Musik

Merche Blascos „Fauna“

Mit ihrer Performance „Fauna“ führt uns Merche Blasco in die Klangwelt des Anthropozän …

Die ebenso kolossale Intensität des Lärmkots, der von den Maschinen und dem Tohuwabohu der Städte ausgeschieden wird … lässt unser Gehör ertauben gegenüber den singulären, modulierten, schauerlichen, kunstvollen Stimmen der Lebewesen und der Dinge selbst. Die Menschheit hört die Welt nicht mehr. Hört sie sich überhaupt selbst?“

Michel Serres, Musik (2015)

Schon mehrmals war die spanische Klangkünstlerin Merche Blasco in Berlin zu hören, seit sie letztes Jahr als Fellow des Berliner Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) hierher eingeladen wurde – zuletzt im Rahmen des Festivals „Heroines of Sound“. Einer ihrer ersten Auftritte war mit ihrer Performance „Fauna“ im Februar diesen Jahres beim Club-Transmediale-Festival „Portals“ im Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU).

Merche Blascos „Fauna“ ist eine elektroakustische Performance (hier eine Aufzeichnung), bei der Blasco sowohl eigene Aufnahmen verarbeitet, über diese Field Recordings hinaus aber insbesondere auch ein selbst konstruiertes technisches Equipment einsetzt, das sie mit ihren eigenen Körperbewegungen steuert. Zum Einsatz kommt dabei ein Instrument, das Blasco erstmals für eine Performance verwendet hat, die sie selbst „Lobatus“ genannt hat, nach einer Meeresschneckenart – einer der größten Schneckenarten überhaupt. Und das deshalb, weil ein wesentlicher Bestandteil von Blascos Instrument aus einer speziellen Keramik hergestellt ist, die so geformt wurde, dass sie dem Gehäuse der Schnecke ähnelt – zwei andere Keramikteile wiederum Schwämmen mit ihrer komplexen materiellen Textur. Es handelt sich hierbei um sogenannte Piezokeramik.

Der Ausdruck Piezo stammt vom altgriechischen piezein für „drücken“, „pressen“, und ist ein Präfix, der für Eigenschaften verwendet wird, die mit mechanischem Druck zu tun haben. Und genau so funktioniert auch die technische Apparatur aus Piezokeramik von Merche Blasco: Die drei Keramikmuscheln und -schwämme, die sie während ihrer Performance nutzt, bestehen aus einer speziellen Keramik, die unter der Einwirkung des Drucks und der Verformung durch ihre Hände eine elektrische Ladungstrennung zeigen, „piezoelektrischer Effekt“ genannt. Das heißt, durch Druck bilden sich an der Oberfläche der Keramik – sowohl Innen und Außen beziehungweise an gegenüberliegenden Flächen – elektrisch geladene Teilchen, deren Entladung Blasco dann in Klänge umwandelt. (Der piezoelektrische Effekt wurde schon 1880 von Pierre und Jacques Curie unter anderem bei Quarzkristallen entdeckt und wird beispielsweise auch in sogenannten Piezolautsprechern zur Erzeugung hörbarer Töne mit hohen Frequenzen verwendet oder aber auch als Tonabnehmersysteme bei Saiteninstrumenten: Wenn die angeschlagene Saite auf die Piezokeramik trifft und sie verformt entsteht Elektrizität, die aufgenommen und dem Verstärker zugeleitet wird.)

