensherrschaft: Tausende Regimegegner wurden in Konzentrationslagern eingesperrt, grausam gefoltert und umgebracht, Hunderttausende waren zur Flucht ins Exil genötigt. Pinochets Diktatur etablierte ein rigides System der politischen Unterdrückung in dem jede öffentliche Kritik an der Gewaltherrschaft von den Miltiärs brutal unterbunden wurde. War man innerhalb der Bevölkerung zunächst vielleicht nur perplex ob der Gewalt, so machte sich bald eine Art Angsstarre breit. Wie eine übermächtige Drohkulisse jedenfalls ragen die Anden in Guzmáns Die Kordillere der Träume über Santiago und stehen so sinnbildlich für eine Art Mauer des Schweigens angesichts der Angst, die sich im Land ausgebreitet hat. „Wir waren Millionen, die eine tiefe Angst verspürten, wie wir sie nie zuvor gekannt hatten“, erklärt Guzmán. „Während Jahren verschwiegen wir (…) was geschehen war und was weiterhin geschah.“

Nachdem das Volk gewaltsam zum Schweigen gebracht und die Demokratie damit erstickt war, erfolgte die Umstellung der Wirtschaft auf einen radikalen Kapitalismus mit einem 1980 sogar in der Verfassung festgeschriebenen neoliberalen Wirtschaftsmodell, bei dem sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens allein der Rentabilität untergeordnet wurden. Alles wird nun zur Ware, für alles muss bezahlt werden, selbst die Grundversorgung ist seither nicht mehr staatlich gesichert. Gewerkschaftsorganisationen und andere Verbände wurden verboten, jeder ist nun im Hinblick auf sein Überleben auf sich allein gestellt – aber nur wenige Privilegierte profitieren auch von diesem System. Alles dient nur noch der Selbstvermehrung des Kapitals, vom erwirtschafteten Reichtum der Volkswirtschaft jedenfalls kommt kaum etwas bei der arbeitenden Bevölkerung an.

So wurde die soziale Spaltung in Chile erheblich forciert, der Riss in der Gesellschaft immer breiter, sodass sich heute – lange nach dem Ende der Diktatur 1990 – noch immer zwei politische Lager praktisch unversöhnlich gegenüber stehen. Zwar gibt es heute keine Folter mehr, an der Ungerechtigkeit jedoch – dem ausbeuterischen Wirtschaftssystem und den institutionell festgeschriebenen Strukturen, die es stützen – hat sich nichts geändert seither. Der Schriftsteller Jorge Baradit bemerkt in diesem Zusammenhang in Die Kordillere der Träume: „Bis heute ist der Putsch erfolgreich. Man muss bedenken, dass der Staatsstreich zwei Dinge umfasst: das Errichten eines Wirtschaftssystems und die institutionelle Struktur, die es stützt. Also der Neoliberalismus und die Verfassung von 1980. Und das ist alles noch da. (…) Wie erreicht man diese Stabilität? Seit Anbeginn, seit den Anfängen der Republik, wird diese Stabilität durch Gewalt erzwungen.“

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Gerade auch, weil er das „Passagen-Werk“ ursprünglich als eine Geschichte der Stadt Paris im 19. Jahrhundert plante, beschäftigte sich Walter Benjamin im Exil intensiv mit Charles Baudelaire (1821-1867), einem der wichtigsten Schriftsteller dieses Jahrhunderts. Eine Passage aus „Die Blumen des Bösen“ (1857) nimmt Benjamin dabei zum Anlass, sich ab Mitte der 1930er Jahre – inmitten der Weltwirtschaftskrise – erneut mit der barocken Allegorie auseinanderzusetzen und sie nun als eine moderne Kategorie der Welterfahrung zu aktualisieren. Baudelaire schreibt dort: „Paris verändert sich! Mir bleibt Melancholie! / (…) – alles wird Allegorie, / und schwer wie Fels muß ich Erinnerung tragen.“ (Benjamin selbst übersetzt die entsprechende Passage aus „Der Schwan (II)“ so: „Paris wird anders, aber die bleibt gleich / Melancholie. Die neue Stadt die alte / Mir wirds ein allegorischer Bereich / Und mein Erinnern wuchtet wie Basalte.“)

Baudelaire war – ähnlich wie Benjamin im Exil – ein verarmter Bohemien, der inmitten des Paris des Second Empire, der Epoche des „Hochkapitalismus“, wie Benjamin sagt, lebte. Daraus ergebe sich ein wesentlicher Unterschied zu Schriftstellern vorangegangener Zeiten: Zwar ist auch die moderne Allegorie mit der Erfahrung eines umfassenden Sinnverlusts verbunden, die aber hat nun nichts mehr mit dem Glauben zu tun, sondern eher mit der modernen Erfahrung der Entfremdung des Menschen, mit einer Art Naturverlust: „Baudelaires Ingenium, das sich aus der Melancholie nährt, ist ein allegorisches. (…) Diese Dichtung ist keine Heimatkunst, vielmehr ist der Blick des Allegorikers, der die Stadt trifft, der Blick des Entfremdeten“, schreibt Benjamin. Bei Baudelaire werde die Melancholie zum Ausdruck der Entfremdung inmitten der Verwandlung von Paris zur kapitalistischen Metropole, durch die die Stadt ihre Seele verliere, weil nun alles zur Ware werde. Benjamin schreibt diesbezüglich: „Die allegorische Anschauungsweise ist immer auf einer entwerteten Erscheinungswelt aufgebaut. Die spezifische Entwertung der Dingwelt, die in der Ware daliegt, ist das Fundament der allegorischen Intention bei Baudelaire.“

Die Entwertung beziehungsweise „Entseelung“, wie er es auch bezeichnet, besteht für Benjamin insbesondere in der gewachsenen Bedeutung des ökonomischen Werts (Tauschwert) und der damit verbundenen Verwandlung der Erscheinungswelt in die Universalität der Warenform. Im Kapitalismus kann alles gegen Geld getauscht und damit zur Ware werden. Als Ware, und durch das Geld gegeneinander verrechenbar geworden, verliere alles seine ganz spezifische Besonderheit (Gebrauchswert), das heißt die Erscheinungen der Wirklichkeit werden Benjamin zufolge nur noch als käufliche Ware wahrgenommen, ihre einzige Bedeutung sei der Preis: „In der Tat heißt die Bedeutung der Ware: Preis; eine andere hat sie, als Ware, nicht. Darum ist der Allegoriker mit der Ware in seinem Element“, erklärt Benjamin. Der Preis besetzt hier denselben Ort wie die Bedeutung in der Allegorie, das heißt sowohl zwischen Zeichen und Bedeutung als auch zwischen Ware und Preis ist jede natürliche Vermittlung ausgelöscht. Im Hinblick auf ihre abstrakte Bedeutungs- beziehungsweise Preisgestaltung sind Allegorie und Ware insofern strukturell miteinander verwandt: Der Allegoriker, so setzt Benjamin fort, „erkennt im `Preisetikett´, mit dem die Ware den Markt betritt, den Gegenstand seiner Grübelei – die Bedeutung – wieder. Die Welt, in der diese neueste Bedeutung ihn heimisch macht, ist keine freundlichere geworden. Eine Hölle tobt in der Warenseele, die doch scheinbar ihren Frieden im Preise hat.“

Die Hölle, von der Benjamin hier spricht, betrifft die Arbeit, wie sie unter kapitalistischen Verhältnissen organisiert ist. Definierte die Sozialdemokratie die Arbeit noch „als `die Quelle allen Reichtums und aller Kultur´“ – sie wolle dabei allerdings „nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben“, wie Benjamin in seiner XI. geschichtsphilosophischen These im Hinblick auf ein sozialdemokratisches Parteiprogramm schreibt –, entgegnete Marx darauf, bereits Böses ahnend, „daß der Mensch kein anderes Eigentum besitze als seine Arbeitskraft, `der Sklave der andern Menschen sein muß die sich zu Eigentümern … gemacht haben´.“ Dieses ungleiche Verhältnis drückt sich dann auch im Warenwert aus. Denn wie Karl Marx in „Das Kapital“ (1867) ausführt, fließt die Arbeit als wertbildende Substanz immer in den Gebrauchswert einer Ware ein, dessen Wert sich wiederum aus Gebrauchs- und Tauschwert zusammensetzt: Der Wert einer Ware ist gewissermaßen die Kristallisation menschlicher Arbeit für den gesellschaftlichen Austausch, wobei der Gebrauchswert entsteht, wenn ein Naturstoff durch Arbeit in ein Produkt umgewandelt wird, das nützlich für die Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses ist, während der Tauschwert – seine Realitätsform ist der Preis – wiederum entsteht als das Verhältnis, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art auf dem Markt austauschen.

Im Kapitalismus nun, so Benjamin, fallen – wie die Bedeutung und das Zeichen bei der Allegorie – der Gebrauchs- und der Tauschwert bei der Ermittlung des Werts einer Ware auseinander, das heißt es zähle nur der Preis: der Gebrauchswert werde hier völlig irrelevant insofern, als seine Bedeutung vom Tauschwert, also dem Preis, komplett ausgehöhlt wird. Dadurch aber werde die Ware, Marx folgend, zum Fetisch, zu einem übersinnlichen, seelenlosen, toten Ding gewissermaßen: Ein hergestelltes Produkt wie beispielsweise ein Tisch, erklärt Marx, ist zunächst einmal nichts anderes als „ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding.“ Die Produkte der Warentauschgesellschaft werden nun dadurch zu übersinnlichen Mystifikationen, Fetischen, dass das an ihnen Menschliche, mithin das Sinnliche, Lebendige, getilgt ist. In dem Augenblick, wo Produkte zu käuflichen Waren werden, verschwindet der Gebrauchswert hinter dem Preis, schiebt sich das Preisetikett zwischen das Subjekt und das Produkt, sodass es in der Ware nicht mehr die Signatur seiner menschlichen Arbeit erkennt. Genau hierin, so Erich Fromm, liegt auch die Erfahrung der Entfremdung begründet: „Natürlich hat Marx niemals eine systematische Psychopathologie entwickelt, doch spricht er von einer Form der seelischen Verkrüppelung, die für ihn eine ganz grundlegende Äußerung von seelischer Krankheit ist und deren Überwindung der Sozialismus anstrebt: die Entfremdung“, erklärt Fromm. Das Wesentliche dieses Begriffs sei, „daß die Welt (die Natur, die Dinge, die anderen Menschen und der Mensch selbst) dem Menschen fremd geworden ist, er erlebt sich selbst nicht als Subjekt seiner eigenen Handlungen, als denkende, fühlende und liebende Person, sondern nur in den von ihm geschaffenen Dingen, als Objekt der veräußerlichten Manifestationen seiner Kräfte.“

