„Während Sie versuchen, den Mars zu kolonisieren – versucht Russland, die Ukraine zu besetzen!“, twitterte der dortige Minister für digitale Transformation zu Beginn des Krieges. Angesichts der Klimaerwärmung wieder ein Bewusstsein zu entwickeln für die Erde, auf der wir leben, forderte zuvor auch der Soziologe Bruno Latour – gewissermaßen aus der Perspektive eines auf`s Terroir bedachten Winzers. Ein Essay über Geschichte und Traum des Fliegens – und das Landen …
„Könnten die Menschen sich auch noch in den Luftraum erheben, … wäre ihre Schlechtigkeit gar nicht mehr aufzuhalten.“
Gottfried Wilhelm Leibniz, Miscellanea Berolinensia …, Bd. I (1710)
„Guiche: Haben Sie `Don Quijote´ gelesen? / Cyrano: Ja. / Wer mit ihm anband, konnt` ihn stets bereit sehn. / Guiche: Dann denken Sie … / (…) / An jene Mühlen … / Cyrano: Im Kapitel dreizehn. / Guiche: Die, wenn wir nicht Respekt vor ihnen lernen … / Cyrano: Respekt, weil sie sich nach dem Winde drehn? / Guiche: Mit ihren Flügeln, eh` wir`s uns versehn, / In Staub uns schleudern. – / Cyrano: Oder zu den Sternen!“
Edmond Rostand, Cyrano von Bergerac, 2. Aufzug, 7. Auftritt (1897)
„Erfolg vier Flüge Donnerstag Morgen ganz gegen einundzwanzig Meilen schnellen Wind vom Boden aus nur mit Motorkraft gestartet Durchschnittsgeschwindigkeit in der Luft einunddreißig Meilen Längstens 57 Sekunden Informiert Presse Sind Weihnachten zurück.“
Telegramm von Wilbur und Orville Wright vom 17. Dezember 1903 über die ersten Motorflüge der Menschheit an ihren Vater
„Zu der Zeit, wo die Menschheit / Anfing sich zu erkennen / Haben wir Wägen gemacht / Aus Holz, Eisen und Glas / Und sind durch die Luft geflogen / Und zwar mit einer Schnelligkeit, die den Hurrikan / Um das Doppelte übertraf. / Und zwar war unser Motor / Stärker als hundert Pferde, aber / Kleiner als ein einziges. / Tausend Jahre fiel alles von oben nach unten / Ausgenommen der Vogel. / Selbst auf den ältesten Steinen / Fanden wir keine Zeichnung / Von irgendeinem Menschen, der / Durch die Luft geflogen ist / Aber wir haben uns erhoben. / Gegen Ende des 3. Jahrtausends unsrer Zeitrechnung / Erhob sich unsere / Stählerne Einfalt / Aufzeigend das Mögliche / Ohne uns vergessen zu machen: das / Noch nicht Erreichte. / Diesem ist dieser Bericht gewidmet.“
Bertolt Brecht, Der Ozeanflug [Der Lindberghflug], Kap. 17 (1928/29)
Sechs Jahre, nachdem es Wilbur und Orville Wright mit ihrem „Flyer“ 1903 erstmals geschafft haben, einen motorisierten Apparat in der Luft zu halten – oder war es doch Gustav Weißkopf 1901 mit seinem Flugapparat „Nr. 21“? – und zwei Monate, nachdem es Louis Blériot gelungen ist, als erster Mensch in einem Flugzeug den Ärmelkanal zu überqueren, notierte Franz Kafka nach dem Besuch einer Vorführung von Motorflügen im italienischen Brescia in „Die Aeroplane in Brescia“ (1909): „Was geschieht denn? Hier oben ist zwanzig Meter über der Erde ein Mensch in einem Holzgestell verfangen und wehrt sich gegen eine freiwillig übernommene unsichtbare Gefahr. Wir aber stehen unten ganz zurückgedrängt und wesenlos und sehen diesem Menschen zu.“ Kafkas Blick ist nach oben gerichtet – und es ist ein skeptischer …
Ebenfalls im Jahr 1909 richtete der Erfinder des Motorfluges, Wilbur Wright, seinen Blick in die entgegengesetzte Richtung, nach unten auf die Erde. Das Flugzeug sollte der Erkundung der Welt dienen, das heißt Wright begann schon bald aus seinem „Flyer“ die Landschaft unter sich zu fotografieren. Es waren die ersten Fotos aus einem Flugzeug – mit deren Hilfe er dazu beitrug, dass bessere Landkarten hergestellt werden konnten. Mit dem Flugzeug beginnt insofern die letzte Episode der Eroberung der Erde durch die Menschheit, nämlich jene von oben. Und der Blick auf die Geschichte der Kartografie spiegelt diese Eroberung wider …
Der Blick von oben
Schon mit den Pionieren der motorisierten Luftfahrt also wurden die Ergebnisse der Luftbildfotografie zur Grundlage der modernen Kartenherstellung und Erdbeobachtung. Das war möglich, weil bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die sogenannte „Fotogrammetrie“ entwickelt wurde, wie Reinhard Barth in „Die Vermessung der Erde“ (2018) – einer Geschichte der Kartografie – schreibt. Die Fotogrammetrie half nun bei der Entzerrung der ersten Aufnahmen aus der Luft. Außerdem hatte die Firma Carl Zeiss gerade erst – ebenfalls 1909 – damit begonnen, den „Stereoautographen“ zu produzieren, der es erlaubte, mittels optischem Abtasten von Stereobildern Höhenschichtlinien zu ermitteln. Nicht zuletzt deshalb wurden die immer leistungsfähiger werdenden Flugzeuge nach dem Ersten Weltkrieg dazu genutzt, die bislang noch unerforschten Regionen der Erde zu kartografieren: Mit Hilfe einer Kamera, die Reihenbilder herstellen konnte, kartierte beispielsweise der Amerikaner Richard Evelyn Byrd (1888-1957) so auf mehreren Expeditionen ab 1929 weite Gebiete der Antarktis vom Flugzeug aus.
Byrd war es, der 1929 auf seiner ersten Antarktisexpedition der erste Überflug sowie die Umrundung des Südpols mit einem Flugzeug gelang. Außerdem behauptete er, bereits 1926 als erster auch den Nordpol auf dem Luftweg erreicht zu haben – was sich allerdings als Unwahrheit herausstellte. Sein damaliger Begleiter Floyd Bennet erklärte dazu: „Byrd and I never got the North Pole.“ Nachdem sie einige Zeit nach dem Start Ölverlust bei den Motoren bemerkt hatten, seien sie nach Spitzbergen, von wo sie aufgebrochen waren, zurückgekehrt und dort längere Zeit hin und her geflogen, um schließlich den Eindruck zu erwecken, sie hätten es tatsächlich geschafft.
Drei Tage nach diesem Ereignis machte sich Roald Amundsen (1872-1928), ebenfalls von Spitzbergen aus, mit einem Luftschiff auf den Weg nach Alaska und legte dabei einen Zwischenstopp am Nordpol ab: Amundsen hatte bekanntlich schon 1911 als erster Mensch, wenige Tage vor Robert Falcon Scott, zu Fuß den Südpol erreicht, nun war er 1926 auch der erste, der auf dem Luftweg den geographischen Nordpol erreichte – nachdem er im Jahr zuvor noch mit den beiden von Claude Dornier konstruierten (Wasser-)Flugzeugen „N-24“ und „N-25 Do J“, genannt „Wal“, kurz vor dem Ziel scheiterte.
Obwohl Amundsen bei seinem ersten Versuch, mit dem Flugzeug zum Nordpol zu kommen, aufgrund eines Motorschadens scheiterte, war der „Wal“ das Flugzeug, das Claude Dornier als Flugzeugbauer weltweit bekannt machen sollte. Schließlich gelang es ihm damit 1926, erstmals fliegend den Südatlantik zu überqueren …
– Claude Dornier –
Claude Dornier (1884-1969) wurde zu einer Zeit geboren, als man das Fliegen noch gar nicht kannte – und er lebte noch, als der erste Mensch zum Mond geflogen ist. Dornier hat insofern fast alle Entwicklungen in der Fliegerei miterlebt und verkörpert daher wie kaum ein anderer die Geschichte der Luftfahrt. Dabei ist die Welt der Aviatiker, wie die Piloten damals noch genannt wurden, als sich Dornier nach seinem Maschinenbaustudium dem Fliegen zuwendet, noch gespalten in die Anhänger des Prinzips „Leichter als Luft“ (nach diesem fahren gasgefüllte Ballons und Luftschiffe) und in die des Prinzips „Schwerer als Luft“ (damit sind „Aeroplane“ gemeint, wie Flugzeuge damals noch genannt wurden). Dornier selbst steht nun genau an der Schwelle.
Fliegen nach dem Prinzip Schwerer als Luft war zunächst eine gefährliche Angelegenheit, weil das physikalische Prinzip, dass Aeroplane fliegen ließ, noch weitestgehend unbekannt war. Geflogen wurde so nach dem „Trial and Error“-Prinzip, das heißt, jeder Flug war mit einem erheblichen Risiko verbunden, wovon ja auch Kafka berichtet. Flugapparate nach dem Prinzip Leichter als Luft waren noch deutlich im Vorteil und dominierten entsprechend lange die Luftfahrt.
In Deutschland ist das nach diesem Prinzip konstruierte Luftschiff und der Luftschiffbau mit einem Namen verbunden, der schließlich zum Synonym dafür werden sollte: Graf Ferdinand von Zeppelin (1838-1917). Und in seinem Betrieb in Friedrichshafen am Bodensee sollte auch die Karriere von Claude Dornier beginnen. Schon die ganze Zeit gelten seine Gedanken dem Flugzeugbau, der Bankrott des Weinhandels seines Vaters jedoch holt ihn auf den Boden der Tatsachen: Die ganze Verantwortung und Hoffnung lastet nun auf ihm, schnell muss er eine sichere bezahlte Anstellung finden – und landet schließlich über Umwege im November 1910 bei Graf Zeppelin als Ingenieur in der Versuchsabteilung.
Dornier arbeitet an den Metallgerüsten von Zeppelins Starrluftschiffen. Seine Aufgabe ist es, möglichst stabile und gleichzeitig leichte Konstruktionen zu entwerfen. Schon bald bemerkte Graf Zeppelin das Potential des neuen Mitarbeiters und übertrug ihm die Leitung der Abteilung. Claude Dornier entwickelte eine revolutionär neue Technik: durch verbiegen dünner Bleche erreichte er eine Versteifung der Kanten und wies nach, dass man so dünnwandige Hohlkörper (Aluminiumprofile) bauen kann – Bauteile, die äußerst fest und besonders leicht sind. Das war wirklich fortschrittlich und der Zeit entsprechend, das heißt, mit seinen Aluminiumprofilen revolutionierte Dornier später den Flugzeugbau. Bis heute werden Flugzeuge nach dieser Technik gefertigt (die ersten Ganzmetall-Flugzeuge wiederum entwickelte Hugo Junkers: seine 1919 entwickelte „F 13“ war das erste Ganzmetallflugzeug der zivilen Luftfahrt).
Dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Zum ersten Mal wird ein Krieg auch aus der Luft geführt – Luftschiffe waren dabei für die Marine für die Fernaufklärung geeignet. Aber sie sind langsam, werden leicht zur Zielscheibe und sind hoch brennbar. Flugzeuge eignen sich wesentlich besser zur Aufklärung – um hinter feindlichen Linien zu spähen. Schon bald ersetzen sie die Luftschiffe.
Graf Zeppelin hat eine neue Aufgabe für Dornier: er soll für die Marine ein Flugzeug entwickeln, mit dem man eine 1.000-Kilogramm-Bombe in London über den Docks abwerfen kann. „Wenn mir schon der kriegerische Zweck dieses Auftrages nicht zusagte“, schreibt Dornier, „dürfte es verständlich sein, dass die technischen Probleme die mit dem Bau einer so großen Flugmaschine zusammenhingen, mich reizten. Ich nahm den Auftrag an.“
Dornier verläßt mit seiner Abteilung „Do“ den Standort in Friedrichshafen und zog einige Kilometer weiter an ein Grundstück direkt am Bodensee (wo sich heute das Dornier-Museum befindet) und entwarf dort einen Giganten – ein Flugboot mit Doppeldeckerflügel: 43 Meter Spannweite, drei Maybach-Motoren mit je 240 PS, 9,5 Tonnen schwer, 100 Kilometer in der Stunde schnell. Es ist ein Wasserflugzeug – und zwar deshalb, weil die Motoren damals noch nicht so stark waren und man unglaublich lange Start- und Landebahnen gebraucht hätte. Den Prototyp, die „RS 1“ zerstörte jedoch noch ein Sturm am Tag vor dem ersten Flug. Aber das Nachfolgemodell, die „RS 2“, ein Eindecker, erhob sich dann am 30. Juni 1916 in die Luft. Es ist Dorniers erstes Flugzeug, das tatsächlich fliegt.
Es entstehen „RS 3“ und „RS 4“ – und mit ihnen die Konfiguration des „Dornier`schen Flugbootes“ mit charakteristischen Hochflügeln und einem oben montierten Propeller, was vor Spritzwasser schützt. Es sind meist sogar zwei Propeller, das heißt die hintereinander angeordneten Motoren ziehen und schieben gleichzeitig. Seitliche Stummelflügel (sogenannte „Sponsen“) sollen im Wasser für Stabilität sorgen. In etwa so sind zunächst fast alle Wasserflugzeuge von Dornier gebaut.
Im März 1917 stirbt Graf Zeppelin. Dornier machte sich nun innerhalb des Zeppelin-Konzerns mit seiner Abteilung in Lindau-Reutin als „Zeppelin-Werk Lindau GmbH“ eigenständig und wird deren Geschäftsführer. Zeppelins Tod markiert gewissermaßen einen Wendepunkt in der Luftfahrtgeschichte – jedenfalls für Dornier: Entwickelte er unter Graf Zeppelin zunächst noch Luftschiffe nach dem Prinzip Leichter als Luft, wendet er sich nun der Konstruktion von Flugzeugen zu, die Schwerer als Luft sind, das heißt, er entwirft ab jetzt praktisch nur noch Wasserflugzeuge: Flugschiffe beziehungsweise -boote, die in der Luft fliegen und im Wasser schwimmen konnten – darauf spezialisierte er sich fortan.
Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs wurden in Deutschland bereits etwa 52.000 Flugzeuge entwickelt. Jetzt aber kommt die Luftfahrt zum erliegen: was von der Luftflotte übrig blieb, musste gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages zerstört oder abgegeben werden: 5.000 Flugzeuge gehen so an die Alliierten. Dem Ablieferungszwang folgte bald auch ein Bauverbot für Flugzeuge aller Art. In der Folge wurden die Zeppelinwerke bald aufgegeben, da es keine Aufträge mehr gab.
Bis Kriegsende war das Lindauer Werk das Hauptwerk von Zeppelin, nun wurde es stillgelegt. In Friedrichshafen verblieben nur achtzig Mitarbeiter, eine Liquidation der Gesellschaft konnte Dornier jedoch verhindern, indem er die Produktion auf Badewannen und Nudelsiebe umstellte – notgedrungen. Im Geheimen aber plante er bereits das nächste Flugboot: der Bau war zwar verboten, nicht jedoch die Konstruktion.
Gleichwohl wollte er seine Entwürfe auch realisieren. Deshalb zieht Dornier nun nach Rorschach in der Schweiz, gegenüber von Friedrichshafen, wo er 1921 einen Schuppen am See erwerben kann. Dort baut er die „Libelle“, ein Kleinflugzug, das auf dem Anhänger transportiert werden kann. Dornier wollte aber mehr – und wich deshalb auch nach Italien in die Marina von Pisa aus, wo er noch im selben Jahr mit dem „Wal“ ein neuartiges Wasserflugzeug konstruierte. Das Wasserflugzeug ist durchaus eine technische Ikone, beginnt mit dem Erstflug 1922 doch eine neue Epoche in der Luftfahrt: Zu einer Zeit, als es noch gar keine Infrastruktur für Flugzeuge (wie beispielsweise Flughäfen) gab, konnte das Wasserflugzeug problemlos große Distanzen überwinden, weil es im Wasser aufgetankt werden konnte. Dornier gelang es so 1926, erstmals den Südatlantik zu überqueren (Charles Lindbergh gelang 1927 die erste Überquerung des Nordatlantiks ohne Zwischenstopp). So sollte der „Wal“ in der zivilen Nutzung letztlich den Weltluftverkehr begründen – überhaupt tritt damit erst das Flugzeug nach und nach ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit …
Dornier konstruierte insgesamt 68 verschiedene Flugzeuge, mit dem Modell „Wal“ allerdings sollte er den größten Erfolg haben. 350 Exemplare werden bis 1931 verkauft und Dornier wird international bekannt. Im „Wal“ liegt insofern der Erfolg des gesamten Unternehmens Dornier begründet.
Vielleicht auch deshalb beschloss die Gesellschafterversammlung nun 1922 eine Umbenennung des Unternehmens in „Dornier Metallbauten GmbH“. Dornier selbst konnte einen zehnprozentigen Geschäftsanteil übernehmen. Der Betrieb der Metallbauten GmbH wurde auf Liegenschaften in Friedrichshafen-Manzell, neben der Werft in Seemoos verlegt.
In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre entstand in Altenrhein am Schweizer Ufer des Bodensees, gegenüber von Friedrichshafen, eine weitere Fertigungsstätte. Um das alliierte Bauverbot für Flugzeuge nach dem Ersten Weltkrieg zu umgehen, gründete das Deutsche Reich 1925 für den Flugzeugkonstrukteur Claude Dornier gleich hinter der österreichischen Grenze zur Schweiz ein Flugzeugwerk: die „Dornier Flugzeug Aktiengesellschaft (Do-Flug AG)“. Nach der Fertigstellung des Werkes Altenrhein wurde die Fertigung der „Wal“ aus Italien hierher verlegt. Zum Werk gehörte auch eine etwa 600 Meter lange Graspiste, welche in der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg zu einem noch heute existierenden Flughafen für regelmäßige Linienflüge nach Basel, München und Innsbruck genutzt wurde und so die Bodenseeregion mit der weiteren Umgebung verband.
In den 1920er Jahren war es insbesondere die Reichswehr, die immer wieder Aufträge für die Entwicklung militärisch nutzbarer Flugzeuge an die deutschen Firmen erteilte. Auch Dornier gehörte zu den Nutznießern dieser über das Reichsverkehrsministerium finanzierten, verdeckten Aufrüstung in der Zwischenkriegszeit. So entstand 1928/29 in Altenrhein ebenfalls das legendäre Flugschiff „Dornier Do-X“, das größte Flugzeug seiner Zeit, dessen Bau von der deutschen Marine finanziert wurde (womöglich ohne das Wissen von Dornier).
Dornier träumte vom Transatlantikverkehr – und es war ihm klar, dass das nur mit großen Flugzeugen möglich sein wird. Gleichwohl war der Bau der „Do-X“ mit vielen Unbekannten behaftet (deshalb das „X“ im Namen), das heißt, es war am Anfang nicht abzusehen, dass das Flugschiff mit seinen drei Passagierdecks schließlich fünfzig Tonnen wiegen sollte und zwölf Maybach-Motoren bedurfte, um vom Wasser abzuheben. Aber als sich der 170 Passagiere fassende Gigant 1929 erstmals in die Luft erhebt, ist das ein epochales Ereignis!
Um die „Do-X“ zu vermarkten organisierte Dornier 1931 einen weltumspannenden Flug über Rio de Janeiro nach New York, schließlich schaffte das Flugschiff Distanzen von bis zu 2.800 Kilometer. Allerorten wird es als technisches Wunder bestaunt – der Flug machte weltweit Schlagzeilen –, allein die Weltwirtschaftskrise verhinderte, dass das unwirtschaftliche Flugzeugmodell ein Erfolg wurde. Das war ein schwerer finanzieller Rückschlag für Dornier – und er schrieb erst wieder schwarze Zahlen, als mit den Nationalsozialisten die planwirtschaftliche Gleichschaltung der Flugzeugindustrie einsetzte. Die Geschichte der Luftfahrt ist insofern immer auch Rüstungsgeschichte. It`s the military, stupid! …
Mit der Gründung des Reichsluftfahrtministeriums (RLM) 1933 unter dem Reichskommissar für Luftfahrt, Hermann Göring, wurde eine freie Betätigung für die deutschen Flugzeugkonstrukteure massiv eingeschränkt. Göring erklärt der Luftfahrtindustrie, dass es Krieg geben wird – wer nicht mitmacht, wird enteignet („Alles was fliegt, gehört mir!“, erklärt er). Dornier – er wird erst 1940 NSDAP-Mitglied (das Abzeichen trägt er wohl nie), dann allerdings auch mit dem Ehrentitel „Wehrwirtschaftsführer“ bedacht – will eigentlich weiterhin Wasserflugzeuge bauen, wird nun aber auch in die nationale Rüstungsmaschinerie eingespannt.
Noch vor der Machtübernahme Hitlers hat das Heereswaffenamt verschiedene Flugzeugentwicklungen in Auftrag gegeben, was Luftwaffenchef Göring („Wenn auch nur ein einziger feindlicher Bomber über Berlin auftaucht, will ich Meier heißen“) nun in die Lage versetzte, zügig mit dem Aufbau einer Luftwaffe zu beginnen. Dornier entwickelte mit der „Dornier Do F 1931/32“ ein Flugzeug, das zwar als Frachtflugzeug deklariert war, aber eigentlich ein Bomber war. Seine wesentliche Entwicklung auf diesem Gebiet war allerdings die „Dornier Do 17“. Sie war zunächst als Schallflugzeug konzipiert – wird dann aber zum erfolgreichsten Kriegsflugzeug Dorniers.
Wie alle anderen Flugzeugfabrikanten aber darf Dornier nicht seine eigenen Entwürfe realisieren, sondern er muss andere in Lizenz produzieren. Bis 1938 wächst der Betrieb deshalb um 14.000 Arbeiter – darunter allerdings sind zahlreiche Zwangsarbeiter (zumindest „Exzesse gibt es nicht“, berichtet der Betriebshistoriker). Dann werden die Werke bombardiert …
Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg wird auch 1945 der Flugzeugbau in Deutschland von den Alliierten verboten – vorhandene Flugzeuge müssen vernichtet, Werkhallen demontiert werden. Dornier wird als „Mitläufer“ eingestuft, musste aber dennoch eine Sühnezahlung erbringen. So beginnt er wieder bei „Null“ und gründet unter anderem 1950 die „Lindauer Dornier Gesellschaft“, die Webmaschinen herstellt.
Ab 1955 konnte Dornier im Flugzeugbau wieder an frühere wirtschaftliche Erfolge anknüpfen: das von seinem Sohn Claudius Dornier (der andere war Silvius Dornier) in dem eigens in Franco-Spanien eröffneten Entwicklungsbüro konstruierte kleine Mehrzweckflugzeug „Dornier Do 27“ konnte mit 400 Exemplaren an die neugegründete Bundeswehr verkauft werden. Die „Do 27“ ist der erste Auftrag der Bundeswehrauftrag nach dem Krieg – und das erste Flugzeug der Nachkriegsindustrie, das weltweit verkauft werden sollte.
Ihm folgten weitere Flugzeugmodelle, bevor Claude Dornier seine Firma 1959 auf eine breitere Basis stellte: Schon vorher wurde Dornier Präsident des „Bundesverbandes der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie (BDLI)“, nun wurde eine Abteilung „Sonderkonstruktion“ geschaffen, die Diversifikationsgebiete erschließen sollte. Dornier verselbständigte diese Abteilung 1962 in der „Dornier System GmbH“, in der später unter anderem auch die Sparte „Raumfahrt“ entstand, und zog sich noch im selben Jahr aus der Firma zurück (die 1985 schließlich an die Daimler-Benz AG verkauft wurde).
Als Claude Dornier 1969 stirbt, ist gerade der erste Mensch auf dem Mond gelandet und es beginnt eine neue Ära …
– Satelliten –
Als Claude Dornier starb, hatte sich die Luftfahrt längst international etabliert – genauso wie die Luftbildfotografie. Dann jedoch beginnt der Computer zunehmend wichtiger zu werden, zum Beispiel beim sogenannten Bündelblockausgleich, das heißt der Auswertung und Zusammensetzung von Luftaufnahmen, wofür seit Ende der 1980er Jahre großformatige Fotoscanner eingesetzt wurden. Die bis dahin noch üblichen analogen Verfahren der Bildauswertung wurden nun endgültig durch digitale ersetzt, wobei die Volldigitalisierung erst in den 2000er Jahren erfolgte: nun wurde die Luftbildfotogrammetrie (bei der ein Satz von Datenpunkten in ein dreidimensionales Koordinatensystem übertragen wird) von digitalen Sensoren abgelöst.
Inzwischen sorgen Computer, das Internet und die satellitengestützten Navigationssysteme dafür, dass Karten digital generiert werden. Das von Carl Friedrich Gauß (1777-1855) entwickelte Verfahren der „Triangulation“ ist dabei prinzipiell noch immer gültig, auch wenn die US-Weltraumbehörde „National Aeronautics and Space Administration (NASA)“ im Hinblick auf die Positionsbestimmung bereits 1972 mit dem ersten Fernerkundungssatelliten die Ära der digitalen Satellitenkartografie einleitete.
Seit die Sowjetunion 1957 mit dem „Sputnik“ den ersten Satelliten (vom lateinischen „satelles“ für „Begleiter, Leibwächter“) in eine Erdumlaufbahn brachte, folgten tausende von Erdsatelliten, die seitdem unablässig Signale für die Positionsbestimmung senden. Bei den satellitengesteuerten Navigationssystemen werden die von den Erdsatelliten digital übermittelten Information über den Standort von Bodenstationen umgewandelt – wobei das bekannteste sicherlich das amerikanische „Global Positioning System (GPS)“ sein dürfte, das spätestens seit den 1980er Jahren herkömmliche Vermessungsmethoden ablöste.
Noch bevor die NASA, ebenfalls im Jahr 1972, das Landsat-Programm begann, schickte die Sowjetunion 1961 mit Juri Gagarin den ersten Menschen in die Schwerelosigkeit, dem 1969 Edwin Aldrin und Neil Armstrong als erste Menschen auf dem Mond folgten. Außerdem landeten Sonden auf den Planeten Venus (1970) und Mars (1977) – ganz abgesehen von den vielen Satelliten, die bereits zu dieser Zeit in den Orbit geschickt wurden. Der größte unter ihnen ist zweifellos die seit 1998 aufgebaute „Internationale Raumstation / International Space Station (ISS)“. Die ISS ist die größte Raumstation der Menschheit – fünf Raumfahrtagenturen aus 16 Staaten sind an ihrem Aufbau beteiligt – und zugleich der größte Satellit im Erdorbit. Dort kreist sie in einer Höhe von rund 400 Kilometern – und ist von der Erde sogar mit bloßem Auge zu erkennen (verschiedene Apps helfen dabei, zum Beispiel folgender „ISS Detektor“).
Zu den vielen Satelliten, die um unseren Planeten kreisen, gehörten auch jene des Landsat-Programms der NASA, die mit Multispektralscannern ausgestattet waren und Lichtwellen und Wärmeenergie maßen, die von der Erdoberfläche ausgingen, und in digitale Bilder umsetzten. Auf dem Material des 1999 in eine Umlaufbahn um die Erde geschickten Satelliten Landsat-7 basieren heutzutage die Kartendienste des Internets wie beispielsweise „Google Maps“.
