Theater

Theater des Anthropozän

Das 2020 gegründete „Theater des Anthropozän“ ist um das fundamentale Verhältnis von Mensch und Natur konzipiert und will einen Beitrag für die Debatte zu Klima- und Artenschutz und damit einer ökologisch zukunftsfähigen Gesellschaft leisten …

Dennoch reicht es nicht, dem Klima und der Natur hier und da etwas zu opfern. Das ist die Tragödie des Anthropozäns, aber weiter gedacht genauso auch seine Hoffnung.“

Antje Boetius, Künstlerische Leiterin des Theater des Anthropozän, in: Theater der Zeit (02/2020)

Before we were interrupted, I was just talking about the fact that law, time, nature are always in motion. Unser Verhältnis zur Natur ändert sich. Ein antiker Grieche, der seinen Göttern Opfer bringt oder Kleriker, die durchs Land ziehen, um Hexen zu verbrennen, weil es im Sommer gehagelt hat, blicken anders auf die Natur als zum Beispiel Einstein. Natur ist auch immer Konzept, wie Bruno Latour sagt. Und die Rechte der Natur hängen von dem Naturkonzept einer Kultur ab. Das ist theatertechnisch mit Bertolt Brecht gesprochen – der Lehrwert. Den können Sie schon mal mit nach Hause nehmen. (…) So nature – culture – natural rights. That is the connection. Der rote Faden. Auf den können Sie sich in unserem Labyrinth verlassen.“

Conférencieuse in „Anwälte der Natur“, Theater des Anthropozän, Dezember 2022

Was Walter Benjamin am Marxismus interessierte, war „die politische Praxis des Kommunismus (nicht als theoretisches Problem, sondern zunächst als verbindliche Haltung)“. Diese politisch-praktische Haltung, die Benjamin hier anspricht – das faszinierte ihn an Bertolt Brecht und seiner Konzeption des epischen Theaters. Was beide dabei miteinander verband, war die Grundüberlegung von Karl Marx, dass es nicht darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern“, schreibt er in seiner letzten der elf „Thesen zu Feuerbach“ (1845).

In dieser These findet eine Kritik Ausdruck, die sich auf die gesamte bisherige geistige Tradition (den Idealismus und den Materialismus) bezieht: Was Marx hier kritisiert, ist ein Denken, in dem die Empirie unbedacht bleibt und das von der „sinnlich-menschlichen Tätigkeit“ und der konkreten, gegenständlichen Praxis – vom Menschlichen überhaupt – abstrahiert. In ihr dominiert eine Vernunft, die sozusagen in einem abstrakten Verhältnis zur Realität steht und die gerade nicht „den Menschen zum Grunde“ hat. Problematisch ist die geistige Tradition für Marx also in Hinblick auf die menschliche Praxis, unter dem Aspekt, dass menschliche Praxis immer auch bewusste, reflektierte Praxis ist: Es ändert sich dann nichts an den herrschenden Verhältnissen – und die gilt es für Marx schließlich zu verändern –, wenn die handlungsleitende Reflexion, wenn die Zielvorstellung des Handelns auf abstrakte Ideologien (oder einen Gott) bezogen bleibt. Denn nach Marx‘ Verständnis hielten „die Philosophen“ an dem Gedanken fest, dass die Ideen, die sich die Menschen machen, ihr Leben bestimmen.

Wenn Marx nun versucht nachzuweisen, dass das Bewusstsein vom gesellschaftlichen Sein, also den herrschenden Verhältnissen, bestimmt ist, dann versucht er auch zu zeigen, dass es zu einer Veränderung notwendig ist, zu verstehen, wie diese herrschenden Verhältnisse funktionieren. Denn die Lage ist, wie es später Brecht – sozusagen im Anschluss an Marx – formuliert, „dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache `Wiedergabe der Realität´ etwas über die Realität aussagt (…) Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht“. Erst das Verständnis der Kausalitäten ermöglicht Brecht zufolge den Ausblick auf das Strukturganze. Wenn der Funktionszusammenhang nicht kritisch ins Auge gefasst wird, wenn die konkreten Bedingungen nicht analysiert werden, die verändert werden sollen, bleibt Praxis faktisch wirkungslos.