Neben den drei Keramikteilen – die auf einer drehbaren Auflagen liegen (Plattentellern ähnlich), mit denen sie die Tonhöhe (Frequenz) verändern kann – hat Blasco auch noch zwei lichtempfindliche Sensoren in ihren Apparat eingebaut, die wie optische Theremine auf die Bewegung einer Lichtquelle in ihrer Hand reagieren beziehungsweise die damit verursachten Lichtveränderungen in verschiedene Klangmuster übersetzen. Blasco selbst schreibt in Zusammenhang mit „Lobatus“ beziehungsweise ihrem piezokeramischen Instrument: „The gestural interface for Lobatus is constructed from ceramic pieces and wood. This project combines haptic feedback gestures with non-haptic ones. The motivation behind the three ceramic controllers in Lobatus was to reimagine the small knobs used in traditional commercial controllers and the gestural limitations they impose on the performer. Two photoresistors embedded in the wood also act as optical theremins, translating motion or light into varying patterns of sound. The choice of ceramic as the basis for the controls in Lobatus refers to the delicateness of the gesture that the instrument requires. The sound design built into the instrument plays with beat frequency effect, where very subtle shifts in frequency – associated with subtle gestures – have a noticeable acoustic impact. As with the textured surfaces of Espongina’s wooden bowls, the patterns in the surface of Lobatus’ ceramic controllers suggest a musical score imprinted in the instrument itself. During performances I produce sound not only by manipulating the controllers, but by reading the instrument’s surface with piezos in order to make it audible.“

Blasco hat mit ihrem technischen Apparat also ein gestisches Interface geschaffen, dass Haptik und ihre Körperbewegungen in Klänge übersetzt. Anders als sonst bisweilen vielleicht üblich in der elektronischen Musik, bezieht es insofern den Körper der Performerin voll in die Aufführung ein – sie selbst spricht in diesem Zusammenhang in einem Video vom Berliner Künstlerprogramm auch von einer „more embodied form of electronic- and electroacoustic improvisation“ – und wurde von Blasco auch gerade deshalb geschaffen, wie sie auf ihrer Webseite schreibt, „to enhance the expressiveness of electronic music performance through a series of specific gestures and new materials. The project was created to offer an alternative to commercial hardware for electronic music performance, where physical movement is highly restricted by traditional dials and switches.“

Blasco zufolge existiert insbesondere in den USA, wie sie in einem Vortrag sagt, „that trove of audio technologies that are being inherited from military purposes. So … all the technology that arrived to us is scripted in social structures and power dynamics that are related to the places where they are created. (…) There`s a problem if the tool I`m using is scripted in terms of power control and efficiency, like it`s the same tool that I use to write the most boring email … so there`s a gap.“ Und gewissermaßen um diese Kluft zu überwinden, baut Blasco ihre Instrumente selbst. Für Keramik hat sie sich dabei deshalb entschieden, weil „ceramics is something that is usually manipulated with care and that you approach with care, so that would kind of like call to these small gestures, that the performance or the sound quality that I was looking for, would imply“.

Mit ihren unpräzisen und nicht exakt zu steuernden Instrumenten und Apparaten entzieht sich Blasco aus vordefinierten und immer auch schon ideologisch determinierten Zusammenhängen. Stattdessen tritt sie gewissermaßen in einen Dialog mit ihrem technischen Equipment, erkundet die klanglichen Möglichkeiten über die Erforschung seiner organischen Materialität – und versucht so ein nicht-hierarchisches, anti-autoritäres Beziehungsgeflecht zu etablieren, wie Blasco über ihre Performance „Fauna“ schreibt: „Through these devices, I attempt to establish a more horizontal relationship with audio technologies, distancing myself from parameters of precision, power, and control. I instead explore collaborative spaces where these instruments render audible unheard energetic forces, and offer a composition methodology in which my body and the live exploration of alternative materials are central elements.“

Die Piezokeramik und die Lichtsensoren reagieren auf Blascos Handbewegungen und so entstehen Klänge als synergetische Effekte – jedenfalls entwickelt sich dadurch unweigerlich eine Art gleichberechtigter Beziehung zwischen ihr und der Technik. In diesem Sinn auch kann ein wesentlicher Antrieb von Blascos Arbeit – als Komposition in einem traditionellen Sinn lässt es sich kaum bezeichnen – gewissermaßen in der „Suche nach einer neuen Beziehung zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Welt“ gesehen werden, wie Philipp Rhensius schreibt, und in der gleichberechtigten Interaktion und Kollaboration mit diesen anorganischen Systemen. Blasco selbst jedenfalls bemerkt in diesem Zusammenhang und mit der damit verbundenen Erforschung der kollaborativen Räume in dem bereits erwähnten Vortrag: „I give agency to the system that I`m creating. So sometimes the system gets out of control and is taking agency on the stage and I`m very much looking forward to that. I mean not when it goes completely wrong, then it`s awkward, but I like when the technology in the system that I`m building is pushing me to an area of improvisation that I wouldn`t arrive at myself. So I see it much more as a collaborative process than what I felt before when I used to do like in previous electronic music projects, where the exciting part was preparing the performance, but then, when I was performing, I felt very much like the technology was in control of the performance and I was just like pressing buttons and thinking about cues and following that.“