Auch Europa schickte ab den 1990er Jahren Satelliten in eine Umlaufbahn um die Erde. Nach dem Erdbeobachtungsprojekt „Kopernikus“ 1998 war der „Envisat“ (Environmental Satellite) 2002 der vorläufig letzte und sandte bis 2012 Daten zur Atmosphäre, Temperatur der Weltmeere, tektonischen Plattenverschiebungen, Wachstumsphasen von Pflanzen, Veränderungen der Vegetation, Waldbränden beziehungsweise Verfassung von Waldbeständen (Abholzung) und zur Umweltverschmutzung et cetera. Seit 1999 beobachtet auch der Satellit „Terra“ des „Earth Observing System (EOS)“ der NASA die Erde.
Die Tendenz bei der Erdbeobachtung geht nicht nur in Richtung der Genauigkeit (hier existieren bereits Anwendungen mit einer globalen Genauigkeit von 5-10 Millimeter), sondern dahin, Veränderungen aufzeigen zu können – zukünftige Entwicklungen. Etwa 500 Millionen Quadratkilometer misst die Oberfläche unseres Planeten. Und die unterliegt einer ständigen Veränderung. Mit den von den Satelliten gelieferten Informationen analysieren Klimaforscher die globalen Veränderungen. Es geht darum, Zeitprozesse zu erfassen, die sich unserem Blick ansonsten entziehen. Die Zuverlässigkeit von Klimamodellen und -prognosen soll so überprüft werden.
Die Satelliten liefern aber auch andere Daten, die wir von der Erde aus gar nicht wahrnehmen könnten: Die Sensoren der Satelliten registrieren zum Beispiel die unterschiedliche Landnutzung beziehungsweise die globale Verteilung landwirtschaftlicher Nutzflächen und was darauf wächst, ob ein Feld nass oder trocken ist und wie es um den Bedarf steht, die Felder gegebenenfalls zu düngen. Kombiniert mit Daten anderer Satelliten, zum Beispiel von Wettersatelliten, kann man auch Prognosen zur zukünftigen Entwicklung erstellen.
Außerdem wird im „Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)“ in Oberpfaffenhofen (wo sich bis ins Jahr 2000 der Werksflughafen der Dornier-Werke befand) mit „Tandem X“, einem stereoskopisch arbeitenden Satellitenpaar, ein neues System zur Erstellung einer Topographie der Erde entwickelt, das bisherige Systeme um das dreißigfache an Genauigkeit übertrifft. „Tandem X“ soll erstmals weltweit einheitliches Kartenmaterial mit homogenen Höhenmodellen liefern. Außerdem können solche Radarsatelliten wichtige Informationen im Hinblick auf den Rückgang von Gletschern oder auch bei Naturkatastrophen liefern (bei Überschwemmungen können so zum Beispiel hydrologische Abflussprognosen entwickelt werden).
So werden inzwischen jedes Jahr etwa 300 neue Satelliten ins All geschossen. Etwa 7.000 Satelliten befinden sich inzwischen dort. Davon allerdings sind nur etwa 15 Prozent auch funktionsfähig, beim Rest handelt es sich um Schrott. Nach zehn Jahren haben Satelliten bisweilen ausgedient und gesellen sich zu den mittlerweile geschätzt 9.400 Tonnen Trümmerteilen, die im Orbit kreisen (etwa 34.000 Bruchstücke, die größer sind als zehn Zentimeter und etwa 900.000, die größer als ein Zentimeter sind – etwa zwei Drittel davon im „Low Earth Orbit“. Und da die Trümmerteile im All etwa zehn Mal schneller fliegen als eine Gewehrkugeln auf der Erde, können selbst kleinste Objekte Satelliten zerstören, dessen Bruchteile wiederum andere Satelliten bedrohen et cetera. Man spricht in diesem Zusammenhang vom „Kessler-Syndrom“ …)
Raumfahrzeuge in einer niedrigen Umlaufbahn im „Low Earth Orbit“ zwischen 200 und 2.000 Kilometer (der „Weltraum“ beginnt schon in dem Bereich zwischen 80 und 100 Kilometer), sind darauf ausgerichtet, auf die Erde zurückzukehren – sie stürzen regelmäßig als Wracks vom Himmel. Die Kommunikations-, Erderkundungs-, Wetter- und Spionagesatelliten dieser Umlaufbahn erhitzen sich beim Eintritt in die Erdatmosphäre auf 1.400 Grad Celsius und sollten eigentlich schmelzen – aber Objekte aus feuerfesten Materialien wie Titan, Kohlenstoff und sogar Edelstahl, der hohen Temperaturen trotzt, schmelzen nicht. So stürzen zehn bis zwanzig Prozent des Materials tatsächlich auf die Erde.
Am meisten belastet ist die Region zwischen 800 und 1.000 Kilometer, weil das die bevorzugte Bahn ist für Erdbeobachtungssatelliten. Und auch die Flotte der ESA befindet sich größtenteils in dieser Bahnhöhe. (Die ESA reagiert auf Kollisionswahrscheinlichkeiten von 1 : 10.000 und muss nach eigenen Angaben dennoch mindestens alle zwei Wochen ein Ausweichmanöver für einen ihrer Satelliten veranlassen.) Im „Medium Earth Orbit“ zwischen 2.000 und 35.780 Kilometer sind dann zum Beispiel die Navigationssatelliten wie das amerikanische GPS oder das europäische „Galileo“ unterwegs. Und im „Geostationären Orbit“ ab 35.780 Kilometer Höhe sind die Satelliten für die Fernsehübertragung unterwegs (der Mond zum Vergleich befindet sich 384.000 Kilometer von der Erde entfernt).
Die geschätzten Kosten für eine Reinigung des Weltalls beliefen sich inzwischen auf etwa 600 Milliarden Dollar. Es gibt zwar Vorschriften zur Begrenzung der Verschmutzung durch die Weltraumorganisationen (zum Beispiel die Entsorgung von Satelliten nach einer Verweildauer von höchstens 25 Jahren nach dem Missionsende) – verbindlich aber sind diese Vorschriften nicht: der Flugverkehr im Orbit ist nicht reguliert, es gibt kein Lotsensystem für Satelliten, überhaupt kein „Air Trafic Control“. Und seit 1970 hat es auch keinen neuen, international verbindlichen Vertrag über die Nutzung des Weltalls mehr gegeben, obwohl 1993 das „Inter Agency Space Debris Coordination Committee“ gegründet wurde und es seit 2002 die sogenannten „Space Debris Mitigation Guidelines“ gibt: Richtlinien zur Vermeidung von Müll im All.
Einzig Frankreich regelt das Problem des Weltraumschrotts seit 2010 gesetzlich. In Cannes liegt der Sitz des größten Satellitenherstellers in Europa („Thales Alenia Space“): sie füllen die Tanks der Satelliten mit zusätzlichem Treibstoff, damit sie später in die Atmosphäre zurückkehren und dort verglühen können. Ansonsten ist bisweilen nur ein Weltraumfriedhof für deaktivierte Geräte in über 36.000 Kilometer Höhe geplant – aber auch das kann keine dauerhafte und endgültige Lösung sein.
Nicht zuletzt deshalb soll das Schweizer Start-up „Clear Space“ aus Lausanne im Auftrag der ESA 2025 den ersten Müllräumer-Satelliten starten. Und das wäre auch notwendig. Denn „New Space“ – die Kommerzialisierung des Alls – hat ja gerade erst angefangen, beispielsweise durch die „Starlink“-Satelliten der Firma „SpaceX“, mit denen Elon Musk die Ukraine dabei unterstützten möchte, ein von Rußland unabhängiges Kommunikationssystem (Internet) aufzubauen.
Starlink ist ein satellitenbasiertes Internetsystem, das abgelegenen Gebieten weltweit Internetzugang verschaffen soll (auch wenn die Internetverbindungen durch Satelliten-Internet sehr viel langsamer sind als erdgebundene Glasfaserkabel). Es wird seit Jahren von SpaceX aufgebaut und wird beworben als „ideal geeignet“ für Gegenden, in denen der Internetzugang unzuverlässig oder nicht vorhanden ist. Schon bald nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine schrieb der ukrainische Ministers für digitale Transformation eine Twitternachricht: während Musk versuche, „den Mars zu kolonisieren“, versuche Russland, die Ukraine zu besetzen. Er rief Musk öffentlich dazu auf, sein Land mit Starlink-Stationen zu versorgen. Musk reagierte: „Starlink-Dienst ist jetzt in der Ukraine aktiv. Weitere Terminals auf dem Weg.“
Musks Projekt eines Satelllitennetzwerks im Weltall kann in der Ukraine sicherlich helfen – ist aber insgesamt nicht unumstritten. Denn es benötigt eine hohe Anzahl Satelliten: Derzeit sind es schon rund 1.800 Starlink-Satelliten, die um die Erde kreisen, es sollen aber noch viel mehr werden: tausende weitere sind in Planung. Mit der Zahl der Satelliten wächst aber auch die Gefahr von Kollisionen, wodurch weiterer Weltraum-Müll entstehen kann.
Man geht davon aus, dass es bald bis zu 50.000 Satelliten sein dürften, die ihre Bahnen um die Erde ziehen, wobei der Trend zu Mini-Satelliten geht, die nurmehr eine bestimmte Funktion beziehungsweise Aufgabe haben. Der Flugverkehr um die Erde wird also in den nächsten Jahren noch einmal gewaltig zulegen …
Übers Fliegen …
Der Blick von oben – er steht am Anfang des Fliegens: Seit jeher verfügt der Mensch über das Vermögen, Sinneswahrnehmungen von verschiedenen im Raum gewählten Standorten auch außerhalb seines Körpers zu erleben, sich und seine Umwelt auch außerhalb des eigenen Körpers von oben vorzustellen und zu beobachten. Das menschliche Bewusstsein ist in der Lage zu schweben, sich selbst fliegen zu lassen und gewissermaßen von oben ein realistisches Bild von sich und seiner Umgebung zu entwerfen.
Wie das im Detail funktioniert, ist unklar, gleichwohl sind zahlreiche Karten und Höhlenmalereien aus der vorindustriellen Ära überliefert, die vogelperspektivisch Landschaften von oben zeigen. Solche Überlieferungen zeugen von der erstaunlichen Fähigkeit, „in der Horizontlinie erworbene Sinnesdaten in die Senkrechte zu übersetzen, sich selbst und seine Landschaften von oben zu betrachten und detailliert vom Fliegen zu träumen“, wie Bernd M. Scherer in einer von Thomas Hauschild et al. herausgegebenen Ausstellungspublikation zu Kulturgeschichte und Technologien des Fliegens (2011) im Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin schreibt.
Möglich ist das aufgrund unseres Gleichgewichtssinns, dessen Organ sich in unserem Innenohr befindet und aus drei winzigen, schlaufenförmigen Röhren besteht. In den drei Röhren des Gleichgewichtsorgans, die deutlich die drei Dimensionen des Raumes nachvollziehen, befindet sich eine Flüssigkeit, deren Stand von feinen Härchen an das Gehirn gemeldet wird. Außen an den dreidimensionale angeordneten Schlaufen befinden sich noch winzige Fühler, welche die Vor- und Zurückbewegung des Gesamtkörpers registrieren und an das Gehirn weitermelden. So besitzen wir, wie es in der oben erwähnten Ausstellungspublikation von Hauschild et al. heißt, „ein perfektes Instrument zur Messung der Lagerung und Wegung des Körpers im Raum. (…) Wenn dieses System versagt, spricht man von `vestibulären Störungen´, also von `Vorraum´-Störungen des Gehirns, in dessen eigentlichem `Wohnbereich´, in der (Gehirn-)Kammer, alle Sinneswahrnehmungen bearbeitet und zu einem Bild des Raumes und der Lage des Körpers im Raum verarbeitet werden.“ (Am dreidimensional den Raum abbildenden Gleichgewichtsorgan im menschlichen Ohr orientiert sich auch der für das Fliegen unentbehrliche Kreiselkompass. Der 1904 erstmals patentierte Kompass misst Bewegungen im Raum im Zusammenhang mit der Bewegung der Erdachse.)
Angeregt wurde diese menschliche Fähigkeit einerseits wahrscheinlich durch das Gehen beziehungsweise den aufrechten Gang – die erhöhte Position –, andererseits aber wohl auch durch die sich gegenseitig bedingende Entwicklung von Techniken des Werfens und Gehirn: Das Bewusstsein des Menschen ist fähig zum Flug, zur mentalen Konstruktion des Raumes von oben, zum Bewusstseinssprung von einem Punkt im Raum zum Nächsten und zurück in den eigenen Körper – aber auch zum Abschätzen der Verhältnisse zwischen Entfernung, Schwerkraft und Muskelkraft in einem gegebenen Raum. In kompliziertesten neuronalen Verschaltungen mit den Muskeln und dem Nervenapparat erlauben diese Sinneskombinationen, dass Menschen aufrecht gehen.
Jeder menschliche Körper trägt diese Prozesse in sich und verfügt über die Fähigkeit, sich selbst dabei zu beobachten, wie er Handlungen ent-wirft und durchführt. Diesen Prozess nervlicher Aktivität zur Schaffung einer inneren Handlungsbereitschaft nennen Physiologen Ballistik. „Ballistik“ bedeutet wörtlich „Lehre vom Werfen“ – und der Ballistik des menschlichen Bewusstseins liegt die Abbildung der Lage des Körpers im Raum durch den Gleichgewichtssinn zugrunde. Und von hier ist es dann auch kein weiter Weg mehr, immer auf der Flugbahn des Begriffs der Ballistik, zu den Wurf-, Schuss- und schließlich Flugtechnologien, welche die Menschheit hervorbringen sollte.
Am Anfang dieser Entwicklung steht das gezielte Werfen als ein praktisch allein dem Menschen vorbehaltenes Vermögen. Kontinuierlich werden dabei die Flugeigenschaften und die Aerodynamik der Wurf- beziehungsweise Jagdwerkzeuge verbessert. Der älteste bekannte Bumerang beispielsweise ist 23.000 Jahre alt (er wurde übrigens in der Oblazowa-Höhle in den polnischen Karpaten gefunden und ist aus dem Stoßzahn eines Mammuts gefertigt, weshalb er mit 800 Gramm relativ schwer ist im Vergleich mit einem Holzbumerang, wie ihn die Aborigines gebrauchten, und dessen älteste noch erhaltenen Exemplare etwa 10.000 Jahre alt sind).
Insgesamt also haben sich so „Technik, Körperlichkeit und Traum“, schreibt Scherer, „untrennbar miteinander verbunden zum Bild eines Menschen, der fliegen kann, bevor er die Fähigkeit erlangt, seinen Körper durch die Luft zu transportieren.“
Der tabuisierte Himmel
Lange galt der Sturz des Ikarus den Menschen als Warnung. Der antike Mythos vom fliegenden Menschen warnt vor dem Hochmut gegenüber den Göttern: Dass sich der Mensch über die Naturgesetze hinwegsetzt, seine Grenzen überschreitet, können die Götter nicht dulden … Schon über die antike Sage des Ikarus erfolgte so eine religiöse Tabuisierung des Himmels, die Aristoteles (384-322 v.u.Z.) dann gewissermaßen festschrieb.
Aristoteles skizzierte das Modell eines Universums, in dessen Zentrum nicht die Sonne, sondern die unbewegliche Erde ruhte. Nur was sich zwischen Erde und Mond bewegt, also in der sublunaren Welt, war ihm zufolge meteorologischer Natur, also Veränderung unterworfen, was sich hingegen jenseits des Mondes befand, die Sterne beispielsweise in der supralunaren Welt, war göttlicher Natur und insofern auch unveränderlich.
Aristoteles` Weltbild wurde von Claudius Ptolemäus (100-160) noch etwas präzisiert – bevor schließlich die christliche Kirche dieses ptolemäische System auf der Basis von Aristoteles übernahm. Die Tabuisierung des Himmels fand dabei insbesondere in Zusammenhang mit der Auferstehung ihr Fortsetzung. Von „Auferstehung“ wird zwar selten direkt gesprochen, sondern öfter beispielsweise von „Erweckung“, aber auch der Begriff der „Erhöhung“ taucht auf (im Psalm 110) – und schließlich schreibt Lukas (in Vers 24,51) davon, dass Jesus „in den Himmel emporgehoben wurde“.
So ist also vor allem das Schweben religiös konnotiert und dient „zur Legitimation einer theologischen Evidenz (als Gottesbeweis)“, wie Viktoria Tkaczyk in „Himmels-Falten – Zur Theatralität des Fliegens in der Neuzeit“ (2011) schreibt. Es stelle „eine Art Selbst- oder vielmehr Eigenbeweglichkeit dar, die lediglich sakralem Personal zugesprochen werden konnte“, sagt sie. Entsprechend auch sind „Bilder und Texte des schwebenden menschliches Gottes allgegenwärtig in den christlichen Kirchen“, heißt es bei Thomas Hausschild et al. diesbezüglich.
Nichtsdestotrotz sollten gewisse religiöse Praktiken – Exerzitien, Bußriten oder Schmerzensandachten –, den Gläubigen ermöglichen, die Leiden Christi am Kreuz über ihnen, an sich selbst nachzuerleben und sich so gewissermaßen in ein bewusstes, vom Körper gelöstes, schwebendes Seelenleben zu versetzen. All das steht in Zusammenhang mit einer religiösen Frömmigkeit, die bereits im 12. Jahrhundert ihren Anfang nahm und das Glaubensbewusstsein gläubiger Christen bis heute beeinflusst: Das Mitfühlen beziehungsweise -leiden beruht hier auf einem affektiven Sich-Hineinversetzen in das Leiden Jesu, wobei das verehrte Kruzifix „wie eine projizierte außerkörperliche Erfahrung über den Gläubigen schwebt. (…) Das Bewusstsein springt in einen anderen Körper und wieder … gerät die Seele ins Schweben“, heißt es hierzu bei Hauschild et al. Über das Mitleid könne so also das schwebende Bewusstsein wie bei einem Nahtoderlebnis am eigenen Leib erfahren werden.
Unabhängig davon aber sollte das Fliegen noch lange ein religiöses besetztes Tabu bleiben. Anschaulich wurde die Tabuisierung des Himmels für den Menschen jedoch nicht erst in der Kirche, sondern schon im antiken Theater: Auch hier ist das Fliegen den Göttern vorbehalten, deren Auftritte stets als deus ex machina, mittels eines Flugeffekts also, inszeniert wurden. Im antiken Theater ab dem 5. Jahrhundert v.u.Z. erscheinen die Götter bisweilen plötzlich am Schluss eines Dramas, wenn die tragische Situation ausweglos und eine andere Lösung nicht möglich erscheint. Sie erscheinen dabei gar nicht unbedingt als Retter, sondern in ihrem Auftritt liegt etwas Kathartisches: Der deus ex machina der antiken Tragödie fungiert dann als ein Mittel zur „Harmonisierung des tragischen Konfliktes zwischen mythischer Schicksalsmaschinerie und individuellem Drama“, schreibt Tkaczyk. Unabhängig davon aber konstruierte man hier erstmals Maschinen, mit denen das bis dahin tabubehaftete Motiv des Menschenfluges tatsächlich realisiert wird. Schon immer werden im Theater auch die Träume des Menschen verhandelt …
– Deus ex machina – Flugmaschinen im antiken Theater –
Der deus ex machina ist eine Inszenierungstechnik des antiken Theaters, bei der vornehmlich göttliche Figuren oder Personen in göttlichem Auftrag mittels einer mechanischen Konstruktion – einer Flugmaschine – auf die Bühne schwebten. Zwar erlauben archäologische Ausgrabungen keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Funktionsweisen dieser Flugmaschinen in der antiken Tragödie, erhaltene Muschelkalkblöcke im Athener Dionysostheater aber, so schreibt Tkacyzk, „könnten Teil einer mechané gewesen sein“, wie sie „seit den Aufführungen der Euripideischen Tragödie Verwendung fand, oder zuvor (bei Aischylos und Sophokles) nur in Einzelfällen eingesetzt und erst durch Euripides zur Konvention entwickelt wurde“.
Das antike Theater umfasste drei verschiedene Bereiche, die zu einer Einheit zusammengefasst wurden: das Théatron (Zuschauerraum), die Orchestra (das Kreisrund vor der Bühne) und die Skené (das Bühnengebäude im Hintergrund beziehungsweise die Bühne). Im antiken Theater fehlt zunächst noch jeder Hinweis auf ein Bühnengebäude. Die Skené, das Bühnengebäude im Hintergrund des dramatischen Geschehens, war insofern zunächst nichts als ein Zweckbau – den Aischylos dann aber, etwa um 460, direkt ins Blickfeld der Zuschauer gerückt und zugleich ins Spiel einbezogen hat, indem er den Darstellern die Möglichkeit bot, von einem „Innenraum“ heraus aufzutreten. „Die Blicke der Zuschauer“, schreibt Horst-Dieter Blume in seinem Text „Zur Aufführungspraxis griechischer Tragödien und Komödien“ in Gerhard Binders (u.a.) „Das antike Theater“ (1998), „wurden fortan definitiv in eine feste Richtung gelenkt, und es ergab sich die uns vertraute Zentralperspektive im Theater. Es war eine durchaus logische Konsequenz, wenn man nun vor dem Skenengebäude ein Spielpodest als Bühne etablierte, das gegenüber der Orchestra um wenige Stufen erhöht war.“
In dem Maße, in dem das tragische Geschehen zunehmend auf die Skené, also auf die Bühne hinter der Orchestra verlegt wird, gewinnt auch die Theatermaschinerie an Bedeutung. Man unterschied dabei im antiken Theater zwei Maschinen mit jeweils unterschiedlichem, beträchtlichen Potential für spektakuläre dramatische und visuelle Effekte: Mechané und Ekkyklema. „Dem antiken Publikum wurde Gewalttätigkeit in ihrem Vollzug nicht vor Augen geführt“, schreibt Blume; „das Resultat jedoch – der Anblick eines grausam Erschlagenen – blieb ihm nicht erspart. Der Dichter bediente sich dazu einer neuartigen Theatermaschine (des sog. Ekkyklemas), die das Vorhandensein eines Bühnengebäudes voraussetzt. Es handelt sich nämlich um eine aus dem Inneren des Hauses herausrollbare Plattform, auf welcher unvermittelt Täter und Opfer als ein blutiges Tableau vorgezeigt wurden.“
Neben dem Ekkyklema gab es noch eine zweite Theatermaschine: Dies war ein Kran oder Flugapparat, Mechané genannt, mit dessen Hilfe Götter sich durch den Raum bewegen konnten. Bekannt wurde dieser Kran eben durch den sprichwörtlich gewordenen deus ex machina, der als Retter aus einer ausweglosen tragischen Situation aus dem Nichts erschien beziehungsweise herbeiflog.
Mit dem Kran konnten die Darsteller vom Skenédach entweder zur Bühne hinab (und wieder nach oben) befördert oder aber in die Szene hineingeschwenkt werden. Dass es bereits im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung eine Vorrichtung gab, mit deren Hilfe eine oder mehrere Personen samt Requisiten durch die Luft bewegt und entweder auf dem Dach der Skené oder davor abgesetzt werden konnten, ist unstrittig. Nicht klar jedoch ist, wie diese Maschine, die sicher auch zum Auf- und Abbau des jährlich neu errichteten Bühnenhauses verwendet worden ist, im einzelnen funktionierte. Man geht davon aus, dass die Darsteller frei schwebend durch Gurte und Taue an dem Kran befestigt waren, auch von einer schwebenden, drehbaren Plattform (ekkyklema) war die Rede, auf der die Darsteller standen, oder dass sie in einem am Kran angebrachten Himmelswagen saßen. Auch ein aufgehängter Korb war wohl gebräuchlich.
Der Kran dürfte direkt hinter dem Bühnengebäude gestanden haben. Wenn er nicht gebraucht wurde, lag der schwenkbare Arm wahrscheinlich, wie Bernd Seidensticker in „Das antike Theater“ (2010) schreibt, „waagerecht auf einem Hilfsständer oder auf dem hinteren Rand des Bühnendachs, so daß er nicht auffiel und sein plötzliches Aufrichten den zweifellos beabsichtigten Effekt der Überraschung auslösen konnte“.
Auch wenn sich in vielen Fällen nicht entscheiden lässt, ob die auftretenden Götter tatsächlich mit dem Theaterkran eingeflogen wurden oder ihr Auftritt anders inszeniert wurde, so ist doch unstrittig, dass die Verwendung der mechané in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung vor allem in der Tragödie weitverbreitet war. Allerdings kritisierte bereits Aristoteles in seiner Poetik den offenbar allzu beliebten Gebrauch des deus ex machina innerhalb der Dramenhandlung und erklärt, dieser dürfe allenfalls zur Erläuterung der Vorgeschichte oder zur Vorhersage der Zukunft verwendet werden.
– Euripides` Bakchen –
Euripides besaß eine besondere Vorliebe für Epiphanien eines Gottes aus der Höhe – also für Auftritte eines Gottes mittels eines deus ex machina: ein rundes Dutzend Beispiele finden sich in seinen erhaltenen Stücken (allerdings findet sich nur an einigen Stellen ein ausdrücklicher Hinweis auf ein Herbeifliegen). Dann erhob sich hinter dem Skenégebäude der Arm des (natürlich hölzernen) Krans und schwenkte über das Dach in den Bühnenraum hinein. Der Einsatz dieses nicht gerade eleganten technischen Mittels unterstrich die Theatralik des Vorgangs – realistisch war das natürlich nicht und so sollte/konnte es auch nicht gedacht sein.
Während der Effekt, das heißt der göttliche Auftritt bei Sophokles allein „der Handlungslösung im Moment der Katastrophe“ diente, wie Tkacyzk schreib, verbindet Euripides, vor allem in seiner letzten Tragödie, den „Bakchen“, mit dem Auftritt des Dionysos eine unverhohlene Kritik an den Göttern, indem er „ihm eine unheilvolle, tyrannische Kraft zuschreibt“, die soweit geht, dass die Mutter Agaue in dionysischer Raserei ihren Sohn als wildes Tier ansieht, über ihn herfällt und grausam zerreißt. Als sie aus ihrer bacchantischen Verblendung erwacht, erscheint Dionysos deus ex machina auf der Bühne und demonstriert seine göttliche Macht über das Schicksal der Menschen – denen fortan nichts bleibt, als ihr Leid.
Der tragische Konflikt, die Tragödie zwischen mythologischer Ordnung und menschlicher Ordnung, wird hier durch Dionysos nicht aufgelöst, das heißt, die Lösung „äußerst sich allein in der Klage der Protagonisten, ihrem schweigenden Abgang und der kathartischen Wirkung dieses Schweigens. Einer Katharsis allerdings, die im Falle der Bakchen keiner rituellen Reinigung gleichkommt, wie es die Aristotelische Poetik später erneut verlangt, sondern vielmehr einer Befreiung aus der Perspektive der griechischen Götterwelt“, wie Tkaczyk schreibt. Das Theater eröffnet so gewissermaßen aber auch einen Weg aus der mythischen Schicksalhaftigkeit. Anders – mit Tkaczyk – gesagt: „Wo das dialogische Prinzip zwischen Göttermaschinerie und Drama scheitert“, wird Theater „zum kathartischen Proberaum neuer Ideen, denen die Sphäre der ex machina-Götter nicht länger angehört …“
Aber an genau diesem Bruch, das heißt dem unüberbrückbaren Hiatus zwischen der ewigen Ordnung des Mythos und dem vergänglichen menschlichen Drama, nimmt Aristoteles in seiner Poetik Anstoß und fordert „die alleinige Erweiterung der mythischen Perspektive durch den deus ex machina“. Weniger kritisch als Aristoteles gegenüber der Euripideischen Tragödie verhielt sich Aristophanes – aber dafür umso ironischer.