Nun wird für Benjamin im Kapitalismus alles zur Ware: „Die gegenständliche Umwelt des Menschen nimmt immer rücksichtsloser den Ausdruck der Ware an“, schreibt er. „Gleichzeitig geht die Reklame daran, den Warencharakter der Dinge zu überblenden“, ihn zu ästhetisieren und gleichsam zu verhüllen. Wie ein undurchdringlichen „Schleier“, so Benjamin, der „die Gesetze der Ausbeutung“ des kapitalistischen Arbeitsprozesses – und damit den Blick in die Hölle – verhüllt, schiebt sich so ein Art schöner Schein zwischen die Ware und die Menschen. Die Ästhetisierung der Ware diene so der Verschleierung der Tatsache, dass die unmittelbaren Lebensbedürfnisse der Menschen hier eben nicht der bestimmende Zweck der Produktion sind, sondern allein der Verkauf, wie Wolfgang Fritz Haug in seiner „Kritik der Warenästhetik“ (1971) erklärt: „Die Warenproduktion setzt sich zum Ziel nicht die Produktion bestimmter Gebrauchswerte als solcher, sondern das Produzieren für den Verkauf. (…) (B)is zum Abschluß des Verkaufsaktes … spielt der Gebrauchswert nur insofern eine Rolle, als der Käufer ihn sich von der Ware verspricht. Vom Tauschwertstandpunkt aus kommt es bis zum Schluß, nämlich dem Abschluß des Kaufvertrags, nur aufs Gebrauchswertversprechen seiner Ware an. Hier liegt von vornherein ein starker, weil ökonomisch funktioneller Akzent auf der Erscheinung des Gebrauchswerts, der, den einzelnen Kaufakt betrachtet, tendenziell als bloßer Schein eine Rolle spielt. Das Ästhetische der Ware im weitesten Sinne: sinnliche Erscheinung und Sinn ihres Gebrauchswerts, löst sich hier von der Sache ab. Schein wird für den Vollzug des Kaufakts so wichtig – und faktischer wichtiger – als Sein. Was nur etwas ist, aber nicht nach `Sein´ aussieht, wird nicht gekauft. Was etwas zu sein scheint, wird wohl gekauft. Mit dem System von Verkauf und Kauf tritt auch der ästhetische Schein, das Gebrauchswertversprechen der Ware als eigenständige Verkaufsfunktion auf den Plan.“

Die Zerstörung des schönen Scheins – besonders hierin verortet Benjamin das Potenzial der Allegorie bei Baudelaire: „Die trügerische Verklärung der Warenwelt widersetzt sich ihre Entstellung ins Allegorische“, schreibt Benjamin in diesem Zusammenhang. Insbesondere die „poetische Isolierung“ und die „Überblendung“ erkennt er dabei als Techniken, mit denen Baudelaire die Dinge aus ihrer Warenförmigkeit entreißt. Die „poetische Isolierung“ erkennt Benjamin daran, dass die allegorische Abstraktion bei Baudelaire nicht allein inhaltlich geschieht, sondern auch formal, durch die Verwendung von Majuskeln, hervorgehoben ist. Wo im Französischen alle Substantive klein geschrieben werden, versperrt sich in den Gedichten Baudelaires das Vokabular – le Mal (das Böse), la Mort (der Tod), la Prostitution, le Souvenir, l`Ennui (die Langeweile), mon Désir (mein Begehren), la Nature (die Natur) oder auch le Soleil (die Sonne) tauchen unvermittelt auf – dem Sprachfluss und damit auch jeder zeitlichen Kontinuität, mithin dem geschichtlichen Fortschritt. „Plötzlich und durch nichts vorbereitet“, wie Benjamin schreibt, erscheint dann eine Allegorie inmitten des geläufigen Vokabulars. Ihre Verwendung geschieht, „ohne System“, wie bei einem durcheinander geratenen Wörterbuch, wo die Begriffe – ohnehin schon isoliert und aus ihrem Zusammenhang gerissen – völlig disparat neu angeordnet werden.

Die Allegorie als „Überblendung“ setzt Baudelaire – wie später der Film – ein, um Phänomene aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus zu reißen und sie in ein zeitlich anderes, aber ähnliches Bedeutungsumfeld zu setzen. So lassen sich frappante Analogien beziehungsweise „unsinnliche Ähnlichkeiten“ zwischen verschiedenen Epochen darstellen, die einen neuen Blick auf die Geschichte zulassen (weshalb man in diesem Zusammenhang auch von allegorischer Geschichtsschreibung spricht).

Neben diesen progressiven Techniken der allegorischen Abstraktion gibt es bei Baudelaire aber auch noch eine allegorische Figur, an der Benjamin eine regressive Tendenz aufzeigt – wie sich in der Ware fortwährend auch Mythologie materialisiert, wie die Geschichte unentwegt mythologisch aufgeladen wird: die zur Ware gewordene Frau, die Prostituierte. Sie ist, wie Benjamin schreibt, „Verkörperung der Ware“ und „menschgewordene Allegorie“, das heißt „(i)m entseelten, doch der Lust noch zu Diensten stehenden Leib vermählen sich Allegorie und Ware“. Die Prostitution ist ein ökonomischer „Massenartikel“ und unterliegt insofern auch der nivellierenden Warenform, wie Benjamin schreibt: „Unter der Herrschaft des Warenfetischs tingiert sich der sex-appeal der Frau mehr oder minder mit dem Appell der Ware.“

Vielleicht nirgends deutlicher als an der Prostituierten zeigt sich insofern zunächst, welche menschenverachtenden Implikationen der kapitalistischen Warenwirtschaft innewohnen, indem die Warenform sogar den Körper kolonisiert. Die Prostitution steht für Benjamin dabei stellvertretend für das Proletariat, wenn er schreibt: „Die Prostitution kann in dem Augenblick den Anspruch erheben als `Arbeit´ zu gelten, in dem die Arbeit Prostitution wird.“ Nun geht es Benjamin hierbei allerdings nicht darum, die Prostituierte für den Klassenkampf zu mobilisieren. Entscheidender ist für ihn nämlich vielmehr, dass sie gerade „nicht ihre Arbeitskraft verkauft; ihr Gewerbe führt aber die Fiktion mit sich, daß sie ihre Genußfähigkeit verkaufe.“ Über die Kolonialisierung und Ökonomisierung des weiblichen Körpers hinaus, gehört zur Prostitution insofern auch die Evokation von so etwas wie Genuss bei den auf diesen Körper gerichteten Fantasien – das ist ihr Gebrauchswertversprechen sozusagen, mit dem dann gewissermaßen auch die Mythologie in der Moderne wieder kehrt. Denn dieses Versprechen übersteigt die reine Warenförmigkeit der Beziehung zwischen der Prostituierten und ihrem Kunden – und es zeigt sich, dass in die Ware immer auch die Traum- und Wunschpotenziale einer Gesellschaft, ihre Phantasmagorien, eingearbeitet wurden.

Benjamin greift hier auf einen Gedanken von Karl Marx über das Verhältnis von Warenseele und Liebesblick zurück, demzufolge das Erlebnis der Ware und das Erlebnis des Kunden exakt ineinandergreifen. Wolfgang Fritz Haug bemerkt in diesem Zusammenhang: „Wenn Marx einmal bemerkt, `die Ware liebt das Geld´, dem sie mit ihrem Preis als `mit Liebesaugen winkt´, so bewegt die Metapher sich auf sozialgeschichtlichem Grund. Denn eine Gattung der starken Reize, mit denen die Produktion von Waren zum Zwecke der Verwertung operiert, ist die der Liebesreize. Dementsprechend wirft eine ganze Warengattung Liebesblicke nach den Käufern, indem sie nichts anderes nachahmt und dabei überbietet, als deren, der Käufer, eigne Liebesblicke, die die Käufer wiederum werbend ihren menschlichen Liebesobjekten zuwerfen.“

Für den Kunden geht es darum, sich Liebe oder wenigstens Genuss zu kaufen, für die Prostituierte darum, sich in den Kunden als Geld einzufühlen, indem sie Einfühlbarkeit verkauft. Benjamin greift diesen Gedanken von Marx auf und arbeitet ihn seinerseits zu einem dialektischen „Schema der Einfühlung“ um, über das er in einer Anmerkung schreibt: „Es ist ein doppeltes. Es umfaßt das Erlebnis der Ware und das Erlebnis des Kunden. Das Erlebnis der Ware ist die Einfühlung in den Kunden. Die Einfühlung in den Kunden ist die Einfühlung in das Geld. (…) Das Erlebnis des Kunden ist die Einfühlung in die Ware. Einfühlung in die Ware ist die Einfühlung in den Preis (den Tauschwert).“

Benjamin geht es hier darum, zu zeigen, dass bei Baudelaire die Prostituierte „als (die) die allegorische Anschauung am vollkommensten erfüllende Ware“ erfasst wird, wie Benjamin schreibt. Er rückt dabei das Psychologische der Marx`schen Bemerkung auf die Prostituierte als Ware: von ihrem Begehren geht es aus. Es ist also nicht so, wie es scheint, dass nämlich die Menschen sich Waren aneignen, sondern vielmehr umgekehrt so, dass diese sich über den Umweg des Geldes den Menschen aneignen, indem sie ihm als phantasmagorisches Gebrauchswertversprechen zu Diensten stehen. So findet die Warenform im Sexualobjekt schließlich ihre fetischistische Personifikation, oder wie Benjamin bemerkt: „Die Ware sucht sich selbst ins Gesicht zu sehen. Ihre Menschwerdung feiert sie in der Hure.“

Die Ware, die sich selbst ins Gesicht sieht – Ist das Schema der Einfühlung vom Augen-Blick bestimmt, so besitzt die Frau als Ware bei Baudelaire Augen, denen das Vermögen zu blicken verloren gegangen ist: „Er ist blicklosen Augen verfallen und begibt sich ohne Illusion in ihren Machtbereich“, schreibt Benjamin über Baudelaire, der sich in diesem Sinn der Warenförmigkeit ausliefert. Hierin liegt auch Baudelaires Melancholie begründet – und begreift man diese blicklosen Augen als jenen bodenlosen Abgrund, der sich vor Baudelaire auftut, dann fehlt diesen Augen insbesondere der Blick in die Sterne im Sinne einer „träumerischen Verlorenheit an die Ferne“, wie Benjamin schreibt. „In der Symbolik der Völker kann die Ferne des Raumes für die der Zeiten stehen. Daher die Sternschnuppe, welche in die unendliche Ferne der Zeiten stürzt, und zum Symbol des erfüllten Wunsches geworden ist.“ Baudelaires Abgrund, so Benjamin, „ist der sternenlose. In der Tat ist die Lyrik von Baudelaire die erste, in der die Sterne nicht vorkommen.“

In den Augen der Prostituierten, in der Phantasmagorie der Waren, wie sie von Baudelaire immer wieder beschworen wird – in ihnen ist aller „Zauber der Ferne“ erloschen. Genau deshalb aber bleibe Baudelaire letztlich – trotz des subversiven Potentials der poetischen Allegorie – im kapitalistischen System der Warenproduktion verhaftet und ziele nicht auf dessen revolutionäre Sprengung: „Der destruktive Impuls Baudelaires ist nirgends an der Abschaffung dessen interessiert, was ihm verfällt“, schreibt Benjamin über den Verfasser der „Blumen des Bösen“ und ergänzt in der IV. geschichtsphilosophischen These: „Der Klassenkampf, der einem Historiker, der an Marx geschult ist, immer vor Augen steht, ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellen gibt. Trotzdem sind diese letzteren im Klassenkampf anders zugegen denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig, und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück. Sie werden immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen. Wie Blumen ihr Haupt nach der Sonne wenden, so strebt, kraft eines Heliotropismus geheimer Art, das Gewesene der Sonne sich zuzuwenden, die am Himmel der Geschichte im Aufgehen ist. Auf diese unscheinbarste von allen Veränderungen muß sich der historische Materialist verstehen.“

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Schon in Zusammenhang mit seiner früheren Auseinandersetzung mit Bertolt Brecht hat Benjamin erklärt, „daß es für den Kapitalismus gut ist, wenn er sich eine gewisse Rückständigkeit bewahrt“. Er tut das insbesondere mit der Ästhetisierung der Ware, wo die Verschmelzung von Kapital und Mythos (im phantasmagorischen Gebrauchswertversprechen) in der attraktiv verhüllten Ware objektiv nicht zur Befriedigung der Bedürfnisse der Arbeiter und Arbeiterinnen, der Verbesserung ihrer prekären Lage, und auch nicht der Realisierung von Humanitätsidealen wie Freiheit oder Gerechtigkeit dient, sondern allein dem Profitinteresse einiger weniger und der Tarnung und Bewahrung der Privilegienstruktur der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Genau gegen diese Diskrepanz richtet sich Benjamins Kritik – und genau dagegen, gegen die ungerechte Verteilung des Wohlstands, richteten sich auch in Chile bereits 2011 erste Proteste.