Aus dieser Überlegung heraus entwickeln sich bei Brecht Ende der 1920er Jahre Überlegungen zu einem modernen Theater, das sich in wesentlichen Punkten vom dramatischen Theater unterscheiden sollte, nämlich dem sogenannten epischen Theater. Die Episierung des Theaters – „die Darstellung eines Vorgangs (einer Begebenheit), oder genauer die Gestaltung der gesellschaftlichen Ereignisse und objektiver gesellschaftlicher Prozesse als objektive gesellschaftliche Prozesse sind der spezifische Gegenstand für die Ausdrucksform des Epischen“, schreibt der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach in diesem Zusammenhang – ist für Brecht deshalb zur Notwendigkeit geworden, weil der Einzelne zunehmend „in große, die Welt verändernde Vorgänge einbezogen (wird)“, wie er schreibt, und es „zum Verständnis der Vorgänge … nötig geworden (ist), die Umwelt, in der die Menschen lebten, groß und `bedeutend´ zur Geltung zu bringen (…) als selbständiges Element“.

Im dramatischen Theater wird die Umwelt nur aus der Reaktion des Menschen auf sie gezeigt. Praktisch wollte Brecht den Schwerpunkt deshalb nun vom individuellen Schicksal eines Protagonisten zugunsten des anonymen Kontexts – den politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen – in den das einzelne Individuum eingebunden ist, verlagern. Mit seiner epischen Dramatik ist Brecht dabei nicht darauf aus, den Menschen der Welt als seinem unentrinnbaren Schicksal auszuliefern, sondern er will zur Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft beitragen: „Unser Theater muss die … Veränderung der Wirklichkeit organisieren“, schreibt er, denn „die heutige Welt braucht eine Änderung“.

Brecht verstand sein Theater dabei als „dialektisches Theater“ und verfolgte ein ebensolches Prinzip: Dialektik geht von Widersprüchen zwischen dem realen gesellschaftlichen Sein und dem Bewusstsein aus. Mit dem dialektischen Verfahren der Historisierung gesellschaftlicher Prozesse versuchte er, die Wirklichkeit mit der Perspektive ihrer Veränderbarkeit auszustatten, indem er die Ideologien auf ihre materielle Basis zurückführte. Er versuchte insofern die Entstehung von Ideologien, ihren historischen Hintergrund, aufzudecken. Schließlich sind die historischen Bedingungen für ihn immer „von Menschen geschaffen und aufrechterhalten“ und können deshalb auch von ihnen geändert werden.

Das epische Theater wird so gewissermaßen zum „soziologischen Experiment“, wie Brecht sagt – bleibt damit aber immer auch innerhalb einer Sphäre des Sozialen. Brecht hat insofern noch eine ganz und gar anthropozentrische Weltsicht: zwar zielt er auf eine von Kapitalzwängen befreite Gesellschaft, in der die Gewinne sozialisiert werden – das epische Theater aber verhandelt nur gesellschaftliche Konflikte, innerhalb derer „der Mensch dem Menschen handelnd Grenzen setzt“, wie Frank Raddatz, gemeinsam mit Antje Boetius künstlerischer Leiter des Theater des Anthropozän, in diesem Zusammenhang schreibt. Genau das steht nun in der Ära des Anthropozäns zur Disposition: Vielleicht mehr als jemals zuvor ist der Mensch im „Drama des Anthropozän“ (2021) in die Welt verändernde Vorgänge einbezogen, die tragischen Konflikte aber sind inzwischen nicht mehr vornehmlich sozialer, sondern ökologischer Natur.