– Aristophanes` Wolken –
Wurden Flugeffekte im antiken Theater zunächst womöglich nur vereinzelt eingesetzt, lässt sich ihre Verwendung mit Sicherheit für Aristophanes` Komödien bezeugen – wo sich anhand szenischer Angaben in den Dramentexten die Theatermaschinerie annähernd nachvollziehen lässt. So heißt es beispielsweise in seiner Komödie „Wolken“ in einer solchen Bühnenanweisung: „Er [Strepsiades] sieht nach oben und erblickt den Kran, mit dem Sokrates, der in einem Korb sitzt, über das Dach des Bühnenhauses geschwungen wird.“
Mit Aristophanes jedenfalls „erreichte die Inszenierungspraxis des antiken deus ex machina zugleich ihren Höhe- und Endpunkt“, bemerkt Tkaczyk. Und dabei führen seine Komödien den deus ex machina „mit den spektakulärsten Mitteln antiker Theatertechnik ad absurdum“. Das gilt besonders für die „Wolken“ – einer vernichtenden Satire auf Sokrates, die wohl auch, wie Christoph Kniest in „Sokrates zur Einführung“ (2012) ausführt, „maßgeblichen Anteil“ daran hatte, dass Sokrates 399 v.u.Z. nach einem spektakulären Prozess in Athen mit dem Schierlingsbecher hingerichtet wurde. Man hatte ihn insbesondere auch deshalb für schuldig befunden, weil er die Götter der Stadt nicht anerkannte …
Aristophanes` Wolken ist eine beißende Satire auf die Aufklärungsbewegung der Sophistik und der Naturphilosphie, die in der Person des Sokrates als sphärisch-weltfremd und zugleich als reale Gefahr für die gesellschaftlichen Werte denunziert wird. Die Karikatur des später zur Symbolfigur aufgeklärter, kritischer Philosophie gewordenen Denkers hat die Wolken in der Neuzeit zu einem der bekanntesten und umstrittensten Stücke des Aristophanes gemacht.
Die Figur des Sokrates hat sich in der Komödie des Aristophanes mit seinen Schülern in ein so genanntes „phrontistérion“ zurück gezogen. „Phrontistérion“ bezeichnet zum einen die architektonisch-bauliche „Denkerstube“, vielleicht aber muss man es mehr noch „als eine Metapher lesen, die das sokratische `Gedankengebäude´ bezeichnet“, wie Christoph Kniest schreibt. Entsprechend auch wird Sokrates von Aristophanes eingeführt als einer, der seine irdische Bodenhaftung verloren hat: „Ich wandle in der Luft und übersehe [periphronô] die Sonne“, ist der zweite Satz des Sokrates in der Komödie (Wo. 225). Strepsiades – ein bodenständiger Bauer, der auf der Suche nach ihm ist, weil er kurz vor dem Bankrott steht und nun jemanden braucht, der die Ansprüche der Gläubiger vor Gericht zurückweisen kann –, ist sich daraufhin nicht sicher, wie er das verstehen soll, denn der Satz ist auch im griechischen Mehrdeutig und kann insofern auch kaum ins Deutsche übersetzt werden: man kann ihn nämlich durchaus auch mit „Ich betrachte den Sonnengott als unwichtig“ übersetzen – und dann wäre Sokrates` Gottesverachtung herauszulesen und mit „du verachtest also die Götter“ zu reagieren …
Sicherlich ist diese Mehrdeutigkeit von Aristophanes gewollt. In der Übersetzung von Niklas Holzberg (2014) jedenfalls bleibt Strepsiades ganz praktisch und bezieht sich auf Sokrates` luftigen Auftritt in der Flugmaschine: „Du übersiehst also die Götter von einem Korb, aber nicht von der Erde aus, wenn überhaupt?“, woraufhin Sokrates antwortet: „Ich hätte ja niemals die überirdischen Dinge richtig entdeckt, wenn ich nicht meinen Geist aufgehängt und die winzigen Teile meines Gedankens mit der verwandten Luft vermischt hätte. Wäre ich aber am Boden gewesen und hätte das Obere von unten betrachtet, hätte ich das niemals entdeckt; denn es ist nicht anders, als dass die Erde mit Kraft die Feuchtigkeit des Gedankens an sich zieht. Dasselbe geschieht auch mit der Kresse.“
Das ist Häresie gegenüber den Göttern. Die „Säkularisierungsleistungen“ der Figur des Sokrates bei Aristophanes, wie Kniest es nennt, gehen aber noch weiter und zielen sogar auf den Sturz des Zeus im Namen eines kosmischen Wirbelwindes, wenn Sokrates lehrt (Wo. 827): „Dinos [Wirbel(wind)] herrscht als König, nachdem er Zeus vertrieben hat.“ Und überhaupt: Zeus, der „Wolkensammler“, wie er in der Mythologie genannt wird, existiere gar nicht: es sei nicht Zeus, der Blitze schleudert und donnert, erklärt die Figur Sokrates in den Wolken (Wo. 395-411), sondern die von Dinos, dem Wirbelwind, bewegten Wolken.
In Aristophanes` Komödie wird Sokrates so insgesamt zu einer windigen Figur, der (pseudo-)naturwissenschaftlich gegen den Götterglaube argumentiert – und sich damit aber letztlich auch gegen die Polis, den Athener Staat, stellt. Das zumindest behauptet die Anklageschrift von drei Athener Bürgern gegen den echten, historischen Sokrates (469-399 v.u.Z.): „Sokrates tut unrecht“, so der Vorwurf, „indem er die Götter nicht anerkennt, welche der Staat anerkennt, dafür aber neue Götter einführt. Er tut ferner dadurch Unrecht, daß er die jungen Leute verdirbt.“
Sokrates verteidigt sich dagegen, indem er erklärt, wie Platon in der Apologie des Sokrates berichtet, schon lange vor dem Prozess gegen ihn verleumdet worden zu sein: Man habe behauptet, er erforsche die Dinge am Himmel und mache die schwächere Argumentation, Sokrates gebraucht dafür den Begriff lógos, zu stärkeren (Apol. 18b). Entsprechend ordnete man Sokrates auch den Sophisten zu, also jenen, die Andere – insbesondere vor Gericht – nicht durch Fakten auf dem Boden der Tatsachen, sondern allein durch ihre hochfliegende rhetorische Überzeugungskraft zur Meinungsänderung überreden können. Er reduziere dabei jedoch die redliche sophistische Methode „die schwächere Rede zur stärkeren zu machen“ auf eine Kompetenz, mit welcher „der, der Unrechtes sagt, das Stärkere umstürzt“, wie Aristophanes in den Wolken (Wo. 884) schreibt. Und darüber hinaus wurde Sokrates abwertend als Naturphilosoph bezeichnet, und dementsprechend – so hatte man ja in den Wolken des Aristophanes gesehen, hebt Sokrates in seiner Verteidigungsrede hervor – werde er ja auch als einer beschrieben, der in der Luft wandle (Apol. 19C mit Bezug auf Wo. 225).
Die damalige athenische Demokratie war kein Rechtsstaat in unserem heutigen Verständnis: über Schuld und Unschuld sowie auch das Strafmaß entschied kein Richter, sondern die Mehrheit eines Volksgerichts, bestehend aus 501 ausgelosten athenischen Bürger. Die Verurteilung von Sokrates erfolgte aufgrund einer geringen Mehrheit von dreißig Stimmen, das Strafmaß, die Todesstrafe, mit 361 Stimmen allerdings deutlicher, was daran gelegen haben mag, dass Sokrates` Gegenantrag als Provokation empfunden wurde: folgt man Platons frühen Sokrates-Dialogen, die dem authentischen Sokrates wohl nahekommen, enden seine Lehren durchweg aporetisch, das heißt sie bieten am Schluß keine Lösung, sondern nur den Vorsatz, von vorn anzufangen (Platon führt zum Beispiel folgende Argumentation bei Sokrates an: Um fromm zu sein, muß man wissen, was Frömmigkeit ist. Fromm ist, was den Göttern gefällt; ist es nun aber fromm, weil es den Göttern gefällt, oder gefällt es den Göttern, weil es fromm ist?).
„Das Sokratische Denken bleibt offen, bleibt in Bewegung. Es ist gefährliches Denken insofern“, schreibt Walter Reese-Schäfer in seiner Einführung zu „Antike politische Philosophie“ (1998), „als es jederzeit alle festen Ergebnisse aufs Spiel setzt und dadurch provozierend wirkt. Ein gefährliches Denken im Sinne des Nihilismus wird erst dann daraus, wenn man aus den Nicht-Ergebnissen des Sokrates negative Ergebnisse macht.“ Und das taten nun die Zuhörer von Sokrates` Verteidigungsrede, „die aus dem Scheitern der Definition von Gerechtigkeit oder Frömmigkeit zu dem Schluß kamen, dann sei man frei, ungerecht und gegen die Götter zu handeln“, wie Reese-Schäfer bemerkt.
Aus dem Prozess hat Platon Konsequenzen gezogen, das heißt er „verlor den Glauben an die Polis“, bemerkt Reese-Schäfer und führt fort: „Vor allem aber begann er sicheres Wissen jenseits der bloßen Meinung zu suchen.“ Hier liegt womöglich auch der Ursprung der politischen Philosophie, wie Hannah Arendt in ihrem posthum veröffentlichen „Was ist Politik?“ schreibt: Platon hat versucht, eine politische Theorie zu entwickeln, „in der die Maßstäbe des Politischen nicht aus diesem selbst, sondern aus der Philosophie geschöpft sind“. Deshalb entwickelt er seine Ideenlehre, denn nur definierte Begriffe seien unwandelbar. Platon suchte also festen Halt – anders als Sokrates, der noch frei in der Luft wandelte (sphärisch-weltfremd). Aber das sollte ihm schließlich ja auch zum Verhängnis werden …
Schweben
Ende des 19. Jahrhunderts werden immer mehr bislang unsichtbare Kräfte entdeckt, die die Welt im Innersten zusammenhalten, man denke nur an die Entdeckungen im Bereich der Elektrizität und Radioaktivität. Diese Entdeckungen führen dazu, dass sich die Aufmerksamkeit vermehrt weg von der Materie und dem statischen Zustand hin zur Dynamik und Bewegung von Körpern verschiebt. Das gilt auch für den österreichischen Physiologen Sigmund Exner (1846-1926), der 1882 seine Studie über „Die Physiologie des Fliegens und Schwebens in den Bildenden Künsten“ veröffentlichte.
Exner stellte hier die Frage, wie es gelingen kann „Objecte und Vorgänge, die nie ein Mensch gesehen hat, ja, deren Existenz zu den Unmöglichkeiten gehört“, glaubhaft darzustellen. Insbesondere die Darstellung des Schwebens als ein Signum des sakralen Personals interessierte ihn in diesem Zusammenhang beziehungsweise die naturalistische Darstellung eines Objektes, so als ob es wirklich, gemäß physikalischer und physiologischer Gesetzmäßigkeiten, schwebe.

Raphael, „Der Triumph der Galatea“ (1512), Royal Academy of Arts
© Prudence Cuming Associates Limited
Mit einer physiologischen Betrachtung und Berechnung einer geflügelten Putte (Amorette) in Raphaels „Triumph der Galatea“ (1512) versucht Exner dem Rätsel der schwebenden Luftgestalten in der Malerei näher zu kommen. Auf Basis eines Kräfteschemas versucht er den wahrscheinlichen Luftwiderstand zu berechnen, aus dem die Stellung der Putte resultiert. Anschließend versucht er zu eruieren, „wie schnell sich die in Rede stehende Putte vorwärts bewegen muss, damit die ihr von Raphael zugeteilte Stellung physikalisch begründet sei“. Er kommt dabei zu dem Schluss: „Sie müsste sich mit einer Geschwindigkeit von 54 Meter in der Secunde bewegen. Es ist das die Geschwindigkeit, welche mehr als das Doppelte von der Geschwindigkeit eines Sturmes ist, der Bäume entwurzelt und Gebäude niederreißt.“
Das erscheint Exner faktisch unmöglich. Gleichwohl spricht er dem Bild nicht ab, sich im Rahmen des Möglichen zu bewegen. Um im Betrachter die Vorstellung des Schwebens und ein Für-Möglich-Halten des faktisch Unmöglichen zu evozieren, müsse ein Maler Assoziationen und Erinnerungsbilder zu bereits Bekanntem wecken, ohne dabei den Möglichkeitsraum des Vorstellungsvermögens zu verlassen, „(d)enn der Künstler erreicht seinen Zweck nur, wenn er die entsprechenden Ideenassociationen wachzurufen vermag“. Im Hinblick auf das Schweben erkennt er dabei Analogien zum Schwimmen: „Was als ein Schweben gemalt wird, ist häufig nichts als ein Schwimmen mit einigen Modificationen. (…) In der That ist der menschliche Körper im Wasser ganz oder nahezu schwerelos, das Schwimmen ist ein Schweben im Wasser, und der menschliche Körper liefert uns einzig und allein dann ein Bild des Schwebens, wenn er im Wasser ist. Ich habe bisweilen den schönen Traum, zu fliegen.“
– Nur warme Luft –
Exner bestimmt das Schweben, im Kontrast zum Fliegen, als einen Zustand der Ruhe beziehungsweise Bewegungslosigkeit, der sich insbesondere durch das Fehlen eines Kraftaufwandes, wie er beim Flügelschlag sichtbar ist, auszeichnet: „„Im Gegensatz zum Fliegen“, schreibt er, „nennen wir ein Object schwebend, wenn es sich ohne eigene Kraftleistung frei und verhältnismäßig ruhig in der Luft erhält“. Anders als ein Vogel, „dessen Kraftleistung wir an den Flügelschlägen erkennen“, könnte eine „menschliche Gestalt schweben, wenn sie `schwerelos´ wäre, oder physikalisch correcter ausgedrückt, wenn sie das Gewicht hätte, welches ein dem ihren gleiches Volumen Luft besitzt“. Schweben erfolgt insofern nach dem Prinzip: leichter als Luft.
Beim Schweben fungiert Luft als eine Art Trägermedium. Das galt auch für die Montgolfière der Gebrüder Joseph Michel und Jacques Étienne (de) Montgolfier, der als erster Heißluftballon gilt. Den beiden Papierfabrikbesitzern war es 1783 erstmals gelungen, einen aus Leinwand bestehenden und mit Papier luftdicht abgedichteten Ballon nur mit „leichter Luft“, also mittels Verbrennung erhitzter Luft, etwa zehn Minuten in der Luft zu halten. Der unbemannte Ballon soll dabei angeblich auf eine Höhe von 2.000 Meter gestiegen sein. Wenig später erfolgte dann die erste bemannte Luftfahrt mit einer Montgolfière: der Ballon war noch mit Seilen am Boden verankert und erreichte deshalb nur eine Höhe von 26 Metern.
Schon Anfang des Jahrhunderts jedoch, 1709, präsentierte bereits der brasilianische Jesuit Bartolomeu Lourenco de Gusmao (1685-1724) dem portugiesischen König den womöglich ersten europäischen Heißluftballon – allerdings nur en miniature. Das heißt, die Szene beim König ist leider nur in unklarer Weise überliefert: So erhob sich der Miniatur-Ballon wohl vom Qualm der Kohle in die Luft und schwebte einen Kilometer weit und zwanzig Meter hoch, Versuche mit größeren Exemplaren jedoch scheitern hingegen ziemlich sicher kläglich. Denn Gusmao wusste nicht, wie die Luftfahrt funktionierte, das heißt, ihm war nicht klar, dass es nicht der Rauch war, der dafür sorgte, dass sich sein Ballon in die Luft erhob, sondern das zugrundeliegende Prinzip der Auftrieb durch die erhitzte Luft war. Das erkannten tatsächlich erst die beiden Montgolfiers.
Es ist unbekannt, wie genau das von ihm konstruierte „Luftschiff“ aus Holz und Baumwolle aussah – die elf Personen fassende Gondel des Ballons soll wie ein Schiff mit Flügeln, einem Vogel ähnlich, gebaut gewesen sein –, ziemlich sicher allerdings ist, dass es damit wohl nie zu einer bemannten Luftfahrt kam. Nichtsdestotrotz erhielt Gusmao vom König anerkennend das erste Luftfahrtpatent. Dass er später von der spanischen Inquisition verfolgt und verbannt wurde, liegt insbesondere auch in seinen fliegerischen Ambitionen begründet.
Für die Präsentation in Portugal hat sich Gusmao extra aus Brasilien nach Portugal aufgemacht. Man weiß heute, dass der Jesuitenpater seinen Ballon nach Vorbildern gebaut hat, die er während einer Missionsreise durch Südamerika entdeckt hatte. Von einer Reise durch Brasilien zu den Anden berichtet er, dass er „dort“ „Eingeborene“ gesehen habe, „die mit Schiffen in den Himmel fuhren“. Entsprechend vermutet man, dass bereits ältere Kulturen das Prinzip des Auftriebs warmer Luft für sich zu nutzen wussten.
Auch die Nazca-Kultur vom 2. Jahrhundert v.u.Z. bis ins 6. Jahrhundert soll davon gewusst haben – das jedenfalls behauptete Archäologe Jim Woodman, als er 1973 erstmals die überdimensionalen Bodenzeichnungen mit bis zu zwanzig Kilometer langen Linien, sah, die vor über tausend Jahren in das Geröll einer peruanischen Hochebene, der Nazca-Ebene, gegraben wurde. Es müssen viele Menschen an den geometrischen Formen gearbeitet haben, die insbesondere auch oft flug- und sprungfähige Tiere zeigen.
Über tausend solcher Nazca-Linien (Geoglyphen), deren Formen man nur mit dem Blick von oben, also aus der Luft – aus einer Höhe von 100 bis 200 Meter – erkennen kann, wurden bisher entdeckt. Welche Bedeutung die Zeichnungen auch immer haben mögen – für Woodman stand fest, dass die Zeichnungen von jemandem geschaffen wurden, der selber geflogen sein musste. Dafür sprechen nicht nur die Aufzeichnungen von Gusmao, sondern auch eine Reihe weiterer Indizien: die kreisrunden Feuerstellen am Rande der Zeichnungen, die manche für Feuerstellen zur Erwärmung von Heißluftballons halten, sind nur eines davon, die erhaltenen, extrem fein gewebten Stoffe aus der Nazca-Zeit ein weiteres.
Schließlich hat sich Jim Woodman mit seinen Kollegen 1975 entschlossen, mit einem Heißluftballon in die Luft zu gehen, der ausschließlich aus Technologien und Materialien bestehen sollte, wie sie der Nazca-Kultur zur Verfügung standen. Und tatsächlich: Mit sechs Metern pro Sekunde stieg der nachgebaute Ballon samt Korb mit zwei Personen auf fast 130 Meter Höhe empor. Woodman konnte so beweisen, dass die indianischen Heißluftballons Menschen hätten transportieren können.
– Zeppelins Luftschiffe –
Nutzte die Nazca-Kultur den Blick von oben vielleicht noch ausschließlich für zivile Zwecke, soll der Legende nach jedoch schon bei den Inka (13. bis 16. Jahrhundert) eine militärische Avantgarde existiert haben, die den Inka-Armeen voranflog, um die Schlachtordnung der Feinde auszuspähen. Nicht erst seit dem Einsatz moderner Drohnen, sondern sehr früh schon – vermutlich sogar immer schon – ging es in Zusammenhang mit der Eroberung der Luft also auch darum, Menschen zumindest zur Beobachtung eines militärischen Geschehens in die Luft zu bringen …
Der Ballon bildete hierin keine Ausnahme – wie auch der württembergische Leutnant Ferdinand Graf von Zeppelin (1838-1917) als Beobachter im amerikanischen Sezessionskrieg 1863 erlebte, wo er zum ersten Mal den militärischen Einsatz von Ballonen erlebte und sogar selbst an einer Ballonfahrt teilnehmen konnte. Dieses Erlebnis muss bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen haben, auch wenn er die militärische Schwäche der sogenannten Freiballone – ihre Unlenkbarkeit und Abhängigkeit von der Windrichtung – sofort erkannte.
Es sollte allerdings noch bis in die Zeit nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, wo er der Einsatz von Aufklärungsballons ebenfalls eine Rolle spielte, dauern, bis er die Idee für den Bau eines lenkbares Luftschiff in die Tat umsetzte. Seine ersten Notizen diesbezüglich finden sich in einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1874 – aber erst 1890, lange Jahre war er der württembergische Gesandte in Berlin und ist gerade eben vom aktiven Militärdienst ausgeschieden, verfasst er eine Denkschrift an den württembergischen König über die militärische „Notwendigkeit der Lenkballone“, in der er klar stellt, dass nicht frei schwebende Freiballone, sondern nur lenkbare Luftschiffe für die Kriegführung sinnvoll seien.
Um Unterstützung für sein Luftschiffprojekt auch im zivilen Bereich zu erhalten, wird Graf Zeppelin 1896 Mitglied im „Verein Deutscher Ingenieure (VDI)“, der ihn fortan bei seinem Vorhaben unterstützt – zumal sich in dieser Zeit, 1897 in Tempelhof bei Berlin, erstmals erfolgreich ein sogenanntes Starrluftschiff in die Lüfte erhob: es war das Ganzmetallluftschiff des kurz zuvor verstorbenen österreichisch-ungarischen Luftfahrtpioniers David Schwarz (1850-1897), dessen Schiff aus Aluminiumblechbahnen bestand, die luftdicht über eine Aluminiumkonstruktion montiert waren. Auch Graf Zeppelin befand sich damals unter den Zuschauern, und entschloss sich, der Witwe des Erfinders die Entwürfe und Patente abzukaufen, um damit die Weiterentwicklung des Schwarzschen Luftschiffs zum „Zeppelin“ voranzutreiben.
Auch Luftschiffe funktionieren nach dem Prinzip leichter als Luft. Anders aber als bei Ballons, bei denen warme Luft für den Auftrieb sorgt, verleiht bei moderneren Luftschiffen ein Traggas den nötigen statischen Auftrieb, da es eine geringere Dichte als Luft aufweist. Früher war das noch Wasserstoff, heute ist es Helium (das bei gleichem Volumen zwar etwa doppelt so schwer ist und auch einen acht Prozent geringeren Auftrieb hat als Wasserstoff, dafür aber ist es nicht brennbar). Der wesentlichste Unterschied zum Ballon ist freilich die Lenkbarkeit, die in erster Linie in einem eigenen Propellertriebwerk begründet ist.
Graf Zeppelin verstand es äußerst geschickt, militärische und industrielle Netzwerke aufzubauen, die der Vermarktung seiner Erfindung Auftrieb gaben. Seinen „Zeppelin“ bewarb er dabei als militärtaugliches Massentransportmittel der Zukunft – und traf auch mit seinen zweifellos bedeutenden Entwicklungen zukunftsträchtiger Technologien (wie zum Beispiel dem Aluminiumbau) sicherlich den Nerv einer für alle technischen Neuerungen begeisterten und kompakt als Nation auf Modernisierung zielenden wilhelminischen Gesellschaft.
Ein breit angelegter Aufruf zur Unterstützung von Zeppelins Vorhaben durch den VDI angesichts dieser Begeisterung führte 1898 jedenfalls dazu, dass gemeinsam mit Industriellen die „Aktiengesellschaft zur Förderung der Luftschifffahrt“ gegründet werden konnte, die zumindest einen Teil des notwendigen Vermögens beitrug, das Graf Zeppelin ermöglichte, im selben Jahr ein Reichspatent für einen „Lenkbaren Luftfahrzug mit mehreren hintereinander angeordneten Tragkörpern“ zu erwerben. Von nun an begann die Phase des Baus und der Realisierung des ersten Luftschiffs in einer eigens dafür bei Friedrichshafen errichteten schwimmenden Halle auf dem Bodensee. Bereits im Jahr 1900 kam es dann zu drei Aufstiegen des „LZ 1“ („Luftschiff Zeppelin“).
Zeppelins finanzielle Situation allerdings blieb trotzdem weiterhin schwierig und eine Serie von Unfällen – der preußische Kaiser Wilhelm II. verspottete den Grafen als den „Dümmsten aller Süddeutschen“ – fand 1908 ihren Höhepunkt bei der „Katastrophe von Echterdingen“, bei der die „LZ 4“ abstürzte. Paradoxerweise jedoch löste dieses Unglück eine ungeahnte Unterstützungswelle aus: ein Unbekannter rief „das deutsche Volk“ zu einer „Nationalspende“ auf – und tatsächlich erbrachte die „Zeppelinspende des deutschen Volkes“ den ungeheuren Betrag von umgerechnet dreißig Millionen Euro. Plötzlich genoss der „Zeppelin“ in Deutschland eine „fast schon religiöse Verehrung“, wie es bei Hauschild et al. heißt, und sein Erfolg war so groß, dass der Begriff „Zeppelin“ noch heute synonym zu allen Arten von „Luftschiffen“ verwendet wird.
Obwohl die militärischen Schwächen seines Konzepts eigentlich nicht mehr übersehen werden konnten, machte der Aufruf den „Zeppelin“ plötzlich zu einer nationalen Angelegenheit. Erst heute weiß man, „dass die von Graf von Zeppelin selbst angestrebte militärische Nutzung des Zeppelin-Luftschiffs reiner Unsinn ist“ und die Spendenbereitschaft die Geschichte dieses letztlich für die moderne und vor allem für die militärische Luftfahrt untauglichen Luftfahrzeuges nur unnötig verlängerte: die vermeintlich patriotische Spendenbereitschaft, heißt es bei Hauschild et al., „konnte die Lebensdauer seiner Erfindung über den Ersten Weltkrieg hinaus bis in die 1930er Jahre ausdehnen, obwohl sich im Kriege schnell erweisen sollte, dass Luftschiffe nach dem Prinzip `leichter als Luft´ zu groß, zu verwundbar und zu explosiv sind, um bei militärischen Aktionen eine Rolle zu spielen. (…) Paradoxerweise war die im militärisch-industriellen Apparat des Deutschen Reiches verankerte Erfindung nur für friedliche Zeiten sinnvoll, für die Ära eines großen Weltfriedens.“
Zwar kaufte die Militärverwaltung 1908 das voll funktionsfähige Luftschiff „LZ 3“ und es wurden auch Kriegsluftschiffe als Bomber und – anstelle der Kavallerie – Aufklärer für den Ersten Weltkrieg gebaut, deren Rolle aber übernahmen dann bald Flugzeuge. Schon 1912 entstand in Berlin-Adlershof – ganz in der Nähe des 1909 errichteten Flugplatzes Johannisthal – die „Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL)“, deren Forschung dann spätestens seit 1914 ganz dem Krieg diente, das heißt der Entwicklung von Bomben- und Schlachtflugzeugen für den Ersten Weltkrieg.
Graf Zeppelin hatte diese Entwicklung vorausgesehen und schon vorher den Bau von Flugzeugen auch in seinem Betrieb vorangetrieben. So unterstützte er die Firmengründungen der „Maybach Motorenwerke“ und des „Flugzeugbau Friedrichshafen“, während das Zeppelin-Werk in Friedrichshafen (es existierten bis zu Zeppelins Tod 1917 auch noch eins in Potsdam und in Berlin-Staaken) selbst ein Werk in Lindau/Bodensee unter der Leitung des bereits oben erwähnten Chefkonstrukteurs Claude Dornier eröffnete und dort begann, große Flugboote zu bauen wie zum Beispiel 1915 die „Dornier RS I“, seinerzeit das größte Flugzeug der Welt.