Schon damals begannen sich erste Risse in der während der Diktatur errichteten Mauer des Schweigens zu bilden, dann jedoch bringt eine Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr im Oktober 2019 die Unzufriedenheit in der Gesellschaft zur Explosion und sprengt diese Mauer. Die lange aufgestaute Wut und Empörung entfesselten sich nun und eskalierten zu einem Straßenkampf, als die Polizei damit begann, den Protest gewaltsam zu unterdrücken. Patricio Guzmán ist dieses Mal zwar „nicht vor Ort, um die erste Flamme zu filmen“, erklärt er in seinem jüngsten Dokumentarfilm Mein imaginäres Land (2022), als er dann aber mit seiner Kamera in Chile ankommt, liegen überall auf der Straße „die Steine der Kordilleren. Sie sind überall zerstreut, und es sind viele, als hätte es hier Steine geregnet.“ Die Fotografin Nicole Kramm, die bei diesen Kämpfen ein Auge verloren hat, erklärt: „Das waren die Waffen des Volkes, Steine. Sie zerschlugen den Asphalt mit dem Hammer, schlugen drauf, bis sich die Steine lösten, denn sie waren ihre einzige Waffe.“

Als der Präsident erklärte, man befinde sich in „einem Krieg“, schlossen sich dem Protest über eine Million Menschen an, die sich in diesen Tagen im Stadtzentrum von Santiago versammelten – der Protest wurde zum Volksaufstand. Auch die Studentin Catalina Garay hatte sich auf den Weg gemacht: „Es war sehr seltsam in einer U-Bahn-Station zuzusteigen und in einem ganz anderen Chile wieder auszusteigen. (…) Wir kämpfen für das, was uns zusteht, nämlich die Würde.“ Rasch wurde der Versammlungsort im Zentrum der Stadt in „Platz der Würde“ umbenannt – und aus dem Kampf entwickelte sich der größte Volksaufstand in der Geschichte des Landes. Die Schriftstellerin Nona Fernández sagt dazu in Guzmáns Dokumentation: „`Ausbruch´ trifft es nicht genau, es war wie eine Erlösung: rausgehen, sich ausdrücken, es hinausschreien. (…) Wie wenn die Seele in den Körper zurückkehrt: Wow, wie eigenartig, ich bin entflammt. Wir sind entflammt.“

Wir – das sind insbesondere die Frauen. Sie sind es – es gibt weder eine organisierende Instanz noch eine Hierarchie – die den Protest tragen: „Diese Bewegung trägt das Gesicht und die Stimme der Frau“, sagt die Jounalistin Mónica González. Entsprechend kommen in Guzmáns Dokumentarfilm auch nur sie zu Wort – zum Beispiel Sibila Sotomayor vom Colectivo Las Tesis: „In Chile dauert der soziale Aufstand schon ein Jahr. Er ist massiv. Eine Revolte (…)Wir wollen mit dem System brechen, das uns in eine zutiefst unmenschliche, prekäre Lage gebracht hat. Die Menschen auf der Straße verlangen … eine verfassungsgebende Versammlung. (…) Symbolisch gesehen ist das ein wichtiger erster Schritt, weil es wirklich hart ist, immer noch in einem Land zu leben, das nach Gesetzen einer Militärdiktatur regiert wird und wir die direkten Konsequenzen tragen von jener schrecklichen Zeit in unserer Geschichte. (…) Es geht um einen soziokulturellen Wandel. Deshalb sagen wir auch immer, dass die Forderungen des sozialen Aufstands, der Revolte, auch feministisch sind. Weshalb die Lösungen aus einer feministischen Perspektive heraus angegangen werden sollten.“

Für Benjamin ist klar, wie er in der XII. geschichtsphilosophischen These schreibt: „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt.“ Er lässt hier offen, wen genau er im Sinn hat, Hauptsache man hat „den Haß wie den Opferwillen“ nicht verlernt. Dezidiert nicht ausgeschlossen sind jedenfalls die Frauen, auch wenn es sich bei ihnen per definitionem nicht um eine soziale Klasse handelt. Am Ende steht bei Benjamin ohnehin die befreite, klassenlose Gesellschaft, ganz abgesehen davon , dass Sibila Sotomayor solche Spitzfindigkeiten sowieso egal sind: „Wir möchten endlich leben, statt nur überleben. (…) Also wenn es nach uns geht, soll das neoliberale System lichterloh brennen, soll das Patriarchat licherloh brennen und all die üblen Institutionen, die die Situation zementiert haben, in der wir heute sind. (…) Solange nicht alle Unterdrückungsmechanismen ausgemerzt sind, werden wir immer die gleichen Probleme haben. So einfach ist das. Weil es ein sehr perverses System ist …“

… dessen kolonisierenden Blicken sich die Frauen des Colecitvo Las Tesis, wie Justitia, mit schwarzen Augenbinden entziehen, emanzipieren, die sie bei der Aufführung ihres Gedichts „Der Vergewaltiger bist du!“ tragen: „Das Patriarchat ist ein Richter, / der uns bei unserer Geburt verurteilt. / Und unsere Strafe ist die Gewalt, die du nicht siehst. // Das Patriarchat ist ein Richter, / der uns bei unserer Geburt verurteilt. / Und unsere Strafe ist die Gewalt, die du bereits siehst: // Die Strafe ist der Femizid, die Straffreiheit für meinen Mörder, / sie ist das Verschwinden, sie ist die Vergewaltigung. // Und schuld war weder ich, / noch wo ich war / oder wie ich angezogen war! // Der Vergewaltiger warst du! // Es sind die Bullen, / die Richter, / der Staat, / der Präsident! // Der Unterdrückerstaat ist ein vergewaltigender Mann! / Der Vergewaltiger bist du!“

Die erste Aufführung des Gedichts wurde von der Polizei mit Tränengas aufgelöst, wie man im Abspann der Aufzeichnung noch sehen kann; bei der Wiederholung ein paar Tage später haben sich bereits hunderte(!) Frauen vor dem Estadio Nacional de Chile – dem Stadion in Santiago, das nach dem Putsch für mehr als drei Monate als Konzentrationslager und Folterstätte genutzt wurde (mehr als 40.000 Gefangene, auch Patricio Guzmán, wurden hier festgehalten) – versammelt. Gerade auch wegen diesen ungeheuren Menschenmassen auf der Straße, setzte der Präsident nun das Militär ein, das die Demonstrant*innen dann mit Kriegswaffen attackierte.

„Ich hatte es außer unter der Militärregierung nie erlebt, dass ein Staatschef auf die Armee zurückgreift, um einen sozialen Konflikt zu lösen“, kommentiert Guzmán die Situation. „Als Chilene erinnert mich das Militär auf den Straßen an den Staatsstreich.“ Wieder setzt der Staat also auf brutale Gewalt – und wieder gibt es Tote und etwa 12.000 Verletzte, darunter etwa 2.000 mit Schussverletzungen. Wieder tut man den Menschen „Leid fürs Leben“ an, wie Nicole Kramm im Hinblick auf ihre Verletzung sagt. Als ob sich nichts geändert hätte: „Die Unterdrückung ist so brutal, dass sie Wut und Verzweiflung auslöst“, sagt Guzmán. „Ich sorge mich um den Ausgang dieses Kampfes. Wer wird zu den Verlierern und wer zu den Siegern gehören?“

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„Es herrscht immer noch ein Ausmaß an Gewalt, das vorher nicht an die Oberfläche kam“, sagt die Politikwissenschaftlerin Claudia Heiss in Guzmáns Dokumentation dazu. „Ich glaube, es zeigt auch klar unser Problem mit der Polizei, das nicht neu ist. Das hat nichts mit der Revolte zu tun, sondern ist ein altes Problem. Sichtbar an der militärischen Art, mit der der Protest unterdrückt wird. (…) Es gibt eine komplette Spaltung zwischen Streitkräften und ziviler Bevölkerung. Es gibt keine staatliche Kontrolle, des Staates Chile, über das, was in der Militärakademie gelehrt wird oder bei der Polizei. Da sind noch Probleme von der Diktatur begraben. Ich glaube, dass wir heute, mit der Revolte und dem Polizeigebaren den Preis dafür zahlen, die geerbten Probleme der Diktatur nicht anerkannt und geregelt zu haben.“

Von der Diktatur begraben – Tatsächlich wurden zahllose Folteropfer während der Diktatur in der Atacamawüste verscharrt. Es handelt sich um die sogenannten Desaparecidos, die Verschwundenen, die von den Militärs heimlich verhaftet oder entführt und anschließend gefoltert und ermordet wurden. Offiziellen Zahlen der Regierung zufolge sind 1.094 Personen während der Diktatur verschwunden, vermutlich aber sind es wesentlich mehr. Die Leichen von mehr als 3.000 Opfern, so erklärt jedenfalls Guzmán in Nostalgie des Lichts, wurden beseitigt, indem man sie anonym irgendwo in der Wüste verscharrte und dem Vergessen anheim gab. Bewusst ließ man die Angehörigen über das Verschwinden dieser Menschen und ihr Schicksal im Unklaren – das gehörte als Teil des Unterdrückungssystems zu einer Strategie, die den zu vernichtenden Feind als inmitten der Gesellschaft (enemigo interno) definierte, sodass dieser Begriff letztlich abgelöst von einem klar definierten Gegner auf praktisch die gesamte Bevölkerung ausgedehnt wurde und sich entsprechend niemand mehr sicher fühlen konnte.

Da die Ermordung in der Regel streng geheim gehalten wird und staatliche Behörden jegliche Beteiligung bis heute abstreiten, verbleiben die Verwandten oft jahrelang in einem verzweifelten Zustand zwischen Hoffnung und Resignation, obwohl die Opfer häufig bereits kurze Zeit nach ihrem Verschwinden getötet wurde. Damit man ihre Leichen nicht findet, wurden sie später allerdings aus ihrem ursprünglichen Grab exhumiert und dann in der Weite der Atacamawüste ein zweites Mal verscharrt. Noch heute suchen die Angehörigen– auch hier sind es vor allem Frauen – verzweifelt nach den Überresten der Verschwundenen, um sie ordentlich bestatten zu können. Sie wollen eine letzte Ruhestätte für sie.