Neben der Bedeutung des eigenen Körpers, wird für Blasco – in dem Maße, in dem sie mit ihrem technischen Equipment interagiert – auch das Hören zu einem wesentlichen Kriterium für ihre Arbeit. Das Hören wird hier sogar zum entscheidenden Modus ihrer Beziehung zur Welt – und zwar durchaus im Sinne von Bernie Krause, der unterscheidet „zwischen dem Akt des Zuhörens und dem des Hörens. Es ist eine Sache, passiv zu hören, etwas ganz anderes ist es, mit ganzer Hingabe und aktiv zu lauschen.“

Krause gilt als Pionier der Field Recordings und hat sich als einer der ersten bereits in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Hören und der Aufzeichnung von Naturklängen und Klanglandschaften beschäftigt und in diesem Zusammenhang die inzwischen bekannte These aufgestellt, dass jedes Geräusche produzierende Lebewesen eine eigene Frequenz im akustischen Spektrum der Fauna besetzt – eine akustische Nische, analog zur ökologischen Nische. So komme es zu einer Art „Orchestrierung von Klang“. Und so wie ihm zufolge „alle lebenden Organismen eine charakteristische Klangsignatur haben“, mitunter auch „weit unter der natürlichen menschlichen Wahrnehmungsschwelle“, so besitzen auch ganze Ökosysteme ein charakteristisches akustisches Biom. Solche natürlichen Klangwelten sind allerdings bedroht und verlieren „Tag für Tag an Volumen“, so Krause: „Das zarte Gewebe der natürlichen Klänge wird zerrissen durch unser scheinbar grenzenloses Bedürfnis, unsere Umwelt zu erobern, statt möglichst im Einklang mit ihr zu leben. Es ist bereits schwierig, ursprüngliche Orchestrierungen unverfälschter Habitate aufzufinden, noch schwieriger aber erscheint es … die Ursprünge der komplexen Verbindungen zwischen den Spezies freizulegen. (…) Wilde, unberührte Natur – ausgedehnte, nicht von Menschen bewirtschaftete Gebiete – gibt es, in welcher Gestalt auch immer, kaum noch“.

Überall beobachtet Krause eine Zunahme menschlich erzeugten Lärms. Er spricht in diesem Zusammenhang von Anthropophonie – die zusammen mit der Biophonie und Geophonie die Klanglandschaften der Welt bilden. Der Begriff Klanglandschaft (Soundscape) wurde erstmals Ende des letzten Jahrtausends von Raymond Murray Schafer (1933-2021) verwendet und bezeichnet alle Klänge eines Ökosystems, wobei die Geophonie, also natürliche Klänge aus nichtbiologischen Elementen wie Wind, Wasser oder Erdbewegungen, in der Erdgeschichte (bis vor etwa 550 Millionen Jahren) die ersten Laute auf unserem Planeten waren – der Hintergrund, vor dem sich alle Geräusche der späteren Bio- und Anthropophonie bildeten. „Jeder akustisch empfängliche Organismus musste der Geophonie Rechnung tragen“, schreibt Krause, „musste eine Bandbreite finden, in der sich seine Klick-, Hauch- und Zischlaute, sein Brüllen, Singen und Rufen gegen die nichtbiologischen Naturlaute behaupteten. Der Mensch orientierte sich genauso wie die Tierwelt an den geophonischen Stimmen, weil sie wichtige Botschaften über Nahrung, Raum und Spiritualität vermittelten.“ Vom natürlichen Klang jedoch unterscheidet sich der anthropophone Lärm: „Lärm erregt Aufmerksamkeit, ohne viel nützliche Informationen zu liefern“, schreibt Krause, während „Naturgeräusche einen riesigen Vorrat wertvoller Informationen“ bereithalten können. Hören bedeutet für Krause dann, seine Ohren nicht nur als Filter zu benutzen, um Lärm auszublenden, sondern „als Pforten, durch die große Informationsmengen Einlass finden“.