Trotz all seiner Bemühungen liegt die Bedeutung der Luftschiffe von Graf Zeppelin nicht im militärischen, sondern im zivilen Bereich, das heißt im Massentransport: bis zum ersten Weltkrieg transportiere die von Zeppelin 1909 gegründete „Deutsche Luftschifffahrts AG (DELAG)“ auf mehr als 1.500 Fahrten über 35.000 zivile Passagiere. Schließlich war er es, der mit seinen „Zeppelinen“ den ersten Linienverkehr in der Luft einrichtete und mit spektakulären Interkontinentalflügen die Welt seiner Zeit begeisterte. Bis weit in die 1920er Jahre hinein war das Luftschiff das mit Abstand bequemste und auch luxuriöseste Transportmittel – und ist es gewissermaßen bis heute, denn was kommt dem Traum vom Fliegen als einem schwerelosen Schweben näher als ein Luftschiff?

Eine Imitation des Zeppelin im August 2021 über Bregenz. Nach jahrzehntelanger Pause fliegen heute wieder Zeppelin-Imitationen am zumeist blauen Sommerhimmel über den Bodensee, fünfzehn verschiedene Routen stehen zur Auswahl. Zum Einsatz kommt dabei der „Zeppelin NT“, eine Luftschiff-Baureihe, die seit den 1990er Jahren wieder in Friedrichshafen gefertigt und seit den 2000er Jahren eingesetzt wird. Der „Zeppelin NT“ hat eine starre Innenstruktur und ist das einzige für den Passagierbetrieb zugelassene Luftschiff der Welt.
© Bernd Fessler
Fliegen
Bis lange in die Neuzeit hinein war die Thematik des Menschenfluges in Europa ein religiös besetztes Tabu. Dann allerdings macht sich nach und nach ein Paradigmenwechsel bemerkbar, der sich insbesondere in den neuen Bewegungsgesetzen im Bereich der Mechanik äußert. Dadurch wandelte sich nach und nach auch das Flugverständnis und wurde, so bemerkt Tkaczyk, „zunehmend als physikalisch erklärbares Phänomen vorstellbar“. Das Fliegen ging langsam in eine Sphäre eines neuen wissenschaftlichen, darüber hinaus aber auch, wie Tkaczyk klar macht, in einen ästhetischen Gebrauch über: Insbesondere die sich zu Beginn der Neuzeit in einer „Ästhetik des Antigraven“ im Theater jener Zeit äußernde Flugfaszination verweise auf ein Verlangen, das für die beginnende Neuzeit geradezu charakteristisch war, nämlich „das Verlangen nach neuen Ordnungen des Wissens jenseits institutioneller und disziplinärer Horizonte“, schreibt sie.
Am Anfang dieser Entwicklung steht vielleicht Leonardo da Vinci: Mit ihm beginnt eine Zeit, in der die ursprünglich religiöse und mythologische Signifikanz des Fliegens zunehmend angezweifelt wird, das heißt Leonardo versuchte erstmals, parallel zu beziehungsweise verschränkt mit seinen ästhetischen Bemühungen, wissenschaftliche Erklärungen für das Fliegen zu erbringen und es so auch vom unergründbaren, religiös konnotierten Schweben zu differenzieren.
– Leonardo da Vinci –
Es waren Benediktinermönche einer Abtei in der Toskana, die Leonardo da Vinci (1452-1519) mit seinem ersten Gemälde beauftragten: Die Verkündigung. Leonardo hatte hier erstmals Gelegenheit, seinen perfektionistischen Anspruch zu beweisen, und tat das beispielsweise mit dem besonderen Augenmerk, den er auf eine perfekte Perspektive richtete, damit die Darstellung der toskanischen Landschaft im Bildhintergrund auch realistisch wirkte. Landschaften besaßen bis dahin keinen hohen Stellenwert in der Malerei, sie dienten meist nur als unbedeutender Hintergrund für die eigentlichen – zumeist biblischen – Motive. Leonardo wollte darüber hinaus, wie er sagte, „die natürliche Schönheit der Natur ergründen“.

Leonardo da Vinci, Die Verkündigung (1472-1475), Galleria degli Uffizi, Florenz
Leonardos realistischer Anspruch ging in dem Gemälde nun aber über die Landschaftsgestaltung hinaus – er galt nämlich auch für die Flügel des Engels der Verkündigung: „Sie wirken, als hätte sie jemand gemalt, der die Flügel der Vögel genau studiert hat. Leonardo da Vincis Engel wirkt flugfähiger, als jeder andere Engel, der jemals gemalt wurde“, sagt der Kunsthistoriker Ross King.
Also insbesondere auch bei den realistischen Flügeln des Engels kommt Leonardos wissenschaftliches Interesse an der Natur und der in ihr liegenden „neuen Ordnungen des Wissens“, wie Tkacyzk schreibt, zur Darstellung. Ein Interesse, das Leonardo dann zwischen 1485 und 1515 vertiefen wird, wenn er sich mit seinen Studien immer wieder auch mit dem Fliegen beschäftigt.
Leonardos Interesse ist also nicht allein ein ästhetisches, sondern ebenso ein wissenschaftliches, das heißt, beides ist bei ihm untrennbar miteinander verschränkt. Insgesamt erfährt dabei auch die Mechanik eine Aufwertung und gewinnt an Bedeutung gegenüber der Malerei, die bis dahin im Verständnis der Zeitgenossen allein an adäquaten Mitteln verfügte, „um die Natur in ihrer inneren ebenso wie in ihrer äußerlich wahrnehmbaren Bewegung zu erfassen und darzustellen“, wie Frank Zöllner in „Leonardo – Sämtliche Gemälde und Zeichnungen“ (2019) schreibt.
Das änderte sich jetzt – und die Maschine wurde zum „förderlichsten Instrument zur Nachahmung des Lebendigen und zur Erforschung unsichtbarer Bewegungen“. Das gilt in der Zeit vielleicht für niemanden mehr als für Leonardo, der sich weniger für statische Konstruktionen, sondern vielmehr für die Mechanik der Bewegung interessierte, jedenfalls bemerkt Zöllner: „Niemand vor ihm hat sich vergleichbar ausdauernd und systematisch den technischen Problemen von Flugapparaten und der Untersuchung des Fliegens überhaupt gewidmet.“
Insbesondere auch das Theater gewinnt für Leonardo in Zusammenhang mit seinen Flugmaschinen an Bedeutung. Denn, was bislang eher wenig Aufmerksamkeit erfahren hat: er hat sich immer wieder auch intensiv mit Theatermaschinen beschäftigt. „Über die Tätigkeit als Theateringenieur wurde es Leonardo … offenbar möglich, Bewegungsprozesse jenseits des in der Natur Beobachtbaren zu studieren“, weiß Tkaczyk. So wird die technische Einrichtung des Theaters für Leonardo gewissermaßen zur Werkstatt für seine Flugapparate, wobei Tkacyzk im Hinblick auf diese neuen Flugwerke Leonardos bemerkt: „Obgleich diese den deus ex machina-Kränen des griechisch-antiken Theaters auf den ersten Blick ähneln, ist hier weniger von einer Wiederentdeckung als vielmehr von der äußerst kreativen Neuerfindung einer Repräsentationstechnik auszugehen.“
Auch wenn man um 1500, also an der Wende zum Cinquecento, noch nicht über stehende Theater mit ausgefeilter Bühnenmaschinerie verfügte, wie sie dann am Ende des Jahrhunderts üblich wurden – als erstes stehendes Theater gilt Donato Bramantes (1444-1514) Bau am Hof von Belvedere im Vatikan ab 1506 –, verlagerten sich repräsentative Feste zur Zeit Leonardosallmählich vom öffentlichen Raum in die Festsäle der Fürstenhäuser, wo man für die Feierlichkeiten bereits, über die sich etablierende feste Bühne und die bloße Dekoration hinaus, „ma(c)chine“ konstruierte, wie die Ingenieure seinerzeit sämtliche Theatermaschinen – Flugwerke ebenso wie andere Effektmaschinen – nannten. Zu diesen Ingenieuren zählte auch, seit er 1483 in die Dienste des Mailänder Herzogs Ludovico Maria Sforza getreten war, Leonardo da Vinci – dessen Flugmaschinen insofern nicht unabhängig von den theatralen Ereignissen (Festen) seiner Zeit gesehen werden können, wo die Bühne immer wieder einen himmlischen in einen profanen Schauplatz verwandelte.
Das gilt zum Beispiel für das Festa del Paradiso nach einem Ballettlibretto anlässlich einer Hochzeit am Mailänder Hof im Jahr 1490, wo Leonardo da Vinci eine Flugmaschine konstruierte, in der sieben Planeten – „von Männern in den von den Dichtern beschriebenen Formen und Kostümen dargestellt“, wie es im Vorwort des Librettos hieß – ex machina am Theaterhimmel kreisten.

Leonardo da Vinci, Skizzen zu einer Flugmaschine für Festa del Paradiso (1490)
Das Fest del Paradiso steht am Anfang einer Reihe von Paradies- und Planeteninszenierungen an den Hoftheatern. Leonardo selbst gestaltete 1518, kurz vor seinem Tod, noch eine ähnliche Flugmaschine auf Schloss Le Clos Lucé (auch Château du Cloux genannt) bei Amboise an der Loire (wo er auch gestorben ist).
Auch für die Komödie Danae (1496) von Baldassarre Taccone konstruierte Leonardo zahlreiche Flugeffekte und Auftritte ex machina, wie Tkacyk ausführt. Einer Skizze von ihm ist dabei zu entnehmen, dass er hierfür unter anderem auch eine perspektivisch konstruierte Nische angefertigt hatte, die sich auf einer Plattform befunden zu haben scheint, die sich vom hinteren Deckenbereich schräg abwärts in den Bühnenraum erstreckte und auf Schienen auf- und abwärts bewegt werden konnte. In der Mitte der Nische ist auch eine mit feurigen Flammen umgebene Mandorla erkennbar, die durch einen Hebemechanismus von der Bühne hinauf in die Nische befördert werden konnte.

Leonardo da Vinci, Skizzen zu Flugmaschinen für Danae (1496), Metropolitan Museum, New York
Abgesehen von der Mechanik, gelingt es Leonardo bei der Nische auch durch die perspektivische Tiefendimension den optischen Eindruck einer „Flugbewegung“ zu erzeugen – ähnlich wie bei den ornamental gestalteten Himmelsgewölben in islamischen Gebäuden: Anders als das Christentum verbietet oder beschränkt der Islam den Gebrauch von Bilder und setzt stattdessen auf ornamentale Darstellungen, „welche die Realität auflösen und so die Aufmerksamkeit auf Bewusstsein und Körper lenken“, wie es diesbezüglich bei Hauschild et al. heißt. Immer wieder werden in der islamischen Kunst Ornamente bisweilen als Hohlräume ausgeformt, welche den „Bewegungen“ und „Ausbuchtungen“ gemusteter optischer Täuschungen entsprechen, um den Betrachter in ein schwebendes, religiöses Seelenleben zu versetzen – das von der Flug- oder Bewegungserfahrung kaum zu unterscheiden ist:„Außersinnliche Erfahrung, das Übernatürliche, Illusion und Täuschung“ in diesem Bereich des religiösen Erlebens insofern „zwanglos zusammen“, schreiben Hauschild et al. in diesem Zusammenhang, ähnlich wie beim schwindelerregenden Tiefensog (Vertigo).

Decke im Saal der Abencerrajes in der Alhambra
© Karin Hansen
Unabhängig von der Bewegungswirkung ornamentaler Darstellungen schreibt Viktoria Tkaczyk in Bezug auf die perspektivisch gestaltete Nische von Leonardo in „Himmels-Falten“ (2011): „Durch die perspektivische Tiefendimension der Nische erschien der Bühnenhimmel als eine mathematisch berechenbare, geometrisch gestalt- und beherrschbare Raumkonstruktion. Über einen vergleichbaren Effekt hat Leonardo selbst … in der Malerei nachgedacht. Er konstatiert, dass Himmel und Erde in der Malerei erst mit der Zentralperspektive denselben Darstellungsstrategien unterliegen und gemeinsam einen Repräsentationsraum bilden.“ Leonardo selbst bemerkt in diesem Zusammenhang, dass dasjenige, „was die Perspectiviker Seh-Pyramide nennen, sich über eine ins Unendliche verlaufende Streck hinspannt“. Dadurch unterliegen Himmel und Erde derselben Perspektive und seien topologisch nicht trennbar. (Interessant ist das deshalb, weil die luftperspektivische Himmelsdarstellung durch farbliche Nuancierung, wie Tkaczyk weiß, lange nach Leonardo, nämlich erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch die zentralperspektivische Himmelsdarstellung abgelöst wurde. „Auch hier noch griffen die geometrischen Gesetze des Bildraums“, schreibt sie, „bevor Galilei und Newton die physikalischen Gesetze des Raums auf das Universum übertrugen.“)
Im Hoftheater hatte der zentralperspektivisch gestaltete Bühnenhimmel jedenfalls noch eine weitere Konsequenz, wie Tkaczyk ausführt: „Er war Voraussetzung dafür, dass im Theater ein neuer Blick auf die Bewegung von Flugfiguren erprobt werden konnte.“ Entsprechend lassen sich rückblickend auch Korrespondenzen zwischen Leonardos Fluggeräten (fürs Theater) und seinen Studien des Vogelflugs ausmachen. Im „Codex Atlanticus“, in dem über eintausend Seiten seiner Notizbücher (Codices), die systematisch spiegelverkehrt beschrieben sind (er ist Linkshänder), zusammengefasst sind, beschreibt Leonardo da Vinci selbst diesem Zusammenhang: „Ein Vogel ist ein Gerät, das nach mathematischen Gesetzen funktioniert“, weshalb es in der „Macht des Menschen (stehe), ein solches Instrument mit all seinen Bewegungen nachzubauen“.
Gleichwohl schränkt Leonardo ein: „Wir können also sagen, daß diesem Instrument, das für den Menschen zusammengefügt ist, nichts fehlt als eine Vogelseele [l`anima dell`uccello], die von der Seele des Menschen nachgemacht werden muss. Die Seele gehorcht gewiß den Gliedermaßen der Vögel besser in allem, was deren Bedürfnissen entspricht, als es die Seele des Menschen machen würde, die von diesen Gliedermaßen getrennt ist, und das gilt zuvorderst für die fast unmerklichen Bewegungen zum Halten des Gleichgewichts; aber da wir sehen, wie der Vogel viele, mannigfache, gut wahrnehmbare Bewegungen ausführt, können wir dank dieser Erfahrung beurteilen, daß die gut wahrnehmbaren Kräfte in das Wissen des Menschen eingehen können, so dass er bestens dafür sorgen kann, dass diese Maschine nicht abstürzt, zu deren Seele und Lenker er sich gemacht hat.“
Für Leonardo da Vinci, darauf verweist Viktoria Tkaczyk, war das Gelingen des Menschenflugs insofern weniger von der technischen Erfindung abhängig, als von der Erkenntnis dessen, was die Seele des Vogels ausmacht. Ein solches Wissen gründe – das wiederum weiß jeder Fromme – auf einem aus Erfahrung resultierenden Wissen und entziehe sich der wissenschaftlichen Analyse und technischen Nachahmbarkeit im engeren Sinne. Vielleicht hat Leonardo deshalb nie einen seiner Entwürfe realisiert oder selbst einen Flugversuch unternommen …
Nichtsdestotrotz existieren etwa 500 Skizzen zu Flugmaschinen von Leonardo, wobei seine Konstruktionen immer komplexer wurden und er insbesondere bei seinen späten Entwürfen nach Alternativen zu den mit Flügeln betriebenen Flugapparaten suchte. Ihm war dabei stets bewusst, dass diese Maschinen einen Antrieb brauchen, das heißt eine Kraft, die nicht aus sich selbst heraus existierte. Ging er in diesem Zusammenhang zunächst noch von einer vergleichsweise direkten Kraftübertragung des Piloten auf seine Maschine aus, gelangte er zu der Einsicht, dass sich ein Mensch allein durch die Muskelkraft seiner Arme nicht in die Lüfte erheben kann. Aus diesem Grund entwickelte er Mechanismen, um zusätzlich eine Übertragung der Kraft der Beine auf die Schwingungen seiner Flugmaschine zu gewährleisten: in vielen seiner Entwürfe gilt seine Aufmerksamkeit Zahnrädern und Federn zur besseren Energieübertragung.
Allerdings steht bei den meisten Apparaten, abgesehen von den aerodynamischen Unzulänglichkeiten, vor allem deren vermeintliches Gewicht in keinem realistischen Verhältnis zu den begrenzenten Möglichkeiten der menschlichen Muskelkraft. Leonardo war hier nicht bereit, wie Zöllner ausführt, „das für das Fliegen mit Muskelkraft unzureichende physische Leistungsvermögen des Menschen zu akzeptieren“. Nicht zuletzt deshalb wurden die mit Muskelkraft betriebenen Flugmaschinen niemals gebaut – während jedoch Leonardos Entwürfe für Flügel, ganz abgesehen von seinen Bemerkungen zum Auftrieb, für die späteren Luftfahrtpioniere schon Bedeutung hatten. Das gilt vor allem für die an der Anatomie von Fledermäusen orientierten Flügel, die bereits sehr den 1891 bis 1896 von Otto Lilienthal gebauten flugfähigen Apparaten ähneln.

Leonardo da Vinci, Skizzen zu einer Flugmaschine mit Flügeln, Codex Atlanticus, Biblioteca Ambrosiana, Mailand
Leonardos Skizze des an einen Fledermausflügel erinnernden Flügels entstand zeitnah zum Verkündigungsgemälde, also zu einem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt in seinem Leben, und war tatsächlich die Skizze für eine Theatermaschine. Das korrespondierende Verhältnis von Flugmaschinen und Flugstudien wird vielleicht nirgends offensichtlicher als hier. Geplant war eine Theatermaschine in Form eines schmalen, hölzernen Schiffs, an dem zwei ausladende und mit Segeltuch bespannten Flügelschwingen befestigt werden sollten. (Den Skizzen zufolge war der Mast des Schiffs mit einem Hebewerk auf der Unterbühne verbunden, mittels dessen das Schiff scheinbar über den Bühnenboden schwebte. Über Drehspindeln im Innern des Schiffs ließen sich die Flügelschwingen vermutlich simultan auf und ab bewegen.)
„Mit seinen Flügelkonstruktionen bewegte sich Leonardo im Grunde in die richtige Richtung“, schreibt Zöllner, „denn er entwickelte dabei zwangsläufig Gedanken zum Problem des Auftriebs“. Mit solchen aerodynamischen Probleme – wie überhaupt mit den Grundlagen des Fliegens – beschäftigt er sich insbesondere in seinem sogenannten Vogelflugtraktat (Sul volo degli uccelli, 1505-1508), wo er auf 36 Seiten aus unterschiedlichsten Perspektiven Überlegungen zur Idee des Fliegens anstellt.
In dem Vogelflug-Traktat beschäftigt sich Leonardo, abgesehen vom Problem des Auftriebs, mit dem für die Flugstabilität wichtigen Gleichgewicht des Vogels, weitere Überlegungen betreffen die Anatomie des Vogels und der Fledermaus, die Wirkung des Windes auf bestimmte Flügelstellungen, die Reaktionen des Vogels auf Windstöße sowie schließlich einige Absturzursachen. Hinzu kommen Bemerkungen über Möglichkeiten der Flugsteuerung der Vögel sowie Reflexionen über Steig-, Sink- und Sturzflugverhalten. An mehreren Stellen skizziert Leonardo zudem einige Konstruktionsvorschläge zu Flügeln.
In Leonardos Vogelflugtraktat finden sich aber auch „Überlegungen, in denen die Galilei und Newton zugeschriebene Entdeckungen der Inertia (Trägheit) und des Luftwiderstandes bereits vorformuliert sind“, wie Tkaczyk bemerkt. Er gelangte dabei zu Erkenntnissen, die für die Aerodynamik noch heute grundlegend sind: „Als neuartig gilt beispielsweise die Erkenntnis, dass der Abstand zwischen dem (fixen) Schwerpunkt eines Flugkörpers und den (variablen) Angriffspunkten des Luftauftriebs in Abhängigkeit von Körperform und -haltung variiert“, führt Tkaczyk aus. Und auch mit dem „Leichter-als-Luft-Prinzip, das Leonardo in späteren Arbeiten zum Gleitflug erneut thematisierte“, nimmt er spätere Erkenntnisse vorweg.
Insgesamt legt Leonardo da Vinci insofern bereits wichtige Grundlagen für die moderne Aviatik – schließlich aber musste auch er einräumen, dass der Mensch mit seinen Flugapparaten niemals jene Souveränität erreichen würde, mit der sich Tiere in ihrem Element bewegen.
– Fliegen als evolutionäres Erfolgsmodell –
Fliegen ist der Schlüssel zum Erfolg für viele außergewöhnliche Spezies unseres Planeten – es ist eines der erstaunlichsten evolutionären Erfolgsmodelle. Erste Hinweise darauf – wie das exakt geschah, liegt im Dunkeln – liefern Insekten. Sie waren die ersten fliegenden Lebewesen, nachdem sie den Weg aus dem Wasser gefunden haben. Dort leben sie noch heute im Larvenstadium, allerdings nur, bis sie aus dem Wasser steigen, sich häuten – und sich in ein völlig neues Lebewesen verwandeln. Dieses Lebewesen hat dann Flügel an einer Stelle, wo sich vielleicht ursprünglich einmal Kiemen entwickelt haben … heute jedoch entwickelt sich etwas anderes: Flügel. Zwei Paare entfalten sich auf dem Rücken des Insekts, nachdem es Flüssigkeit durch sein Körperinneres durch die Blutgefäße gepumpt hat. Sie trocknen in der Sonne und härten aus. Das Insekt ist nun – eine Libelle.
Libellen konnten vor 300 Millionen Jahren bereits fliegen – und haben sich seither nur Minimal verändert. Deshalb versuchen Wissenschaftler heute an ihrer Flugtechnik herauszufinden, wie sie es schafften, die Schwerkraft zu überwinden und zu fliegen. Ihr Flugprinzip wirkt dabei zunächst sogar recht einfach: mit jedem Flügelschlag wird Luft nach unten gedrückt und das Insekt angehoben. Doch zugleich erzeugt jeder Flügelschlag einen weiteren Luftstrom, und der besitzt eine erstaunliche Wirkung: je schneller dieser Luftstrom sich bewegt, desto geringer ist der Luftdruck, der den Flügel und das Insekt ansonsten nach unten drückt. Die Herausforderung besteht nun darin, diesen Effekt während des Fluges zu erzeugen.
Der Libelle gelingt es auf beeindruckende Weise: während sie sich durch die Luft bewegt, neigt sie ihre Flügel in unterschiedlichem Maße. Beim Abwärtsschlagen sind sie leicht dem Luftstrom zugewandt, was über dem Flügel einen verblüffenden Effekt erzeugt: an der vorderen Flügelkante entsteht ein Wirbel, der die Geschwindigkeit des Luftstroms oberhalb des Flügels deutlich erhöht. Doch selbst die kleinste Beschleunigung bewirkt schon merklichen Auftrieb – und damit geht es aufwärts, wobei sich das Insekt mit dieser Flügelbewegung nicht nur aufwärts, sondern auch vorwärts bewegen kann. Darüber hinaus kann sie alle ihre vier Flügel unabhängig voneinander zur Steuerung bewegen, was ihr eine ganze Reihe erstaunlicher Flugmanöver ermöglicht, zum Beispiel rasante Kehrtwenden. Aber sie kann auch schweben, gleiten und sogar rückwärts fliegen … die Libelle beherrscht das ganze fliegerische Repertoire.
Mit all diesen Fähigkeiten, wurde die Libelle schon früh zu einem bedeutenden Jäger, das heißt, das Fliegen brachte ihr enorme evolutionäre Vorteile (Nahrungssuche, Flucht). Das Fliegen eröffnete den Insekten einen bis dahin unbewohnten Teil des Planeten: die Luft. Damit begann ihre Erfolgsgeschichte.
Die ersten Libellen waren an Bäche und Teiche gebunden, doch schon 20 Millionen Jahre nach ihnen hat sich eine davon deutlich unabhängigere Spezies entwickelt: Käfer. Diese Spezies perfektionierte den vierflügeligen Körperbau der Libellen, und bildet heute die am weitesten verbreitete Tierfamilie unseres Planeten. Über 350.000 verschiedene Käferarten wurden bisher entdeckt.
Nicht alle Insekten sind Jäger, manche sind reine Pflanzenfresser. Das gilt auch für die Larven der Käfer, denn sie fressen Zellstoff – etwa ein Jahr lang, bevor sie sich in einen Käfer verwandeln. Bei ihnen sorgt das hintere Flügelpaar für Auftrieb – genau wie bei der Libelle –, während die vorderen, panzerartigen Flügel durch seitliches Ausstellen zwar ebenfalls für etwas zusätzlichen Auftrieb sorgen, aber nicht aktiv beim Fliegen helfen. Beim gepanzerten Käfer schlägt also nur ein Flügelpaar, und womöglich fällt dem Käfer das Fliegen deshalb eher schwer und wirkt etwas unkoordiniert.
Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des Fliegens liegt rund 50 Millionen Jahre zurück. Damals entwickelte sich eine neue Insektenart, ebenfalls mit zwei Flügelpaaren: die Schmetterlinge. Schmetterlinge sind Tagfalter, das heißt sie orientieren sich vornehmlich an der Sonne, während Motten als Nachtfalter vermutlich deshalb in der Dunkelheit unterwegs sind, um Räubern aus dem Weg zu gehen. Bei ihnen ist der Geruchssinn wichtiger als die Augen.
Die außergewöhnlichen Flügel der Falter sind das Ergebnis eines komplexen Lebenszyklus: als kleine Raupen schlüpfen sie aus ihren Eiern. Im Unterschied zu den meisten Käferlarven fressen die Schmetterlinge an der Erdoberfläche und wären damit leichte Beute für viele Räuber. Doch sie haben verschiedene Strategien entwickelt, um genügend Körpermasse aufzubauen und sich in ein Fluginsekt zu verwandeln. Wohl erlangen einige von ihnen ohnehin bereits nach wenigen Wochen ihre volle Größe, dennoch müssen sie sich auch verteidigen können. Deshalb tarnen sie sich zum Beispiel farblich, sondern übelriechende Sekrete ab, oder haben Stacheln und Dornen als Abwehr- oder Abschreckungsmaßnahmen entwickelt.
Wenn die gefahrvolle Zeit überstanden ist, beginnen die Larven mit dem Aufbau ihrer Flügel und durchlaufen eine radikale Wandlung: im Gegensatz zur Libelle streifen sie nicht einfach eine überschüssige Hautschicht ab, sondern sie verpuppen sich in einem Kokon. In dieser Schutzhülle wird ihr Raupenkörper gewissermaßen komplett auseinandergenommen und dann wieder neu zusammengebaut.
Nach knapp zwei Wochen kommt aus dem Kokon ein Schmetterling ans Tageslicht. Nun wird Blut in die noch leeren Adern der Flügel gepumpt, bis sie sich zu voller Größe entfalten. Dann startet er erstmals in die Luft. Ihre Flugtechnik unterscheidet sich dabei deutlich von der der Libellen und Käfer. Schmetterlinge besitzen zwar vier Flügel, doch sie benutzen sie wie ein Flügelpaar. Die größeren Vorderflügel überlappen dabei die hinteren, das automatisch nach unten gedrückt wird, wenn das vordere Flügelpaar abwärts schlägt. Die Muskeln der hinteren Flügel sind zu schwach, um abwärts zu schlagen, doch aufrichten können sie sich allein.