Viele konnte man tatsächlich schon finden, aber über 1.200 sind noch immer Verschwunden. Oft allerdings findet man von den Opfern überdies nur noch Bruchstücke, die nicht mehr einzelnen Menschen zugeordnet werden können – und die deshalb bis heute in hunderten Kartons in irgendwelchen Archiven in Santiago lagern. Ein Archäologe, der die Hinterbliebenen bei der Exhumierung der Knochen unterstützt, erklärt in Guzmáns Nostalgie des Lichts: „Bei ihrer Suche in der Wüste entdeckten sie etwas sehr Merkwürdiges … winzige Teile menschlicher Knochen. Ein Experte bestätigte ihnen, dass es menschliche Knochen waren. Aber es waren keine Skelette. Es waren Bruchstücke von einem Schädel, von einem Fuß, vielleicht Splitter von einem langen Knochen. Als sie uns an den Fundort brachten, wurde uns Archäologen klar, dass die Erde [mit einem Bagger] umgegraben worden war. (…) Die Körper von Calama wurden auf höchsten Militärbefehl ausgegraben. Aber es fielen auf der rechten Seite [der Baggerschaufel] die Schädelreste herunter und auf der linken Seite die Füße. (…) Die Körper wurden dann weggeschafft und man weiß bis heute nicht, wo sie sind. Aber dieser LKW hatte einen Fahrer. Dieser LKW hatte Soldaten, um die Körper auszuladen. Und am allerwichtigsten, der LKW war Teil eines Kommandos, einer Militärabteilung mit militärischen Befugnissen. Es ist an ihnen, die Informationen herauszugeben, damit die Freunde von Calama ihre Toten begraben können, wie es sich gehört.“

Bis heute aber finden die Knochensucherinnen der Atacamawüste – an vielen Orten gab es Gruppen suchender Frauen – keine gesellschaftliche Unterstützung, noch nicht einmal wirklich Verständnis. Gerade weil noch immer stets neue Opfer auftauchen – und mit ihnen alte Wunden aufgerissen werden. Bei Guzmán kommen sie zu Wort. Auch ohne explizite Bilder ist die Gewalt der Diktatur so ständig präsent. Sie wirkt bis heute tief bei diesen Frauen nach – ist nach wie vor unabgeschlossen und unverarbeitet, bewältigt ohnehin nicht. Violeta Berrios erzählt: „Ich habe viele Fragen und kann sie mir nicht beantworten. (…) In meinem Alter, ich bin 70, fällt es mir schwer, an etwas zu glauben. Sie haben mich gelehrt, an nichts zu glauben. (…) Manchmal denke ich, ich bin eine Idiotin, die nur Fragen über Fragen stellt. Und niemand gibt mir am Ende die Antwort, die ich erwarte. (…) Aber die Hoffnung gibt viel Kraft (…) und der Wunsch sie zu finden ist noch stärker.“

Eigentlich obliegt dem Staat die Verantwortung für die Suche nach den Verschwundenen – und tatsächlich hat Gabriel Boric, der seit März 2022 Präsident in Chile ist und sich in der Tradition Allendes sieht, erstmals einen Plan de Búsqueda angekündigt, eine staatliche Suchaktion. „Uns treibt nicht der Groll an, sondern die Überzeugung, dass wir nur eine freiere Zukunft aufbauen können, die das Leben und die Menschenwürde respektiert, wenn wir die ganze Wahrheit kennen“, sagte er bei der Vorstellung des Suchplans. Es ist das erste Mal, dass eine Regierung offiziell die Umstände des Verschwindens der Opfer aufklären und Wiedergutmachung betreiben will. Aber die Widerstände dagegen sind groß, denn auch Jahrzehnte nach der Diktatur ist der kritische Blick auf diese Zeit keineswegs Konsens in einer chilenischen Gesellschaft, in der die Rechte erneut erstarkt ist und auch rechtsextreme Parteien an der aktuellen Regierung beteiligt sind. Umfragen von 2023 zufolge sind tatsächlich ein Drittel der Chilenen und Chileninnen der Meinung, dass die Militärs damals „im Recht“ waren – während die Angehörigen der Opfer bis heute unter der Geschichte leiden und bislang vergeblich auf eine klare Benennung der Täter warten, selbst wenn die bereits gestorben sind.

Und so bleiben die Desaparecidos wohl eine Narbe im kollektiven Gedächtnis des Landes, die bis heute schmerzt. Denn, wie der Archäologe sagt, „wenn mein Kind erschossen worden wäre (…) ich könnte das nicht vergessen. Ich wäre moralisch verpflichtet, das Andenken zu bewahren. Es ist nicht möglich, unsere Toten zu vergessen. Man muss sie in Erinnerung behalten. Die Justiz muss ihre Arbeit machen können. Sämtliche Menschenrechtsorganisationen müssen ihre Arbeit tun dürfen. (…) Aber eine Tragödie dieser Art vergessen? Das ist absolut unmöglich.“ Wie für Antigone, deren Brüder sich beim Kampf um die Herrschaft gegenseitig getötet haben und der König Kreon nun verbietet, den Leichnam des Angreifers zu bestatten, wie Sophokles schreibt: „Das Brüdergrab – was hat uns Kreon draus gemacht? / Gewährt`s dem einen und versagt`s dem anderen! / Eteokles, so heißt es, hat er beigesetzt (…) / Des Polyneikes armer Leichnam aber darf – / ja, dies Verbot soll in der Stadt verkündet sein – / niemand im Grabe bergen, hell bejammern gar; / nein, keine Träne ihm, kein Grab! (…) – jedem Täter droht / Mord durch den Volkszorn: öffentliche Steinigung! (…) Ob du wohl Hand in Hand mit mir den Leichnam trägst? (…) er bleibt für mich und dich, sträubst du dich auch, / der Bruder! Niemand nenn mich je Verräterin! (…) Nein, denke, was du willst! Ihn aber werde ich begraben. Schön dünkt mich für solches Tun der Tod. Einander lieb ruhn wir vereint (…) Erst wenn die Kräfte mir versagen, geb ich`s auf.“

Wer Gerechtigkeit will, der darf bei seinem Kampf dafür die Hoffnung nicht verlieren – und muss versuchen, „die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen“, wie Benjamin in seiner VI. geschichtsphilosophischen These schreibt. „Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“

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In dem Gedanken, dass nur die Rückwendung in die Vergangenheit die Zukunft befördere, liegt der geschichtsphilosophische Impuls von Benjamin. Er betont in diesem Zusammenhang jedoch die Notwendigkeit, sich insbesondere auch das in der bisherigen Geschichtsschreibung Unabgegoltene zu vergegenwärtigen – die Würdigung der dem Vergessen anheimgegebenen namenlosen Opfer der sozialen Katastrophen, der Toten der Vergangenheit. Ansonsten werde weiterhin nur jene Geschichte erzählt und tradiert, die ihre Gewalttätigkeiten verdrängt oder beschwichtigend in ihren Fortschrittsglauben eingearbeitet hat. Das meint Benjamin, wenn er schreibt: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es `so weiter´ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.“

Die Geschichtsschreibung, die Benjamin im Sinn hat, drängt auf eine Unterbrechung des weiter so – und genau auf eine solche Unterbrechung zielt auch, auf einer individuellen Ebene, sein Begriff des Eingedenkens. Wie bei der Geschichtsschreibung auf sozialer Ebene, geht es Benjamin beim Eingedenken darum, in der Vergangenheit das geschichtlich Unabgegoltene aufzuspüren – und zwar, wie die Knochensucherinnen der Atacamawüste, durchaus grabend: Das Eingedenken gleicht für Benjamin der archäologischen Ausgrabung, wie er schreibt, denn „(d)ie Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument für die Erkundung des Vergangnen ist, vielmehr das Medium. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. (…) Und gewiß ist’s nützlich, bei Grabungen nach Plänen vorzugehen. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich in’s dunkle Erdreich.“ Das vergebliche Suchen gehört dazu so gut wie das glückliche.

Erinnerung wird so zu einer Art Archäologie. Anders allerdings als bei ausgegrabenen Artefakten, die womöglich dauerhaft in einem Museum ausgestellt werden, sind die beim Akt des Eingedenkens unvermittelt auftauchenden Bilder immer vergänglich, wie Benjamin in der V. geschichtsphilosophischen These schreibt: „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. (…) Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht in ihm gemeint erkannte.“

In ihm gemeint – Anders als die bloße Erinnerung, die einem plötzlich und ungeplant widerfährt, ist das Eingedenken stets mit einem persönlichen Interesse verbunden, weshalb die Intention – die immer auch eine These über den inneren Zusammenhang der geschichtlichen Ereignisse ist – auch am Beginn des Eingedenkens steht. Zu behaupten, man gebe die Geschehnisse der Vergangenheit objektiv wieder, ist immer schon ideologisch – gerade deshalb aber es geht es auch gar nicht um die Erfassung einer „Masse von Daten“, nicht darum, zu erkennen „wie es denn eigentlich gewesen ist“, wie Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen schreibt, sondern um einen Akt, in den eigene Erfahrungen in die Erinnerung einfließen.

Die Bedeutung dessen, auf was man bei der Grabung stößt, erschließt sich erst im Hinblick auf das persönliche Interesse. Denn „der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht“, schreibt Benjamin. Umso wichtiger aber ist es dann, zu erklären, von welchem Standpunkt aus man auf die Vergangenheit blickt: Man müsse, so Benjamin, „im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen (können), an denen er das Alte aufbewahrt. So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren.“

Benjamin spricht in Zusammenhang mit dem interessegeleiteten Blick auf die Geschichte auch von einer kopernikanischen Wendung. Er richtet sich damit gegen das Prinzip der Kausalität, mit dem Geschichte von der persönlichen Erfahrung der Subjekte abgetrennt wurde – und lässt sie so erst zu ihrem Recht kommen. Benjamin schreibt: „Die kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung ist diese: man hielt für den fixen Punkt das `Gewesene´ und sah die Gegenwart bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll sich dieses Verhältnis umkehren …“ Im Eingedenken wird ihm zufolge die Gegenwart durch die Vergangenheit hergestellt, wie sie umgekehrt aber diese Vergangenheit erst herstellt.

Darin liegt der Unterschied: Während die traditionelle Geschichtsschreibung versucht „das `ewige´ Bild der Vergangenheit“ zu schreiben, kommt hier „eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht“ zum Ausdruck. Geschichte wird gewissermaßen persönlich – je nach These wird eine bestimmte Vergangenheit als relevant erkannt. Und gerade dies, dass in einem bestimmten Moment eine bestimmte Vergangenheit Bedeutung erhält, markiert ihn in seiner Einmaligkeit. Diese Erfahrung nun in ihrer Einmaligkeit festzuhalten, ist Aufgabe des Eingedenkens. Denn, wie Benjamin in der XVI. geschichtsphilosophischen These schreibt: „Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten. Denn dieser Begriff definiert eben die Gegenwart, in der er für seine Person Geschichte schreibt.“

War Geschichte bislang, wie Benjamin in der XIII. geschichtsphilosophischen These schreibt, von „der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen“, und wurde die Gegenwart in diesem Verständnis einfach in einen anonymen, endlos fortschreitenden Geschichtsverlauf eingeschrieben, so wird Geschichte hier nun persönlich, wie Benjamin seine Thesen fortsetzt, und zum „Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von `Jetztzeit´ erfüllte bildet“. Bedeutung hat die Vergangenheit im Hinblick auf jenes Unrecht, dass fortan aufgehoben werden soll. Im vergegenwärtigenden Eingedenken fallen Vergangenheit und Gegenwart insofern in eins – sie koexistieren in der Jetztzeit, die Benjamin nun auch als messianische Zeit bezeichnet: So wie Gott der jüdischen Vorstellung nach mit dem Angelus Novus in jedem Augenblick „eine Unzahl neuer Engel schafft, die jeder nur bestimmt sind, ehe sie ins Nichts zergehen, einen Augenblick das Lob von Gott vor seinem Thron zu singen“ – ein Loblied darauf, wie sich alles entwickelt hat –, so erschafft sich Geschichte in dieser Vorstellung in der Jetztzeit jenen Zeitraum, in dem sich der Funke der Hoffnung entzündet – in dem die Engel ein Loblied auf das Kommende singen.