Nun entzieht sich Klang zwar „unserem sprachlichen Zugriff“, schreibt Krause, gleichwohl ist ihm immer schon ein gewisser Informationswert inhärent, wie Michel Serres bemerkt, insofern sich Klang vom ursprünglichen Chaos oder Grundrauschen abhebt und eine Ordnung installiert: „Wie kann man zu Beginn das Chaos, über das wir keine Information besitzen, ordnen?“, fragt Serres, und fährt fort: „Unsere neuronale Architektur reagiert auf die geringste Ordnung, die in diesem dornigen, stochastischen Krawall auftaucht“, weshalb der musikalische Fluss „vom Lärm und den Geräuschen der Welt zum Sinn der Sprachen und den Erkenntnissen der Wissenschaften“ führe. „Je höher die Ordnung ist, die ein System aufweist, umso sparsamer an Signalen ist seine Beschreibung und umso mehr nimmt die Information zu“, schreibt Serres und fragt: „Kennen Sie etwas anderes von Menschen gemachtes, das sich wirksamer der Unordnung entgegenstellen könnte, oder sie besser aufnehmen, verwalten und schließlich verändern und beherrschen könnte?“

Für Serres ist Musik eine Brücke „zwischen dem Weltlichen und dem Menschlichen“, das heißt er beschreibt eine musikalische, gleichsam chronologische Entwicklung vom ursprünglichen Lärm über den Sinn und die Sprachen hin zu Wissen und Erkenntnis und installiert so gewissermaßen auch eine Hierarchie verschiedener Ordnungen. Gleichwohl liegt allen diesen Ordnungen so etwas wie der Klang zugrunde. Und so ist es auch für Krause in den von ihm beobachteten Habitaten – wenn Klang auch kaum zu definieren ist: „Klang ist ein Medium“, schreibt er, „das, abgesehen von seinen physikalischen Eigenschaften – Frequenz, Amplitude, Klangfarbe und Dauer –, schwer zu beschreiben ist.“ (Die Frequenz gibt die Zahl der Schwingungen pro Sekunde einer Schallwelle an; die Amplitude oder Lautstärke eines Klangs wird in Dezibel gemessen, wobei ein Dezibel die kleinste wahrnehmbare Einheit ist, die für einen Menschen wahrnehmbar ist; die Klangfarbe oder das Timbre ist die charakteristische Stimme jeder Klangquelle; Und die akustische Hüllkurve bestimmt schließlich Gestalt und Textur eines Klangs über einen Zeitraum, das heißt vom Augenblick, in dem er hörbar wird, bis zum Verklingen.)

Ganz abgesehen vom wissenschaftlich diagnostizierten sechsten Massenaussterben – auch Faunenschnitt oder Faunenwechsel genannt – und dem damit verbundenen Verlust der akustischen Vielfalt, ist sowohl für Serres als auch für Krause klar, dass die natürlichen Klanglandschaften im Anthropozän zunehmend vom menschlichen Lärm überlagert werden. Von menschlichen Zerstörungen sprechen auch Michaela Vieser und Isaac Yuen, sie aber finden auch noch eine andere Perspektive, denn die Menschheit habe zweifelsohne Klanglandschaften ausgelöscht, allerdings auch „ungewollt neue Klanglandschaften geschaffen“. In diesem Sinn ist die Menschheit im Anthropozän nicht nur in natürliche Zusammenhänge eingebunden, sondern wir vernehmen ein Geflecht verschiedener Narrative, an dem „Menschen, Nicht-Menschen, Beseelte und Nicht-Beseelte“ teilhaben und das wahrzunehmen „die Herausforderung unserer Zeit ist“. David Haskell zitierend schreiben sie: „`Wie finden konkurrierende Narrative, von denen es Tausende gibt, ihren Weg zueinander, sodass sie sich gegenseitig durchdringen, ohne das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen?´, fragt David Haskell … und verweist auf die Klänge der natürlichen Welt, von Tausenden von Arten, die gemeinsam einen Lebensraum bewohnen. `Ich denke, dass wir dadurch die Vorteile der Anarchie zu schätzen lernen; nicht Anarchie als zerstörerische Kraft, sondern Anarchie in dem Sinne, dass es keine zentrale Autorität gibt, wie sie in der menschlichen Musik existiert und dort auch existieren sollte.´“

