Essay, Wein

… und landen

Während Sie versuchen, den Mars zu kolonisieren – versucht Russland, die Ukraine zu besetzen!“, twitterte der dortige Minister für digitale Transformation zu Beginn des Krieges. Angesichts der Klimaerwärmung wieder ein Bewusstsein zu entwickeln für die Erde, auf der wir leben, forderte zuvor auch der Soziologe Bruno Latour …

Die Unsicherheit wächst, nicht nur angesichts unkontrollierbar gewordener Prozesse wie der Klimaerwärmung, denn zweifelsohne erleben wir gerade eine sicherheitspolitische Zeitenwende: Durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine verschieben sich, mal ganz abgesehen von dem Leid für die Menschen vor Ort, die Koordinaten unserer Sicherheit fundamental. Hatte sich gerade erst die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Klimaveränderung im Zentrum aller geopolitischen Konflikte steht, stellen wir jetzt fest: Klimawandel, Migrationsbewegungen, soziale Ungleichheit, Gesundheit und alles, was unsere Vorstellung von Sicherheit zuletzt maßgeblich beeinflusst hat – das ist dem russischen Präsidenten offensichtlich völlig egal. Was für ihn allein zu zählen scheint ist die Ausweitung seines Machtbereichs – im Zweifelsfall verbunden mit unmenschlicher Brutalität gegen die Zivilbevölkerung in der Ukraine. Mit aller Macht kehren die längst überwunden geglaubten Ideologien des letzten Jahrhunderts zurück …

Dagegen muss man sich wehren! Allein, die Bedrohung durch die Klimaveränderung ist damit nicht verschwunden, genauso wenig mit der Globalisierung zusammenhängende grenzenlose Phänomene wie Bodenerosion, Umweltverschmutzung, Ressourcenknappheit, Habitatzerstörung, Artensterben et cetera. Mit der politischen Unsicherheit wächst nur die globalisierungsbedingte Zerstörung unserer Lebensgrundlage. Wo noch Sicherheit und Orientierung finden in dieser Zeit?

Für den Soziologen Bruno Latour ist klar, dass die Erde unser einzig sicheres Zuhause ist – dass sich mit der Klimaerwärmung jedoch „der erträumte Boden der Globalisierung“ zu entziehen beginnt. Er fordert uns deshalb auf, den „eskapistischen Traum“ zu beenden, unsere Fortschrittserwartungen neu zu justieren, und wieder ein Bewusstsein zu entwickeln für die Erde, auf der wir leben – den Boden im wahrsten Sinne des Wortes als Lebensgrundlage wahrzunehmen –, da unser Planet ansonsten für alle zunehmend unbewohnbar wird. Will man sich dem Verlust an gemeinsamer Orientierung angesichts der global wachsenden Unsicherheiten widersetzen, „gilt es, irgendwo zu landen“, sich „zu erden“, folgert er. Man müsste fähig sein, „sich einerseits an einen bestimmten Boden zu binden und andererseits weltbezogen zu werden“, schreibt er 2017 in einem Essay mit dem französischen Originaltitel „Où atterir?“, „Wo landen?“ (auf deutsch 2018 veröffentlicht als „Das terrestrische Manifest“). Mit einer nationalistischen Blut-und-Boden-Ideologie hat das nichts gemein – eher mit der Perspektive eines auf`s Terroir bedachten Winzers. Denn vielleicht ist sich niemand mehr des komplexen Zusammenhangs von Boden (Erde), Klima, menschlichem Handeln und Wirtschaften – eben das bezeichnet der Begriff Terroir – bewußt als er.

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Bruno Latour ist nicht als Winzer bekannt geworden, er entstammt aber einer traditionsreichen Weindynastie: dem „Maison Louis Latour“ aus Beaune im Burgund, auch wenn er in einem Interview gesteht, niemals selbst im Weinberg gearbeitet zu haben: „No, I was always terrible, I couldn’t do what I was supposed to do, so I shifted to philosophy. I have an older brother who took over the business, so they didn’t need me. But the wine business is very interesting. It’s globalized now.“ Und in „Où atterir?“ ergänzt er, dass er voll und ganz von der Globalisierung profitiert habe, „ohne aber das Terroir vergessen zu haben, an das mich eine Familie von Winzern bindet – von Weinen der Bourgogne, die angeblich seit den Galliern global vertrieben wurden. Kein Zweifel, ich bin ein Privilegierter.“