Die Zeit ist hier für einen Augenblick zum Stillstand gekommen, aber eine neue Zeitrechnung – und mit ihr die Einführung eines Revolutionskalenders – steht unmittelbar bevor. Womöglich hat Benjamin hier König Josua vor Augen – auch wenn er seine XV. geschichtsphilosophische These formuliert: „Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich.“ Josua war der König, unter dem die Israeliten nach dem Exodus aus Ägypten dem Alten Testament zufolge das Gelobte Land, Kanaan, erobert haben. Die Schilderungen im 10. Kapitel des Buches Josua (10,12-15) könnten Benjamin nun das Modell für seine These geboten haben. Zu dem Zeitpunkt, als sich dort nämlich der Sieg über die kanaanitischen Könige als rächende Gerechtigkeit der Israeliten abzeichnete, „redete Josua mit dem Herrn und sprach vor den Augen Israels: Sonne, steh still in Gibeon, und Mond, im Tal von Ajjalon. Und die Sonne stand still, und der Mond blieb stehen, bis die Nation Rache genommen hatte an ihren Feinden (…) fast einen ganzen Tag lang.“

Wie der Legende nach die Stillstellung der Zeit in der Jetztzeit hier der Funke war, der das Kommende initiierte, so war es für Konstantin an der Milvischen Brücke das signum crucis, das ihm in einer Vision als untrügliches göttliches Siegeszeichen am Himmel erschien. Das Kreuzzeichen enthielt das Christusmonogramm (Chrismon), bei dem der Name „Christus“ mit seinen griechischen Anfangsbuchstaben: einem „X“ für „Chi“ über einem „P“ für „Ro“, abgekürzt war – und erschien Konstantin insofern als Abbreviatur, die Gottes Anwesenheit anzeigte und ihm nun zum schützenden Feldzeichen wird. So zieht Konstantin also im Namen Gottes, im Zeichen des Kreuzes, in den Kampf …

Juden, Christen – Liest man beide Passagen mit Benjamin geht es um die eine Geschichte: den in der Jetztzeit empfangenen Funken der Hoffnung als Initialzündung für den Befreiungsschlag der gesamten unterdrückten Menschheit – den Urknall der Geschichte sozusagen. Denn für Benjamin ist das eine Universalgeschichte, wenn er in der XVIII. geschichtsphilosophischen These schreibt: „`Die kümmerlichen fünf Jahrzehnte des homo sapiens´, sagt ein neuerer Biologe, `stellen im Verhältnis zur Geschichte des organischen Lebens auf der Erde etwas wie zwei Sekunden am Schluß eines Tages von vierundzwanzig Stunden dar. Die Geschichte der zivilisierten Menschheit vollends würde, in diesen Maßstab eingetragen, ein Fünftel der letzten Sekunde der letzten Stunde füllen.´ Die Jetztzeit, die als Modell der messianischen in einer ungeheuren Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfaßt, fällt haarscharf mit der Figur zusammen, die die Geschichte der Menschheit im Universum macht.“

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„Woher kommen wir? Wo sind wir, und wohin gehen wir?“ fragt der Astronom Gaspar Galaz in Patricio Guzmáns Nostalgie des Lichts, und fährt fort: „`Woher kommen wir?´ ist dann eine zentrale Frage, die sich natürlich mit der Frage nach menschlicher Kultur überhaupt stellt. Auch wenn Religion zum Beispiel heute in der Wissenschaftskultur etwas ist, das streng von der Wissenschaft getrennt wird, sind die grundsätzlichen Fragen der Menschheit ihrem Ursprung und ihrer Motivation nach religiöser Natur. (…) Am Ende geht es doch darum, den Ursprung der Menschheit zu finden und des Planeten und des Sonnensystems. Und wie eine Galaxie entsteht, und wie ein Planet, und wie ein Stern. All diese Fragen nach den unterschiedlichen `Geburtsstufen´ versuchen wir, die Astronomen, zu beantworten. Eine unendliche Geschichte. Die Herausforderung der Astronomen ist `der Ursprung von´.“

Gaspar Galaz arbeitet als einer von etwa hundert Astronomen in dem ab 1962 in der schier endlosen Ödnis der Atacamawüste im Norden Chiles errichteten European Southern Observatory (ESO). Etwa 16 europäische Staaten arbeiten dort heute zusammen und betreiben gemeinsam vier verschiedene Beobachtungsstationen in der Wüste: neben dem La-Silla-Observatorium, dem ersten der ESO, dem Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA), einem Radioteleskop, mit dem die Energie aufzeichnet, die beim Urknall entstanden ist, und dem Extremly Large Telescope (ELT), das mit 39 Metern Durchmesser und 978 Quadratmetern Fläche das größte Teleskop weltweit ist, gibt es noch das Very Large Telescope (VLT), mit dem auch Galaz arbeitet. Es ist die zweitälteste der vier Stationen und steht auf etwa 2.600 Meter Höhe auf dem Berg Cerro Paranal. Auf ihm hat man ein Plateau errichtet, auf dem die vier etwa 30 Meter hohen kuppelförmigen Schutzbauten stehen, in denen sich die leistungsstarken, etwa 53 Quadratmeter großen Spiegelteleskope mit einem Durchmesser von jeweils etwa 8,20 Meter befinden.

Die Wahl damals fiel auf Chile, weil die Luft nirgendwo auf der Welt ruhiger, klarer und trockener ist als hier in der Atacamawüste: Nach Westen sind es nur zwölf Kilometer bis zum kalten, praktisch immer unter Wolken liegenden Pazifik. Gen Osten erheben sich die bis zu 7.000 Meter hohen Andengipfel. Dieser Lage – eingezwängt zwischen kaltem Meer und hohen Bergen – verdankt die Atacama ihr weltweit einzigartiges Klima. Aufgrund der Höhe ist es Nachts auch in den Kuppeln des VLT mit zwölf Grad Celsius überraschend kalt. Hat das Teleskop genau die Temperatur der Umgebung, bilden sich Nachts nicht die gefürchteten Blasen wärmerer Luft, die durch die Hallen wabern und die Bilder unscharf machen. Eine Kühlung sorgt deshalb tagsüber dafür, dass das Teleskop dann optimal arbeitet.

Das VLT vergrößert bis zu hunderttausend Mal und sein Blick reicht Milliarden Lichtjahre weit hinaus ins All. Noch leistungsstärker und scharfsichtiger als die Weltraumteleskope Hubble und James Webb erlaubt dieses Teleskop in der Atacamawüste einen Blick in fast jeden Winkel der Milchstraße und weit darüber hinaus – in die Frühphasen des Kosmos. Die Fragen, die es beantworten soll, sind die Grundfragen der Astronomie, der Menschheit – und die haben sich seit Urzeiten kaum verändert: Woraus besteht der Kosmos? Wie ist das Universum entstanden? Welchen Platz nimmt die Menschheit darin ein?

Mit den Teleskopen des ESO wurden immer wieder auch Supernova-Explosionen in Milliarden Lichtjahren Entfernung beobachtet. Was die Teleskope dort verfolgt haben, legt nahe, wie Dirk Lorenzen schreibt, „dass der Stoff, aus dem unser Kosmos größtenteils besteht, ganz anders ist, als bisher vermutet. (…) Die Entdeckung ist im wesentlichen, dass 70 Prozent des Universums in einer Form vorhanden sind, die wir bis jetzt nicht gekannt haben. Das wird oft als Dunkle Energie bezeichnet. Die Dunkle Energie kommt zusätzlich zur Dunklen Materie hinzu.“ Zusammen entsprechen Dunkle Energie und Dunkle Materie, für die die Physik auch noch keine Erklärung hat, etwa 95 Prozent des Universums aus. „Irgend etwas beherrscht den Kosmos – und niemand weiß, was physikalisch dahinter steckt.“ Wie die Beobachtungen von Galileo Galilei vor 420 Jahren das heliozentrische Weltbild von Kopernikus bestätigten und damit das antike Weltbild stürzten, befindet sich die Astronomie heute wieder in einer Umbruchphase.

So unklar immer noch Vieles ist – in den vergangenen Jahren hat das VLT aber auch eine Unmenge an Daten geliefert. Seine Stärke ist dabei seine Vielseitigkeit: Die vier Teleskope verfügen über jeweils drei unterschiedliche Kameras und Messinstrumente. Man kann damit auch die Wellenlängen des eintreffenden Lichts in die Linien eines Spektrums überführen, die Rückschlüsse darüber zulassen, aus welchem Material ein beobachteter Himmelskörper besteht. Auch der Astronom George W. Preston befasst sich mit dieser Stellar-Spektroskopie und untersucht in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Zusammensetzung kosmologisch früher Sterne. In Guzmáns Nostalgie des Lichts erklärt er: „Wenn ich Vorlesungen halte, erkläre ich den Leuten immer, wie das Kalzium in ihren Knochen gemacht wurde. Und das ist die Geschichte unserer Anfänge. Ein Teil des Kalzium in meinen Knochen entstand kurz nach dem Urknall. Diese Atome sind immer noch da. Wir leben mit den Bäumen, den Sternen und den Galaxien. Wir sind Teil des Universums. Und das Kalzium in meinen Knochen war von Anfang an dabei.“

Die Geschichte unserer Anfänge – Wäre die Geschichte am Ende angekommen, wenn man die Teleskope umdrehen würde? „Ich hätte gerne, dass die Teleskope nicht nur in den Himmel sehen, sondern auch die Erde durchdringen“, sagt die Knochensucherin Violeta Berrios, „sodass wir sie finden. Wir würden die Wüste mit einem Teleskop durchkämmen. Zuerst dort, dann etwas weiter weg. Und am Ende den Sternen danken, dass wir sie finden. Das träume ich …“

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Unweit des Observatoriums findet man inmitten der unendlichen Leere der Atacamawüste die Ruinen von Chacabuco. Ursprünglich waren die verfallenen Gebäude eine Siedlung für die Arbeiter eines Bergwerks – dann aber wurde daraus das größte Konzentrationslager der Pinochet-Diktatur. Die Militärs mussten kein neues Lager errichten, weil sie die Zellen aus dem 19. Jahrhundert, „als Bergarbeit praktisch Sklaverei war“, wie Guzmán bemerkt, nutzen konnten. Sie mussten nur noch Stacheldraht anbringen – der aber nicht verhindern konnte, dass es hier eine Gruppe von Häftlingen gab, die verbotenerweise die Sterne beobachteten, die man in den klaren Nächten hier in der Wüste auch ohne Teleskop klar sehen konnte. In Nostalgie des Lichts erinnert sich einer dieser Häftlinge: „Was uns allen passierte, war, dass wir die Freiheit fühlten. Beim Betrachten des Himmels und der Sterne, dem Bestaunen der Sternbilder, haben wir uns vollständig frei gefühlt.“ Er konnte nicht aus dem Lager fliehen, aber der Dialog mit dem Sternen, so Guzmán, „bewahrte ihm seine innere Freiheit …“

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Alle Energie, die die Teleskope und Antennen in der Atacamawüste empfangen, kommt aus der Vergangenheit. Wer nachts in den Himmel schaut, der blickt zurück in eine Zeit, die längst vergangen ist. Alles Licht, was uns da erreicht, hat mitunter einen Milliarden Jahre langen Weg zurückgelegt, selbst das Sonnenlicht braucht etwa acht Minuten bis es uns erreicht, beim Mondlicht ist es etwas mehr als eine Sekunde. Im Grunde, so erklärt Gaspar Galaz in Nostalgie des Lichts im Gespräch mit Guzmán, passieren „alle Erfahrungen, die man im Leben macht, diese Unterhaltung eingeschlossen, in der Vergangenheit. Auch wenn es nur um eine Millionstel-Sekunde geht. Die Kamera, in die ich blicke, ist zwar nur ein paar Meter entfernt, aber ist zeitlich dennoch um ein paar Milllionstel-Sekunden hinterher … Im Vergleich zu der Zeit auf meiner Uhr. Weil das Signal bis zur Ankunft verzögert ist. Das Licht der Kamera, oder dein reflektiertes Licht erreicht mich den winzigen Bruchteil einer Sekunde später, weil Lichtgeschwindigkeit sehr schnell ist. (…) Die Gegenwart, sie existiert nicht. Wirklich nicht. Die einzige Gegenwart, die existiert, ist die in meinem Verstand, in meinem Bewusstsein. Das kommt für mich der absoluten Gegenwart am nächsten. Und nicht einmal das. Denn im Denken verzögern sich Signale doch auch zwischen meinen Sinnen: Wenn ich sage: `Ich bin ich´ und ich berühre mich … schon da kommt es zu einer gewissen Verzögerung.“