Schmetterlingsflügel sind im Vergleich zu ihrem Körper riesig und etwa zehn Mal so groß wie die Flügel anderer Insekten. Durch ihre Größe erzeugen sie mit jedem Schlag einen gewaltigen Auftrieb. Deshalb müssen Schmetterlinge nicht so oft Flattern, um sich in der Luft zu halten. Der langsame Flügelschlag hat dabei enorme Vorteile: er ermöglicht den Schmetterlingen abrupte und völlig unvorhersehbare Richtungswechsel, die ihnen ein ungewöhnlichen Zick-Zack-Flug ermöglichen. Sie fliegen dabei zwar nicht besonders schnell, legen auf der Suche nach nahrhaftem Nektar aber trotzdem manchmal hunderte von Kilometern zurück. Außerdem verfügen sie über die Fähigkeit des Schwebeflugs zur Aufnahme von Nektar.
Die Flügel der Schmetterlinge bestehen aus kleinen borstenähnlichen Sensoren, die sich zu winzigen Schuppen entwickelt haben, die sich – ähnlich wie Dachziegel – überlappen. Einige von ihnen enthalten Pigmente, die den Flügeln ihre Farbe verleihen, andere brechen das Licht und erzeugen einen schillernden Effekt. Die verschiedenen Muster der etwa 18.000 Schmetterlingsarten könnte unterschiedlicher nicht sein.
Neben den Schmetterlingen gehört sicherlich auch die Fliege, die bereits seit vielen Millionen Jahren existiert, zu den eindrucksvollsten Flugakrobaten der Welt. Sie kann Richtungsänderungen im Bruchteil einer Sekunde vollziehen, obwohl sie nur ein Flügelpaar besitzt. Ihre Manövrierfähigkeit verdanken sie dabei ihren hochentwickelten Flugsensoren. Das sind zum einen die Augen, die die Fliege ständig mit Daten über Geschwindigkeit, Flughöhe und – Richtung informieren. Ihre Facettenaugen verarbeiten Information sogar im Flug mehr als fünf Mal so schnell wie das menschliche Auge – und erfüllt so die Aufgaben, die beim Menschen der Kreiselkompass übernimmt.
Darüber hinaus besitzt die Fliege ein Sensorium, das sich aus seinen hinteren Flügeln entwickelt hat: winzige, keulenförmige Schwingkölbchen, sogenannte „Halteren“. Dieses sensible Organ verzeichnet sämtliche Positionsänderungen der Fliege in der Luft. Die Enden der kleinen Kolben verfügen über eine Art Trägheitsmoment, selbst bei einer Drehung der Fliege, behalten sie insofern ihre Schlagrichtung bei. Allerdings ändert sich dabei der Winkel zwischen Körper und Schwingkölbchen, was Spannungen an ihrem Ansatz erzeugt und aktiviert Sensoren, die die Rolle der Fliege registrieren. Die Fliege kann so ihren Flug korrigieren und auch die extremste Schieflage blitzschnell ausgleichen. Gerade bei Schieflagen bleibt der Kopf immer gerade, das heißt in einer horizontalen Ausrichtung. So verliert die Fliege nie die Orientierung.
Fliegen tauschten also ihr zweites Flügelpaar gegen einen äußerst sensiblen Flugsensor ein – und wurden damit zu den geschicktesten Flugakrobaten in der Insektenwelt. Das Fliegen wiederum machte die Insekten zur erfolgreichsten Tiergruppe unseres Planeten: von allen auf der Erde bekannten Arten sind rund die Hälfte Insekten. Ihre Evolutionsgeschichte reicht rund 320 Millionen Jahre zurück.
Doch mit den Insekten, Faltern und Fliegen ist die Geschichte des Fliegens noch nicht zu Ende, denn es entwickelten sich auch andere Arten, die fliegen können: fliegende Wirbeltiere beispielsweise. Die lernten fliegen vermutlich durch die Ausbildung von Flughäuten. Diese Membranen verlangsamen den Sinkflug und ermöglichen es beispielsweise kletternden Wirbeltieren beim Sprung vom Baum trotzdem mehr oder weniger sanft auf dem Waldboden zu landen oder aber von Baum zu Baum zu gleiten beziehungsweise segeln, wie beispielsweise der Flugdrachen.
Die Fortbewegung in der Luft ist zweifelsohne bequem und sicher, aber um richtig fliegen zu können, braucht es auch einen Antrieb. Schon beim Dimorphodon – einem Reptil mit ausgebildeten Flughäuten aus der Gattung der Flugsaurier aus der Zeit des Unterjura vor etwa 200 Millionen Jahren – war die Muskulatur so ausgebildet, dass sie sich zum Flügelschlagen eignete. Es war eines der ersten größeren Tiere, die fliegen lernten. Man vermutet, dass es von einer Gleitechse abstammt. Jedenfalls ähneln seine Flügel denen des Flugdrachens, wobei sich ihre Flughaut von den Fingern bis zu den Flugknöcheln spannte. Wegen eines extrem verlängerten vierten Fingers waren sie jedoch wesentlich größer.
Ein Raster aus steiferem Gewebe stabilisierte die Haut der Flügel und mit Hilfe von Muskelfasern konnte der Saurier die Kontur seiner Flügel ändern, sodass sie geformt waren wie heutige Tragflächen: mit einer breiten, abgerundeten Vorderkante die sich nach hinten hin verjüngt. Diese Form beschleunigt den Luftstrom auf der Flügeloberseite. Der schnelle Luftstrom verringert den Druck auf die Flügelfläche, was wiederum für Auftrieb sorgt. Je größer die Oberfläche, desto mehr Auftrieb wird erzeugt. Bereits die Flugsaurier verfügten über eine ziemlich ausgefeilte Flugtechnik. Etwa 100 Millionen Jahre nach den Insekten setzten sie nun zur Eroberung der Lüfte an.
Zahlreiche Flugsaurierarten bevölkerten die Erde, aber vor rund 70 Millionen Jahren entwickelte sich ein Flugsaurier von kolossaler Größe: der Quetzalcoatlus mit einer Flügelspannweite von bis zu 13 Metern. Dank dieser Spannweite konnte er auf den warmen Luftströmen segeln, die vom sonnenerhitzten Land aufstiegen, und im Gleitflug jagen.
Aber bereits vor 150 Millionen Jahren breite sich eine weitere Reptilienart auf der Erde aus, die schließlich auch fliegen lernte: die Vögel. Auch diese Reptilien entschlüpften einem Ei. Mit den ungewöhnlichen Bauplänen ihrer Körper revolutionierten sie die Flugtechnik. Und während die Flugsaurier längst ausgestorben sind, gibt es diese Tiere noch heute.
Sie haben Federn – die anfangs noch aus einfachen, flaumigen Fasern bestehen, die noch nicht dem Fliegen dienen, sondern nur dazu, das Kücken warm zu halten, also als Kälteschutz. Möglicherweise trugen ursprünglich einige Reptilien ganz ähnliche Federn: die Dinosaurier, wo sie allerdings eher eine schmückende Funktion hatten, jedenfalls eigneten sie sich ursprünglich noch nicht zum Fliegen. Dennoch entwickelten sich aus diesen gefederten Dinosauriern die Vögel – deren Federn sich dann von den harten Dinosaurier-Federn in einem wesentlichen Punkt unterscheiden: sie sind auf der einen Seite schmaler als auf der anderen Seite des Kiels und insofern asymetrisch. Denn wenn Luft über die schmalere Vorderseite strömt, sorgt das für Auftrieb.
Doch wie gelang es den Vögeln, ihre Federn als Urantrieb zu nutzen? Die feinen Hacken beidseits des Kiels einer Flugfeder verhaken sich und bilden dadurch eine Fläche, die keine Luft durchlässt. Die überlappenden Federn eines Flügels bilden eine homogene Oberfläche, die dem Flügel seine Kontur verleiht, weit über das Knochengerüst hinaus. Die Tragflächenform mit der breiten Vorderkante sorgt für den nötigen Auftrieb. Eine dichte Federdecke und bewegliche Knochengelenke sind die beste Voraussetzung für einen fein abgestimmten Flugmechanismus. Die Federn passen sich dabei den Bewegungen an: wenn die Flügelform sich ändert, bleibt die glatte Kontur erhalten, die kontinuierlichen Auftrieb gewährleistet.
Etwa vor 65 Millionen Jahren kam es auf der Erde zu einem gewaltigen Massenaussterben, möglicherweise durch einen Asteroideneinschlag. Nur wenige Vögel überlebten – doch dann eroberte ein ganz neue Art fliegend die Luft: Säugetiere wie beispielsweise die Fledermaus. Bei der Abwärtsbewegung beim Schlagen spannen die gespreizten Finger die Flughaut der Fledermaus, während diese Finger bei der Aufwärtsbewegung angezogen sind. Durch das Einziehen der Finger reduziert die Fledermaus den Luftwiderstand zwischen den einzelnen Schlägen. Die Hinterseite der Flughaut ist mit den Fußgelenken verbunden, deshalb kann sie maximal gedehnt werden.
Während sich Vögel bei fast allem was sie tun, auf ihre Sehkraft verlassen, haben die fliegenden Säugetiere den Nachthimmel erobert – genauso wie die Eulen, die Flügel besitzen, mit denen sie sich lautlos ihrem Opfer nähern können. Das Geheimnis ihres lautlosen Flugs liegt im Aufbau ihrer Flügelfedern, denn alle Federn sind am hinteren Ende ausgefranst. Die meisten Vögel besitzen Federn mit glatten Kanten, die ziemlich laute Geräusche erzeugen, weil Turbulenzen entstehen, wenn Luft über die scharfe Kante strömt und durch plötzliches Absacken die Geräuschbildung verstärkt. Die weichere Kante der ausgefransten Eulen-Feder verhindert die Wirbelbildung und damit auch die Lautbildung. So kann sich die Eule ganz auf die Geräusche ihre Opfer konzentrieren. Um sich dann in die richtige Position für den finalen Schlag zu bringen, muss die Eule sehr langsam fliegen. Dabei helfen ihr die ausladenden Flügel. Die lautlose Annäherung läßt ihren Opfern nur wenig Reaktionszeit.
Das Kapital der Vögel sind ihre Flügel, denn ihr Flugapparat hat sich im Verlauf der Evolution beinahe in jede beliebig Größe und Form verändert: Man könnte vermuten, dass alle Vögel einen ähnlichen Flugstil besitzen, doch tatsächlich hat jede Spezies ihre jeweils ganz eigene Flugtechnik entwickelt, das heißt, einige Vogelarten haben also ihre Flügelform zugunsten einer hochspezialisierten Flugtechnik verändert.
Kurze Flügelformen eignen sich zum Beispiel gut für schnelle Flugmanöver. Solche Flügel laufen in der Regel spitz zu und sind leicht nach hinten gebogen. Stumpfe Flügelenden würden nämlich für Turbulenzen sorgen, wodurch der Vogel abgebremst und seine Geschwindigkeit verlieren würde. Spitz zulaufende Flügel minimieren solche Turbulenzen. Eng an den Körper angelegt, verringern sie den Luftwiderstand auf ein Minimum und machen den Vogel im Sturzflug zu einem stromlinienförmigen Geschoss. Manche Raubvögel können so Geschwindigkeiten von 300 Stundenkilometer erreichen. Gebremst wird dann durch das Öffnen der Flügel.
Andere Vögel verteidigen sich gegen solche Angriffe, indem sie einen Schwarm bilden: Die Schwarmbildung beziehungsweise der Formationsflug ist für viele Vogelarten eine der wenigen Möglichkeiten, sich vor Angreifern zu schützen. Zu Beobachten ist das beispielsweise bei den Staren in Rom, die sich jeden Herbst zu Millionen in der Stadt sammeln. Schwärme sind komplexe biologische Systeme, das heißt, bei Gefahr beginnen Teile des Schwarms, komplexe Manöver zu fliegen. Dabei bilden verschiedene Schwärme immer wieder auch „Wolken“, bevor sie sich wieder Teilen. Die Ursachen für diese Formationsflüge sind jedoch noch immer nicht abschließend geklärt – manchmal werden sie durch einen nahenden Feind ausgelöst (in Rom beispielsweise durch Wanderfalken). Der Schutz für den einzelnen Vogel besteht dann in der Masse, zu der sich die einzelnen Vögel zusammenschließen.
Hinter den Formationsflügen steckt eine komplexe Strategie. Wenn ein Raubvogel angreift, setzt ein straff organisierter Verteidigungsmechanismus ein: anstatt sich in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen und einzelne Individuen dadurch verwundbar zu machen, bleiben sie dicht beieinander – auch bei abrupten Wendungen. Möglich ist das, weil sich jeder Vogel innerhalb des Schwarms an sieben bis zehn anderen Vögeln orientiert und sein Verhalten mit ihnen synchronisiert. Durch diese Interaktion untereinander bleibt der Schwarm stabil. Auch wenn die einzelnen Vögel einmal weit auseinander treiben, bleibt der Kommunikationsaustausch untereinander erhalten, was den Schwarm zusammenhält wie ein unsichtbares Netz. Vielleicht werden so auch Informationen verbreitet, jedenfalls ruft ein Vogel, der einem Räuber ausweicht, eine Art Welleneffekt hervor, der sich blitzartig über die einzelnen Netzwerke innerhalb des Schwarms ausbreitet, und ihn als Ganzes reagieren lässt. Informationen werden binnen Millisekunden verbreitet und das ermöglicht ein schnelles ausweichen, was den meisten Vögeln das Leben rettet.
Zwischen den Bäumen im Regenwald sind solche Flugmanöver im Schwarm nicht möglich. Die Vögel hier haben deshalb andere Flugtechniken entwickelt: gerade in den Regenwäldern ernähren sich etliche Vögel von Nektar – an den sie aber nur kommen, wenn sie auch einen Ast in der Nähe der Blüte finden, von dem aus sie den Nektar erreichen. Nun allerdings entstand vor dreißig Millionen Jahren eine Vogelart, die zum Trinken des Nektars keinen Sitzplatz mehr benötigte: die Kolibris. Sie beherrschen den schwebenden Schwirrflug. Dabei schlagen sie so schnell mit den Flügeln, dass sie einen brummenden Ton produzieren. Die kleinsten Kolibri-Arten bringen es auf 80 Flügelschläge pro Sekunde. Um diese Art des Fliegens zu beherrschen, haben die Kolibris im Laufe der Evolution nicht nur die Struktur ihrer Flügel, sondern auch ihre Schlagtechnik verändert: die meisten Vögel schlagen ihre Flügel Auf und Ab, doch die Kolibris nutzen eine ähnliche Technik wie die Insekten: Sie neigen ihre Flügel während der einzelnen Schläge und erzeugen dadurch Auftrieb – und zwar beim Vorwärts- und beim Rückwärtsschlagen.
Diese Bewegung stellt für die Vögel eine große Belastung dar. Nur mit einer speziellen Flügelstruktur läßt sich diese Belastung aushalten: entsprechend sind Kolibri-Flügel sehr steif und verändern beim Schlagen kaum ihre Form. Diese Starrheit verdanken sie einer Veränderung des Skeletts: Die Knochen des Arms sind etwa geschrumpft, doch die Handknochen haben sich verlängter. Sie stützen nun den Großteil der Flügelfläche. Die Drehung der Flügel an Schulter und Handgelenk erzeugt den charakteristischen Flügelschlag der Kolibris.
Außerdem sind Kolibris in der Lage, beim Schwebeflug seitwärts zu schwingen – sie sind in der Lage, der Vorwärts- und Rückwärtsbewegung einer Blume im Wind zu folgen. Während des Fluges bewegen sich die Flügel des Vogels gewöhnlich absolut symetrisch. Wenn sich jedoch nur ein Flügel etwas eher bewegt, reicht das aus, um den Kolibri seitwärts zu schieben.
Die Veränderung von Knochenmaßen sowie die präzise Koordinierung seiner Bewegungen verhilft ihm also zu seiner enormen Beweglichkeit. Und die braucht er auch, um genügend Nektar zu sammeln, denn beim Schwirrflug verbraucht er Unmengen von Energie und muss praktisch pausenlos nachlegen.
Andere Vögel wiederum lassen es gemächlicher angehen. So verbrauchen manche zum Beispiel überhaupt keine Energie und segeln stattdessen in thermischen Aufwinden (Geier beispielsweise). Beim Kreisen in einem solchen Luftstrom bewegt sich der innere Flügel des Vogels wesentlich langsamer als der äußere, da er eine geringere Wegstrecke zurücklegt, und erzeugt dadurch auch weniger Auftrieb. Das birgt die Gefahr, dass der Vogel ins Trudeln kommt und abstürzt, weshalb kreisende Vögel bisweilen die Federn an den Flügelspitzen abspreizen, wodurch sie wie kleine Extra-Flügel wirken, die zusammen für den nötigen Auftrieb sorgen. Zugvögel wie Störche gleiten so von einem thermischen Aufwind zum anderen und bewegen sich darüber fort. Solche gleitenden Störche sind es auch, die dann auf dem Weg zum Menschenflug für Otto Lilienthal bedeutsam werden.
– Otto Lilienthal und die Nachahmung der Natur –
Schon früh hat der Mensch die Fähigkeit entwickelt, sich Flugerfahrungen realistisch vorzustellen, er kann sie aber körperlich nicht ohne technische Hilfsmittel realisieren. Menschliche Entwicklung beruht dabei zunächst auf Jahrmillionen der Anpassung an die Natur, ihrer Nachahmung, an die sich dann hunderttausende Jahre menschlicher Erfindungen anschlossen. Der italienische Philosoph Roberto Marchesini geht in diesem Zusammenhang in seinem Beitrag in „Tierstudien: Mimesis Mimikry – Mimese“ (11/2017) davon aus, dass es die Konfrontation und Interaktion mit nichtmenschlichen Anderen war, die uns nicht nur zum Denken und Sprechen, sondern auch zur technologischen Weiterentwicklung aufforderte – auch zur Entwicklung des Flugzeugs. Ihm zufolge geht die Entwicklung der Luftfahrt auf die Imagination eines Mensch-Vogel-Hybriden zurück. Menschen haben, so Marchesini, Vögel im Flug beobachtet und „die Idee: `Ich, ein Mensch, will fliegen wie ein Vogel´“ stellte einen höchst produktiven Perspektivwechsel dar, der ohne lebendige Vögel nicht möglich gewesen wäre. Jede Erfindung, jede Technik entsteht ihm zufolge aus einem solchen Perspektivwechsel, der dann technologisch übersetzt wird …
Zweifelsohne trifft das auf Otto Lilienthal (1848-1896) zu, der unbestritten als Begründer des Menschenfluges gilt, als Erfinder des Fliegens nach dem Prinzip Schwerer als Luft. Ihm gelang es ab 1891 als erster, sich mit einem Apparat aus Weidenruten, Hanfseilen, Draht und Baumwolltuch („Shirting“, ein britischer Hemdenstoff in einfacher Leinwandbindung – fest, aber leicht und stabil, wie es noch heute im Lilienthal-Museum in Anklam zu besichtigen ist) zu fliegen. Sieben Meter Spannweite genügten für ihn und das 27 Kilogramm schwere Gerät: mehr als 2.500 Mal erhob er sich mit diesem Gleiter in die Luft …
Kein einziges modernes Flugzeug heute könnte ohne seine Erkenntnisse fliegen – er setzte die Maßstäbe. In dem 1889 erschienen „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“ formulierte er schon vor seinem ersten Flug als erster praktisch alle bis heute gültigen physikalischen Grundlagen des Fliegens, wobei insbesondere seine Ausführungen zum Tragflügel maßgeblich sind: noch heute werden ihre aerodynamischen Qualitäten mit Hilfe der so genannten „Lilienthal-Polare“ (im Windkanal) bestimmt, das heißt anhand der Messkurve von Geschwindigkeit und Anstellwinkel. Für die Berechnungen dafür legte Lilienthal die Grundlagen, auch wenn man heute darüber hinaus auch noch alle weiteren Kräfte in alle Raumrichtungen misst, also Auftrieb, Widerstand und Seitenkraft – und auch die entsprechenden Drehmomente um die drei Raumachsen. Mit diesen sechs Größen lässt sich die komplette Flugmechanik eines Apparates messen.
Lilienthal selbst ging noch weniger technisch an die Konstruktion seiner Gleiter heran. Sein Weg bestand in der Beobachtung und Nachahmung, das heißt er fand im Vogelflug das Vorbild auf dem Weg zum Menschenflug: In seiner Mecklenburg-Vorpommerschen Heimatgemeinde Anklam ließ er sich von den Weißstörchen inspirieren, die über ihm kreisten. Auf den ersten Seiten seines Buches schreibt er: „… wenn die Störche, zu ihren alten nordischen Wohnsitzen zurückgekehrt, ihren stattlichen Flugapparat, der sie schon viele Tausende von Meilen weit getragen, zusammenfalten, den Kopf auf den Rücken legen und durch ein Freudengeklapper ihre Ankunft anzeigen … dann ergreift auch den Menschen eine gewisse Sehnsucht, sich hinauszuschwingen, und frei wie der Vogel über lachende Gefilde, schattige Wälder und spiegelnde Seen dahinzugleiten, und die Landschaft so voll und ganz zu genießen, wie es sonst nur der Vogel vermag.“
Besonders beeindruckte Lilienthal offenbar, dass die Vögel mit ihren ausladenden Schwingen bei ruhigem Wetter gerade nicht mit den Flügeln schlagen, sondern ohne Kraftaufwand durch die Luft glitten. Es musste also ein „Geheimnis“ um das Fliegen geben, das er ergründen und auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen wollte – und dieses Geheimnis musste in den Flügeln der Vögel liegen. Entsprechend orientierte er sich bei seinen Entwürfen auch an ihrem Aufbau, ähnlich wie lange vor ihm bereits Leonardo, dessen Erkenntnisse zum thermischen Auftrieb er nun mit Wissen um das aerodynamische Flugverhalten von Schwingen und Federn der Vögel ergänzte.
Otto Lilienthals Bemühungen sollten nicht nur theoretischer Natur sein, sondern er wollte gemeinsam mit seinem Bruder Gustav, mit dem er gemeinsam Technik in Berlin studierte und sich nun auch hier als Dampfmaschinen- und Heizkesselproduzenten niedergelassen hatte, einen flugfähigen Apparat bauen. Entsprechend auch sollte sein Buch von praktischem Nutzen sein. Bernd Lukasch, der Leiter des Otto-Lilienthal-Museums in Anklam, schreibt dazu: „Das Buch schließt mit Kapitel 41, `Die Konstruktion der Flugapparate´, einer Zusammenstellung der `Gesichtspunkte, … nach denen die Konstruktion der Flugapparate zu erfolgen hätte, wenn die in diesem Werke veröffentlichten Versuchsresultate berücksichtigt werden, und die demzufolge entwickelten Ansichten richtige sind.´.“
„Sie waren es in der Tat“, bemerkt Lukasch: Gemeinsam gelang es den beiden Lilienthals für die ersten Flüge einen etwa zwanzig Kilogramm schweren Flugapparat mit fledermausartigem Flügelaufbau zu konstruieren, den sie dann auch Interessierten zu verkaufen beabsichtigten, wie Otto einem Luftfahrtpublizisten berichtete: „Ich habe schon eine besondere Fabrik für diese Apparate einrichten müssen, in welcher ein richtiger `Flugtechniker´ … die Leitung hat“. Schon bald wird hier in der Kreuzberger „Maschinenfabrik Otto Lilienthal“ zwischen 1893 und 1896 der „Normsegelapparat“ entwickelt und mit ihm erstmals auch ein Flugzeug in Serie produziert. So wurde tatsächlich Berlin die Stadt, aus der das Flugzeug kommt und das erste Mal auch in Serie produziert wurde (man kann es heutzutage, angesichts der Querelen um den neuen Flughafen Berlin-Brandenburg, BER, kaum glauben. Dass dafür allerdings der 1974 eröffnete und nach „Otto Lilienthal“ benannte Flughafen in Berlin-Tegel, TXL, schließen musste, ist vielleicht eine besondere Ironie der Geschichte).
Bereits 1891 gelangen dem Unternehmer die ersten – wenige Meter weiten – Flüge. Welche Bedeutung diese Flugversuche haben sollten, wurde erst rückblickend deutlich, gleichwohl hat es nicht lange gedauert. So schreibt der Franzose Ferdinand Ferber (1862-1909) schon wenige Jahre später: „Den Tag des Jahres 1891, als Lilienthal die ersten Meter in der Luft durchmessen hat, betrachte ich als den Tag, an dem die Menschheit fliegen gelernt hat.“ Ohnehin wurden aus diesen anfänglichen „Hüpfern“ ab 1893 in den Rhinower Bergen bei Derwitz, etwa siebzig Kilometer nordöstlich von Berlin, bald 250 Meter weite Flüge. „Hier wurde Otto Lilienthal vielleicht erst wirklich zum Flugpionier“, bemerkt Lukasch.
Aber der Aufwand für diese ersten Flüge war groß. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Erfolge bemerkte Otto Lilienthal: „Schade, daß hier bei Berlin nicht ein einziger geeigneter Abflughügel gelegen ist. Ich muß schon warten, bis irgend ein Mäzen einen solchen aufwerfen läßt.“ Und tatsächlich geschah das 1894, als der Lichtenfelder Bauverein eine 15 Meter hohe Abraumhalde im Südwesten Berlins, unweit von Lilienthals Wohnhaus, zur Verfügung stellte, die bald zum „Fliegeberg“ wird. Hier konnte Lilienthal unkompliziert neue Flugapparate probieren, die er bereits „Flugzeuge“ nannte – lange, bevor dieser Begriff eine breitere Verwendung fand.


Denkmal „zu Ehren des ersten Fliegers Otto Lilienthal“ in Berlin-Lichterfelde, 1914 errichtet unweit des „Fliegebergs“, mit einem eingravierten Zitat von Leonardo da Vinci auf der Rückseite: „Es wird seinen ersten Flug nehmen der grosse Vogel vom Ruecken des Huegels aus das Universum mit Verblueffung. Alle Schriften mit seinem Ruhme fuellend und ewige Glorie dem Ort wo er geboren ward.“
© Elke Rohmer, Bernd Fessler
Lilienthal hatte hier immer Publikum und wurde ständig begleitet von der neuen Augenblicks- oder Momentfotografie, die so zum Zeugen wurde, wie sich erstmals ein Mensch fliegend in die Luft erhob. Etwa 145 solcher Fotografien von den Flugversuchen zwischen 1891 und 1896 gibt es noch. Lilienthal wurde so auch zu einem herausragenden Motiv der Pioniere der Fotografiegeschichte. (Zu einem der Prominentesten Lilienthal-Fotografen gehörte übrigens Ottomar Anschütz, 1846-1907, auf den der Schlitzverschluss bei der späteren transportablen Kamera zurückgeht.)
Mehr noch als seine Buchveröffentlichung haben deshalb die Flüge Lilienthals eine enorme öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Und das insbesondere deshalb, weil sie in einer Zeit stattfanden, als in Berlin zahlreiche Massenmedien wie Zeitungen, Zeitschriften und vor allem bebilderte Illustrierte gegründet wurden, für die der fliegende Mensch natürlich ein spektakuläres Motiv mit Sensationswert war. Daneben aber, darauf verweist Lukasch, war ein anderer Aspekt für die Popularität des Fliegens wichtiger: „Der Menschenflug … unterscheidet sich von allen vergleichbaren Erfindungen dadurch, dass er als Idee zu allen Zeiten populär und aktuell war, als … Menschheitstraum. (…) `Der Mensch kann fliegen!´ war eine Nachricht für Jedermann.“
„Jedermann“, das waren zu dieser Zeit vor allem Menschen, die sich als Teil der im industriellen Produktionsprozess organisierten proletarischen Masse erfahren haben – als „bewusstlose Anhängsel der Maschine“, wie Karl Marx es formulierte. Die Arbeiter jener Zeit erlebten einen umfassenden Sinnverlust, der wesentlich durch die Entfremdung des Menschen im Industrie-Kapitalismus charakterisiert war. Dem konnten die Lilienthals mit ihren Gleitflügen zumindest den Traum vom Fliegen entgegenhalten. Und es ist ein Traum, der wohl, wie es bei Hauschild et al. heißt, „niemals untergehen und niemals aufgehen (wird) im Leben der von Menschen geschaffenen Apparaturen“.