Heute bedrohen zahlreiche ökologische Krisen das Leben auf der Erde und markieren gleichsam das Ende des Anthropozentrismus. Die Natur selbst rückt stattdessen als handelnder Akteur in den Fokus der Aufmerksamkeit und bringt sich mit ihren unerwarteten Reaktionen auf das menschliche Handeln selbst bedeutend zur Geltung, als selbständiges Element – Antje Boetius spricht in diesem Zusammenhang von einem „planetaren Theater“. Vor dem Hintergrund der globalen ökologischen Veränderungen kann es dementsprechend im Theater des Anthropozän auch nicht mehr, wie noch bei Brecht, um das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft gehen, sondern um Veränderungen im Verhältnis des Menschen zur Natur und ihren öko- und geologischen Kräften. Diese in Bewegung und außer Kontrolle geratenen Kräfte gelte es, so Raddatz, „in dramatische Kontexte zurückzubinden und als … Conditio humana festzumachen“. In diesem Sinn soll im Theater des Anthropozän der „Prototyp einer Bühne“ entwickelt werden, „die sich den Herausforderungen einer in Bewegung gekommenen Natur stellt, die ihr Recht einfordert, angehört zu werden“. „Mit dem Anthropozän“, so außerdem auf der Webseite des Theaters, „hat sich unser Bezug zur Natur auf irreversible Weise verschoben. Denn lokale Aktivitäten haben inzwischen globale Auswirkungen, und globale Entwicklungen verursachen bedrohliche Veränderungen für das regionale Klima und die lokale Artenvielfalt.“

Nicht erst durch die Klimaerwärmung wird klar, dass sich der Mensch der Natur nicht entziehen kann. Der Mensch steht insofern nicht länger, wie noch bei Brecht, seiner Umwelt gegenüber, sondern ist untrennbar in sie verstrickt: Es gibt keine Natur, die losgelöst vom Menschen existiert – keine Natur an sich – und damit für den Menschen auch kein Entkommen vor den globalen Bedrohungen. „Natürlich haben die Menschen schon immer ihre Umwelt verändert“, schreibt Bruno Latour in diesem Zusammenhang in „Das terrestrische Manifest“ (2020), „aber dieser Begriff bezeichnete nur ihr Umfeld, das, was sie im präzisen Sinn umgab. Sie selbst bildeten weiterhin die Hauptfiguren, veränderten lediglich am Rande das Dekor ihrer Dramen. Heute [jedoch] sind alle: Dekor, Kulissen, Hinterbühne, das gesamte Gebäude, auf die Bühnenbretter gestiegen und machen den Schauspielern die Hauptrolle streitig. Das schlägt sich in den Textbüchern nieder …“

Ging es lange vielleicht noch darum, ökologische Zusammenhänge und insbesondere auch die verheerenden Folgen des menschlichen Handelns für die Natur zu verstehen, um zumindest kontrollierbare Verhältnisse zu schaffen, verdeutlichen zahlreiche Krisen und Katastrophen inzwischen, dass der Mensch die Kontrolle verloren hat und die Erde wieder die Macht über uns erlangt hat. „Urplötzlich (tritt) ein Akteur auf die Bühne, der auf die Aktionen der Menschen reagiert“, schreibt Latour diesbezüglich und bemerkt des Weiteren: „Von Geopolitik wird stets gesprochen, als ob das Präfix `geo-´ lediglich den Rahmen darstellte, in dem sich politisches Handeln abspielt. Nun vollzieht sich eine Veränderung insoweit, als `geo-´ von jetzt an einen Wirkfaktor bezeichnet, der uneingeschränkt an unserem öffentlichen Leben teilnimmt. (…) Der Raum ist nicht mehr der mit ihrem Raster aus Längen- und Breitengraden erfasste der Kartografie, sondern ist zu einer bewegten Geschichte geworden, in der wir selbst nur Beteiligte unter anderen sind, die auf Reaktionen anderer reagieren. Augenscheinlich landen wir mitten in der Geogeschichte. (…) Dass man sich nicht mehr dieselben Geschichten erzählen kann, steht jedenfalls fest.“