Als Gründungsdatum für das Weingut der Latours wird das Jahr 1797 angegeben, eigentlich aber geht der Ursprung auf das Jahr 1768 zurück, als Jean Latour – damals in Aloxe-Corton – erstmals Rebstöcke anpflanzte. Es war dann allerdings sein Sohn Louis Latour I., der den Besitz entscheidend erweiterte und Rebflächen in anderen Orten innerhalb der Côte d`Or – in Chambertin, Montrachet und Romanée-Saint-Vivant – anlegte, bevor die Familie Latour 1867 mit Louis Latour III. auch mit dem Weinhandel begann.

Das Weingut wird inzwischen von seinem Neffen geleitet, nach dem zuvor sein älterer Bruder verantwortlich dafür war. Insofern hat Bruno Latour nicht direkt damit tun – „I only drink our wine, in fact. Not Bordeaux – just Burgundy! I’m not a relativist, you see. [Laughs.]“, sagt er in einem Interview (und ergänzt in einem anderen von 1993: „I am from the typical French provincial bourgeoisie, from Burgundy where my family has produced wine for generations, and my only ambition is that people would say ‘I read a Latour 1992’ with the same pleasure as they would say ‘I drank a Latour 1992’! I have still a long way to go, as you see“). Nichtsdestotrotz aber hat Wein das Denken des bekannten Soziologen schon immer beeinflusst. Ersichtlich wird das bereits 1984 in seinem Buch „Les Microbes“, wo er versucht, die historische Situation zur Zeit ihrer Entdeckung um das Jahr 1878 herauszuarbeiten.

Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigt sich Louis Pasteur (1822 bis 1895) mit der alkoholischen Gärung und entdeckt in diesem Zusammenhang den Hefepilz Saccharomyces cervisiae, den er verantwortlich dafür macht, das sich im Prozess der alkoholischen Gärung die Trauben überhaupt erst in Wein verwandeln. Das ist jedoch nicht der einzige Mikroorganismus (Mikrobe), sondern Pasteur entdeckt noch andere – krankheitserregende. So werden mit Pasteur erstmals verschiedenartige Mikroorganismen (Mikroben) als die kleinste, bis dahin unsichtbare Einheit über das Paradigma der Ansteckung als eigenständige Lebewesen und Erreger von Epidemien identifiziert (heutzutage unterscheidet man innerhalb der Mikroben die Gruppen der Hefepilze, Bakterien, Viren, Archaea, Mikroalgen und Protozoen).

Latours Interesse nun gilt dem an diese Entdeckung anschließenden Programm von Louis Pasteur, das der Bekämpfung der Ansteckungsgefahr durch die Mikroben gilt. Denn für Latour steht die „Pasteurisierung Frankreichs“ (so der Titel der deutschen Übersetzung) für einen „Komplex von Technologien der Hygiene, die das Soziale von der Mikrobe zu bereinigen suchen“, wie Elena Beregow in „Fermente des Sozialen“ (2021) schreibt. Gleichwohl geht mit der Entdeckung der Mikroben, wie Beregow weiter ausführt, „auch ein Regime der kontrollierten Gärung hervor, die jetzt Fermentation heißt und auf dem Einsatz `gezähmter´ Bakterienkulturen als Transformationsmotoren … beruht“. Bei der Weinbereitung wird fortan nicht mehr auf die spontane Vergärung durch wilde, ohnehin in der Luft schwebende Hefen vertraut (überlässt man den gepressten Most im Weinkeller sich selbst, kommt es aufgrund der ohnehin in der Luft lebenden wilden Hefen automatisch zur Gärung, die dann gewöhnlich allerdings etwa langsamer verläuft und deren Resultat nicht kontrollierbar ist), sondern es finden zunehmend speziell gezüchtete Hefekulturen Verwendung, sogenannte Reinzuchthefen, die dem Most zugegeben werden und mit denen versucht wird, den Gärprozess zu beschleunigen und vor allem den Geschmack des Weines ganz gezielt zu beeinflussen.