Über den Verlust der Sinnhaftigkeit hinaus erleben die Arbeiten aber auch noch ihre materielle Ausbeutung durch die kapitalistischen Fabrikbesitzer. Otto Lilienthal nun, selbst Unternehmer, möchte solchen ungerechten Ausbeutungsverhältnissen nicht nur dadurch entgegenwirken, dass er die Arbeiter seiner Maschinenfabrik mit 25 Prozent am Unternehmensgewinn beteiligt und auch sonst für faire Arbeitsbedingungen sorgt, sondern geht noch einen Schritt weiter: Im Berliner „Ostendtheater“, dessen Miteigentümer er war und das unter seiner Leitung zu einem Volkstheater mit erschwinglichen Preisen für alle mit dem Namen „Nationaltheater“ wurde, feierte kurz vor seinem Tod 1896 sein Theaterstück „Moderne Raubritter“ Premiere, in dem er seine Gesellschaftskritik in einen umfassenderen, kulturellen Zusammenhang stellte.
Das naturalistische Theaterstück, das von Lilienthal „nach wahren Begebenheiten“ geschrieben wurde, zeigt autobiographische Züge und spiegelt Lilienthals Probleme mit der Gründung seiner Fabrik und der Einführung der Arbeitnehmer-Gewinnbeteiligung. Der Protagonist, ein Möbelfabrikant, trägt jedenfalls ganz offensichtlich Lilienthals Züge, wenn er im ersten Akt sagt: „25 bis 30 Mark muss ein eingeübter zuverlässiger Arbeiter … verdienen … und wenn ich diesen Verdienst meinen Arbeitern nicht verschaffen kann, dann danke ich dafür, Arbeitgeber zu sein.“
In Otto Lilienthals Stück macht sich unübersehbar eine naturalistische Dramatik bemerkbar. Der Naturalismus ist zu dieser Zeit eine neue literarische Richtung, die sich in Deutschland seit Gerhard Hauptmanns „Die Weber“ 1892 insbesondere als Drama am Theater durchgesetzt hat – und hier wiederum insbesondere in der „Freie-Bühnen-Bewegung“, als Teil derer man auch Lilienthals „Nationaltheater“ begreifen muss. Auch hier also gehört Otto Lilienthal sozusagen zur Avantgarde …
Das naturalistische Drama beruht auf exakter Gesellschafts- und Naturbeobachtung und der realistischen Darstellung zeitgenössischer Probleme, die man nun (natur-)wissenschaftlich zu begründen versucht. Der Naturalismus weist insofern auf die „Empirie“, wie Peter Szondi in „Theorie des modernen Dramas (1880-1950)“ (1965) schreibt, und hat einen sozialkritischen Anspruch. Entsprechend auch rückt das neu entstandene proletarische Milieu, die „unteren Schichten der Gesellschaft“, in den Fokus der Aufmerksamkeit und mit ihm, wie Szondi des weiteren ausführt, „das seinem Boden entfremdete Geschehen“.
Im naturalistischen Drama geht es insofern nicht mehr um einen dramatischen Konflikt sich widerstreitender Positionen (Ideale) wie noch im klassischen Theater, sondern „der soziale Dramatiker versucht die dramatische Darstellung jener ökonomisch-politischen Zustände, unter deren Diktat das individuelle Leben geraten ist“, schreibt Szondi, also die „Dissoziation von Milieu, Charakter und Handlung …, die Entfremdung, in der sie auftreten“. Denn man geht im Naturalismus davon aus, dass das Verhalten der Menschen von den sozialen Bedingungen determiniert ist – gemäß der Marx`schen These: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“.
Bei Lilienthal rückte im Theater insofern auch der Boden beziehungsweise das ihm entfremdete Geschehen in den Fokus, wie Szondi sagt – er beflügelte mit seinem Gleiter aber gleichzeitig auch den allen gemeinsamen Traum vom Fliegen. Man mag das romantisch nennen, aber es war auch ein verbindender Gestus – den Himmel und die Erde, die Menschen untereinander. In diesem Sinn vermochte Lilienthal, das eigentliche Unvereinbare zu vereinen … dann allerdings verunglückte er bei einem Flugunfall 1896 tödlich.
Lilienthal gelang es, das so lange unbekannte Geheimnis um die hebende Wirkung des Flügels physikalisch plausibel zu erklären. Und auch, wenn es ihm mit seinen Flugzeugen, wie er es nannte, nur gelungen sein mag, zu gleiten oder zu segeln, so markiert sein Tod schließlich doch „nicht nur den Wendepunkt vom Fliegenwollen zum Fliegenkönnen“, wie Lukasch schreibt, „sondern den von der alten und zeitlosen Kulturgeschichte des Menschenflugs zur neuen Technikgeschichte des Flugzeugs.“ Hier allerdings geht dann Lilienthals verbindender Gestus bald verloren … spätestens dann, wenn der motorisierte „Flyer“ der Wrights durch zwei Weltkriege adaptiert und zugerichtet wird – beispielsweise aufgerüstet zum Stuka: dem 1935 entwickelten Sturzkampfflugzeug „Junkers Ju-87“ (der „Stuka“ war eines der ersten Flugzeuge, das nach der Enteignung des Pazifisten Hugo Junkers 1933 von dessen gleichnamiger „Flugzeugwerk AG“ erfolgte. Junkers wurde gezwungen, die Leitung abzugeben, woraufhin er sich von Dessau nach Bayern zurückzog, wo er wenig später verstarb).
– Propeller und avantgardistische Bewegung –
In seinem Werk „Le vol des Oiseaux“ (1890) unterscheidet der französische Physiologe Étienne-Jules Marey (1820-1904) anhand der Bewegung oder Nichtbewegung der Flügel zwei Arten des Fliegens: den Schwingflug, bei welchem die Fortbewegung der Vögel auf der Aktivität der Flügel beruht, und den Gleitflug, bei dem sich der Vogel ohne Kraft- und Energieaufwand durch die Luft tragen lässt und nur durch die Veränderung der Form der Flügel seine Bewegungen steuert.
Schwing- und Gleitflug unterscheiden sich also hinsichtlich der Motorik. Und die mit der Motorik verbundene Bewegung ist es auch, die – wie vor ihm bereits Sigmund Exner (1882) bemerkte – das Fliegen grundsätzlich vom Schweben unterscheide: Das Fliegen (zumal nach dem Prinzip schwerer als Luft) verweist Marey zufolge auf eine Definition von Bewegung als Antriebsphänomen, beispielsweise ein rhythmisch schlagender Flügel, wohingegen das Schweben eine fließende Bewegung ohne Unterbrechung darstelle, die als eine Art (Selbst-)Steuerung von Bewegung beziehungsweise als ein permanentes Ausbalancieren des Körpers verstanden werden könne. Für Marey ist es so, als ob der Vogel auf der Stelle zu schweben scheine – entsprechend ist es die Luft, die sich bewegt, nicht der Vogel selbst, der hier nur sein Gleichgewicht zu suchen scheint.
So wird für Marey die Bewegung in der Nicht-Bewegung zum Charakteristikum für den schwebenden Flug, gleichwohl aber konnte er mit dieser Bestimmung des Schwebens zwischen Bewegung und Ruhe (Statis) nicht plausibel erklären, wie sich Vögel gleitend fortbewegen. Überhaupt war fragwürdig, ob der Gleitflug überhaupt möglich sei. So entfachten Ende des 19. Jahrhunderts heftige Kontroversen über das Geheimnis des Bewegung in der Luft, die Marey zufolge zum einen auf die unzureichende Kenntnis der Gesetze des Luftwiderstandes zurückzuführen seien, vor allem aber auf die Grenzen des menschlichen Wahrnehmungsvermögens hinsichtlich der Beobachtung schnellster und subtilster Bewegungen.
Marey erfand deshalb später, zwischen 1899 und 1901 eine Rauchmaschine (machine à fumée), die sichbar machen sollte, was unseren Sinnen ansonsten entgehen würde, das heißt er machte Luftströmungen sichtbar und konnte so erforschen, welche aerodynamischen Auswirkungen Luft auf den Flügel eines Vogels hat – nachdem Otto Lilienthal die Spekulationen über das Geheimnis des Fliegens beenden und sein Wissen über das Flugverhalten von Schwingen und Federn auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen konnte.
Wie Marey und praktisch alle, die sich damals darum bemühten, das Fliegen zu ergründen, orientierte sich auch Lilienthal noch am Vogelflug – auch er ist insofern noch ganz dem aristotelischen Gebot der Nachahmung der Natur verpflichtet: Bis lange in die Neuzeit hinein, schreibt Hans Blumenberg in seinem Essay „Nachahmung der Natur“ (1957), schien man im Hinblick auf die Frage, „was der Mensch in der Welt und an der Welt aus seiner Kraft und Fertigkeit leisten könne“ mit Aristoteles davon auszugehen, dass Kunst die „Nachahmung der Natur sei“, ohne der Phantasie darin einen allzu großen Raum einzuräumen. (Selbst Maschineningenieure wie Leonardo da Vinci sollten die Natur im Rahmen ihrer Gesetzmäßigkeiten nachahmen.)
Mit dem Mimesisgebot versuchte Aristoteles, so Blumenberg, den Begriff zu definieren, mit dem man „das ins Reale wirkende Können des Menschen insgesamt“ zu erfassen suchte: dem der techné. Der Begriff der techné, wie Aristoteles ihn begreift, geht dabei über den hinaus, den wir heute mit „Technik“ bezeichnen – impliziert er doch neben den werksetzenden auch die gestaltenden Fähigkeiten des Menschen, wie Blumenberg ausführt. Gleichwohl stellt Blumenberg die Frage: „Besteht der Mensch der Neuzeit nicht seit langem darauf, ein `schöpferisches´ Wesen zu sein, und hat er nicht der Natur die Konstruktion schroff entgegengestellt?“
Für Blumenberg ist klar, dass im Kunstwerk „die Signatur des schaffenden Menschen als des um seine Potenz Wissenden immer schärfer artikuliert worden (ist)“, und er fährt fort: „Die Ausmessung des Spielraums der artistischen Freiheit, die Entdeckung der Unendlichkeit des Möglichen gegenüber der Endlichkeit des Faktischen, die Lösung des Naturbezuges durch die historische Selbstvergegenständlichung des Kunstprozesses, innerhalb dessen sich Kunst immer wieder an und aus Kunst generiert – das sind Grundvorgänge, die nichts mehr mit der aristotelischen Formel zu tun haben scheinen. Es ist oft gesagt und gezeigt worden, daß die Welt, in der wir leben, eine Welt bewußter, ja pathetischer Überbietung, Entmachtung und Entstaltung der Natur, eines tiefen Ungenügens am Gegebenen ist.“
Aufgrund dieses Ungenügens am Gegebenen suche der Mensch im Neuen, wie Blumenberg ausführt, „das Bild zu bewahrheiten, das er von sich selbst hat. Nicht weil Not erfinderisch macht, ist `Erfindung´ der signifikative Akt in der modernen Welt; und nicht, weil unsere Wirklichkeit so mit technischen Strukturen durchsetzt ist, tauchen sie in den Kunstwerken der Zeit abbildlich auf – hier ist vielmehr die prägende Kraft des homogenen Impulses zu verspüren, der auf Artikulation eines radikalen Selbstverständnisses des Menschen drängt“.
Blumenberg nennt als Beispiel den Löffel, der als eine rein technische Form etwas absolut Neues sei, „ein in der Natur nicht vorgegenes Eidos“. Nicht länger blickt der Mensch „auf die Natur, den Kosmos, um seinen Rang im Seienden abzulesen, sondern auf die Dingwelt, die solo humana arte entstanden ist. (…) Es ist von unschätzbarer signifikativer Bedeutung, daß hier das ganze Pathos des schöpferisch-originären Menschen und der Bruch mit dem Nachahmungsprinzip beim technischen, nicht beim künstlerischen Menschen hervortreten.“
Dem neuen technischen Geist der Neuzeit allerdings, bemerkt Blumenberg, fehlt die Sprache: „Für die herankommende technische Welt stand keine Sprache zur Verfügung“. Das habe zu dem „kraß auffallenden Sachverhalt geführt, daß die Leute, die das Gesicht unserer Welt am stärksten bestimmen, am wenigsten wissen und zu sagen wissen, was sie tun. (…) Nur ein Beispiel: ORVILLE WRIGHT hat der Erfindung der ersten Flugmaschinen die typische Stilisierung gegeben, daß die Brüder Wright sechs Jahre vor ihrem ersten Flug in Kitty Hawk ein Buch über Ornithologie in die Hand bekommen hätten und ihnen dabei aufgestoßen sei, warum der Vogel eine Fähigkeit besitzen sollte, die der Mensch nicht durch maßstäbliche Nachbildung der physischen Mechanismen sich aneignen könnte. Das ist noch genau der Topos, den LEONARDO DA VINCI vier Jahrhunderte zuvor gebraucht hatte – er freilich, und selbst noch LILIENTHAL, mit Recht, da sie wirklich eine homomorphe Konstruktion erstrebten.“
Der Hiatus – also der Bruch zwischen Nachahmung und Erfindung –, im Hinblick auf die Realisierung des geistigen Bildes vom fliegenden Menschen, liegt also, Blumenberg zufolge, zwischen Otto Lilienthal und den Wrights: Die motorisierte Flugmaschine von Orville und Wilbur Wright „ist gerade dadurch wirkliche Erfindung“, schreibt er, „daß sie sich von der alten Traumvorstellung der Nachahmung des Vogelflugs freimacht und das Problem mit einem neuen Prinzip löst. Die Voraussetzung des Explosionsmotors (der seinerseits eine wirkliche Erfindung repräsentiert) ist dabei noch nicht einmal so wesentlich und charakteristisch wie die Verwendung der Luftschraube, denn rotierende Elemente sind von reiner Technizität, also weder von imitatio noch von perfectio herzuleiten, weil der Natur rotierende Organe fremd sein müssen. Ist es etwa zu kühn, wenn man behauptet, daß das Flugzeug so in der Immanenz des technischen Prozesses darinsteht, daß es auch dann zu dem Tage von Kitty Hawk gekommen wäre, hätte nie ein Vogel die Lüfte belebt?“
Man muss sich nicht für die Maschine faszinieren (und sie erst recht nicht verherrlichen wie 1909 der italienische Faschist Filippo Tommaso Marinetti in seinem „Manifest des Futurismus“), den technischen Fortschritt jedoch aufhalten zu wollen, hieße, gegen Windmühlen kämpfen – oder dann eben gegen die motorgetriebenen Rotorblätter des Propellers. Anfang des 20. Jahrhunderts jedenfalls wird er zum Synonym für den technischen Fortschritt, zum Synonym für Bewegung insgesamt – zumindest für die ästhetische Avantgarde: Der Propeller steht hier für den durch den Fortschritt der Flugzeugtechnik möglich gewordenen fliegenden Menschen und insofern für ein neues Bewegungssystem nach den Stellungskriegen des Ersten Weltkriegs (wo sich das Motorflugzeug im Himmel überhaupt erst durchgesetzt hat und der ritterliche Luftkampf Mann gegen Mann das glorifizierte Kontrastbild zur zermürbenden Materialschlacht am Boden wurde, wo sich die Masse der Soldaten in den Schützengräben aus Schutz vor den Bomben im Stahlgewitter mehrere Etagen tief in die Erde eingegraben hat).
Der Propeller wird also zum geistigen Fluchtpunkt der Avantgardisten nach dem Ersten Weltkrieg – dabei ist er, respektive die Luftschraube, gar keine originäre Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern findet sich bereits in Entwurfszeichnungen von Leonardo da Vinci, der sich selbst wiederum womöglich von der archimedischen Schraube inspirieren ließ. Die Luftschraube seines Fluggeräts zumindest folgt dem gleichen Prinzip und sollte den Flugapparat wohl durch schnelle Drehung in die Luft heben wie die archimedische Schraube das Wasser von einer Ebene auf eine höher gelegene.

Leonardo da Vinci, Skizze zu einem „Hubschrauber“, Pariser Manuskripte, Institut de France
Leonardo jedoch denkt die Luftschraube allein von ihrem praktischen Nutzen her – sie soll das Fluggerät in die Luft heben –, der Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts hingegen geht es nicht allein um die Luftschraube oder den Propeller als gegenständliches, praktisches Objekt, sondern darüber hinaus insbesondere auch um die damit verbundenen immateriellen Ideen, das heißt die Bilder von Bewegung, die damit assoziiert sind. Denn, wie Karl Vollmoeller schon 1914 in seinem Roman „Die Geliebte“ schreibt: „So in der Ruhe ist sie [die Luftschraube] immer noch ein Körper, dessen Grenze Sie mit Hand und Auge abmessen können. (…) Sobald sie sich [jedoch] bewegt, wird sie mit einem Mal wieder körperlos, astral, gottähnlich, denn in der Rotation ist sie eigentlich nichts mehr als ein imaginäres Gebilde aus unendlich vielen im Raum sich schneidenden Linien von Kraft …“
In ihrem Essay „Luft-Bewegungen“ (2007) zur ästhetischen Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts schreibt die Kulturwissenschaftlerin Daniela Hahn in diesem Zusammenhang: Die Luftschraube wurde verstanden „als ein kinetisches, mit der Luft interferierendes Objekt, das Materie in ästhetische Kraft transformiert. In Bewegung versetzt macht die Luftschraube als Erzeuger von Fortbewegungsenergie nicht nur fliegen, sie verwandelt sich aufgrund ihres ästhetischen Potenzial auch in ein immaterielles schwebendes Volumen, das ein performativ-transformatorisches Potenzial freisetzt …“
Der Propeller fungiert so gewissermaßen auch als Antrieb für neue ästhetische Konzepte, die die allgemeine Dynamisierung der Lebenswelt der Menschen aufgreifen. Paradigmatisch formuliert wird das beispielsweise von László Moholy-Nagy in dem Manifest „Dynamisch-Konstruktives Kraftsystem“ (1922), wo es heißt: „Deshalb müssen wir an die Stelle des statischen Prinzips der klassischen Kunst das Dynamische des universellen Lebens setzen. Praktisch: statt der statischen Material-Konstruktion (Material- und Form-Verhältnisse) muß die dynamische Konstruktion (vitale Konstruktivität, Kräfteverhältnisse) organisiert werden, wo das Material nur als Kraftträger verwendet wird.“
Hatte Lilienthal noch, wie er bei jeder Landung feststellen konnte, festen Boden unter sich – und das materielle Sein fest im Blick –, ist unter dem Regime des Propellers nun alles in Bewegung geraten, haben sich alle Gewissheiten aufgelöst. An ihre Stelle tritt das avantgardistische Manifest. Der russische Avantgardist Eliezer „El“ Lissitzky fasst die Entwicklung seit Lilienthal in seinem Essay „Rad – Propeller und das Folgende“ (1923) so zusammen: „“SCHRAUBE, PROPELLER. Das kontinuierliche Rollen verwandelt sich in kontinuierliches Gleiten ——- (…) Der fliegende Mensch ist an der Grenze. An der Grenze der alten Konzeption, der alten Gestaltung, des alten Gesellschaftszustandes. Es muß eine neue Energie befreit werden, die uns ein neues Bewegungssystem gibt (z.B. eine Bewegung, die nicht auf Reibung basiert, die die Möglichkeit gibt, im Raum zu schweben und in Ruhe zu bleiben).“ Der motorgetriebene Propeller jedoch sollte auf dem Weg dahin auch nur ein Zwischenschritt sein …
– Strahltriebwerke –
Schon in Zusammenhang mit Zeppelins Luftschiffe wurde die enorme Technikbegeisterung der Deutschen deutlich – die dann leider auch die Propaganda der Nationalsozialisten für sich zu nutzen wusste: „Hitler über Deutschland“ titelte sie 1932 anlässlich von Hitlers vier Wahlkampfreisen – dann bereits – per Flugzeug durch Deutschland. Sie ermöglichten ihm Auftritte in mehreren, bewusst weit auseinander liegenden Städten täglich und eine Omnipräsenz, wie sie bis dahin für einen Politiker im Wahlkampf unbekannt war. Insbesondere auch mit den Deutschlandflügen gelang es Hitler nachhaltig, den Eindruck von Modernität und Vitalität zu vermitteln und eine für den Erfolg der NSDAP entscheidende Aufbruchstimmung zu erzeugen.
Technikbegeistert war auch der leidenschaftliche Segelflieger Hans-Joachim Pabst von Oheim (1911-1998). Er entstammte aus einer gut situierten Berliner Familie und konnte sich deshalb das Privileg leisten, Anfang der 1930er Jahre einen Platz für einen Flug im modernsten Flugzeug seiner Zeit zu ergattern: der sogenannten „Tante Junkers“ (JU 52), einem mit drei leistungsstarken Motoren betriebenen, 750 PS starken und 290 Kilometer pro Stunde schnellen Flugzeug mit Platz für 17 Passagiere. Es war eines der ersten größeren Passagierflugzeuge der 1926 gegründeten „Deutsche Luft Hansa“ – aber Vibrationen, stinkende Abgase und der Lärm von den Propellern machten das Fliegen mit ihr nicht wirklich zum Vergnügen. Das wollte Von Oheim nun ändern und stellte sich die Frage: Wie kann man große Maschinen schnell und zugleich elegant fliegen lassen?
Von Oheim dachte an ein völlig neuartiges Antriebssystem, das über ein Rückstoßprinzip funktionieren sollte: das „Strahltriebwerk“, wie er es nannte. Dafür brauchte er eine Antriebstechnik, die Luft ansaugt, verdichtet und mit Treibstoff vermischt. Das Gemisch sollte entzündet werden und sich explosionsartig ausdehnen, wobei der entstehende Luftstrahl Schub erzeugt und das Flugzeug dadurch antreibt. Gleichzeitig setzt die heiße Luft eine Turbine in Bewegung und treibt über eine Welle den Verdichter vorne an – ein Kreislauf, der die Maschine und damit das Flugzeug permanent in Bewegung hält und dabei Schub erzeugt.
So der Plan, den Von Oheim gemeinsam mit seinem Mechaniker Max Hahn umzusetzen gedachte. Aber erst, wenn die Industrie Interesse zeigt, kann Von Oheim seine neuartige Erfindung auch wirklich umsetzen – und Von Oheim ahnt nicht, dass zur selben Zeit in England ein Rivale, Frank Whittle (1907-1996), an einem ähnlichen Antriebsmotor arbeitet und ihm bei der Entwicklung bereits weit woraus war. Whittle, Pilot in der Royal Airforce, wollte die beim gewöhnlichen Propellerflug einfach verpuffenden Abgase nutzen und mit ihnen zusätzlichen Schub für das Flugzeug erzeugen. Noch vor Von Oheim bringt Whittle seine Ideen zu dem neuartigen Antriebssystem zu Papier, man steht seiner Idee im englischen Luftfahrtministerium jedoch skeptisch gegenüber und veranlasst deshalb erst einmal ein Studium Whittles in Cambridge – was die Konstruktion verzögert. Von Oheim hingegen gelingt es in dieser Zeit, den Flugzeugbauer Ernst Heinkel (1888-1958) von seinem Plan für ein „Strahltriebwerk“ zu überzeugen.
Heinkel hat als Konstrukteur selbst bereits über dreißig Flugzeuge entwickelt, die er inzwischen in Serie produziert, unter anderem das Passagierflugzeug „HE 70“, das damals schon schneller flog als ein Jagdflugzeug. Heinkel aber weiß; wie vor ihm schon Zeppelin, dass, wer Erfolg haben will in diesen Zeiten, Maschinen für die Luftwaffe bauen muss. Er tritt deshalb, wie praktisch alle Flugzeugbauer, in die NSDAP ein. Er will die Aufträge – und bekommt sie auch. Und Heinkel liefert: die „HE 111“ wird zum Vorzeigeflugzeug für die deutsche Luftwaffe.
Nun gibt Heinkel Von Oheim alles – Material, Personal und Kapital –, damit der das neue Düsentriebwerk in einem Jahr funktionstüchtig produzieren kann. Und tatsächlich ist Von Oheim erfolgreich: Am 27. August 1939 findet der erste Flug mit dem neuartigen Triebwerk statt. Die „HE 178“ ist das erste Düsenflugzeug der Welt – sie ist acht Meter lang, zwei Tonnen schwer und 700 Kilometer in der Stunde schnell.
Nur fünf Tage nach dem Erstflug überfällt Hitler Polen und es bricht der Zweite Weltkrieg aus. Deutsche Bombenflugzeuge zerstören nun Europa, auch Coventry in England wird 1940 dem Erdboden gleich gemacht („Coventrierung“ nannte die deutsche Propaganda fortan die totale Zerstörung einer Stadt durch Luftangriffe, wie es erstmals 1932 durch die Japaner im chinesischen Zhabei in Zusammenhang mit der „Schlacht um Shanghai“ geschah). Ein Flugzeug des 1933 der NSDAP beigetretenen und später mit dem Ehrentitel „Wehrwirtschaftsführer“ ausgezeichneten Wilhelm „Willy“ Emil Messerschmitt (1898-1978) – auch er entstammt übrigens, wie der ebenfalls zum Wehrwirtschaftsführer ernannte Claude Dornier, einer Familie von Weinhändlern –, die „ME 262“ wird 1942 das erste einsatzfähige und in Serie produzierte Strahlflugzeug der Welt.
Coventry ist Frank Whittles Heimatstadt, hier steht auch seine Werkstatt: die nach seinem Studium mit dem Darlehen einer Investmentfirma gegründete Firma „Power Jets“. Mit ihr gelingt es ihm etwa eineinhalb Jahre nach Von Oheim das Problem einer gleichmäßig brennenden Flamme zu lösen und den ersten englischen Düsenjet zu bauen: die „Gloster E28/39“, ein ebenfalls acht Meter langes Flugzeug, das mit 544 Kilometern in der Stunde zwar etwas langsamer fliegt als die „HE 178“, dafür aber auch etwas länger.
Dennoch bleibt der Erfolg für Whittle zunächst aus – genauso wie der für Von Oheim. Erst, als die amerikanische „General Electric“ Whittle anstellt, erkennt auch die britische Royal Airforce den militärischen Wert seiner Arbeit, während Von Oheims Leistung zunächst in Vergessenheit gerät: zwar hat Whittle die Idee als erster zu Papier gebracht, aber immerhin ist Von Oheims Jet als erster geflogen … schließlich aber werden doch beide für ihre Erfindung ausgezeichnet (1991 von der „United States National Academy of Engineering“) – und auch Freunde. Überall wird ihr Motor nun eingebaut – gemeinsam gelten sie als Väter der zivilen Luftfahrt: Ihre Erfindung erlaubt erst größere Passagierzahlen in einem Flugzeug und macht die Luftfahrt überhaupt erst für jedermann erschwinglich. Und es ist auch ihr Motor, mit dem die „Concorde“ erstmals als ziviles Flugzeug 1969 die Schallmauer durchbricht …
– Raketen –
„Beim Übergang in den Horizontalflug in 42000 ft hatte ich noch dreißig Prozent Treibstoff. Ich zündete deshalb die dritte Kammer und war sofort auf Mach 0.96. Mir fiel auf, dass mit zunehmender Geschwindigkeit der Flug immer ruhiger wurde. Plötzlich schlug die Mach-Anzeige kräftig aus. Die Nadel stieg bis Mach 0.965 – und dann rutschte sie ganz einfach über das Skalenende hinaus. Eine Instrumentennadel zeigte mir an, was ich erreicht hatte. Es hätte einen Ruck geben müssen, etwas, was mich darauf aufmerksam gemacht hätte, dass ich ein Loch in die Schallmauer gebohrt hatte. Der Vorstoß in die Grauzone des Unbekannten hatte sich als Sonntagsspaziergang erwiesen. Erst später begriff ich, dass die gesamte Mission ganz einfach mit einer Enttäuschung enden musste: Die Mauer, die wir überwinden wollten, existierte nicht in der Luft, sondern in unseren Köpfen“, schreibt Charles „Chuck“ Yeager (1923-2020) in seiner Autobiographie „Schneller als der Schall“ (1988), als er 1947 als erster Mensch mit dem Experimentalflugzeug „Bell X-1“ die Schallmauer durchbrach.