Bruno Latour zufolge gilt es, sich schleunigst von Gewissheiten und Koordinaten des 20. Jahrhunderts zu verabschieden: ihm zufolge geht es nicht mehr länger, wie noch bei Brecht, um die Historisierung gesellschaftlicher Prozesse, sondern die geologischen Prozesse der Erde sind fortan, wie Latour schreibt, „die Geschichte selbst“ – und auch wenn der Regisseur Alexander Eisenach die Klimakatastrophe in seiner Inszenierung von „Anthropos, Tyrann (Ödipus)“ an der Berliner Volksbühne im Februar 2021 in Sophokles` Theben verlegt und so gleichsam historisiert, so zieht er damit doch nur eine Parallele zwischen Ödipus und dem Menschen in der Ära des Anthropozän, wie schon Latour in „Kampf um Gaia“ (2020): „(E)s ist, als wären die Schicksalsfäden der Tragödie nicht allein von den einstigen olympischen Göttern gewebt worden“, schreibt Latour dort, „sondern von allen Wirkungsmächten, vom Beginn aller Zeiten an. Davon erzählt uns das Anthropozän, ein wahrhaft ödipaler Mythos. Und anders als der so lange gegenüber seinen vergangenen Untaten verblendete Ödipus müssen wir der Versuchung widerstehen, uns erneut zu blenden, und akzeptieren, ihnen ins Gesicht zu sehen, um uns mit weit geöffneten Augen dem zuwenden zu können, was auf uns zukommt.“

Will der Mensch „langfristig überleben“, so Latour in seinem „Terrestrischen Manifest“, muss seine „Existenzweise mit dem Habitat korreliert werden, welches die Erde ihren Bewohnern gewährt“. Und Raddatz ergänzt: „Langfristig dürfte die Zukunft des Homo sapiens … von der Kooperation mit den nicht-menschlichen Spezies, Organismen und Landschaftsformationen abhängen.“ Es geht um neue Formen der Kohabitation von humanen und nicht-humanen Lebewesen, Spezies, Organismen, Landschaften et cetera – um unser Eingebettet-Sein in nicht-menschliche Systeme. Ein anthropozänes Theater ist in diesem Sinn gefordert, das Verhältnis zu solchen nicht-humanen Lebensformen neu zu justieren und einen damit einhergehenden „Haltungswechsel“, wie Raddatz sagt, einzuleiten.

Zwar verschieben sich mit dem Anthropozän die raumzeitlichen Koordinaten – seit jeher aber ist das Theater dafür prädestiniert, solche fundamentalen Umbrüche der geltenden Maßgaben zu erkunden und zu verhandeln. „Theater“, so Frank Raddatz in einem Essay in „Welche Rechte braucht die Natur?“ (2021), „unterhält aufgrund seiner … Verbundenheit mit dem Mythos eine exklusive Beziehung zu den nicht-menschlichen Naturmächten und Akteuren. Speziell zu den Tieren. (…) Das Theater ist aufgrund dieses Ursprungs unauflösbar mit der Welt der Tiersubjekte verwandt. Seine basale Form, die Tragödie heißt wortwörtlich übersetzt Bocksgesang“ oder „Gesang anlässlich eines Bockopfers“. Im antiken Mythos bereits verwandelt Dionysos selbst ständig seine Gestalt – und verwischt so die Grenzen zwischen Mensch und Tier. Aus dem kultischen Opferritual ihm zu ehren jedenfalls entwickelte sich die Tragödie und das Theater, bei dem zunächst als Ziegenböcke verkleidete Darsteller auftraten, aus denen sich dann der Chor entwickelte.

Das für das Theater konstitutive Prinzip der Verwandlung oder Metamorphose garantiert so, schreibt Raddatz, „die Verwandtschaft von menschlichem und tierischem Subjekt“. Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „anthropologischen Bruch“ – ähnlich jenem, den Aristoteles zwischen bios und zoé, das heißt zwischen natürlichem und politisiertem Leben, konstatiert – und führt aus, dass das Theater in seinen Anfängen die Aufgabe hatte, diesen „Riss zu heilen“, der zwischen dem zivilisierten Menschen und seiner eigenen Naturhaftigkeit verläuft, mithin jenen zwischen Natur und Kultur. Dadurch aber, dass „der Zusammenhang Mensch/Tier/Landschaft/Erde als geschichtsmächtige Zukunftsfrage identifizert wird“, verschiebt sich auch „die Tektonik der Bühne: das politische formt sich zum anthropologischen Theater“, wie Raddatz schreibt. Damit werde „die kulturelle Beziehung zum Tier wie überhaupt zu allem nicht-menschlichen Leben für die politische Bühne der Zukunft fundamental.“