Folgt man Bernie Krause ist Musik „die nichtsprachliche und bewusste Kontrolle des Schalls“ (wobei Musik ihm zufolge immer strukturiert ist und auch einer Absicht unterliegt). Für ihn beginnt menschliche Musik in diesem Sinn um 1200 vor unserer Zeitrechnung: Damals, das heißt als Musik erstmals notiert wurde, „begann der Mensch – sowohl in den ummauerten Städten als auch außerhalb –, sich aus eigener Kraft musikalisch zu artikulieren, anstatt die Klänge der natürlichen Welt nachzuahmen“. Menschliche Musik aber rückt in diesem Verständnis in einen fundamentalen Widerspruch zur natürlichen Klanglandschaft.

Folgt man Krauses Definition, kann man in Zusammenhang mit Merche Blascos „Fauna“ kaum von Musik sprechen, verzichtet sie doch auf alle von Krause genannten musikalischen Faktoren – Kontrolle, Struktur und Absicht. Gleichwohl ist auch ihre Performance keine bloße Nachahmung der Natur beziehungsweise „kein Abbild einer Realität, die es schon gibt“, wie Rhensius bemerkt, erhebt sie sich doch explizit auch aus der natürlichen Klangwelt: Zwar benutzt sie für „Fauna“ auch Field Recordings – „I always do field recordings“, sagt Blasco, „I carry a recorder with me and I have a big collection from dates back a while ago – that`s usually the raw material that I use in my performance. There`s also additive synthesis and digital process sounds, but there`s a lot that comes from field recordings and from sounds that have a personal connection“ –, neben diesen Aufnahmen und dem Interface integriert sie in ihrer Performance aber auch noch andere technische Geräte: Bisweilen sind das gewöhnliche Elektrogeräte wie beispielsweise ein Milchschäumer, dessen inhärente elektromagnetischen Schwingungen sie verstärkt und damit erst hörbar macht (es geht ihr hier gar nicht um das mechanische Geräusch). Kommen in den Field Recordings also womöglich noch natürliche Klänge vor, zumindest persönliche, führt uns Blasco mit der Nutzung solcher alltäglichen Elektrogeräte nun in eine andere Klangwelt – nämlich jene des Anthropozäns. Dabei repräsentieren die von Blasco erzeugten oder hörbar gemachten Klänge nichts mehr, sondern stehen nur noch „für sich selbst“, wie Rhensius schreibt, gleichwohl jedoch besitzen auch sie einen gewissen Informationswert – der nun allerdings nicht mehr auf eine natürliche Klanglandschaft rekurriert, sondern eben eine menschengemachte.

Wie Krause ausführt, war ein Dialog mit der Natur schon immer unerlässlich, da „die Existenz der Menschen von einer harmonischen Beziehung zu ihrer Umgebung abhing“. Ihm zufolge, hat „(d)ie enge Verbindung zwischen uns und der Klanglandschaft seit jeher Wesentliches zu unserem Verständnis der Welt beigetragen. Unsere Kenntnisse über Biophonien und darüber, wie sie sich über lange Zeiträume und unter einer Vielzahl klimatischer und jahreszeitlicher Bedingungen verändern, vertiefen unser Verständnis von Geologie, Topografie und Flora (…) Wahrscheinlich gibt es tief vergraben im limbischen System des menschlichen Gehirns eine uralte Verschaltung, die immer dann aktiviert wird, wenn wir uns mit diesen feinen akustischen Netzen verbinden – mit jenen vielfachen Resonanzebenen, die es in Teilen der Natur noch immer gibt.“ Blasco nun verschaltet uns gewissermaßen neu – und trägt in ihrer Performance so dem Umstand Rechnung, dass es unberührte Natur im Anthropozän praktisch nicht mehr gibt.

