Aristoteles` Poetik ist einer der ersten Texte über das Drama und das antike Theater …
Der Ursprung des Dramas liegt in Athen – im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung verbreitete es sich von dort aus über die gesamte griechische Welt. Tragödie und Komödie hatten bei den jährlichen Dionysien ihre klassische Form gefunden, das heißt, dass die Tragödie zur festen Form gelangte, ist ein Verdienst insbesondere der folgenden Dramatiker:
- Zunächst von Aischylos (525 bis 456 v.u.Z.), indem er einen zweiten Schauspieler einführte, wodurch der zu einem dramatischen Konflikt verdichtete Mythos überhaupt erst als Dialog in These und Gegenthese ausgetragen werden konnte;
- Noch komplexer wurden die Dialogszenen im Anschluss an Euripides (480? bis 406 v.u.Z.), als
- Sophokles (497/496 bis 406/405 v.u.Z.) einen dritten Schauspieler einführte, was zu einer zusätzlichen Dramatisierung des ursprünglich chorischen Oratoriums führte. In seinen Dramen auch kommt der Bruch zwischen Mythos und individuellem Drama am deutlichsten zum Ausdruck, das heißt, mit Sophokles rückt der Mensch, das Individuum, ins Zentrum der Tragödie, während umgekehrt das Göttliche als Schicksalsgewalt an Macht verliert, auch wenn es als Verursacher des tragischen Geschehens nicht gänzlich verschwindet. Gleichwohl gewinnt bei Sophokles innerhalb des dramatischen Konflikts die bewusste oder willentliche Handlung des Menschen an Bedeutung. Die Tragödie ist schließlich nur zu verstehen als aus einer bewussten oder willentlichen Entscheidung des Individuums hervorgegangen: je weniger das Handeln des Menschen vom Schicksal gelenkt wird, desto mehr sind es seine Entscheidungen, die zu bestimmten Handlungen führen, mit denen er etwas bestimmtes erreichen will.
Die antike Tragödie thematisiert diese Entwicklung, in der sich das Individuum zuallererst konstituiert: sie stellt die Möglichkeit der Existenz des Individuums auf die Probe, aber nirgends kommen Menschliches und Göttliches zur Deckung. Das gilt womöglich für niemanden mehr als für Sophokles` König Ödipus. Nicht zuletzt deshalb beruft sich Aristoteles (384 bis 322 v.u.Z.) in seiner wenige Jahrzehnte nach dem Tod von Sophokles und Euripides (Aischylos ist schon vor über einhundert Jahren verstorben) erschienenen Schrift Peri poietikes (Poetik) auch wiederholt auf ihn – auch, um an ihm ein für Aristoteles Begriffe vollkommenes Drama zu beschreiben: König Ödipus wird ihm zum Muster der Tragödie schlechthin.
Tragödie
Aristoteles ist der erste, der über das Drama und das antike Theater geschrieben hat. Seine Poetik gliedert sich dabei in drei Abschnitte: einen allgemeinen Teil (Kapitel 1-5), dem als zentraler Abschnitt die Behandlung der Tragödie folgt (Kapitel 6-22) sowie die des Epos (Kapitel 23-26). Die Tragödientheorie macht also das Gros der Poetik aus, wobei nur der erste Band erhalten ist, Ausführungen zur Dithyrambiendichtung und zur Komödie sind verlorengegangen (Aristoteles verweist in seiner Rhetorik zweimal auf eine Untersuchung des Lächerlichen, die man in der Poetik finden könne; diese Theorie des Lächerlichen allerdings fehlt). Das wurde wohl in einem zweiten Band der Poetik angesprochen, der allerdings nicht mehr existiert.