Grenzen in den Köpfen überwinden wollte auch der Sonnenkönig, Ludwig der XIV., als er 1667 das Observatorium von Paris gründete und die bekanntesten Astronomen seiner Zeit dort versammelte – in der königlichen Akademie der Wissenschaften. Der erste Direktor des lange wichtigsten Sternenobservatoriums der Welt war Giovanni Domenico Cassini (1625-1712). Er begann direkt nach der Gründung des Instituts mit der Untersuchung verschiedener Himmelsobjekte, widmet sich aber insbesondere seinem Hauptprojekt: der präzisen Kartografie des Mondes.
Mit Cassinis Mond-Beobachtungen begann ein Wettlauf mit immer besseren Teleskopen, auf die eine genauere Zeichnung der nächsten folgte. Aus vielen verschiedenen Ausschnitten erstellte Cassini selbst die erste komplette Karte des Mondes – zumindest von seiner der Erde zugewandten, sichtbaren Seite. Sie war die genaueste und detailreichste Mondkarte, bis dann die Fotografie ab 1885 noch bessere Aufnahmen zuließ. Mit ihrer Hilfe jedenfalls entstand dann am Pariser Observatorium der erste „Mondatlas“, der so präzise war, das er dann sogar auch noch für die Apollo-Mondmission der NASA herangezogen wurde.
Die Geschichte der Mondlandung beginnt insofern bereits im 17. Jahrhundert – und eigentlich sogar schon mit Galileo Galilei (1564-1642). 1604 entdeckte Galilei ein faszinierendes Phänomen am Himmel, nämlich ein neues Licht, das Nacht für Nacht heller erscheint: es ist eine Supernova. Man sprach damals von „Stella nova“, „neuer Stern“, aber eigentlich weiß man nicht, worum es sich handelt. Galilei nun nimmt Messungen vor und kommt zu dem Schluss, dass der neue Stern ein Fixstern sein müsse, da er seine Position nicht verändert (wohingegen die Planeten ihre Position permanent verändern). Er hält dazu drei öffentliche Vorträge, das Problem aber war: zu behaupten, dass eine veränderliche Lichterscheinung in der Fixsternsphäre stattfindet, war ein fundamentaler Angriff auf das aristotelische System, demzufolge ja alles jenseits des Mondes als unveränderlich, göttlich, galt. (Außerdem keimen Zweifel in Galilei auf, dass die Sterne alle die selbe Entfernung zur Erde haben und fix sind, wie man damals annahm. Bevor man aber den Kosmos als Raum wahrnahm und sich die Idee eines unendlichen Kosmos voller Sterne durchsetzte, sollte es allerdings noch vierzig Jahre dauern.)
Die Vorstellung des Himmels geht bis in Zeit Galilei Galileos auf Aristoteles beziehungsweise Ptrolemäus zurück. Galilei nun entwickelte ein neues Weltbild, das selbst von Kopernikus beeinflusst war: Wenige Jahrzehnte zuvor hatte der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus (1473-1543) ein System präsentiert, in dessen Zentrum nicht mehr die Erde, sondern die Sonne stand. Dieses heliozentrische Weltbild stand in völligem Widerspruch zu dem von der Kirche vertretenen Weltbild des Ptolemäus: Im ptolemäischen Verständnis, das auch die Kirche vertrat, war die Erde das Zentrum des Universums. Es handelt sich insofern um ein geozentrisches Weltbild (der „geschlossenen Welt“), während demgegenüber im kopernikanischen Verständnis die Erde um die Sonne kreist. Hier handelt sich also um ein heliozentrisches Weltbild – wobei die Erde ein Planet unter anderen ist und es viele Welten geben könnte mit unendlich vielen anderen möglichen Formen des Lebens. Dieser Gedanke von der Belebtheit des Universums bedeutete einen schweren Angriff auf den Anthropozentrismus, auf dem die kirchliche Doktrin beruhte. Galilei jedoch war vom kopernikanischen System überzeugt, aber das durfte damals nicht öffentlich zugegeben werden – ganz abgesehen davon, dass es auch noch keinen Beweis für dieses System gab. Galilei nun lieferte den Beweis für das kopernikanische Weltbild.
Galilei Galileo beobachtete die Supernova über ein Jahr lang. Über 20.000 Lichtjahre von unserer Galaxie entfernt, in der Milchstraße, schwand die Leuchtkraft des Sterns über mehrere Monate und war 1605 mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen. Heute ist der Staub dieses verglühten Sterns nur noch mit großen Teleskopen zu sehen – aber schon damals benutzte Galilei modernste Technik: In Venedig hörte er der holländischen Erfindung des Fernrohrs, dessen Qualität jedoch noch nicht ausgereift war. Galilei erkannte sein Potential zur Himmelsbeobachtung und entwickelte es weiter. Sein Fernrohr war ein einfaches, etwa eineinhalb Meter langes Rohr mit einer Linse an jedem Ende: eine konvexe Linse wie in einem Objektiv vorne, eine konkave Linse wie in einem Okular hinten. Damit konnte er in einem winzigen Ausschnitt eine etwa zehnfache Vergrößerung erreichen.
Den militärischen Nutzen seine Fernrohres betonend, gelingt es Galileo die Dogen Venedigs von seinem Fernrohr zu überzeugen und sich finanzielle Unterstützung von ihnen zu sichern. Zurück in Padua beginnt er nun intensiv den Mond zu beobachten und entdeckt, dass er eine rauhe, gebirgige und zerklüftete Oberfläche hat – ähnlich wie die der Erde. Das war damals unbekannt, man ging im Gegenteil mit Aristoteles davon aus, dass der Mond ein glatter und perfekter Körper ist. Galilei jedoch gelingt es nun sogar, die Höhe der Berge auf dem Mond zu berechnen. Er ist der erste, der genaue Zeichnungen der Geländestrukturen anfertigte (Galilei hat ein Werkzeug erfunden, mit dem er mit beiden Augen gleichzeitig arbeiten konnte: mit dem einen Auge beobachtete er den Mond, mit dem anderen zeichnete er seine Beobachtungen sofort auf ein Papier, das er ein Stück weit entfernt befestigt hatte.)
Aber mit seinen Mondbeobachtungen ist für Galilei und sein Fernrohr noch nicht Schluss: Zu seiner eigenen Überraschung entdeckt er 1610, dass der Jupiter von vier Monden umkreist wird (die er – um einem potentiell neuen Mäzen zu schmeicheln – als die vier „Medici-Monde“ bezeichnete). Diese Entdeckung veröffentlichte er nun in seinem Werk „Siderius nuntius“ („Sternenbote“), ebenso jene über den Mond mitsamt seinen Zeichnungen. Vom „Siderius nuntius“, verfasst in lateinischer Sprache, wurden 550 Exemplare erzeugt, die sofort nach Veröffentlichung vergriffen waren.
Etwa zwanzig Jahre vergingen dann, in denen das neue Weltbild von Galilei allmählich in Europa in Umlauf kam. Zunehmend erkannten die Theologen – die ja bis dahin die einzigen waren, die befugt waren, die Natur zu beschreiben –, dass Galileo mit seinem Werk ihr Dogma anfocht, welches die Erde als Zentrum des Universums erklärte, während der immer offener behauptete, den Beweis für das kopernikanische Weltsystem in den Händen zu halten.
1633 schließlich, nachdem die Kirche in Rom das heliozentrische Weltbild von Kopernikus bereits 1616 für ketzerisch erklärte, verurteilte sie Galileo Galilei wegen seiner Komplizenschaft mit ihm zu Hausarrest – eine extrem milde Strafe, die noch nicht einmal vom Papst unterzeichnet wurde. Dennoch muß Galileo vor der Inquisition in Rom seinen häretischen Gedanken abschwören, um dem Tod auf dem Scheiterhaufen zu entgehen. Mit dem Urteil gegen Galileo entschied die katholische Kirche die Auseinandersetzung um den entscheidenden Paradigmenwechsel des 17. Jahrhunderts, nämlich den zwischen ptolemäischer und kopernikanischer Weltsicht.
400 Jahre später erforschen die Astronomen das Universum noch immer auf den Spuren Galileo Galileis. Galileos „Sternenbote“ gilt als der Anfang vom Veröffentlichen und Teilen wissenschaftlicher Erkenntnis – und er verfertigte die ersten genauen Zeichnungen von der Mondoberfläche (so, wie uns die 1977 gestartete Raumsonde „Voyager 1“ eine Vorstellung der Planeten des Sonnensystems lieferte, bis sie 2004 die Grenze des Einflussbereiches der Sonne, der Heliosphäre, in einer Entfernung von etwa 14 Milliarden Kilometer erreichte, die Heliohülle durchbrach und seither in den interstellaren Raum jenseits der Sonne vorstößt).
Galileo verhalf dem heliozentrischen Weltbild zum Durchbruch, weshalb die katholische Kirche Galileos „Sternenbote“ auf den Index setzte, aber die Verbreitung des Wissens nicht verhindern konnte – auch weil sich bald jeder mit einem Fernrohr von den Mondbergen und den Jupitermonden überzeugen konnte. Am Pariser Observatorium, mit dem modernsten Teleskop der Zeit, umso genauer.
In Paris kommt auch Savinien Cyrano de Bergerac (1619-1655) mit Galileos Wissen in Kontakt: Cyrano kannte Galileis Untersuchungen von Vorträgen des Astronomen Pierre Gassendi (1592-1655), die dieser ab 1647 am Collège Royal, dem heutigen Collège de France, hielt, wo er die – damals noch immer verbotene – These von der Bewegung der Erde um die Sonne aufgriff.
Savinien Cyrano de Bergerac, der uns heute als „Cyrano de Bergerac“ durch die gleichnamige Liebesgeschichte von Edmond Rostand (1868-1918) bekannt ist (das ein Jahr nach Lilienthals Tod entstandene Drama ist bis heute das meistgespielte Theaterstück in Frankreich), war eine historische Person – zeitlebens als verwegener „Haudegen“ des Garderegiments bekannt –, die sich der Legende nach mit dem Degen Zugang zur Zuhörerschaft Gassendis verschaffte … darüber hinaus aber unter anderem auch zwei utopische Romane geschrieben hat, in denen er die Erkenntnisse zu Galileo Galilei verarbeitete: „Les États et Empires de la Lune“ und „Les États et Empires du Soleil“, die beide vereint als „Die Reise zum Mond und zur Sonne“ posthum veröffentlicht wurden (über die genaue Entstehungszeit der beiden Bücher ist bis heute nichts bekannt, vermutlich begann er um 1650 mit der Reise zum Mond und 1657 mit der Reise um die Sonne; veröffentlicht wurden die beiden Bücher jedenfalls 1657 und 1662).
Cyrano rätselt in dem fantastischen Roman über den Mond, über den außergewöhnlich hell scheinenden Mond. Und er will wissen warum das so ist – er will auf den Mond. Deshalb bindet er sich Kugelfläschchen voller Tau um den Bauch, die – wie man damals wusste – von der Sonnenhitze angezogen werden und ihn bestimmt himmelwärts steigen lassen. Allerdings funktionierte das nicht, das heißt er kam dem Mond nur näher, erreichte ihn aber nicht, weshalb er einige Fläschchen zerbrach, um zumindest wieder sanft zu landen. Zumindest das gelang ihm. Der erste Versuch einer Mondreise misslang ihm also, das sollte der nächste nicht. Cyrano konstruiert also eine weitere Flugmaschine, aber auch damit erlebt er zunächst nur einen Absturz. Als er sich gerade davon erholt hatte, muss er miterleben, wie jemand seine Erfindung mit Schwarzpulver in die Luft sprengen will: „Der Schmerz darüber, meiner Hände Werk in so großer Gefahr zu sehen, versetzte mich in solchen Zorn, daß ich hinzulief … Ich entriß ihm seine Lunte und warf mich furchsteufelswild in meine Maschine, um das Feuerwerk, von dem sie umgeben war, zu zerstören. Aber ich kam zu spät, denn kaum saß ich mit beiden Füßen darin, da war ich auch schon zu den Wolken aufgestiegen.“ Und er fährt fort: „So erfahrt denn, daß die Flamme, sobald sie eine Stufe der Rakete verschlungen hatte (sie waren nämlich jeweils zu sechsen mittels einer Zündschnur verbunden, die um jedes halbe Dutzend gewickelt war), eine andere entzündete und dann wieder eine, derart, daß der brennende Salpeter die Gefahr abwendete, indem er sie vergrößerte. Da das Material jedoch abgenutzt war, blieb das Feuerwerk aus, und als ich noch daran dachte, mir den Kopf auf einer Bergspitze zu zerschmettern, spürte ich, daß mein Flug weiterging, ohne daß ich mich gerührt hätte, und ich sah meine Maschine, die von mir Abschied nahm, zu Erde zurückfallen.“ So landete Cyrano schließlich unversehrt auf dem Mond …
Bereits um 1650 also beschreibt Savinien Cyrano de Bergerac einen Raketenflug auf den Mond – man erfährt jedoch nicht, wie seine Mondmaschine beschaffen war. Edmond Rostand beschreibt sie in seinem Drama von 1897, also noch ein paar Jahre, bevor sich tatsächlich ein Flugzeug in die Luft erheben sollte, als „Stahlgeschoß“ (3,11). Er lässt Cyrano dort sagen: „Dann, als Feuerwerker von Beruf / Laß ich durch starke Flammen von Salpeter / Auf einem Stahlgeschoß, das ich mir schuf, / Mich schleudern in den himmelblauen Äther.“ Spätestens Rostand hat also bereits ein Bild vor Augen, das unsere Vorstellung von einer Rakete vorwegnimmt – auch wenn sein Protagonist damit wohl eher zufällig auf dem Mond landet …
Die ersten präzise lenkbaren Raketen wurden von Walter Dornberger (1895-1980) und Wernher von Braun (1912-1977) geschaffen – in der Zeit des Dritten Reiches unter Ausnutzung der Arbeitskraft zahlreicher Zwangsarbeiter aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Die Rolle von Walter Dornberger als Chef der Raketenabteilung im Heereswaffenamt beim Aufbau der Raketenentwicklung in Deutschland ist in der Öffentlichkeit vielleicht weniger bekannt als jene seines technischen Leiters Wernher von Braun, in dessen Schatten er stand. Aber es war Dornberger, der sich 1932 für die Zusammenarbeit mit Militär und Wirtschaft entschied und seine bisher auf dem „Raketenflugplatz“ in Berlin-Tegel (dem späteren Flughafengelände) gesammelten Ergebnisse in der Mess- und Versuchstechnik für Flüssigkeitsraketen in die zukünftige systematische Raketenforschung einbrachte.
Diente zunächst ein ehemaliger Exerzierplatz in Tegel, am nördlichen Berliner Stadtrand, als Versuchsgelände (auch der Standort des 1923 gegründeten Berliner Flughafens Tempelhof befand sich übrigens auf dem Gelände eines ehemaligen Exerzierplatzes), wurden ab 1933 zunächst in Kummersdorf bei Berlin die militärische Nutzung von Raketen (Ferngeschossen) im Auftrag des Heereswaffenamtes getestet. Auch Wernher von Braun nimmt hier die Stelle als technischer Leiter an. Unter dem Kommando von Dornberger und der technischen Leitung von Wernher von Braun siedelt die Versuchsanstalt des Heeres (HVA) dann 1936 nach Peenemünde an die Ostsee. „In wenigen Jahren gelang es der von ihm gegründeten Raketen-Abteilung im Heereswaffenamt der Wehrmacht, auf dem für sie eigens erbauten großen Versuchsgelände in Peenemünde (Vorpommern) eine lenkbare Rakete zu entwickeln, die nicht sehr anders aussieht, als die Raketen, die wir heute zu kriegerischen Zwecken und zur zivilen Raumfahrt benutzen“, heißt es bei Hauschild et al.
Cyrano de Bergeracs Rakete ähnelte der im chinesischen Mittelalter gemachten Erfindung der Rakete, die mit Schwarzpulver angetriebenen wurde und die erstmals im Krieg gegen die Mongolen 1232 abgefeuert wurde, wo sie die gegnerischen Pferde erschrecken sollten. Sie wird nun in Peenmünde von etwa 6.000 Wissenschaftlern und Ingenieuren, Systempionieren und Messtechnikern, weiterentwickelt – angeblich nicht mit dem Ziel der Vernichtung Londons, sondern der Eroberung des Alls, wie Dornberger in „Peenemünde: Die Geschichte der V-Waffen“ (1981) behauptete. Ob das glaubwürdig ist, sei dahingestellt, allerdings lag der Gedanke der Weltraumluftfahrt schon seit den 1920er Jahren in der Luft, als sich die Rakete in Deutschland als Kompensationsobjekt für das im Versailler Vertrag verordnete Flugverbot erwies.
Im militärischen Sperrgebiet in Peenemünde wurden verschiedene automatische Flugkörper entwickelt, mit denen man die quantitative Luftüberlegenheit der damaligen Großmächte, der Logik des Unmenschen folgend, durch „Qualität“ ausgleichen wollte. So gelangen innerhalb weniger Jahre Erfolge in Forschungsbereichen und Technologien wie beispielsweise Elektronik, Funktechnik, Raketenlenkung und -stabilisation. Auf der Basis dieser Erkenntnisse wurde 1941 mit der „ME 163“ das erste Flugzeug mit Raketenantrieb produziert, insbesondere aber auch die ab 1942 entwickelte Großrakete mit Flüssigkeitstriebwerk „Aggregat 4 (A4)“, die nun zu einer neuen Waffe umgerüstet wird: der „Vergeltungswaffe V2“.
Die „Fieseler 103“, besser bekannt als „Vergeltungswaffe V1“, die noch nicht in Peenemünde konstruiert wurde, war im Frühjahr 1944 der erste militärisch eingesetzte Marschflugkörper. Etwa 12.000 V1 wurden abgefeuert, hauptsächlich gegen England – aber die Waffe besaß nicht die gewünschte Präzision, obwohl sie bereits als „Wunderwaffe“ propagiert wurde. Die Ungenauigkeiten sollten nun mit der V2 beseitigt werden.
Die V2 wurde Ende 1942 erstmals abgefeuert. Sie erreichte eine Höhe von etwa 100 Kilometer und war damit das erste Flugobjekt, das in den Grenzbereich zum Weltraum eindrang. (Im Unterschied zu einem Strahltriebwerk sind Raketentriebwerke solche, die den Schub zwar durch eine Rückstoßwirkung erzeugen, dabei aber keine Luft von außen ansaugen und insofern auch unabhängig von der Umgebung, also auch im Vakuum des Weltraums funktionieren können.) Insbesondere deshalb gilt Peenemünde als „Wiege der Raumfahrt“ – und nicht zuletzt deshalb, und ungeachtet dessen, dass über 30.000 Häftlinge bei ihrem Bau in verschiedenen Stollen in Deutschland und Österreich ihr leben ließen –, wurden Dornberger und seine Techniker nach dem Zweiten Weltkrieg mit offenen Händen in amerikanischen Labors der Flugzeugindustrie empfangen (auch das Triebwerk für die „Bell X-1“, die erstmals die Schallmauer durchbrach, wurde auf der Grundlage der Raketentechnik der Peenemünder Ingenieure entwickelt). Wernher von Braun wiederum – vielleicht etwas weniger exponiert im Dritten Reich als Dornberger, auf jeden Fall aber auch ohne jede sichtbare Reue für seine nationalsozialistische Vergangenheit als Mitglied der Schutzstaffel seit 1933 (der „SS“ seit 1940) und der NSDAP seit 1937 – ging bekanntlich zur NASA und wurde dort der Architekt des Apollo-Mondlandeprogramms.
Heute ist es das Ziel des bemannten NASA-Projektes „Artemis“, benannt nach der Mondgöttin und Schwester des Sonnengottes Apollon, erstmals seit „Apollo 17“ wieder auf dem Mond zu landen und dort auch eine Mondbasis aufzubauen. Initiiert wurde das Projekt unter der Regierung von Donald Trump im März 2019 – für 2024 ist erst einmal eine unbemannte Umrundung geplant, ab 2025 soll dann eine Landung auf dem Mond stattfinden.
… und Landen
Fliegen ist das Ergebnis eines technischen Fortschritts, der insbesondere in Ländern mit hoher Produktivität und einer metallverarbeitenden Industrie stattfand. Wirft man einen Blick auf die Weltkarte, sieht man, dass eine beschleunigte Entwicklung im technischen Bereich und „die Weiterentwicklung zu industriell produzierenden Massengesellschaften“ vor allem in Gebieten gelang, „wo es erdgeschichtlich und klimatisch einigermaßen ruhig und erträglich war“, wie Hauschild et al. bemerken, „also nicht in den Tropen“.
Nicht kulturelle Unterschiede haben insofern die technische Entwicklung der prähistorischen Menschen beeinflusst, sondern die unterschiedliche materielle Ausstattung der Weltgegenden, in denen sie nach ihrem Aufbruch aus Afrika landeten: „(I)n Phasen der Intensivierung von technischen Systemen und der Herausbildung größerer Gruppen waren die gemäßigten Breiten gefragt“, bemerken Hauschild et al. Bevorteilt waren eindeutig fruchtbare Regionen, die reichlich mit domestizierbarer Flora und Fauna ausgestattet war – und in denen sich nach und nach die ortsfeste Landwirtschaft und mit ihr eine technisierte Lebensweise durchsetzte.
Der britische Archäologe Gordon Childe (1892-1957) prägte für diese Entwicklung den Begriff der neolithischen Revolution. Er verwendete ihn, um den Übergang zum Ackerbau als eine für die Menschheit grundlegende Transformation zu markieren. Denn wie zuvor das Feuer – und nun in Zusammenhang mit der Entwicklung der Luftfahrt zuletzt die Rakete – beschleunigte der Übergang zur ortsfesten landwirtschaftlichen Produktion gesellschaftliche Veränderungsprozesse nicht nur, sondern führte zu einer gravierenden Umwälzung der menschlichen Lebensweise insgesamt. Und es ist sicher kein Zufall, dass die Umwandlung der Wirtschaftsweise mit der Sesshaftwerdung im sogenannten Fruchtbaren Halbmond seinen Ausgang nahm.
„Heute dominiert die agrarwirtschaftliche und industrielle Zivilisation auf allen Kontinenten. Sie hat die Welt“, schreiben Hauschild et al., „in ein System konkurrierender Nationalstaaten verwandelt, welche den Planeten flächendeckend beherrschen.“ Begleitet wurde diese Entwicklung praktisch seit jeher von Kolonialismus und Gewalt (Eroberungskriegen), wobei die Gewalt, Hauschild et al. folgend, nur eine vermeintliche Überlegenheit verstärkte, die ohnehin durch die jeweiligen Herkunftsgebiete und die dort gerade möglichen Produktionstechniken gegeben war“. Kolonialismus sei insofern „weniger als eine Art politische Entscheidung für die Gewalt zu sehen …, sondern als Ergebnis materieller Unterschiede zwischen Regionen der Welt“, das heißt Kolonialismus und die mit ihm verbundene Wirtschaft ist immer auch auf Ausnutzung des Erdbodens und der natürlichen Rohstoffe des kolonialisierten Gebietes ausgerichtet. Der Aufbau einer eigenen Industrie für die Kolonie ist gewöhnlich nicht vorgesehen. Stets bleibt in solchen Beziehungen ein Entwicklungsrückstand als Quelle der Ungleichheit – ein Abhängigkeitsverhältnis, das bisweilen auch bei inzwischen unabhängigen Nationen oft nicht überwunden werden konnte.
Gleichwohl wird nicht zuletzt aufgrund der Klimaerwärmung klar – vergleicht man die Kulturen der Welt von ihren materiellen Grundlagen her –, dass alle Zivilisationen, gerade auch unsere westliche Industriegesellschaft, „stets vom `Kollaps´ bedroht sind“, wie Hausschild et al. schreiben. Für sie steht fest, dass der „Kollaps“ unvermeidlich ist, wenn beispielsweise aufgrund globaler Prozesse wie dem Klimawandel die lokalen Quellen der Prosperität versiegen oder wenn die landschaftlichen Grundlagen verbraucht sind, weil uns ein nachhaltiger Umgang mit ihnen nicht gelungen ist. Dann „wird irgendwann auch wieder Schluss sein mit Motorflug, Mondraketen und Computern – und mit dem übrigen `Cargo´ an Konsumgütern sowieso“.
Die Unsicherheit wächst, nicht nur angesichts unkontrollierbar gewordener Prozesse wie der Klimaerwärmung oder die durch unsere industrielle Lebensweise bedrohten lokalen Reserven und Ressourcen – denn zweifelsohne erleben wir gerade eine sicherheitspolitische Zeitenwende: Durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine verschieben sich, mal ganz abgesehen von dem Leid für die Menschen vor Ort, die Koordinaten unserer Sicherheit fundamental. Hatte sich gerade erst die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Klimaveränderung im Zentrum aller geopolitischen Konflikte steht, stellen wir jetzt fest: Klimawandel, Migrationsbewegungen, soziale Ungleichheit, Gesundheit und alles, was unsere Vorstellung von Sicherheit zuletzt maßgeblich beeinflusst hat – das ist dem russischen Präsidenten offensichtlich völlig egal, ebenso, dass fossile Energien wie Öl und Gas als Fundament der Wirtschaft in absehbarer Zeit ohnehin an Wert verlieren und völlig unklar ist, wovon Russland dann leben will. Was für ihn allein zu zählen scheint ist militärische Macht – im Zweifelsfall verbunden mit unmenschlicher Brutalität gegen die Zivilbevölkerung.
Dagegen muss man sich wehren! Allein: die geopolitische Bedrohung durch die Klimaveränderung ist damit nicht verschwunden, genauso wenig mit der Globalisierung zusammenhängende grenzenlose Phänomene wie Bodenerosion, Umweltverschmutzung, Ressourcenknappheit, Habitatzerstörung, Artensterben et cetera. Mit der politischen Unsicherheit wächst nur die globalisierungsbedingte Zerstörung unserer Lebensgrundlage. Wo noch Sicherheit und Orientierung finden in dieser Zeit?
Für den Soziologen Bruno Latour ist klar, dass die Erde unser einzig sicheres Zuhause ist – dass sich mit der Klimaerwärmung jedoch „der erträumte Boden der Globalisierung“ zu entziehen beginnt. Er fordert uns deshalb auf, den „eskapistischen Traum“ zu beenden, unsere Entwicklungserwartungen neu zu justieren und den Blick wieder nach unten zu richten, ein Bewusstsein zu entwickeln für die Erde, auf der wir leben – den Boden im wahrsten Sinne des Wortes als Lebensgrundlage wahrzunehmen –, da unser Planet ansonsten für alle zunehmend unbewohnbar wird. Will man sich dem Verlust an gemeinsamer Orientierung angesichts der global wachsenden Unsicherheiten widersetzen, „gilt es, irgendwo zu landen“, sich „zu erden“, folgert er. Man müsste fähig sein, „sich einerseits an einen bestimmten Boden zu binden und andererseits weltbezogen zu werden“, schreibt er 2017 in einem Essay mit dem französischen Originaltitel „Où atterir?“ , „Wo landen?“. Mit einer nationalistischen Blut-und-Boden-Ideologie hat das nichts gemein – eher mit der Perspektive eines auf`s Terroir bedachten Winzers. Denn vielleicht ist sich niemand mehr des komplexen Zusammenhangs von Boden (Erde), Klima, menschlichem Handeln und Wirtschaften – eben das bezeichnet der Begriff Terroir – bewußt als er.