Den natürlichen Zusammenhängen entrissen, sind wir im Anthropozän umgeben von einer ganz anderen Fauna, die sich uns als eine Art zweiter Natur darstellt. Und es ist gewissermaßen diese zweite Natur, die uns Merche Blasco nun zu Gehör bringt. Im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung des Titels „Fauna“ jedenfalls schreibt sie mir: „To me, all these different instruments that I have created throughout time and that live and travel with me, have become almost living creatures with their idiosyncrasies, character, moods and names.“ Wenn man in diesem Zusammenhang mit Bruno Latour (1947-2022) davon ausgeht, dass die menschliche „Existenzweise mit dem Habitat korreliert werden (muss), welches die Erde ihren Bewohnern gewährt“, wie er schreibt, und es im Hinblick auf die Zukunft der Menschheit insbesondere auch darum geht, neue Formen der Kohabitation von menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen und unser Eingebettet-Sein in nicht-menschliche Systeme zu finden – dann justiert Merche Blasco unser Verhältnis zur Welt in diesem Sinn neu.

Wenn Blasco die verschiedenen Elektrogeräte aus ihrem ursprünglichen Sinnzusammenhang löst um ihre akustische Signatur offenzulegen, entstehen durchaus auch Dissonanzen und Intermodulationen (wenn zwei oder mehr Töne in ihrer Frequenz so dicht beieinander liegen, dass sie gelegentlich aneinander schlagen, sich gegenseitig ausschalten – und damit einen akustischen Effekt erzeugen, den ein Einzelwesen niemals hervorbringen könnte), Rhensius verweist aber ganz im Sinne David Haskells darauf, dass Blasco gerade so auch eine Welt evoziert, „in der Widersprüche nicht aufgelöst werden, sondern friedlich koexistieren … und in der das Hören genauso wichtig ist wie das Gehörte“.

Ähnlich wie bereits bei John Cage, der eine Kompositionsform anstrebte, bei der kein Ton wichtiger sein sollte als der andere und die insofern frei von Hierarchien war, stehen auch bei Merche Blasco alle Klänge gewissermaßen in einem Verwandtschaftsverhältnis zueinander – und zwar im weiteren Verständnis durchaus im Sinne Donna J. Haraways – und haben dieselbe Berechtigung, den gleichen Wert. Bei ihr gibt es keine graduellen Unterschiede zwischen anthropogenen und natürlichen Klängen, sondern es herrscht gewissermaßen Anarchie zwischen Anthropo-, Bio- und Geophonie. Von Lärm jedenfalls ist bei Blasco nicht die Rede – und auch nicht von einem Verlust der akustischen Vielfalt, allenfalls in einer ironischen Wendung, wenn man ihre Performance als Kritik am anthropogen verursachten Artensterben begreift (auch wenn sich Merche Blasco meines Wissens dazu nie geäußert hat).

Nach der Performance von „Fauna“ bleibt jedenfalls die Erkenntnis, wie Yuen und Vieser schon im Vorwort ihres Atlas` schreiben, dass eine Revolution im Gange ist: „Eine Revolution des Klangs ist im Gange. Das expandierende Feld der Akustik ermöglicht es uns, uns auf eine Vielzahl unsichtbarer Systeme einzustellen.“ Merche Blasco führt uns mit ihrer Performance in die unsichtbaren Klangwelten des Anthropozäns – auch wenn offen bleibt, ob deren Verlust unbedingt immer bedauernswert wäre. Diese Frage stellt sich bei natürlichen Klanglandschaften vielleicht nicht. Und so merken Yuen und Vieser denn zumindest im Hinblick darauf auch an, dass „mit dieser neuen Fähigkeit, vormals Unhörbares zu erlauschen, auch die Verantwortung einher(geht), es nicht nur zu verstehen, sondern auch zu schützen – nicht selten sogar vor uns selbst.“

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