Pasteur entdeckte allerdings nicht nur zahlreiche Mikroorganismen, sondern entwickelte auch ein nach ihm benanntes Verfahren der Unschädlichmachung von Krankheitserregern in Flüssigkeiten beziehungsweise deren Haltbarmachung durch Erhitzung. „Mit der Pasteurisierung“, schreibt Beregow, „ist die bis heute eingesetzte Methode der hygienischen Gärung verbunden, die die involvierten Bakterien des Fermentationsprozesses durch Hitzeeinwirkung vernichtet.“ Pasteur löste damit ein großes Problem der Winzer, kam es doch bis dahin immer wieder zu unerwünschten Nachgärungen der Weine in der Flasche aufgrund von bakteriellen Verunreinigungen. Durch die Erhitzung der Weine auf eine Temperatur zwischen sechzig und hundert Grad Celsius werden solche Bakterien abgetötet – allerdings bleiben die Auswirkungen auf die Qualität des Weines umstritten. Deshalb verzichtet man heute bisweilen auf die Pasteurisierung, die mikrobiologische Stabilisierung der Weine erfolgt stattdessen mittels Schwefelung, das heißt die Zugabe von Sulfit (wenn dem Wein Sulfit zur Haltbarmachung zugegeben wird, muss das auf dem Etikett angegeben werden). Das „Maison Louis Latour“ allerdings vollzieht die umstrittene Praxis der bakterientötenden Erhitzung bei ihren Weinen bis heute. Umso überraschender ist es, dass man „nach Hinweisen zur Pasteurisierung in diesem biotechnologischen Sinne“ bei Latour vergeblich sucht, wie Beregow bemerkt.

Gleichwohl werden die Mikroben bei Latour gewissermaßen zu Akteuren im Prozess des Sozialen, das heißt zu Lebewesen mit einer das menschliche Leben beeinflussenden Handlungsmacht. Latour verortet die Mikroben insofern zwischen Natur und Kultur: Bereits die Mikroben machen klar, dass sich der Mensch der Natur nicht entziehen kann, dass man sich nicht einfach in das andere einer unkontrollierbaren und unbezähmbaren Natur – die Zivilisation – flüchten kann, sondern unweigerlich darin verstrickt ist. Schon Mikroben offenbaren so, was heutzutage mit der Klimaerwärmung noch einmal deutlich wird: dass die Menschheit in einem neuen Zeitalter angekommen ist – dem Anthropozän –, in dem sie nicht als einziger Akteur auftritt.

Anstatt Natur und Kultur als ontologisch unterschieden zu verstehen, gelte es, die Welt als ein „nahtloses Gewebe“ zu betrachten, in dem Menschliche und Nicht-Menschliche Akteure zusammenwirken, schreibt Latour. Die Idee einer „Welt als Bühne“ für menschliches Handeln ist insofern nicht mehr zu halten, denn auch Nicht-Menschliche Akteure beeinflussen formend und gestaltend die Wirklichkeit unserer Gesellschaft. Das Belebte und Unbelebte in unserer Umgebung ist nicht nur passiver Gegenstand für unser Handeln, sondern wirkt seinerseits auf uns leiblich spürbar ein.

Natur kann also nicht mehr der Kultur gegenübergestellt werden, Wildnis als unberührte Natur nicht mehr der Zivilisation, sondern wir müssen beginnen „unsere Monster zu lieben“, wie Latour sagt. Bei der Weinerzeugung jedenfalls hat man sich an diese Devise schon immer gehalten, sind es doch erst die von Louis Pasteur entdeckten Mikroorganismen (der Hefepilze Saccharomyces cervisiae), die im Prozess der alkoholischen Gärung die Trauben in Wein verwandeln. Und vielleicht hat man diesen Prozess nirgends früher zu höchster Kunstfertigkeit gebracht, als im Burgund – jedenfalls versteht man dort nicht so recht, weshalb auch noch woanders Wein erzeugt wird, wie Latour in dem bereits erwähnten Interview berichtet: „Burgundy is supposed to be the best. My father was always surprised that people in other countries produce wine. He couldn’t understand why there was wine in Australia or California or Chile. It seemed to him a waste of time.“

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Das Ineinander und die Verwobenheit von Natur und Kultur wird womöglich nirgends deutlicher als beim Wein, der insofern eine wichtige Rolle für Latour spielt. Nicht zuletzt deshalb bescheinigt ihm Peter Sloterdijk auch einen „primären Burgundismus“ – der sich, mehr noch als im Hinblick auf die Mikroben, so wichtig sie für die Weinerzeugung auch sein mögen, insbesondere dann ausdrückt, wenn Latour für ein neues Verhältnis zum Erdboden – zur Erde und zum Boden beziehungsweise dem Terrestrischen – plädiert und in diesem Zusammenhang, wie das vom Burgund ausgehend inzwischen zunehmend auch in anderen Teilen der Weinwelt geschieht, insbesondere die Bedeutung des Terroirs betont, also das komplexe Verhältnis von Boden (Erde), Klima und Mensch (die im Hinblick auf den Weinanbau und die -erzeugung in ihrem Zusammenwirken stilbildend sind).