Bei Aristoteles` Poetik handelt es sich insofern weniger um eine umfassende theoretische Abhandlung über die Dichtung im Allgemeinen, sondern im Grunde eher um eine Art Erinnerung an die Entwicklung der Tragödie von Aischylos bis Sophokles. Er vertritt hierbei eine teleologische Auffassung – und geht davon aus, dass die Tragödie insbesondere mit Sophokles an ihr Ende gekommen ist, das heißt Aristoteles zufolge hat Sophokles die Entwicklung des griechischen Theaters entscheidend vorangetrieben. Er macht das an den Neuerungen fest, die Sophokles nach Aischylos und Euripides in die Theaterpraxis einführte, und exemplifiziert das immer wieder auch anhand von Sophokles` Dramen.
Analytisches Theater
Während Aischylos noch die Komposition in Trilogien favorisierte, konzentrierte sich Sophokles darauf, das dramatische Geschehen in einer einzelnen, abgerundeten Tragödie darzustellen. Die Steigerung der Handlung bis zur Klärung der Vorgeschichte und damit zur Katastrophe wird von Sophokles dabei durch einen rückblickenden Handlungsverlauf spannungsvoll herbeigeführt, wobei es im König Ödipus er selbst ist, der das Vergangene hervorzerrt und nach und nach enthüllt. „Die Enthüllung der beinahe vergessenen Dinge ist seine energische Aktion“, schreibt der Übersetzer Kurt Steinmann in diese Zusammenhang. Sophokles erhob so die tragische Analyse, das heißt die nach rückwärts aufgerollte Handlung, zum dramaturgischen Prinzip.
Das Besondere in König Ödipus bestehe darin, dass sich die gesamte Geschichte im Vorfeld der eigentlichen Handlung des Dramas ereignet hat. Die wesentlichen Episoden des Ödipus-Mythos sind zu Beginn von Sophokles` Tragödie schon abgeschlossen und es kommt nur die Endphase von Ödipus` Schicksal zur Darstellung. Deswegen kann sich Sophokles ganz auf die Darstellung des tragischen Schicksalsmoments konzentrieren, der sukzessive und rückblickend, einzig im Dialog und durch Fragen und Antworten in sprachliche Schilderungen, ans Licht gehoben wird. Man spricht deshalb von analytischem Theater: „Der Ödipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis“, schreibt Friedrich Schiller in einem Brief an Goethe vom Oktober 1797: „Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt“, wobei „das Geschehene, als unabänderlich, seiner Natur nach viel fürchterlicher ist und die Furcht, daß etwas geschehen sein möchte, das Gemüt ganz anders affiziert als die Furcht, daß etwas geschehen könnte.“
Drei Einheiten
Das analytische Theater bietet den Vorteil, dass gewaltige Zeiträume raffend aufgerollt werden können. Es bietet somit ideale Voraussetzung für die dichtungstheoretische Forderung nach den Drei Einheiten des Dramas – Einheit der Handlung, der Zeit und des Ortes: Demnach solle nur ein einziger Handlungsstrang in seinem Mittelpunkt stehen, der mit etwaigen Nebenhandlungen eng zu verknüpfen sei und der ohne Zeitsprünge und Schauplatzwechsel auskommen müsse.
Allerdings wird das dichtungstheoretische Axiom der Einheiten erst in der Renaissance mit ihrer noch unveränderlichen Dekoration zur bindenden Norm (doctrine classique), in der Poetik des Aristoteles ist davon noch nicht die Rede. Er spricht (in Kapitel 7 und 8) lediglich von der Einheit der Handlung (mythos), die zeitliche Kontinuität wird nur knapp gestreift (in Kapitel 5 schreibt Aristoteles: „die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen“), während die Einheit des Orts völlig unerwähnt bleibt. Dennoch gibt es beispielsweise im König Ödipus keine Ortssprünge – was womöglich auch daran liegt, dass Sophokles die Bühnenmalerei eingeführt hat und sich damit auf einen bestimmten Ort der Handlung festgelegt hat. Die Spielzeit ist hier mit der Zeit, die das Geschehen realiter in Anspruch nimmt, identisch, und auch die Handlung nimmt einen stringenten, bruchlosen Verlauf.