In der Moderne dann tritt an die Stelle des Konzepts der Metamorphose die Wissenschaft. Für Brecht bereits war klar, dass unser Zusammenleben als Menschen „in einem ganz neuen Umfang von den Wissenschaften bestimmt“ ist, wie er sagte. Deshalb praktizierte er ein „Theater für ein wissenschaftliches Zeitalter“, wie er selbst es nannte, wobei sich die Wissenschaft insbesondere „mit dem Wesen der menschlichen Gesellschaft befaßt[e]“ und „im Kampf der Beherrschten mit den Herrschenden begründet worden (ist)“ – dieses Herrschaftsverhältnis soll sie dokumentieren. Im Anthropozän nun verändern sich die Kausalitäten – die Wirklichkeit hat nicht länger holozänen Charakter, sondern ist wesentlich vom Menschen beeinflußt – und Theater muss, wie Raddatz in dem oben erwähnten Essay schreibt, „statt der Nähe zur dokumentierten Realität einen Bogen zur Wissenschaft mit ihren Prognosen, Simulationen und Möglichkeitsszenarien schlagen und an ihrem erd- und evolutionsgeschichtlichen Blick partizipieren“.

Die entscheidende Herausforderung für ein Theater des Anthropozän besteht darin, dass aus einer epistemologischen Perspektive „die Präsenzen der in Bewegung geratenen Sphären kaum mehr als Objekte gefasst werden (können)“. Nicht zuletzt deshalb hat die Natur ihren stabilen, berechenbaren Charakter verloren. Das aber bedeutet auch, dass sich Natur der Kontrolle entzogen hat – und damit auch der Darstellbarkeit. Diese Undarstellbarkeit hat, anders als in den bisherigen Ästhetiken, nicht mehr mit Entzug zu tun, sondern damit, dass die Bedrohungen der Natur eben unüberschaubar geworden sind: Die Natur ist „zu nah, um sie objektivieren zu können, zu groß, um sie abbilden zu können, zu komplex, um sie erzählen zu können“, bemerkt Eva Horn in diesem Zusammenhang in ihrer Einführung zum „Anthropozän“ (2019). Ihr zufolge lassen sich entsprechend folgende Herausforderungen für eine Ästhetik – und damit auch ein Theater – des Anthropozän benennen: Latenz (als ein Entzug der Wahrnehmbarkeit und Darstellbarkeit), Verstrickung (als Struktur und Bewußtsein von Ko-Existenz) sowie ein clash of scales (Aufeinandertreffen inkompatibler Größenmaßstäbe wie Zeitskalen beim Versuch erdgeschichtliche Zeiträume darzustellen oder Raumdimensionen, wenn es um planetarische Veränderungen des Erdsystems geht). Für alle drei gilt: Es handelt sich um Probleme der Form, die bisweilen allein unter Rückgriff auf Kants Konzept der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen diskutiert werden (Kant zufolge kann das Erhabene in keiner sinnlichen Form enthalten sein).

Ein Theater des Anthropozän steht insbesondere vor dem Problem, „Perspektivierungen zu veranschaulichen, die das Zeitregime seiner menschlichen Protagonisten irreversibel sprengen und relativieren“, wie Raddatz feststellt. Wissenschaftliche Beweise für die Veränderungen im Verhältnis von Mensch und Natur, die sich ansonsten jeder sinnlichen Evidenz entziehen, hat bereits früh Bruno Latour mit seinem Gaia-Theater zu inszenieren versucht, zum Beispiel in seinem als Hörspiel veröffentlicheten „Kosmokoloss“ (2011) – Latours erstem Theaterstück (hier die Textfassung), mit dem er „ein Gefühl für die Neuartigkeit“ vermitteln wollte, wie er selbst sagte. Latour verfolgte hier noch eine argumentative, gänzlich naturalistische Praxis.