Wie der Astronom Gaspar Galaz hier erklärt, gibt es im Grunde kein Leben außerhalb der Vergangenheit, das heißt die Gegenwart lässt sich nicht von der Vergangenheit abgrenzen – man kann der Vergangenheit nicht entkommen – hierin liegt wohl die Nostalgie des Lichts begründet. Gleichwohl aber birgt die Vergangenheit Benjamin zufolge doch auch ein gewisses Potential für die Zukunft: Im Eingedenken berge „jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten“ kann, wie er in Anhang B seiner geschichtsphilosophischen Thesen schreibt, oder wie er auch sagt (VI.): den „Funken der Hoffnung“. In der Vergangenheit liegt das Werkzeug zur Reparatur bestehenden Unrechts gewissermaßen. Susan Sontag schreibt in diesem Zusammenhang: „Benjamin betrachtet alles, was er aus der Vergangenheit heraufholt, als vorwärtsweisend in die Zukunft, weil die Gedächtnisarbeit (…) die Zeiten aufbrechen läßt. (…) Das Gedächtnis, das die Vergangenheit auf seine Bühne bringt, läßt den Ablauf der Ereignisse in einem Tableau erstarren. Benjamin versucht nicht, die Vergangenheit zu beherrschen, sondern zu verstehen: sie auf ihren warnenden Nenner zu bringen.“

Da der Blick in die Geschichte in Benjamins Verständnis dabei stets von einem bestimmten historischen Standpunkt aus geschieht, vom Hier und Jetzt aus, entscheidet die vergegenwärtigende Erinnerung immer auch über die zukünftige Einstellung zu einem geschichtlichen Sachverhalt mit. Das Eingedenken ist insofern immer auch mit der Möglichkeit einer Veränderung verbunden, wie Sven Kramer in seiner Einführung zu „Walter Benjamin“ (2003) unterstreicht: „Weil hier keine mythische Wiederholung vorliegt, in der das Vergangene unverändert wieder auflebte, sondern ein verändertes Verhältnis zum Vergangenen mitproduziert wird, zeichnen sich in dem neu strukturierten Bild `die Linien des Kommenden´ ab“, wie Benjamin selbst sagt. So wird das Eingedenken zu einer Art rites de passage, einer Schwellenerfahrung: Diese sei, so schreibt Benjamin, von der Grenze „schärfstens zu unterscheiden. Die Schwelle ist eine Zone. Und zwar eine Zone des Übergangs“ von einem Zustand in einen anderen.

Indem sich jemand vom Interesse motiviert der Vergangenheit zuwendet, begibt er sich in einen Erfahrungsraum, aus dem er verändert hervorgehen kann – und ein solcher Erfahrungsraum kann nun auch die Atacamawüste sein. Denn die Atacamawüste bietet sich aufgrund ihres extrem trockenen Klimas zum Errichten von Teleskopen genauso an, wie sie aufgrund ihres hohen Salzgehalts geradezu dazu prädestiniert ist, die Spuren der Vergangenheit im Boden zu konservieren. Nicht zuletzt deshalb haben Archäologen in Arica im Norden der Atacamawüste auch die ältesten Mumien der Welt gefunden – ganz zu schweigen von den zahlreichen präkolumbianischen Spuren beziehungsweise Felsritzungen, die vor mehr als 1.000 Jahren in den Stein gemeißelt wurden, als nomadische Hirten durch das Land zogen. Denn die Atacamawüste war früher ein Land des Transits: mehrere Routen führten durch die heute ausgetrockneten und versteinerten Flussbetten, die als Verbindungswege zwischen der Hochebene Altiplano und dem Pazifik dienten.

Aus all diesen Gründen ist in der Atacamawüste „die Vergangenheit leichter zugänglich als anderswo“, sagt der Archäologe Lautaro Núnez in Nostalgie des Lichts. Sie sei ein „Tor zur Vergangenheit“, sagt er, „eine Pforte, wo wir hindurchgehen können. Aber unsere Erkenntnisse bei der Rückkehr sind ungewiss. Wie viele davon werden unser Leben verändern? Für mich bleibt das ein Geheimnis.“ Dann aber hakt Guzmán nach: „Und dennoch ist dies ein Land, das seine Vergangenheit nicht aufarbeitet.“ Núnez antwortet: „Ich stimme voll und ganz mit dir überein. Es ist ein enormes Paradox. (…) Wir haben unsere jüngste Geschichte verschleiert. Wir haben sie geheim gehalten. Es ist ein Widersinn. Als ob wir uns der eigenen Geschichte nicht nähern wollen, als ob die Geschichte uns anklagen könnte. Und das, mein lieber Freund, nützt nichts und niemandem: Nicht der Rechten, nicht dem Zentrum, nicht der Linken.“

In der unbewältigten Vergangenheit liegt das Trauma der chilenischen Gesellschaft. Während sich der Blick zu den Sternen richtet und hierfür die weltweit besten Teleskope errichtet wurden, bilden die Verbrechen der Vergangenheit noch immer den blinden Fleck im chilenischen Bewusstsein. Gerade auch dafür stehen Landschaften wie die Atacamawüste und die Anden in Guzmáns Filmen: trotz ihrer enormen Größe sind sie für die Meisten weitestgehend unbekanntes Territorium, terra incognita. Denn klar ist: Je weiter man sich hinein begibt, desto tiefer würde man auch in die Vergangenheit eindringen – das gilt eben nicht nur für den Blick ins Universum, sondern genauso für die Grabungen im Boden der Atacamawüste und für die Geologie der immerhin 80 Prozent der chilenischen Grundfläche ausmachenden Anden, wie der Vulkanologe Alvaro Amigo in Die Kordillere der Träume erklärt: „Wenn ich die Kordillere betrachte, sehe ich Millionen von Jahren, die da ausgestellt sind. So wie man sich hineinbegibt, entdeckt man Gipfel, die man nicht sah von der chilenischen Seite her. Man durchschreitet aber auch die Zeit. Je tiefer man in die Bergkette eindringt und sie durchwandert, desto mehr geht man in der Zeit zurück. Es spiegeln sich Welten, die immer weiter zurückliegen, während man fortschreitet.“

Womöglich sind manche dieser Gegenden in den Anden kaum erreichbar – es gibt aber nun auch Orte, die man gefahrlos über Straßen erreichen könnte, wie jenen, den Guzmán zum Schluß von Die Kordillere der Träume zeigt. Der jedoch ist auf keiner Karte eingezeichnet, was daran liegt, dass er sich in einer Verbotszone befindet, die ohne Bewilligung nicht betreten werden darf: Guzmán zeigt eine gigantische Kupfermine inmitten der Anden, unter Allende verstaatlicht, heute betrieben von irgendwelchen global agierenden Konzernen, die ihren Sitz nicht mehr in Chile haben und die ihre Konzessionen während der Diktatur erhalten haben. „In gewissen Provinzen sind 80 Prozent des Bodens in Privatbesitz“, erklärt Guzmán. (Das liegt daran, dass die Militärs, die jede tiefgreifende Reform bis heute verhindert haben, schon seit dem Kupfergesetz von 1958 direkte Einkünften aus dem Kupferbergbau erhalten. Pinochet legte dann fest, dass zehn Prozent der Exporterlöse des staatlichen Kupferkonzerns Codelco für Investitionen des Militärs bereitstehen.) So ist inmitten der Kordilleren ein immenses Gebiet entstanden, „das nicht chilenisch ist“, wie Guzmán sagt – für das sich die Öffentlichkeit aber nicht interessiert.

Ganz abgesehen vom gesellschaftlichen Unrecht – solche Minen sind überdies ein Sinnbild für den Raubbau an der Natur und für ein ausbeuterisches Wirtschaftssystem, das, wie Benjamin schon damals kritisierte (These XI.), „nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben (will)“ und in dem Arbeit nur noch „auf die Ausbeutung der Natur hinaus(läuft), welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariats gegenüberstellt“, wobei die Natur in diesem Verständnis ohnehin „gratis da ist“.

Guzmán lässt offen, wo genau sich das gezeigte Bergwerk befindet, vermutlich aber müsste man gar nicht so weit vordringen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen …. wie bei jenem Photoalbum, das Lichtbilder aus der Vergangenheit des damals noch „Chicho“ genannten Salvador Allende zeigt, das seine Amme zwanzig Jahre lang, bis zum Ende der Diktatur, im Garten des während des Putsches zerbombten Hauses vergraben hatte, damit die Schergen es nicht auch vernichteten – und mit ihm die Erinnerung an Chiles „unbeschwerte Zeiten“, wie Guzmán in diesem Zusammenhang in Salvador Allende sagt.

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Strahler werden in den Schweizer Alpen jene Mineraliensammler genannt, die hier in tiefen Felsspalten und Hohlräumen, sogenannten Klüften, nach Bergkristallen suchen. Bergkristall ist Quarz in seiner strahlendsten Form, das heißt reiner, vollkommen transparenter Quarz wird, wenn er gut ausgebildete Kristalle entwickelt, als Bergkristall bezeichnet. Da man sie oft in Höhlen fand, hielt man Bergkristalle in der Antike für versteinertes Eis. Daher stammt auch sein Name, bedeutet das griechische „Crystallos“ doch „Eis“. Tatsächlich aber entwickelt sich ein Bergkristall bei der Kristallisation von Siliziumdioxid, wobei der formgebende Kristallisationsprozess bei der Entstehung der Alpenkristalle beispielsweise etwa 40.000 Jahre dauerte. Bei der Auffaltung der Alpen entstanden überhaupt erst jene Hohlräume im Gestein, die den Mineralien Raum boten um auszukristallisieren. Und nur bei optimalen Bedingungen, über sehr lange Zeit im Dunkeln, gerät ein Bergkristall rein und transparent – auf jeden Fall aber sind Bergkristalle immer einzigartige Unikate.

Wenn Quarzablagerungen in Trümmerfeldern mit wenig Vegetation nicht ohnehin schon durch die Wanderbewegung des Berges freigelegt wurden, findet man Bergkristalle in den Alpen vor allem in Quarzbändern, die sich durch den Schiefer ziehen. Sie liegen hier aber nicht offen zutage, sondern man muss die Klüfte vorher öffnen, um sie rauszuholen. Dazu dürfen die Strahler in der Schweiz nur einen sogenannten metallenen „Strahlstock“ verwenden, der als Hebeeisen, Brechstange und Meißel dient, den man mit Muskelkraft und einem Hammer in den Fels bohrt, um das Gestein und die Klüfte aufzubrechen und den Bergkristall dann auszubrechen. Kommt der dann nach Millionen Jahren in seiner dunklen Höhle endlich ans Licht, kann er das erste Mal strahlen. Um seine Strahlkraft zu erhöhen können Bergkristalle, wie andere Edelsteine auch, geschliffen werden. Dabei ist jeder Stein anders, und die Anzahl der Facetten, die notwendig sind, um sein individuelles Feuer zur Geltung zu bringen und ihn gleichsam zu veredeln, ist unterschiedlich. Grundsätzlich aber sorgt jede zusätzliche Facette für mehr Lichtbrechung, dafür, dass neue Nuancen freigelegt werden.