– Bruno Latour und der Wein –
Bruno Latour hat sich zwar nicht als Winzer einen Namen gemacht, entstammt aber einem traditionsreichen Weingut: dem „Maison Louis Latour“ aus Beaune im Burgund. Als Gründungsdatum für das Weingut wird das Jahr 1797 angegeben, eigentlich aber geht der Ursprung auf das Jahr 1768 zurück, als Jean Latour – damals in Aloxe-Corton – erstmals Rebstöcke anpflanzte. Es war dann allerdings sein Sohn Louis Latour I., der den Besitz entscheidend erweiterte und Rebflächen in anderen Orten innerhalb der Côte d`Or – in Chambertin, Montrachet und Romanée-Saint-Vivant – anlegte, bevor die Familie Latour 1867 mit Louis Latour III. auch mit dem Weinhandel begann.

In einem Interview gesteht Bruno Latour niemals selbst im Weinberg gearbeitet zu haben: „No, I was always terrible, I couldn’t do what I was supposed to do, so I shifted to philosophy. I have an older brother who took over the business, so they didn’t need me. But the wine business is very interesting. It’s globalized now.“ Und in „Où atterir?“ ergänzt er, dass er voll und ganz von der Globalisierung profitiert habe, „ohne aber das Terroir vergessen zu haben, an das mich eine Familie von Winzern bindet – von Weinen der Bourgogne, die angeblich seit den Galliern global vertrieben wurden. Kein Zweifel, ich bin ein Privilegierter.“
In der Tat, der „2020 Pinot Noir Bourgogne AOC“ des Maison Louis Latour ist ein Versprechen – und eigentlich noch viel zu jung, um ihn jetzt schon zu verköstigen. Idealerweise sollte man bei ihm noch mehrere Jahre warten … so offenbart er zwar eine mollige Wärme und samtig-fruchtige Kirscharomen mit einem äußerst zarten Hauch Vanille – der Wein wurde nicht im Barrique, sondern ein Jahr im Edelstahltank ausgebaut, und hat nicht zuletzt deshalb auch kaum spürbare Tannine -, daneben aber auch eine frische Säure und Aromen schwarzer, würziger Johannisbeere sowie etwas salzige Bittermandel – und eben halt auch noch etwas grüne, unreife Walnuss. Deshalb also: Ruhe bewahren!
Das Weingut wird inzwischen von seinem Neffen geleitet, nach dem zuvor sein älterer Bruder verantwortlich dafür war. Insofern hat Bruno Latour nicht direkt damit tun – „I only drink our wine, in fact. Not Bordeaux – just Burgundy! I’m not a relativist, you see. [Laughs.]“, sagt er in einem Interview (und ergänzt in einem anderen von 1993: „I am from the typical French provincial bourgeoisie, from Burgundy where my family has produced wine for generations, and my only ambition is that people would say ‘I read a Latour 1992’ with the same pleasure as they would say ‘I drank a Latour 1992’! I have still a long way to go, as you see“). Nichtsdestotrotz aber hat Wein das Denken des bekannten Soziologen schon immer beeinflusst. Ersichtlich wird das bereits 1984 in seinem Buch „Les Microbes“, wo er versucht, die historische Situation zur Zeit ihrer Entdeckung um das Jahr 1878 herauszuarbeiten.
Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigt sich Louis Pasteur (1822 bis 1895) mit der alkoholischen Gärung und entdeckt in diesem Zusammenhang den Hefepilz Saccharomyces cervisiae, den er verantwortlich dafür macht, das sich im Prozess der alkoholischen Gärung die Trauben überhaupt erst in Wein verwandeln. Das ist jedoch nicht der einzige Mikroorganismus (Mikrobe), sondern Pasteur entdeckt noch andere – krankheitserregende. So werden mit Pasteur erstmals verschiedenartige Mikroorganismen (Mikroben) als die kleinste, bis dahin unsichtbare Einheit über das Paradigma der Ansteckung als eigenständige Lebewesen und Erreger von Epidemien identifiziert (heutzutage unterscheidet man innerhalb der Mikroben die Gruppen der Hefepilze, Bakterien, Viren, Archaea, Mikroalgen und Protozoen).
Latours Interesse nun gilt dem an diese Entdeckung anschließenden Programm von Louis Pasteur, das der Bekämpfung der Ansteckungsgefahr durch die Mikroben gilt. Denn für Latour steht die „Pasteurisierung Frankreichs“ (so der Titel der deutschen Übersetzung) für einen „Komplex von Technologien der Hygiene, die das Soziale von der Mikrobe zu bereinigen suchen“, wie Elena Beregow in „Fermente des Sozialen“ (2021) schreibt. Gleichwohl geht mit der Entdeckung der Mikroben, wie Beregow weiter ausführt, „auch ein Regime der kontrollierten Gärung hervor, die jetzt Fermentation heißt und auf dem Einsatz `gezähmter´ Bakterienkulturen als Transformationsmotoren … beruht“. Bei der Weinbereitung wird fortan nicht mehr auf die spontane Vergärung durch wilde, ohnehin in der Luft schwebende Hefen vertraut (überlässt man den gepressten Most im Weinkeller sich selbst, kommt es aufgrund der ohnehin in der Luft lebenden wilden Hefen automatisch zur Gärung, die dann gewöhnlich allerdings etwa langsamer verläuft und deren Resultat nicht kontrollierbar ist), sondern es finden zunehmend speziell gezüchtete Hefekulturen Verwendung, sogenannte Reinzuchthefen, die dem Most zugegeben werden und mit denen versucht wird, den Gärprozess zu beschleunigen und vor allem den Geschmack des Weines ganz gezielt zu beeinflussen.
Pasteur entdeckte allerdings nicht nur zahlreiche Mikroorganismen, sondern entwickelte auch ein nach ihm benanntes Verfahren der Unschädlichmachung von Krankheitserregern in Flüssigkeiten beziehungsweise deren Haltbarmachung durch Erhitzung. „Mit der Pasteurisierung“, schreibt Beregow, „ist die bis heute eingesetzte Methode der hygienischen Gärung verbunden, die die involvierten Bakterien des Fermentationsprozesses durch Hitzeeinwirkung vernichtet.“ Pasteur löste damit ein großes Problem der Winzer, kam es doch bis dahin immer wieder zu unerwünschten Nachgärungen der Weine in der Flasche aufgrund von bakteriellen Verunreinigungen. Durch die Erhitzung der Weine auf eine Temperatur zwischen sechzig und hundert Grad Celsius werden solche Bakterien abgetötet – allerdings bleiben die Auswirkungen auf die Qualität des Weines umstritten. Deshalb verzichtet man heute bisweilen auf die Pasteurisierung, die mikrobiologische Stabilisierung der Weine erfolgt stattdessen mittels Schwefelung, das heißt die Zugabe von Sulfit (wenn dem Wein Sulfit zur Haltbarmachung zugegeben wird, muss das auf dem Etikett angegeben werden). Das „Maison Louis Latour“ allerdings vollzieht die umstrittene Praxis der bakterientötenden Erhitzung bei ihren Weinen bis heute. Umso überraschender ist es, dass man „nach Hinweisen zur Pasteurisierung in diesem biotechnologischen Sinne“ bei Latour vergeblich sucht, wie Beregow bemerkt.
Gleichwohl werden die Mikroben bei Latour gewissermaßen zu Akteuren im Prozess des Sozialen, das heißt zu Lebewesen mit einer das menschliche Leben beeinflussenden Handlungsmacht. Latour verortet die Mikroben insofern zwischen Natur und Kultur: Bereits die Mikroben machen klar, dass sich der Mensch der Natur nicht entziehen kann, dass man sich nicht einfach in das andere einer unkontrollierbaren und unbezähmbaren Natur – die Zivilisation – flüchten kann, sondern unweigerlich darin verstrickt ist. Schon Mikroben offenbaren so, was heutzutage mit der Klimaerwärmung noch einmal deutlich wird: dass die Menschheit in einem neuen Zeitalter angekommen ist – dem Anthropozän –, in dem sie nicht als einziger Akteur auftritt.
Anstatt Natur und Kultur als ontologisch unterschieden zu verstehen, gelte es, die Welt als ein „nahtloses Gewebe“ zu betrachten, in dem Menschliche und Nicht-Menschliche Akteure zusammenwirken, schreibt Latour. Die Idee einer „Welt als Bühne“ für menschliches Handeln ist insofern nicht mehr zu halten, denn auch Nicht-Menschliche Akteure beeinflussen formend und gestaltend die Wirklichkeit unserer Gesellschaft. Das Belebte und Unbelebte in unserer Umgebung ist nicht nur passiver Gegenstand für unser Handeln, sondern wirkt seinerseits auf uns leiblich spürbar ein.
Natur kann also nicht mehr der Kultur gegenübergestellt werden, Wildnis als unberührte Natur nicht mehr der Zivilisation, sondern wir müssen beginnen „unsere Monster zu lieben“, wie Latour sagt. Bei der Weinerzeugung jedenfalls hat man sich an diese Devise schon immer gehalten, sind es doch erst die von Louis Pasteur entdeckten Mikroorganismen (der Hefepilze Saccharomyces cervisiae), die im Prozess der alkoholischen Gärung die Trauben in Wein verwandeln. Und vielleicht hat man diesen Prozess nirgends früher zu höchster Kunstfertigkeit gebracht, als im Burgund – jedenfalls versteht man dort nicht so recht, weshalb auch noch woanders Wein erzeugt wird, wie Latour in dem bereits erwähnten Interview berichtet: „Burgundy is supposed to be the best. My father was always surprised that people in other countries produce wine. He couldn’t understand why there was wine in Australia or California or Chile. It seemed to him a waste of time.“
– Terroir als Lebensgrundlage –
Das Ineinander und die Verwobenheit von Natur und Kultur wird womöglich nirgends deutlicher als beim Wein, der insofern eine wichtige Rolle für Latour spielt. Nicht zuletzt deshalb bescheinigt ihm Peter Sloterdijk auch einen „primären Burgundismus“ – der sich, mehr noch als im Hinblick auf die Mikroben, so wichtig sie für die Weinerzeugung auch sein mögen, insbesondere dann ausdrückt, wenn Latour für ein neues Verhältnis zum Erdboden – zur Erde und zum Boden beziehungsweise dem Terrestrischen – plädiert und in diesem Zusammenhang, wie das vom Burgund ausgehend inzwischen zunehmend auch in anderen Teilen der Weinwelt geschieht, insbesondere die Bedeutung des Terroirs betont, also das komplexe Verhältnis von Boden (Erde), Klima und Mensch (die im Hinblick auf den Weinanbau und die -erzeugung in ihrem Zusammenwirken stilbildend sind).
Dieses Verhältnis von Boden, Klima und menschlichem Handeln und Wirtschaften ist das zentrale Thema von Bruno Latours „Où atterir?“ (auf deutsch 2018 veröffentlicht als „Das terrestrische Manifest“). Latour diagnostiziert hier ein „Neues Klimaregime“ aufgrund der menschlich bedingten Klimaerwärmung im Zeitalter des Anthropozän: Er geht davon aus, das der Mensch in seiner Hybris die Erde und die mit ihr verbundenen ökologischen Prozesse in Zusammenhang mit der Globalisierung seit geraumer Zeit erheblich beeinflusst – und die Globalisierung nun eine Art negativer Umkehrung erfährt in dem Sinne, dass die Erde beginnt Widerstand zu leisten, sich gegen uns wendet.
Das „TERRESTRISCHE“, schreibt Latour, wird nun – ähnlich wie Ende des 19. Jahrhunderts die Mikroben – zu einem selbstständigen politischen Akteur und bildet nicht mehr nur den Hintergrund des Handelns der Menschen: „Von Geopolitik wird stets gesprochen, als ob das Präfix `geo-´ lediglich den Rahmen darstellte, in dem sich politisches Handeln abspielt. Nun vollzieht sich eine Veränderung insoweit, als `geo-´ von jetzt an einen Wirkfaktor bezeichnet, der uneingeschränkt an unserem öffentlichen Leben teilnimmt. Die gegenwärtige Orientierungslosigkeit rührt daher, dass urplötzlich ein Akteur auf die Bühne tritt, der auf die Aktionen der Menschen reagiert und damit die Modernisierungsverfechter im Unklaren lässt, wo sie sich befinden, in welcher Epoche und vor allem, welche Rolle sie von nun an darin spielen sollen.“
Es gebe eine Transformation des Erdsystems, „eine das gesamte Erdsystem tangierende Erschütterung“, schreibt Latour, die sich nicht mehr in klimatischen Schwankungen erschöpfe, sondern die unsere gesamte Lebensgrundlage bedroht. Damit verändert sich „(d)ie Vorstellung des Bodens selbst“ grundlegend, da er zunehmend unbewohnbar zu werden droht – und deshalb auch zu massiven Migrationsbewegungen führt (wie beispielsweise auch der UNHCR berichtet), unabhängig von kriegsbedingten Flüchtlingsbewegungen.
Aber Phänomene wie Klimaerwärmung, Migrationsbewegungen oder auch die Explosion der sozialen Ungleichheit sind für Latour „ein und dieselbe Bedrohung“, die sich nur begreifen lässt als Antwort auf die gewaltige Reaktion einer durch die Globalisierung verwüsteten Erde. In „Wo bin ich?“ (2021) schreibt er in diesem Zusammenhang ganz konkret auf die Landwirtschaft bezogen: „Durch landwirtschaftliche Zusatzstoffe und Externalisierung aller schädlichen Folgen – Vergiftung der Bauern, beschleunigte Erosion der Böden, umgekippte Flüsse, Insektensterben – können zwar für eine bestimmte Zeit durchaus höhere Erträge erwirtschaftet werden, aber das entsprechende Feld ist aus dem Boden gedrängt, vertrieben, exterritorialisiert worden. Weit entfernt davon, die tiefere Beschaffenheit dessen zum Ausdruck zu bringen, was eine Landschaft werden könnte, erscheint dieser Zugriff mehr und mehr als das, was er ist: Landnahme, eine gewaltsame Inbesitznahme, eine Besetzung auf Zeit durch andere und vor allem für andere, bevor diese sich woandershin verziehen und hinter sich verwüstete Erdoberfläche zurücklassen. Man braucht nur einmal den Agronomen zu folgen, um manchmal schon nach einigen Metern den Unterschied zu spüren zwischen einem durch das Agrarbusiness aufgeworfenen und hochgeschleuderten Feld und einem Boden, der in Ruhe gelassen wurde und Volumen gewonnen hat durch die Vielfalt der Lebewesen, aus denen er sich zusammensetzt. Lasst euch von einem Bodenkundler zeigen, wie man einen Erdklumpen in der hohlen Hand rollt, und riecht daran.“
Vom Boden in diesem landwirtschaftlichen Sinn unterscheidet Latour das Terrestrische, das heißt, das Terrestrische erbt vom ihm zwar, wie er schreibt, „die Materialität, die Heterogenität, die Dichte, den Staub, den Humus, die Abfolge der Schichten, Straten, die verblüffende Komplexität, die kontinuierliche und aufmerksame Pflege, die er erfordert“, es dürfe aber nicht mit der Natur verwechselt werden: „Natur im weitesten Sinne kann das gesamte Universum, die Materie seit dem Urknall bezeichnen“, sagt Latour in einem Interview (2020). „Mit einem derart weiten Begriff kann man nichts anfangen.“ Gleichwohl hieß „(i)n der Modernität vorwärtskommen, sich vom ursprünglichen Boden losreißen und den Weg zum großen Außen einschlagen; heißt, wenn nicht natürlich, so doch naturalistisch werden“, schreibt Latour in „Où atterir?“.
Nun jedoch gelte es „zu landen“, sich „zu erden“ – entsprechend bezieht Latour das Terrestrische nur auf „die dünne Schicht der Kritischen Zone“, innerhalb derer allein (mikrobiologisches) Leben möglich ist, wie er in „Où atterir?“ schreibt. In besagtem Interview führt er diesbezüglich aus: „Im Gegensatz dazu [zum weiten Begriff von Natur] bezieht sich Gaia nicht auf den gesamten Kosmos, sondern nur auf einige Kilometer zwischen der äußeren Atmosphärengrenze und den Bodenschichten, die durch Lebensaktivitäten transformiert wurden. Gaia ist also das Leben und die lebensförderliche Umwelt – Luft, Boden und vieles mehr –, wie sie von den Lebewesen seit den ersten Bakterien verändert und gestaltet wurde. Gaia erstreckt sich weder über unsere Atmosphäre hinaus noch darunter bis zum Gesteinsmantel, der nie von Lebensaktivitäten beeinflusst wurde. Diese dünne Schicht nenne ich auch die `kritische Zone´ – ein Begriff, der neutraler ist als das Konzept von Gaia, das immer zahlreiche Kontroversen aufwirft.“
Ein solcher Boden lässt sich jedoch nicht aneignen, das heißt er entspricht keinem Territorium: „Solange die Erde noch stabil schien“, schreibt Latour in „Où atterir?“, „konnte man von Raum sprechen und sich darin auf einem Stück Territorium, das wir angeblich besetzt hatten, platzieren. Was aber soll man tun, wenn das Territorium selbst an der Geschichte teilzunehmen beginnt, Schlag auf Schlag zurückgibt, kurzum: sich mit uns beschäftigt? Die Bedeutung des Ausdrucks: `Ich gehöre (zu) einem Territorium´ hat sich gewandelt: Er bezeichnet jetzt die Instanz, die den Eigentümer in Besitz hat!“
Das Terrestrische bezeichnet also keinen Raum, den man territorial abgrenzen könnte im Sinne der „Antimodernen“, wie Latour sie bezeichnet: „`Wenn die Globalisierung ins Nirgendwo führt´, rufen sie, `dann gebt uns wenigsten eine sichere Bleibe, wo wir leben können, eingeschlossen vielleicht, aber geschützt, und vor allem unter uns.´ (…) Wie kann aus ERDE ein glaubwürdiger Unterbau werden, wenn jene Erde schon von denen angeeignet, zu ihrem Territorium gemacht wurde, die dabei sind, sie in ein Nebeneinander von Nationen aufzuteilen, die kein anderes Ideal verbindet als der Krieg aller gegen alle?“, fragt er. Gleichwohl jedoch stellt Latour auch fest: „Illegitim ist die Entwurzelung, nicht die Zugehörigkeit. Zu einem Boden zu gehören, darauf bleiben zu wollen, weiter Sorge für ein Stück Erde zu tragen, sich daran zu binden: All das ist, wie wir gesehen haben, nur deshalb `reaktionär´geworden, weil es in scharfem Kontrast steht zu der von der Modernisierung aufgezwungenen Flucht nach vorn. Wonach wird der Wunsch nach Bindung aussehen, wenn man einmal aufhört zu fliehen?“
Latour geht es nicht um eine territoriale Eingrenzung, nicht darum, dem Globalen ein Lokales gegenüberzustellen: das LOKALE, schreibt er in diesem Zusammenhang in „Où atterir?“, sei „nicht mit irgendeiner urvordenklichen Wohnstätte, irgendeiner angestammten Erde, dem Boden, aus dem die Autochthonen erwachsen“, zu verwechseln. „Diesem Terroir, das neu erfunden wurde, nachdem die Modernisierung alle überlieferten Bindungen zum Verschwinden gebracht hatte, haftet nichts Heimeliges, nichts Bodenständiges oder Ursprüngliches an. Es ist ein LOKALES als Konstrast. Ein Anti-GLOBALES.“ (Angesichts der globalen Verwerfungen ist die überall zu beobachtende „Rückkehr zu den früheren Schutzmaßnahmen des Nationalstaates – was, sehr zu Unrecht, als `Aufstieg des Populismus´ bezeichnet wird“, geradezu fatal.) Vielmehr möchte er verständlich machen, „wie unverzichtbar (es ist), die Zugehörigkeit zu einem Land, Ort, Boden, einer Gemeinschaft, einem Raum, einem Milieu, einer Lebensweise, einem Metier, einem bestimmten Können bewahren zu wollen. Um eben genau in der Lage zu bleiben, mehr Unterschiedliches, mehr Gesichtspunkte wahrzunehmen, und, vor allem, nicht damit anzufangen, deren Zahl zu vermindern? (…) Letzten Endes zählt allein, nicht ob jemand für oder gegen die Globalisierung, für oder gegen das Lokale ist, sondern ob es ihm gelingt, die größtmögliche Zahl an Alternativen der Zugehörigkeit zur Welt zu erfassen, daran festzuhalten sie zu lieben.“
Das Modell für ein solches Erfassen einer größtmöglichen Zahl an Differenzen und Alternativen sieht Latour in der Weindegustation, beispielsweise bei einer „Weinprobe in einem Weinkeller in Burgund“, wie er in „Das Parlament der Dinge“ (2001) schreibt: „Nehmen wir an, Sie seien zu einer Weinprobe in einem Weinkeller in Burgund eingeladen (…) Bevor der Alkohol Ihre Vernunft endgültig benebelt hat, werden Sie während einer oder zwei Stunden durch den ständig wiederaufgenommenen Vergleich der Weine für Unterschiede sensibel, die Ihnen am Vortag noch völlig unbekannt waren.“ Der probierende Weingenuss – wie das Riechen an dem in der hohlen Hand gerollten Erdklumpen – gibt Latour insofern das anschauliche Beispiel, wie durch das Zusammenwirken aller Sinne die Fähigkeit wächst, eine scheinbar bekannte Realität auf die größtmögliche Zahl von Unterschieden, Varianten und Bezüge zu öffnen und so jeweils die Verbundenheit eines Weins zu seinem Terroir unmittelbar zu erfahren.
Dieses sinnliche Erfahren – diese intensive Erfahrung, in der immer auch ein Begreifen im wahrsten Sinne des Wortes steckt –, können wir nur auf der Erde machen, bemerkt Latour, „während das UNIVERSUM häufig viel besser erkannt ist“, sich „aber niemals körperlich erfahren lässt. Wir erkennen dieses UNIVERSUM übrigens umso besser“, schreibt Latour in „Wo bin ich?“, „als es sich dabei um Dinge handelt, die unter der Einwirkung von Gesetzen, die ihnen äußerlich sind, nach und nach kollabieren und deren Kollaps sich folglich bis auf die zehnte Dezimalstelle genau berechnen lässt. Während die Akteure, die ERDE erheben und erhalten, immer etwas schwieriger zu berechnen sind, denn ohne irgendeinem ihnen fremden Gesetz zu gehorchen, streben diese hartnäckig empor, wo jene nur stürzen. Da sie stets der Entropie entgegenarbeiten, erlebt man laufend seine Überraschungen mit ihnen.“
Deshalb vermittle auch der teilnahmslose Blick von oben auf den Planeten Erde stets ein unzureichendes Bild: „Vom Planeten lässt sich sagen, dass er, beim Blick `von oben´, sich schon immer verändert hat und er länger bestehen wird als die Menschen – was die Möglichkeit eröffnet, das Neue Klimaregime als bedeutungslose Schwankung hinzunehmen. Das TERRESTRISCHE dagegen erlaubt keine derartige Teilnahmslosigkeit. Unter diesen Umständen kann man leicht nachvollziehen, warum es unmöglich ist, die Bodenkonflikte präziser zu beschreiben …“
Mit der Konzentration auf nur mittels technischer Geräte, Modelle und Berechnungen erkennbare Phänomene bleibt eine Distanz, die die Bedeutung der Erde und damit auch die Konsequenzen des Neuen Klimaregimes relativiere. Was aber „vielmehr nottut“, schreibt Latour, „ist, so kaltblütig und nüchtern wie möglich die erhitzte Aktivität einer endlich von Nahem erfassten Erde zu erkennen“. Deshalb wühlt Latour sogar im Dreck, wie er in einem Interview sagt: „[Interviewer:] You mentioned the soil, which is a key element of the wine business. You seem to be very interested in soil. On your Facebook page, there’s a picture of you digging in the dirt. [Latour:] Yes, because no one understands Gaia, I decided to turn to another concept, the notion of a `critical zone.´ Now I’m joining with scientists in geochemistry, hydrology, and soil science who study the science of critical zones. It’s an accumulation of different types of sciences working together to render the complexity of these thin layers. I’m trying to find a way to handle the complexity of this critical zone.“
Am Boden lässt sich die Klimaerwärmung inzwischen nicht mehr leugnen, genausowenig wie die neue Epoche, in die wir mit ihr eingetreten sind. Ihre Konsequenzen sind für uns unmittelbar spürbar. Entsprechend auch sind wir als Bewohner jener „kritischen Zone“, in der Leben allein möglich ist, aufgefordert, uns der Realität zu stellen und uns um ein sorgsames Verhältnis zur Erde zu bemühen – sie ist schließlich unser einzig sicheres „Zuhause“. Alles außerhalb der „kritischen Zone“ ist für uns lebensbedrohlich: „Selbst die kühnste Astronautin wiederholt ihre spektakulären Ausstiege ins All nur eingezwängt in einem eigens dafür kreierten Anzug – eine Minisphäre, die sie wie über ein fest im Boden verankertes Kabel mit Cape Canaveral verbindet und die sie nicht verlassen darf, wenn sie nicht auf der Stelle sterben will“, bemerkt Latour diesbezüglich in „Wo bin ich?“.
Das All bietet also keinen Ausweg, entsprechend fragt Bruno Latour: „Worin also liegt das Übel, das den Erfindungsgeist gelähmt und in eine einzige Richtung gedrängt hat, ins Bodenlose? Doch wohl in dieser seltsamen Perversion, die beansprucht, die Erfindungen auf ein einziges Ziel auszurichten: darauf, die Grenzen zu überschreiten, statt sie zu umgehen, um sich aus der Welt hinauszuprojizieren, oder perverser noch: die sich anmaßt, das Paradies auf Erden zu errichten“, uns sagt, wir werden bald „wie die Götter“ leben oder uns auffordert „post-human“ zu werden. Bleibt das Paradigma des Fortschritts bestehen, dann berauben wir uns selbst um „die einzig mögliche Kraft, uns neu zu orientieren, nämlich die, [im Grunde wie bei einer Weinverkostung, B.F.] zu tasten, auszuprobieren, unser Scheitern zu hinterfragen, auszukundschaften“.
Aus der kritischen Zone gibt es kein Entkommen, keinen Exit, darin besteht gewissermaßen der „wirkliche Lockdown“. Und wir begreifen durchaus, „dass die Temperatur innerhalb der klimatisierten Blase, in der wir hausen, von unserem eigenen Handeln abhängt“. Vielleicht war das die Wichtigste der „Lektionen aus dem Lockdown“ – so der Untertitel von „Wo bin ich?“. Und vielleicht beginnt sich nun ja tatsächlich „die bisher eher leere Formel `planetares Bewusstsein´ … mit Sinn zu füllen“, wie Latour dort schreibt: „Als hörte man in der Ferne die unerwartete, aber jeden Tag deutlicher artikulierte Losung: `Eingeschlossene aller Länder, vereinigt euch! Ihr habt dieselben Feinde: diejenigen, die auf einen anderen Planeten ausreißen wollen!´“