Heutzutage, insbesondere im postdramatischen Theater, haben die Einheiten praktisch keine Bedeutung mehr. Massiv zurückgewiesen wurde die Forderung nach ihnen bereits im 18. Jahrhundert unter dem Eindruck der Dramaturgie des Elisabethanischen Theaters. Insbesondere für Shakespeare sind Handlungsvielfalt ebenso wie massive Zeitsprünge und zahlreiche Ortswechsel charakteristisch.
Mimesis
In seiner Poetik bezeichnet Aristoteles die Dichtkunst allgemein als Mimesis, als Nachahmung, wobei die Dramatiker – er nennt sie die „Nachahmenden“ – „handelnde Menschen nach(ahmen)“; sie „führen ihre Personen in Tätigkeiten handelnd vor. Darum nennt man diese Dichtungen `Dramen´, das heißt Handlungen“, schreibt er (der Begriff „Drama“ leitet sich vom griechischen „dran“ für handeln ab). Das ist gleichsam die erste und älteste Definition von Drama, aus der sich die Auffassung entwickelt, dass Drama (Dichtung) und Theater (Aufführung) nicht synonym zu verwenden seien, „(d)enn die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande“.
Während das Epos nur berichtet, stellen die dramatischen Formen Personen in Aktion dar, also in leibhaftiger Verkörperung und Vergegenwärtigung – sie gehören insofern zum Theater. Von der Komödie unterscheide sich die Tragödie dabei dadurch, dass sie Handlungen moralisch hochstehender Menschen nachahmt, das heißt, wie Aristoteles selbst in diesem Zusammenhang bemerkt: die Tragödie sucht „bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen“. Sophokles jedenfalls stelle „Menschen dar, wie sie sein sollten“, erklärt er.
Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit
Mit Sophokles verliert das Göttliche als Schicksalsgewalt an Macht, stattdessen rückt der Mensch, das Individuum, ins Zentrum der Tragödie. Sie ist nur zu verstehen als aus einer bewussten oder willentlichen Entscheidung des Individuums hervorgegangen. Dieser Wille nun, so führt der Dramaturg Bernd Stegemann in seinem Essay „Die Tragödie der Kontingenz“ (2007) aus, „wird in der dramatischen Situation durch einen ihm entgegenstehenden Willen in einen Konflikt verwickelt. Die Struktur dieses Konflikts muss glaubwürdig sein. Dazu kann der Konflikt entweder aus einer Notwendigkeit (Naturgesetzlichkeit) resultieren oder eine durch die Situation beglaubigte Wahrscheinlichkeit haben. Diese Unterscheidung ist grundlegend, da Aristoteles damit bedenkt, dass im Drama die vordergründig unglaubwürdigsten Ereignisse Glaubwürdigkeit erhalten können, da sie in der dramatischen Situation durch die Tatsache der Willensbehauptung der Antagonisten eine dramatische Plausibilität bekommen. Durch den dramatischen Konflikt können die alltäglich unglaubwürdigsten Sachverhalte eine Plausibilität erhalten, und umgekehrt erscheint die alltäglichste Normalität unwahrscheinlich, wenn sie dramatisch nicht begründet ist.“
Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung (historia), die der Wirklichkeit entsprechen müsse, ist es „nicht Aufgabe des Dichters mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“, schreibt Aristoteles. Die Dichtung hat zwar die Aufgabe, die Wirklichkeit nachzuahmen – dieser Wirklichkeitsbezug jedoch habe nur nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (hier gelte es, sich vor jeglicher Unrichtigkeit zu hüten: „Man soll nämlich, wenn möglich, überhaupt keinen Fehler begehen“, schreibt Aristoteles). Insofern wird von der dramatischen Nachahmung nur Wahrscheinlichkeit oder Glaubwürdigkeit verlangt, die Darstellung eines möglichen, vorstellbaren Ablaufs also.