Bergkristalle gibt es in jedem Gebirge, auch in den Pyrenäen. Und so ist es womöglich zwar weit hergeholt, aber doch nicht völlig undenkbar, dass Walter Benjamin seine Aktentasche vor seinem Tod vielleicht in einer freigelegten Felskluft versteckt hat. Oder hat er sie unter einem Trümmerhaufen vergraben? Sie ist auf jeden Fall verschwunden – mitsamt ihrem Inhalt. Bis heute weiß man weder wo sie ist, noch was sich wirklich darin befand. Lisa Fittko hat von einem Manuskript gesprochen, das Benjamin unter keinen Umständen in den Händen der Gestapo wissen wollte. Man kann aber mit Hannah Arendt davon ausgehen, dass sich auch seine Notizbücher in der Tasche befunden haben: „Jedenfalls war nichts für ihn in den dreißiger Jahren charakteristischer als die kleinen, schwarz-gebundenen Notizbüchlein, die er immer bei sich trug und in die er unermüdlich in Zitaten eintrug, was das tägliche Leben und Lesen ihm … zutrug“, schreibt sie in ihrem Essay über Benjamin.

Zitate stehen insofern im Zentrum von Benjamins Arbeit(en) in dieser Zeit des Exils und der Flucht, denn wenn das Leben bedroht ist und alles dem Tode geweiht scheint, liegt die einzige Hoffnung in der Vergangenheit, wie Benjamin schreibt: „Erst der Verzweifelnde entdeckte im Zitat die Kraft: nicht zu bewahren, sondern zu reinigen, aus dem Zusammenhang zu reißen, zu zerstören; die einzige, in der noch Hoffnung liegt, daß einiges aus diesem Zeitraum überdauert – weil man es nämlich aus ihm herausschlug.“ Und so entstand in diesen Jahren in Paris auch das „Passagen-Werk“ hauptsächlich aus Zitaten – ein gewaltiges Textkonvolut aus unzähligen fragmentierten Zitatblöcken. Sven Kramer erklärt in diesem Zusammenhang, dass Benjamin in dieser Zeit, nämlich ab 1934, „seiner Material- und Kommentarsammlung eine neue Ordnung (gab), die er dann im Wesentlichen beibehielt. Er gliederte das Korpus nach Konvoluten, die jeweils unter einer Überschrift stehen. Außerdem entwarf er ein System aus unterschiedlichen Farben und Symbolen, mit dem er die einzelnen Einträge kennzeichnete. Wie in den heutigen Datenbanken stellte er die Einträge auf diese Art in unterschiedliche Zusammenhänge. Damit entwickelte er ein kombinatorisches Verfahren, das als prinzipiell offen und tendenziell unabschließbar gelten muss. Die Einträge bilden vor allem Zitate … sowie seine eigenen Kommentare und Gedankensplitter. Das Passagen-Werk existiert nur als ein Steinbruch von Fragmenten unterschiedlichster Herkunft.“

Man kann sich Benjamins Zitatensammlung also Sven Kramer zufolge als Steinbruch von Fragmenten vorstellen – und das Zitat insofern als steingewordene Vergangenheit, als ein Bruchstück der Geschichte. Wie der Engel der Geschichte blickt Benjamin dabei zurück auf die Vergangenheit (Textarchiv, Bibliothek), auf die Trümmerhaufen (Bücher), die er dort erblickt. Manchmal liegen die Steine (Gedanken), die ihn interessieren, einfach so herum, ein anderes Mal muss er vielleicht etwas im Felsgestein nachbohren, bis er an einen Edelstein gelangt, den „Kristall des Totalgeschehens“ (die ganze Wahrheit in allen ihren Facetten), wie Benjamin schreibt, den er dann aus dem Dunkeln der Geschichte ins Licht der Gegenwart holt, damit er strahlen, funkeln kann. – Liegt hierin auch der Funken der Hoffnung?

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Für Benjamin ist klar, dass „erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit in jedem Moment zitierbar geworden (ist)“, wie er in seiner III. geschichtsphilosophischen These schreibt: „Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l`ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.“ Erst wenn alles Unrecht aufgehoben ist, tritt an die Stelle der Tradierbarkeit der Vergangenheit ihre Zitierbarkeit – hierauf, auf die „Idee des Glücks“ im Zusammenleben der Menschen, ist Benjamins Auseinandersetzung mit der Geschichte ausgerichtet. Solange diese Idee aber nicht verwirklicht ist, bleibt es eine Utopie – und deshalb gelte es, zumindest auf die Unterbrechung des weiter so zu drängen. Dieser Akzentuierung will er in der Textpraxis seines „Passagen-Werks“ einen Ort geben, wie Sven Kramer bemerkt.

Eine von Benjamin dort genutzte Sprachverwendung, die dem Verfahren der Unterbrechung und Stillstellung entspricht, ist das Zitieren. Benjamin bemerkt in diesem Zusammenhang: „Geschichte schreiben heißt … Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, daß der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhang gerissen wird.“ Als komplementäre Verfahrensweise installiert die von Benjamin bei Baudelaire beobachtete literarische Montage der im Zitat stillgestellten Gedanken dann eine neuen Zusammenhang, und zwar – wie beim Facettenschliff – so, „daß sie sich gegenseitig illuminieren und gleichsam freischwebend ihre Existenzberechtigung bewähren können“, wie Hannah Arendt schreibt. Hierin liegt gewissermaßen das „konstruktive Prinzip“ der materialistischen Geschichtsschreibung, von dem Benjamin in der XVII. geschichtsphilosophischen These spricht.

Das aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gerissene Zitat erhält so zudem eine neue, persönliche Bedeutung. Anstatt, wie bereits in Zusammenhang mit der kopernikanischen Wendung erläutert, die Erkenntnis an einen fixen Punkt in die Vergangenheit zu führen, kommt hier umgekehrt die Vergangenheit in der Gegenwart zum Stillstand – und zwar idealweise so, dass das Gewesene dialektisch umschlägt und so im Einzelmoment das Totalgeschehen kristallisiert und sichtbar wird. Statt die Epochen in einem kausalen Zusammenhang miteinander zu verbinden, ist der vom Interesse motivierte Rückblick auf die Geschichte vom Gedanken getragen, eine Konstellation sichtbar zu machen, die in beiden Epochen – Vergangenheit und Gegenwart – ähnlich ist, das heißt, hier wird eine geschichtliche Konstellation aus dem homogenen und leeren Verlauf der Geschichte herausgesprengt und in einen Bezug zur Gegenwart gebracht. Sven Krämer schreibt in diesem Zusammenhang: „Die interessegeleitete Rückwendung in die Geschichte wird dort fündig, wo ein Ereignis im Prozess seines Nachlebens zur Lesbarkeit gelangt. In dem Moment der Lektüre kristallisieren sich beide Bewegungen zu einem einzigen Phänomen, das Benjamin als Monade oder dialektisches Bild bezeichnet.“

Beim Lesen formt sich ein Bild – Benjamin ist sich des Problems bewußt, wenn er schreibt: „Ein zentrales Problem des historischen Materialismus, das endlich gesehen werden sollte: Ob das marxistische Verständnis der Geschichte unbedingt mit ihrer Anschaulichkeit erkauft werden muß? Oder: auf welchem Wege es möglich ist, gesteigerte Anschaulichkeit mit der Durchführung der marxistischen Methode zu verbinden. Die erste Etappe dieses Weges wird sein, das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken.“

Im Gegensatz zu Bertolt Brecht, der versucht hat die Welt episch, in ihrer Entwicklung, darzustellen, den Blick gewissermaßen nach vorne gerichtet, schaut Benjamins Engel zurück auf jene Trümmer der Vergangenheit, in denen die Geschichte steingeworden zum Stillstand kommt. Benjamin fasst diesen Moment des dialektischen Umschlags im Bild des Kristalls. Er ist fasziniert von solchen Bildern, in denen sich ein sprachlicher Gedanke (Überbau), in dem Fall die Idee der ganzen Wahrheit, plötzlich in etwas sinnlich wahrnehmbares (Unterbau) verwandelt, sich Geschichte materialisiert. Da sinnliche Wahrnehmung nicht auf den Begriff zu bringen ist, transportierten Benjamins Texte deshalb sprachlich verfasste Denkbilder, die der unmittelbaren Anschauung verpflichtet sind, wie der Engel der Geschichte, wo Benjamin seine Kritik des Fortschritts sprachlich im Bild des Sturms ausdrückt.

In letzter Instanz geht es Benjamin mit seinen Texten weniger darum, Wissen zu vermitteln, als darum, Erfahrungen anzuregen. Es kommt ihm dabei, so Hannah Arendt, „immer auf das unmittelbar, real nachweisbare Konkrete, auf ein Einzelnes an, das seine `Bedeutung´ sinnfällig in sich trägt; und dieser höchst realistischen Denkungsart dürfte die Überbau-Unterbau-Relation im präzisen Sinn eine `metaphorische´ gewesen sein“, insofern, als Benjamin mit dieser Übertragung ins Bild – und das heißt metapherein schließlich: herübertragen – geistige Begriffe und Ideen auf eine materielle und das heißt immer auch sinnlich wahrnehmbare Ebene holte. In diesem Sinn auch ist die Metapher, Arendt zufolge, seit Homer „das eigentlich Erkenntnis vermittelnde Element des Dichterischen. Mit ihrer Hilfe wird in den Homerischen Epen das sinnlich Entfernteste in die genaueste Entsprechung gebracht – etwa der Aufruhr der Winde, wenn `Nord und West bei jählings nahn mit Gewalt´ (Ilias IX, 4-8) (…) – und durch diese Entsprechung wird dichterisch die Einheit der Welt gestiftet. Was an Benjamin so schwer zu verstehen war, ist, daß er, ohne ein Dichter zu sein, dichterisch dachte, und daß die Metapher daher für ihn das größte und geheimnisvollste Geschenk der Sprache sein mußte, weil sie in der `Übertragung´ es möglich macht, das Unsichtbare zu versinnlichen – `Eine feste Burg ist unser Gott´ – und so erfahrbar zu machen.“

Eine feste Burg – insbesondere auch an dieser Metapher wird deutlich, dass Benjamin solche Denkbilder als Sprachphänomene begreift, die, wie alle sprachlichen Bilder, visuell geprägte Vorstellungen mit sich führen. In Zusammenhang mit dem „dialektischen Bild“ spricht Benjamin dabei auch von einer „von Spannungen gesättigten Konstellation“, und schreibt in diesem Zusammenhang in der XVII. geschichtsphilosophischen These: „Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chok, durch den es sich als Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In einer Struktur erkennt er das Zeichen (…) einer revolutionären Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit. Er nimmt sie wahr, um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen, so sprengt er ein bestimmtes Leben aus der Epoche, so ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk. Der Ertrag seines Verfahrens besteht darin, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben.“

Mit dem Begriff der Monade versucht Benjamin gewissermaßen das Totalgeschehen zu fassen – er übernimmt ihn von Leibniz. Egon Friedell schreibt in diesem Zusammenhang: „Jedes Stück Materie kann als `ein Garten voller Pflanzen oder ein Teich voller Fische´ angesehen werden, und `jeder Zweig der Pflanze, jedes Glied des Tieres, jeder Tropfen Feuchtigkeit ist immer wieder ein solcher Garten und ein solcher Teich´. Jede solche Welteinheit, von Leibniz `Monade´ genannt, ist `un petit monde´, `un miroir vivant de l`univers´, `un univers concentré´: sie hat keine Fenster, durch die etwas in sie hineinscheinen könnte, vielmehr ist sie ein Spiegel, der das Bild des Universums aus eigener Kraft, `actif´ hervorbringt. Diese Monaden bilden ein Stufenreich. (…) In dieser durch unendlich kleine Differenzen ansteigenden Reihe gibt es keinen Sprung und keine Wiederholung. `Wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, immer ganz anders und gleichsam perspektivisch vervielfältigt erscheint, so kann durch die zahllose Menge der Monaden der Schein entstehen, als gäbe es ebenso viele verschiedene Welten, die doch nur Perspektiven einer einzigen Welt sind, nach den verschiedenen Gesichtspunkten der Monaden.´“

Anstatt Geschichte als eine kausale Verkettung von Ereignissen zu begreifen, konzentriert sich die Geschichtsschreibung in diesem Verständnis auf einen entscheidenden Punkt, in dem das Totalgeschehen kristallisiert ist, und zwar ganz im Sinne der Leibnizschen Monade – so wie die griechische Polis „solange am Grunde unserer politischen Existenz, auf dem Meeresgrunde also, weiter da sein (wird), als wir das Wort `Politik´ im Munde führen“, wie Hannah Arendt schreibt. Das Wesen der Monade im Zitat freizulegen bedeutet dann, wie Arendt ausführt, den entscheidenden Punkt „nicht sowohl auszuschachten als zu erbohren“.