Dieses Verhältnis von Boden, Klima und menschlichem Handeln und Wirtschaften ist das zentrale Thema von Bruno Latours „Où atterir?“. Latour diagnostiziert hier ein „Neues Klimaregime“ aufgrund der menschlich bedingten Klimaerwärmung im Zeitalter des Anthropozän: Er geht davon aus, das der Mensch in seiner Hybris die Erde und die mit ihr verbundenen ökologischen Prozesse in Zusammenhang mit der Globalisierung seit geraumer Zeit erheblich beeinflusst – und die Globalisierung nun eine Art negativer Umkehrung erfährt in dem Sinne, dass die Erde beginnt Widerstand zu leisten, sich gegen uns wendet.

Das „TERRESTRISCHE“, schreibt Latour, wird nun – ähnlich wie Ende des 19. Jahrhunderts die Mikroben – zu einem selbstständigen politischen Akteur und bildet nicht mehr nur den Hintergrund des Handelns der Menschen: „Von Geopolitik wird stets gesprochen, als ob das Präfix `geo-´ lediglich den Rahmen darstellte, in dem sich politisches Handeln abspielt. Nun vollzieht sich eine Veränderung insoweit, als `geo-´ von jetzt an einen Wirkfaktor bezeichnet, der uneingeschränkt an unserem öffentlichen Leben teilnimmt. Die gegenwärtige Orientierungslosigkeit rührt daher, dass urplötzlich ein Akteur auf die Bühne tritt, der auf die Aktionen der Menschen reagiert und damit die Modernisierungsverfechter im Unklaren lässt, wo sie sich befinden, in welcher Epoche und vor allem, welche Rolle sie von nun an darin spielen sollen.“

Es gebe eine Transformation des Erdsystems, „eine das gesamte Erdsystem tangierende Erschütterung“, schreibt Latour, die sich nicht mehr in klimatischen Schwankungen erschöpfe, sondern die unsere gesamte Lebensgrundlage bedroht. Damit verändert sich „(d)ie Vorstellung des Bodens selbst“ grundlegend, da er zunehmend unbewohnbar zu werden droht – und deshalb auch zu massiven Migrationsbewegungen führt (wie beispielsweise auch der UNHCR berichtet), unabhängig von kriegsbedingten Flüchtlingsbewegungen.

Aber Phänomene wie Klimaerwärmung, Migrationsbewegungen oder auch die Explosion der sozialen Ungleichheit sind für Latour „ein und dieselbe Bedrohung“, die sich nur begreifen lässt als Antwort auf die gewaltige Reaktion einer durch die Globalisierung verwüsteten Erde. In „Wo bin ich?“ (2021) schreibt er in diesem Zusammenhang ganz konkret auf die Landwirtschaft bezogen: „Durch landwirtschaftliche Zusatzstoffe und Externalisierung aller schädlichen Folgen – Vergiftung der Bauern, beschleunigte Erosion der Böden, umgekippte Flüsse, Insektensterben – können zwar für eine bestimmte Zeit durchaus höhere Erträge erwirtschaftet werden, aber das entsprechende Feld ist aus dem Boden gedrängt, vertrieben, exterritorialisiert worden. Weit entfernt davon, die tiefere Beschaffenheit dessen zum Ausdruck zu bringen, was eine Landschaft werden könnte, erscheint dieser Zugriff mehr und mehr als das, was er ist: Landnahme, eine gewaltsame Inbesitznahme, eine Besetzung auf Zeit durch andere und vor allem für andere, bevor diese sich woandershin verziehen und hinter sich verwüstete Erdoberfläche zurücklassen. Man braucht nur einmal den Agronomen zu folgen, um manchmal schon nach einigen Metern den Unterschied zu spüren zwischen einem durch das Agrarbusiness aufgeworfenen und hochgeschleuderten Feld und einem Boden, der in Ruhe gelassen wurde und Volumen gewonnen hat durch die Vielfalt der Lebewesen, aus denen er sich zusammensetzt. Lasst euch von einem Bodenkundler zeigen, wie man einen Erdklumpen in der hohlen Hand rollt, und riecht daran.“