Um als wahrscheinlich gelten zu können, müsse beim dramaturgischen Aufbau der Handlung einiges beachtet werden. So zeichne sich die tragische Handlung im einzelnen zum Beispiel dadurch aus, dass sie – anders als das Epos – eine bestimmte Länge nicht überschreiten soll um Überschaubar zu sein. Man solle insofern auf eine Dramaturgie unverbundener Episoden und allzu abschweifender Handlungsstränge verzichten.
Außerdem zeichne sich die Tragödie durch Ganzheit aus, das heißt, wie Aristoteles schreibt: „Es ist offenkundig, daß auch die Lösung der Handlung aus der Handlung selbst hervorgehen muß, und nicht …. aus dem Eingriff eines Gottes. Vielmehr darf man den Eingriff eines Gottes nur bei dem verwenden, was außerhalb der Bühnenhandlung liegt, oder was sich vor ihr ereignet hat und was ein Mensch nicht wissen kann … In den Geschehnissen darf nichts Ungereimtes enthalten sein. Wenn Ungereimtes unvermeidlich ist, dann soll es außerhlb der eigentlichen Handlung liegen“ und beispielsweise nur berichtet werden.
Schließlich müsse man auch auf Einheit und Kausalität bedacht sein: die Handlung solle eine „in sich geschlossene Handlung“, einen „Handlungszusammenhang“ haben, sagt Aristoteles. Stegemann schreibt dazu in seinem oben erwähnten Essay: „Die einzelnen Handlungen (i.S. von Praxis) der Figuren fügen sich nur dann zu einem Zusammenhang, wenn sie zu einer erzählbaren Geschichte (i.S. von Mythos) sich verknüpfen lassen. Die Historie ist für Aristoteles insofern von geringerem Wert als die Dichtung, da diese nur schreibt, was geschehen ist, die Dichtung aber noch eine sinnvolle und dramaturgisch wirkungsvolle Verknüpfung der einzelnen Ereignisse herstellt. Die komplizierte Anforderung an den Handlungszusammenhang besteht nun darin, daß er glaubwürdige Verbindungen zwischen den einzelnen Handlungsereignissen stiften muß, die zugleich dramaturgisch wirkungsvoll sind im Hinblick auf den Zweck der Tragödie, durch Mitleid und Furcht [sic] eine Katharsis zu erreichen.“
Katharsis
Mit einer Bemerkung zur Wirkung der Tragödie vervollständigt Aristoteles seine Ausführungen zum Drama: Sie bewirke eine Katharsis, „Reinigung“, der Affekte (Erregungszustände) eleos („Jammer“) und phobos („Schaudern“) – sie machen das Wesen der Tragödien aus, hierin bestehe ihr eigentlicher Zweck. Anders formuliert: Die reinigende Wirkung, die die Darstellung menschlichen Handelns in dramaturgischer Form auf den Zuschauer ausübt, wird von Aristoteles als fundamentale Wirkung der Tragödie identifiziert.
Katharsis bezeichnet sowohl das, was Aristoteles als Wirkung der Tragödie begreift, betrifft aber auch – ähnlich wie beim Reinigungsritual im Orakel von Delphi – das Geschehen der umfassenden Reinigung: Man war damals keineswegs frei von Ängsten und Schuldgefühlen und sah noch bis in späthellenistische Zeit Epidemien, Seuchen oder Krankheiten „als Miasma an, als Befleckung infolge einer oft unwissentlich begangenen Verfehlung gegenüber dem göttlichen Willen“, wie Marion Giebel in „Das Orakel von Delphi“ (2001) schreibt. Entsprechend hatte die Mantik, also die Weissagung, ihre Aufgabe insbesondere auch darin, „die Ursachen solcher Befleckungen herauszufinden und Angaben über die erforderliche Sühneleistung zu machen. Oft ergab es sich, dass wegen des Frevels eines Einzelnen die ganze Sippe, ja das gesamte Gemeinwesen heimgesucht wurde. Kultische Reinigung mit bestimmten Riten, auch Wiedergutmachungen wenn möglich, und in jedem Falle Opfer für die zürnenden Gottheiten waren erforderlich“, schreibt Giebel.