Fest steht, dass Wissenschaft und Theater im Anthropozän völlig neu zu verschränken sind, wie Antje Boetius in dem oben erwähnten Gespräch mit „Theater der Zeit“ ausführt: Nicht, weil sich strukturelle Zusammenhänge eher in Daten und Statistiken darstellen lassen, sondern vielmehr „um die Zusammenhänge zwischen belebter und nicht belebter Welt … begreifbar und fühlbar zu machen, um daraus neue Fragen zu generieren wie auch Möglichkeiten für Perspektivwechsel zu erzeugen“. In der Antike, so Raddatz in „Drama des Anthropozäns“, war „der tragische Aktant mythisch verfasst“. Nun jedoch, in der Ära des Anthropozäns, stammt das Wissen „über dessen hybride Nachfahren“ – über die anthropogen verursachten ökologischen Krisen – von den Wissenschaften. Die Erde selbst wird dabei zum Protagonisten: „Als Aktant perspektiviert, kehrt der mythologisch grundierte Akteur des tragischen Theaters als hybrider Exponent im Anthropozän auf die wissenschaftlich-dionysischen Tanzplätze zurück“, schreibt Raddatz in diesem Zusammenhang.

Als ein Ort, wo es nicht allein um eine rein kognitive Wissensvermittlung geht, kann Theater über das Erleben und Erfahren zumindest ein temporäres Potenzial für Veränderung erschließen. Denn wird das anthropozäne Theater, wie Raddatz schreibt, „als etwas entworfen, das unverbrauchte Perspektivierungen eröffnet, eine Sensibilität für den quasi-transzendierenden Charakter unseres Sterns erweckt, den Rätselcharakter des Daseins modelliert und als planetare Plastik in Szene setzt, unbekannte Assoziationsketten an der Schwelle einer kulturellen Transformation in Gang setzt und mit den konditionierten Schaltungen der Synapsen spielt, demaskiert sich jede Einbettung in eine breite, weil konsumistische Gegenwart.“

Das Theater ist ein gemeinsamer Erfahrungsraum – und zweifelsohne wird eine fundamentale Veränderung unseres Verhältnisses zur Natur nur gemeinschaftlich stattfinden können. „Im Theater des Anthropozän geht es ja schließlich auch um die politischen Wege in andere Zukünfte“, sagt Boetius in diesem Zusammenhang – und Politik ist immer auch eine Frage der sozialen Vernetzung, der Gestaltungsraum des Individuums alleine nur gering. Für Raddatz bedeutet das insbesondere auch, „das Soziale von der Logik der Gewalt zu entkoppeln“: „(E)in auf Veränderung angelegtes Theater des Anthropozäns (hat) die Struktur der Condition humana unter dem Aspekt der Transformation in ein jagendes und tötendes Tier zu dechiffrieren“, schreibt er. „Der Ehrgeiz des Zukunftstheaters kann nur darin bestehen, Georg Büchners verzweifelte Frage aus Dantons Tod: `Was ist das, was in uns lügt, stiehlt, hurt und mordet?´ in anthropologischen wie anthropozänen Zusammenhängen zu beantworten. Dafür ist es unumgänglich, die Verwandlung in ein tötendes Tier … als unbedingt politischen Vorgang zu verstehen.“ Man müsse, so Raddatz, „die Laufrichtung der Tragödie umkehren und angesichts ihrer Mechanismen ein Jenseits der Gewalt situieren. Michel Serres postuliert in diesem Zusammenhang [in „Der Naturvertrag“ (1994)] das Ideal einer Liebeskultur, die sich auf den gesamten Planeten erstreckt: `Wir vermochten den Nächsten zu lieben – manchmal – und den Boden – oft; wir haben mühsam gelernt, die früher so abstrakte Menschheit zu lieben, der wir heute häufiger begegnen; und jetzt müssen wir die Liebe zur Welt um uns herum lernen und lehren – oder die zu unserer ERDE, die wir fortan als Ganzheit betrachten können.´“

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