Vom Boden in diesem landwirtschaftlichen Sinn unterscheidet Latour das Terrestrische, das heißt, das Terrestrische erbt vom ihm zwar, wie er schreibt, „die Materialität, die Heterogenität, die Dichte, den Staub, den Humus, die Abfolge der Schichten, Straten, die verblüffende Komplexität, die kontinuierliche und aufmerksame Pflege, die er erfordert“, es dürfe aber nicht mit der Natur verwechselt werden: „Natur im weitesten Sinne kann das gesamte Universum, die Materie seit dem Urknall bezeichnen“, sagt Latour in einem Interview (2020). „Mit einem derart weiten Begriff kann man nichts anfangen.“ Gleichwohl hieß „(i)n der Modernität vorwärtskommen, sich vom ursprünglichen Boden losreißen und den Weg zum großen Außen einschlagen; heißt, wenn nicht natürlich, so doch naturalistisch werden“, schreibt Latour in „Où atterir?“.

Nun jedoch gelte es „zu landen“, sich „zu erden“ – entsprechend bezieht Latour das Terrestrische nur auf „die dünne Schicht der Kritischen Zone“, innerhalb derer allein (mikrobiologisches) Leben möglich ist, wie er in „Où atterir?“ schreibt. In besagtem Interview führt er diesbezüglich aus: „Im Gegensatz dazu [zum weiten Begriff von Natur] bezieht sich Gaia nicht auf den gesamten Kosmos, sondern nur auf einige Kilometer zwischen der äußeren Atmosphärengrenze und den Bodenschichten, die durch Lebensaktivitäten transformiert wurden. Gaia ist also das Leben und die lebensförderliche Umwelt – Luft, Boden und vieles mehr –, wie sie von den Lebewesen seit den ersten Bakterien verändert und gestaltet wurde. Gaia erstreckt sich weder über unsere Atmosphäre hinaus noch darunter bis zum Gesteinsmantel, der nie von Lebensaktivitäten beeinflusst wurde. Diese dünne Schicht nenne ich auch die `kritische Zone´ – ein Begriff, der neutraler ist als das Konzept von Gaia, das immer zahlreiche Kontroversen aufwirft.“

Ein solcher Boden lässt sich jedoch nicht aneignen, das heißt er entspricht keinem Territorium: „Solange die Erde noch stabil schien“, schreibt Latour in „Où atterir?“, „konnte man von Raum sprechen und sich darin auf einem Stück Territorium, das wir angeblich besetzt hatten, platzieren. Was aber soll man tun, wenn das Territorium selbst an der Geschichte teilzunehmen beginnt, Schlag auf Schlag zurückgibt, kurzum: sich mit uns beschäftigt? Die Bedeutung des Ausdrucks: `Ich gehöre (zu) einem Territorium´ hat sich gewandelt: Er bezeichnet jetzt die Instanz, die den Eigentümer in Besitz hat!“

Das Terrestrische bezeichnet also keinen Raum, den man territorial abgrenzen könnte im Sinne der „Antimodernen“, wie Latour sie bezeichnet: „`Wenn die Globalisierung ins Nirgendwo führt´, rufen sie, `dann gebt uns wenigsten eine sichere Bleibe, wo wir leben können, eingeschlossen vielleicht, aber geschützt, und vor allem unter uns.´ (…) Wie kann aus ERDE ein glaubwürdiger Unterbau werden, wenn jene Erde schon von denen angeeignet, zu ihrem Territorium gemacht wurde, die dabei sind, sie in ein Nebeneinander von Nationen aufzuteilen, die kein anderes Ideal verbindet als der Krieg aller gegen alle?“, fragt er. Gleichwohl jedoch stellt Latour auch fest: „Illegitim ist die Entwurzelung, nicht die Zugehörigkeit. Zu einem Boden zu gehören, darauf bleiben zu wollen, weiter Sorge für ein Stück Erde zu tragen, sich daran zu binden: All das ist, wie wir gesehen haben, nur deshalb `reaktionär´geworden, weil es in scharfem Kontrast steht zu der von der Modernisierung aufgezwungenen Flucht nach vorn. Wonach wird der Wunsch nach Bindung aussehen, wenn man einmal aufhört zu fliehen?“