Des Weiteren bemerkt sie: „Blutschuld erforderte eine besondere Art der Reinigung und Entsühnung. (…) Man war sich bewusst, dass der Gott von Delphi die Sühne von Blutschuld ernst nahm. (…) Apollon spricht hier nicht nur als moralische Instanz; er fordert die Sühne von Mordtaten auch in seiner Eigenschaft als der Gott, der reinigt und heilt und mit der Blutschuld auch die unheilvolle Befleckung vom Täter hinwegnimmt …“ Gebet und Opferrituale dienten der Entsühnung und Reinigung aber nicht nur im persönlichen Bereich, sie stellten auch die Ordnung im Gemeinwesen wieder her. Delphi kam insofern auch die Rolle einer „ordnungstiftenden Instanz“ zu.
Mit dem Begriff der Katharsis bezeichnet Aristoteles in der Poetik wiederholt die Hauptwirkung, die die Tragödie auf den Zuschauer ausübe – und zieht so gewissermaßen eine Parallele zum rituellen Reinigungsgeschehen in Delphi. Allerdings sind, wie bereits seine Überlegungen zur Komödie, auch die Ausführungen über den Begriff der Katharsis verloren gegangen: Aristoteles nennt ihn nur ein einziges Mal, als er am Anfang der Tragödiendefinition von Kapitel 6 schreibt: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“
Aristoteles gibt im erhaltenen Teil der Poetik also keine Definition der Katharsis, das heißt, er begreift sie ganz allgemein als Reinigung von den beiden Erregungszuständen eleos und phobos. Entsprechend umstritten ist der Begriff – der deshalb im Lauf der Zeit auch unterschiedlich interpretiert wird: So versteht zum Beispiel Pierre Corneille (1606 bis 1684) die Katharsis als „seelische Befreiung von den Leidenschaften“. Er propagiert insofern die direkte moralische Wirkung der Tragödie. Gotthold Ephraim Lessing (1729 bis 1781) wiederum legt in seiner Hamburgischen Dramaturgie dar – er richtet sich hier unmittelbar gegen Corneille –, dass die Katharsis gleichbedeutend ist mit „Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten“, insbesondere des Mitleids in jene der wahren Mitmenschlichkeit. Katharsis hat ihm zufolge also eine ethische Bedeutung im Sinne von „Läuterung“ oder „Besserung“. Heutzutage verzichtet man darauf, den Begriff der Katharsis mit der Ethik in Verbindung zu verbringen, man versteht darunter ganz neutral eine „Reinigung“.
Allerdings nennt Aristoteles als Auslöser der Katharsis die Erregungszustände eleos und phobos, um die ebenfalls eine kontroverse Debatte um das angemessene Verständnis und die richtige Übersetzung geführt wurde: Corneilles Ansicht nach erfolgt die Befreiung von den Leidenschaften durch das „Mitleid“ (eleos, übersetzt als pitié) mit dem Helden und den „Schrecken“ (phobos, wiedergegeben mit crainte). Lessing wiederum versteht eleos ebenso als „Mitleid“ (mit dem tragischen Helden), er deutet phobos allerdings als „Furcht“ (und diese als das auf den Zuschauer selbst bezogene Mitleid).