Arendt überschreibt das letzte Kapitel ihres Essays über Walter Benjamin mit „Der Perlentaucher“ und stellt ihm als Motto ein Zitat aus Shakespeares „Der Sturm“ (I,2) voran: „Fünf Faden tief liegt Vater dein: / Sein Gebein wird zu Korallen; / Perlen sind die Augen sein: / Nichts an ihm, das soll verfallen, / Das nicht wandelt Meereshut / In ein reich und seltnes Gut.“ Sie schreibt dort in diesem Zusammenhang, dass Benjamin die Methode verfolge, „das Wesen im Zitat zu erbohren – wie man Wasser aus der unterirdischen, in der Tiefe verborgenen Quelle erbohrt. Das Bohren ist dasselbe wie das Beschwören, und das so Beschworene, das nun heraufsteigt, ist immer das, was die Shakespearsche `sea-change´ vom lebendigen Auge zur Perle, vom lebendigen Gebein zur Koralle erlitten hat. Das Zitieren ist ein Nennen, und das Nennen, nicht eigentlich das Sprechen, das Wort und nicht der Satz bringen für Benjamin Wahrheit an den Tag. (…) Dies Denken, genährt aus dem Heute, arbeitet mit den `Denkbruchstücken´, die es der Vergangenheit entreißen und um sich versammeln kann. Dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht es in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen. Was dies Denken leitet, ist die Überzeugung, daß zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, daß aber der Verwesungsprozeß gleichzeitig ein Kristallisationsprozeß ist; daß in der `Meereshut´ – dem selbst nicht-historischen Element, dem alles geschichtlich Gewordene verfallen soll – neue kristallisierte Formen und Gestalten entstehen, die, gegen die Elemente gefeit, überdauern und nur auf den Perlentaucher warten, der sie an den Tag bringt: als `Denkbruchstücke´, als Fragmente oder auch als die immerwährenden `Urphänomene´.“

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Perlmutt ist die innere, perlenartige Schicht der Schale von Weichtieren, insbesondere der See- und Perlenmuschel. Interessant sind diese Muscheln wegen ihrer Perlen, aber da die Perlmutt-Schale bei Lichteinfall ein mattes, irsierendes Strahlen erzeugt, werden daraus bisweilen auch Schmuckstücke und Zierknöpfe hergestellt. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein englisches Schiff unter dem Kommando von Kapitän Robert FitzRoy (1831-1836) nach Patagonien kam – es hatte den Auftrag, Karten von der patagonischen Küste zu erstellen –, hatte der Kapitän eine „erstaunliche Idee“, wie Patricio Guzmán in Der Perlmuttknopf erklärt: „vier Indianer nach England mitzunehmen und zivilisierten Menschen aus ihnen zu machen. Einer der Indiander ging an Bord im Tausch für einen Perlmuttknopf. Deshalb nannten die Engländer ihn Jemmy Button.“ (Er wurde zum Vorbild für Michael Endes Jim Knopf – der nun endlich in einer von rassistischen und diskriminierenden Aspekten befreiten Version erscheint.)

Patagonien war zu dieser von mehreren Stämmen besiedelt, die vor etwa 10.000 Jahren als Wassernomaden durch die zahlreichen Forde zogen und so von Insel zu Insel reisten. Es gab fünf Gruppen, erklärt Guzmán: die Kawésqar, die Selk`nam, die Aoniken, die Haush und Yámana – und sie waren alle Seefahrer, und hatten seit jeher eine besondere, spirituelle Beziehung zum Wasser. Man schätzt, dass im 19. Jahrhundert etwa 8.000 Menschen mit 300 Kanus diesen riesigen Archipel befuhren – während die Chilenen trotz der über 4.000 Kilometer langen Küste nie ein Seevolk waren, sondern sich von Beginn an eher im Landesinneren niedergelassen haben.

Wie dem auch sei – Jemmy Button jedenfalls wurde als Matrose gekleidet, später als Engländer. Über ein Jahr lang lebte er in England „wie auf einem unbekannten Planeten“, wie Guzmán sagt. „Er reiste von der Steinzeit bis zur industriellen Revolution. Er reiste tausende von Jahren in die Zukunft. Und dann tausende von Jahren zurück in die Vergangenheit. Nachdem Jemmy Button ein Gentlemen geworden war, brachte der Kaptiän ihn zurück nach Patagonien.“ Es war die zweite Expedition von Robert FitzRoy im Jahr 1830, an der auch Charles Darwin teilnahm. „Als er wieder in seiner Heimat war, zog Jemmy Button seine englische Kleidung aus“, berichtet Guzmán. „Er sprach weiter halb Englisch, halb seine eigene Sprache. Er ließ seine Haare lang wachsen, wurde aber nie wieder derselbe Mensch.“

Die Begegnung mit Kapitän FitzRoy war, so Guzmán, „der Anfang vom Ende für die Völker des Südens. FitzRoys Karten zogen tausende von Siedlern an. 150 Jahre lang herrschte eine Gruppe Weißer mit fester Hand über ein stummes Land.“ Erst Salvador Allendes Revolution sorgte dafür, dass die Indigenen ihr ursprüngliches Land, das ihnen geraubt wurde, wieder zurückerhielten – bevor mit dem Putsch die Landreform wieder rückgängig gemacht wurde.

Über Chile brach die Diktatur herein – und mit ihr ein Terrorregime mit 800 heimlichen Folter-Gefängnissen, betrieben von mindestens 3.500 Militärs. Gefoltert wurde auch auf der Insel Dawson. Hier, wo zuvor schon hunderte Indigene in den katholischen Missionen starben, wurde nun ein Konzentrationslager für Salvador Allendes Minister eingerichtet, die man aus Santiago hierher deportierte. Über 700 Häftlinge waren es allein hier – „sie waren Opfer einer Gewalt, die die Indianer schon erlebt haben“, wie Guzmán sagt.

In dieser Zeit geschah es, dass der Humboldtstrom einen toten Körper an Land spülte, den Körper einer Frau. „Niemand wusste, wer sie war“, erklärt Guzmán. Aber „die Leute schöpften Verdacht, dass der Ozean ein Friedhof war“. Niemand wußte damals etwas von den über 3.000 Desaparecidos, die man auch in der Atacamawüste verscharrte – und es sollte noch etwa dreißig Jahre dauern, bis tatsächlich einige Offiziere eingestanden, dass man vielleicht auch ein Paar Menschen ins geworfen hatte. Eines der Opfer jedenfalls war Marta Ugarte, der tote Körper am Strand, das ließ sich nicht verleugnen. Denn man konnte an ihr rekonstruieren, was geschehen sein musste.

Ein Journalist rekonstruiert in Guzmáns Der Perlmuttknopf was geschehn war: „Mehrere Zeugen sagten, dass sie eine Spritze bekommen hätten. Manche sagen, es war Zyanid, aber viele bezeugen, dass es Pentothal war. So ging man sicher, dass der Häftling tot war. Die [Eisenbahn-]Schiene wurde auf den Brustkorb gelegt. (…) Diese Schiene wiegt mindest 30 Kilo. Der Schienenträger wurde von der DINA [dem chilenischen Geheimdienst] ermordet, weil er zu viel geredet hatte. [Mit einem Draht band man die Schiene an, auf den Brustkorb des toten Häftlings.] Zum Schluss der Verpackung nahemen sie Plastiksäcke, einen über den Kopf, einen über die Füße, die sich in der Mitte trafen. (…) Und Kartoffelsäcke. Genau dieselbe Methode: von den Füßen hoch und vom Kopf runter, damit sie sich in der Mitte trafen. Sie wurden in Helikopter oder Flugzeuge geladen und von dort aus ins Meer geworfen.“

Bei Martha Ugarte allerdings ging etwas schief: „Es war so: Als die Gefangene im Fleugzeug war, fing sie an sich zu bewegen. Daraufhin (…) schnürten (sie) die die Säcke auf und entfernten sie. Sie öffneten das Paket und merkten, dass sie noch lebte. Da nahmen sie diesen Draht hier und erwürgten sie. Das Paket war dann schlecht verschlossen. Das würde erklären, warum ihr Körper an Land gespült wurde.“

Den Gerichtsberichten zufolge warfen die chilenischen Streitkräfte 1.200 bis 1.400 Menschen in den Ozean, „tot oder lebendig“, wie Guzmán anmerkt. Sie wurden von zahlreichen Zivilisten dabei unterstützt, von denen bis heute nur ein einziger angeklagt und verurteilt wurde. Alle beteiligten hofften das Meer würde ihr kriminelles Geheimnis bewahren – und sie sollten auch fast recht behalten: Fünfzig Jahre später hat man bis Marta Ugarte niemanden von den bis zu 1.400 Menschen im Pazifik gefunden – nur zahllose Schienen. Die sind inzwischen „mit Spuren bedeckt“, erklärt Guzmán. „Das Wasser und seine Kreaturen haben diese Nachrichten eingraviert. Hier sind die Geheimnisse, die die Körper hinterlassen haben, bevor sie sich im Wasser auflösten und die Form des Ozeans annahmen.“

Aufgrund einer richterlichen Veranlassung werden die Schienen seit 2004 geborgen, und jede einzelne von ihnen untersucht. Man fand auf ihnen zahlreiche Korallen und andere Meereslebewesen – und schließlich auch einen einzelnen Knopf. Dieser Knopf ist bis heute das einzige Indiz, dass ein Mensch dort war.

„Jemmy Button erhielt einen Perlmuttknopf“, erklärt Guzmán, „dafür nahm man ihm sein Land, seine Freiheit, sein Leben. Als er zu seiner Insel zurückgebracht wurde, erlangte er nie wieder seine Identität zurück. Er wurde ein Fremder im eigenen Land. Beide Knöpfe erzählen dieselbe Geschichte – eine Geschichte der Vernichtung. / Es liegen vermutlich viele andere Knöpfe im Ozean …“

***

„Vor kurzem“, so schließt Patricio Guzmán Der Perlmuttknopf ab, „wurde sehr weit weg ein Quasar voller Wasserdampf entdeckt. Er enthält 120 Millionen Mal mehr Wasser, als alle unsere Meere. Wie viele irrende Seelen könnten Zuflucht finden in dem riesigen Ozean, der in der Leere treibt?“

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