Latour geht es nicht um eine territoriale Eingrenzung, nicht darum, dem Globalen ein Lokales gegenüberzustellen: das LOKALE, schreibt er in diesem Zusammenhang in „Où atterir?“, sei „nicht mit irgendeiner urvordenklichen Wohnstätte, irgendeiner angestammten Erde, dem Boden, aus dem die Autochthonen erwachsen“, zu verwechseln. „Diesem Terroir, das neu erfunden wurde, nachdem die Modernisierung alle überlieferten Bindungen zum Verschwinden gebracht hatte, haftet nichts Heimeliges, nichts Bodenständiges oder Ursprüngliches an. Es ist ein LOKALES als Kontrast. Ein Anti-GLOBALES.“ (Angesichts der globalen Verwerfungen ist die überall zu beobachtende „Rückkehr zu den früheren Schutzmaßnahmen des Nationalstaates – was, sehr zu Unrecht, als `Aufstieg des Populismus´ bezeichnet wird“, geradezu fatal.) Vielmehr möchte er verständlich machen, wie unverzichtbar es ist, „die Zugehörigkeit zu einem Land, Ort, Boden, einer Gemeinschaft, einem Raum, einem Milieu, einer Lebensweise, einem Metier, einem bestimmten Können bewahren zu wollen. Um eben genau in der Lage zu bleiben, mehr Unterschiedliches, mehr Gesichtspunkte wahrzunehmen, und, vor allem, nicht damit anzufangen, deren Zahl zu vermindern? (…) Letzten Endes zählt allein, nicht ob jemand für oder gegen die Globalisierung, für oder gegen das Lokale ist, sondern ob es ihm gelingt, die größtmögliche Zahl an Alternativen der Zugehörigkeit zur Welt zu erfassen, daran festzuhalten sie zu lieben.“

Das Modell für ein solches Erfassen einer größtmöglichen Zahl an Differenzen und Alternativen sieht Latour gewissermaßen in der Weindegustation. In „Das Parlament der Dinge“ (2001) schreibt er jedenfalls: „Nehmen wir an, Sie seien zu einer Weinprobe in einem Weinkeller in Burgund eingeladen (…) Bevor der Alkohol Ihre Vernunft endgültig benebelt hat, werden Sie während einer oder zwei Stunden durch den ständig wiederaufgenommenen Vergleich der Weine für Unterschiede sensibel, die Ihnen am Vortag noch völlig unbekannt waren.“ Der probierende Weingenuss – wie das Riechen an dem in der hohlen Hand gerollten Erdklumpen – gibt Latour insofern das anschauliche Beispiel, wie durch das Zusammenwirken aller Sinne die Fähigkeit wächst, eine scheinbar bekannte Realität auf die größtmögliche Zahl von Unterschieden, Varianten und Bezüge zu öffnen und so jeweils die Verbundenheit eines Weins zu seinem Terroir unmittelbar zu erfahren.

Dieses sinnliche Erfahren – diese intensive Erfahrung, in der immer auch ein Begreifen im wahrsten Sinne des Wortes steckt –, können wir nur auf der Erde machen, wie Latour ausführt, „während das UNIVERSUM häufig viel besser erkannt ist“, sich „aber niemals körperlich erfahren lässt. Wir erkennen dieses UNIVERSUM übrigens umso besser“, schreibt Latour in „Wo bin ich?“, „als es sich dabei um Dinge handelt, die unter der Einwirkung von Gesetzen, die ihnen äußerlich sind, nach und nach kollabieren und deren Kollaps sich folglich bis auf die zehnte Dezimalstelle genau berechnen lässt. Während die Akteure, die ERDE erheben und erhalten, immer etwas schwieriger zu berechnen sind, denn ohne irgendeinem ihnen fremden Gesetz zu gehorchen, streben diese hartnäckig empor, wo jene nur stürzen. Da sie stets der Entropie entgegenarbeiten, erlebt man laufend seine Überraschungen mit ihnen.“