Eleos und phobos wurden nach Lessing lange als „Mitleid“ und „Furcht“ übersetzt – was allerdings irreführend ist, wie der Übersetzer Manfred Fuhrmann bemerkt: Aristoteles meine hier offensichtlich menschliche Elementaraffekte, entsprechend lässt sich ihm zufolge – und das ist inzwischen Konsens – eleos am besten durch „Jammer“ oder „Rührung“ wiedergeben: „es bezeichnete stets einen heftigen, physisch sich äußernden Affekt und wurde oft mit den Ausdrücken für Klagen, Zetern und Wehgeschrei verbunden“, schreibt er in einem Nachwort zur „Poetik“. Aristoteles verlieh dem Begriff eine ethische Komponente: eleos sei der Verdruss über ein großes Unglück, das jemanden treffe, der es nicht verdient habe; wer es empfinde, nehme an, dass dieses Unglück auch ihn selbst treffen könne.
Der Begriff phobos wiederum, so bemerkt Fuhrmann, bezeichnete ursprünglich – bei Homer – die „Flucht“, das heißt „ein durch Erschrecken bewirktes physisches Tun. Die Entwicklung verlief offenbar so, daß man zunächst das äußere Anzeichen erfaßte, dann aber mehr und mehr auf dessen innere Ursache, auf den Affekt des Erschreckens, achten lernte.“ An einer Stelle der Poetik ersetzt Aristoteles den Begriff durch „erschaudern“, was sich nicht durch „Furcht“, sondern eher durch den Erregungszustand des „Schreckens“ oder „Schauderns“ angemessen wiedergeben lasse.
Aristoteles bringt die Tragödie insofern mit Erregungsaffekten, Leidenschaften, in Verbindung, die er wiederum mit dem Gedanken der Katharsis im Sinne einer entlastenden seelischen Reinigung verknüpft. Während noch Platon die Tragödien gerade deshalb aus seinem „Staat“, der idealen polis, verbannen wollte (er definiert die Leidenschaften als etwas schlechthin Minderwertiges und Sinnloses und geht, wie schon beim Verhältnis von Sinneswahrnehmung und Verstand, auch hier von einem hierarchischen Verhältnis aus und davon, dass das Drama mit seiner Steigerung der Leidenschaftlichkeit die Vernunft zersetze), gewinnt Aristoteles der dramatischen Wirkung einen sinnvollen Zweck ab. Für ihn haben die Leidenschaften eine Funktion, das heißt er deutet sie, wie Fuhrmann schriebt, als „notwendige Stimulantien“: der Zorn beispielsweise „sei der Sporn der Tapferkeit, und ohne ihn vermöge die Seele keine große Unternehmung zu vollbringen“.
Aristoteles verwarf somit das Prinzip der „Leidenschaftslosigkeit“, das Platon zur Maxime der Lebenspraxis erhoben hatte, und ersetzte es durch das der „gemäßigten Leidenschaftlichkeit“, wobei er im Hinblick auf die Dichtung davon ausging, dass sie bestimmte Erregungszustände herbeizuführen vermag. Er traute ihr jedoch auch die Fähigkeit zu, eine reinigende, mithin erleichternde Wirkung auf diese Leidenschaften auszuüben. „Dichtung“, so fasst Fuhrmann Aristoteles Ausführungen deshalb zusammen, „steckt nicht an, sondern impft“.
Glück und Unglück
Um Jammer und Schaudern hervorrufen zu können, muss die Handlung so gebaut sein, dass drohendes Leid als eigenes empfunden wird. Die Teilnahme resultiert in diesem Verständnis auf Empathie und Spannung, das heißt, wie Stegemann sagt: „In der Furcht [sic] wird die drohende Gefahr vor dem geistigen Auge (Phantasia) antizipiert und in der Empathie wird sie als Sorge um eine Figur empfunden, an deren Geschick man durch die Spannungsstruktur der Handlung anteilnimmt. (…) Spannung ohne Empathie ist ebenso ermüdend wie Anteilnahme ohne Spannung langweilig ist.“
Um Spannung zu erzeugen, muss die dramatische Handlung, so erklärt Aristoteles, bestimmte, überraschende Umschwünge oder paradoxe Wendungen aufweisen. Er schreibt dazu: „Die Nachahmung hat nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch Schauderregendes und Jammervolles. Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ereignisse wider Erwartung eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen.“ Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Wende der Handlung, bisweilen vom Glück ins Unglück. Resultat sei in den meisten (wenn auch nicht in allen) Fällen das pathos, die Katastrophe mit Leid (oder Tod) des Helden.
Eine Drehung der Handlung (metabolé), der Umschlag in die Katastrophe, soll Aristoteles zufolge nicht durch einen deux ex machina eintreten, also durch einen gleichsam göttlichen Eingriff von Außen, sondern soll „aus den Geschehnissen selbst“ hervorgehen, gewissermaßen vom Handlungsverlauf selbst motiviert sein. Der Umschwung kann dabei entweder direkt auf der Handlungsebene eintreten – er betrifft dann den Gang der Ereignisse selbst (peripetie) –, oder auf der Erkenntnisebene, wenn eine zuvor unrichtige Vorstellung richtig gestellt wird. Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang auch von „Wiedererkennung“ (anagnorisis). Außerdem kann auch das dramaturgische Mittel der harmatia gewählt werden: der schwere Fehler, der durch ein Versagen des Erkenntnisvermögens oder zumindest mangelnder Einsicht bedingt ist.
Der Sturz ins Unglück erfolgt im Fall der Peripetie, wenn eine Tat einen anderen Effekt als den beabsichtigten erzielt – bisweilen den gegenteiligen. So tritt im König Ödipus ein Bote aus Korinth (III,924) auf, der Ödipus vom Tod seines vermeintlichen Vaters berichtet, wodurch Ödipus erst dessen wahre Herkunft klar wird.
Eine unglückliche Wendung kann aber auch durch die plötzliche Erkenntnis der unvermuteten Folgen einer Tat erfolgen. Aristoteles schreibt in diesem Zusammenhang: „Die Wiedererkennung ist … ein Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, mit der Folge, daß Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu Glück oder Unglück bestimmt sind. Am besten ist die Wiedererkennung, wenn sie zugleich mit der Peripetie eintritt, wie es bei der im `Ödipus´ der Fall ist“, wenn Iokaste erkennt, dass Ödipus ihr Sohn ist (V, 1056) oder Ödipus selbst seine Identität durchschaut (V, 1167). Bei der Figur des Ödipus kommt allerdings noch die harmatia hinzu. Sie liegt Stegemann zufolge „in der blinden Erforschung der Tat und der Vehemenz seiner Verdammung des Täters, die sich nun gegen ihn selbst richtet. (…) Seine Suche nach Laios Mörder führt ihn zu sich selbst. So wenden sich sein Handlungsziel, die Suche, und seine Erkenntnis in einem Moment gegen ihn.“ Harmatia ist insofern begriffen als ein Versagen der menschlichen Einsicht – im Neuen Testament wird es zum Wort für Sünde.
Für den anteilnehmenden Zuschauer ist der dramatische Umschlag vom Glück ins Unglück, in den Untergang, „emotional aufregend“, wie Stegemann ausführt, „da er mit der bisherigen antizipierten Teilnahme spielt. Zugleich mit der lustvollen Anteilnahme liegt im Moment des Umschwungs ein Erkennen der menschlichen Begrenztheit. So begegnen sich im tragischen Wendepunkt die drei dramaturgischen Mittel zum Aufbau des Handlungszusammenhangs in einem Sinn: die Grenze des Menschlichen Daseins wird fühlbar und damit denkbar. Das Tragische findet sein dramaturgisches Abbild, indem der Handlungszusammenhang zeigt, daß die gegen eine Handlung gerichteten Kräfte aus dieser selbst resultieren. So erscheint das Handeln als schicksalhaft, da sich folgerichtig aus seiner Struktur seine eigene Zerstörung entwickelt.“