Deshalb vermittle auch der teilnahmslose Blick von oben auf den Planeten Erde stets ein unzureichendes Bild: „Vom Planeten lässt sich sagen, dass er, beim Blick `von oben´, sich schon immer verändert hat und er länger bestehen wird als die Menschen – was die Möglichkeit eröffnet, das Neue Klimaregime als bedeutungslose Schwankung hinzunehmen. Das TERRESTRISCHE dagegen erlaubt keine derartige Teilnahmslosigkeit. Unter diesen Umständen kann man leicht nachvollziehen, warum es unmöglich ist, die Bodenkonflikte präziser zu beschreiben …“

Mit der Konzentration auf nur mittels technischer Geräte, Modelle und Berechnungen erkennbare Phänomene bleibt eine Distanz, die die Bedeutung der Erde und damit auch die Konsequenzen des Neuen Klimaregimes relativiere. Was aber „vielmehr nottut“, schreibt Latour, „ist, so kaltblütig und nüchtern wie möglich die erhitzte Aktivität einer endlich von Nahem erfassten Erde zu erkennen“. Deshalb wühlt Latour sogar im Dreck, wie er in einem Interview sagt: „[Interviewer:] You mentioned the soil, which is a key element of the wine business. You seem to be very interested in soil. On your Facebook page, there’s a picture of you digging in the dirt. [Latour:] Yes, because no one understands Gaia, I decided to turn to another concept, the notion of a `critical zone.´ Now I’m joining with scientists in geochemistry, hydrology, and soil science who study the science of critical zones. It’s an accumulation of different types of sciences working together to render the complexity of these thin layers. I’m trying to find a way to handle the complexity of this critical zone.“

Am Boden lässt sich die Klimaerwärmung inzwischen nicht mehr leugnen, genausowenig wie die neue Epoche, in die wir mit ihr eingetreten sind. Ihre Konsequenzen sind für uns unmittelbar spürbar. Entsprechend auch sind wir als Bewohner jener „kritischen Zone“, in der Leben allein möglich ist, aufgefordert, uns der Realität zu stellen und uns um ein sorgsames Verhältnis zur Erde zu bemühen – sie ist schließlich unser einzig sicheres „Zuhause“. Alles außerhalb der „kritischen Zone“ ist für uns lebensbedrohlich: „Selbst die kühnste Astronautin wiederholt ihre spektakulären Ausstiege ins All nur eingezwängt in einem eigens dafür kreierten Anzug – eine Minisphäre, die sie wie über ein fest im Boden verankertes Kabel mit Cape Canaveral verbindet und die sie nicht verlassen darf, wenn sie nicht auf der Stelle sterben will“, bemerkt Latour diesbezüglich in „Wo bin ich?“.

Das All bietet also keinen Ausweg, entsprechend fragt Bruno Latour: „Worin also liegt das Übel, das den Erfindungsgeist gelähmt und in eine einzige Richtung gedrängt hat, ins Bodenlose? Doch wohl in dieser seltsamen Perversion, die beansprucht, die Erfindungen auf ein einziges Ziel auszurichten: darauf, die Grenzen zu überschreiten, statt sie zu umgehen, um sich aus der Welt hinauszuprojizieren, oder perverser noch: die sich anmaßt, das Paradies auf Erden zu errichten“, uns sagt, wir werden bald „wie die Götter“ leben oder uns auffordert „post-human“ zu werden. Bleibt das Paradigma des Fortschritts bestehen, dann berauben wir uns selbst um „die einzig mögliche Kraft, uns neu zu orientieren, nämlich die, zu tasten, auszuprobieren, unser Scheitern zu hinterfragen, auszukundschaften“ – im Grunde wie bei einer Weinverkostung

Aus der kritischen Zone gibt es kein Entkommen, keinen Exit, darin besteht gewissermaßen der „wirkliche Lockdown“, wie Latour schreibt. Und wir begreifen durchaus, „dass die Temperatur innerhalb der klimatisierten Blase, in der wir hausen, von unserem eigenen Handeln abhängt“. Vielleicht war das die Wichtigste der „Lektionen aus dem Lockdown“ – so der Untertitel von „Wo bin ich?“. Und vielleicht beginnt sich nun ja tatsächlich „die bisher eher leere Formel `planetares Bewusstsein´ … mit Sinn zu füllen“, wie Latour dort schreibt: „Als hörte man in der Ferne die unerwartete, aber jeden Tag deutlicher artikulierte Losung: `Eingeschlossene aller Länder, vereinigt euch! Ihr habt dieselben Feinde: diejenigen, die auf einen anderen Planeten ausreißen wollen!´“

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