Essay, Neu

ohne grund

Egal, wohin man blickt, nur Krisen, Krieg und Katastrophen. Abgründe überall …

Vorübergehend / Ist jeder Schmerz, der uns hienieden quält, / Der Tod ein Gut, das unser Elend endet. / Doch wenn wir einst den grausen Zwischenort / Verlassen, wer wohl von uns allen wagt / Dann zu behaupten, durch sein Thun auf Erden / Hab er verdient, jetzt glücklicher zu werden?“

Voltaire, Das Erdbeben von Lissabon (1756)

Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – u Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mittheilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. (…) Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, ober ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – u alles Bestreben, ein Eigenthum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich – / Ach, Wilhelmine, wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen Andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundert fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr …“

Heinrich von Kleist, Brief an seine Verlobte Wilhelmine (1801)

The climate apocalpyse is coming. To prepare for it, we need to admit that we can`t prevent it.“

Jonathan Franzen, What if we stopped pretending? (2019)

Ich glaube, man kann jetzt im Augenblick keinen grundlosen Optimismus pflegen …“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Kiew Ende Oktober 2022 bei der Vergabe des „Deutschen Zukunftspreises“ (bei 34:40)

Man kann natürlich immer fragen, wem mit Pessimismus gedient ist, und zu der einfachen Antwort kommen: dem Pessimisten allein. Zugleich drängt aber auch die Frage, ob dieser Pessimismus nicht eine freundliche Neubewertung verdient, wo der handlungsorientierte Optimismus an seine Grenzen gerät. Und das tut er ganz zweifellos.“

Johannes Schneider, Bloß keine Ausweglosigkeit (2022)

Vom Wein zum Text

Unter der Rubrik KLARTEXT stand in der Oktoberausgabe 2020 von „Vinum – Magazin für Weinkultur“ unter der Überschrift „Ursprung ade!“ von Thomas Vaterlaus folgendes: „Der Mythos Wein baut darauf auf, dass die Herkunft von grossen Weinen mit Nase und Gaumen eruiert werden kann. Doch das war einmal. Dank dem Perfektionismus der Spitzenwinzer sind die Weine nicht nur eklatant besser geworden, sie haben sich auch stilistisch angenähert …“

Vaterlaus berichtet von einer Verkostung von dreißig spanischen und portugiesischen Weinen aus dem Duero- beziehungsweise Dourotal. Man geht gewöhnlich davon aus, dass sich die Weine der beiden Länder deutlich unterscheiden lassen, weil ihr jeweiliges Terroir völlig anders ist: so wächst am spanischen Duero vornehmlich Tempranillo, und zwar auf kalkhaltigen Böden, während an den Ufern des in Portugal Douro genannten Flusses rote Assemblagen aus mehreren verschiedenen Rebsorten gemacht werden, die auf purem Schiefer angebaut werden. Tatsächlich konnten nun aber von den professionellen Verkostern „tendenzweise“ nur acht Weine dem richtigen Land zugeordnet werden. „Der Grund dafür“, schreibt Vaterlaus: „Die Weine zeigten sich allesamt, also den ganzen Flussverlauf entlang, dunkelbeerig, füllig und verführerisch würzig. Sie wurden von den Winemakern souverän auf diese Stilistik getrimmt. Mit anderen Worten: Wir geniessen heute auf hohem Niveau nicht Duero oder Douro, sondern Icons aus dem nördlichen Iberien.“

Wein mit Sicherheit geografisch einzuordnen erweist sich also als nahezu unmöglich; immer seltener lässt sich mit Gewissheit vom Geschmack („hohes Niveau“) auf seine Herkunft schließen, sein Ursprung ergründen. Egal, schließt Vaterlaus seinen Artikel, das „sollte uns nicht stören. Was wir genau geniessen, steht schliesslich immer auf dem Label.“ Nun, inhaltlich hätte ein Wein aus Portugal heute vielleicht gut gepasst … jetzt aber vom Wein zum Text.

Handkes Wunschloses Unglück

Peter Handkes „Wunschloses Unglück“ (1972) beginnt so: „Unter der Rubrik VERMISCHTES stand in der Sonntagsausgabe der Kärntner `Volkszeitung´ folgendes: `In der Nacht zum Samstag verübte eine 51jährige Hausfrau aus A. (Gemeinde G.) Selbstmord durch Einnehmen einer Überdosis von Schlaftabletten.´ Es ist inzwischen fast sieben Wochen her, seit meine Mutter tot ist, und ich möchte mich an die Arbeit machen, bevor das Bedürfnis, über sie zu schreiben, das bei der Beerdigung so stark war, sich in die stumpfsinnige Sprachlosigkeit zurückverwandelt, mit der ich auf die Nachricht von dem Selbstmord reagierte. Ja, an die Arbeit machen: denn das Bedürfnis, etwas über meine Mutter zu schreiben, so unvermittelt es sich auch manchmal noch einstellt, ist andererseits wieder so unbestimmt, daß eine Arbeitsanstrengung nötig sein wird, damit ich nicht einfach, wie es mir gerade entsprechen würde, mit der Schreibmaschine immer den gleichen Buchstaben auf das Papier klopfe.“

Das Schreiben ist eine Anstrengung, die Handke als Mittel zum Zweck dient, nämlich sich aus dem dumpfen, sprachlosen Zustand zu befreien, in den ihn der Selbstmord seiner Mutter gestürzt hat. Das Unglück wird sogar zur Ursache seiner Autorschaft. Wo ist die Mutter? Handke macht sich schreibend auf die Suche nach ihr, beschäftigt sich mit ihrer Geschichte. Einen Grund für das schreckliche Ereignis liefert er, wie auch die Zeitungsannonce, nicht. „Freilich las sie die Bücher nur als Geschichten aus der Vergangenheit, niemals als Zukunftsträume …“, schreibt er, seine Mutter war eben „(s)elten wunschlos und irgendwie glücklich, meistens wunschlos und ein bißchen unglücklich“. Ihr plötzlicher Selbstmord bleibt geheimnisvoll, der Tod ohnehin unergründlich. Es geht ihm auch vornehmlich nicht darum, das Unglück zu ergründen, sondern darum, seine Zustände der Leere und des Schmerzes, „Unwirklichkeitsgefühle als Schreckensmomente“, zu überwinden – und immerhin bemerkt er bald: „Das ist jetzt vorbei, jetzt habe ich diese Zustände nicht mehr. Wenn ich schreibe, schreibe ich notwendig von früher, von etwas Ausgestandenem, zumindest für die Zeit des Schreibens. Ich beschäftige mich literarisch, wie auch sonst, veräußerlicht und versachlicht zu einer Erinnerungs- und Formuliermaschine. Und ich schreibe die Geschichte meiner Mutter …“

Er hat sich also an die Arbeit gemacht, die Geschichte – ihre? seine? – zu schreiben: „Seit ich übrigens zu schreiben angefangen habe, scheinen mir diese Zustände, wahrscheinlich gerade dadurch, daß ich sie möglichst genau zu beschreiben versuche, entrückt und vergangen zu sein. Indem ich sie beschreibe, fange ich schon an, mich zu erinnern, als an eine abgeschlossene Periode meines Lebens …“ Das ist tatsächlich anstrengend – und es erscheint ihm überdies gefährlich: „Diese zwei Gefahren – einmal das bloße Nacherzählen, dann das schmerzlose Verschwinden einer Person in poetischen Sätzen – verlangsamen das Schreiben, weil ich fürchte, mit jedem Satz aus dem Gleichgewicht zu kommen. Das gilt ja für jede literarische Beschäftigung, besonders aber in diesem Fall, wo die Tatsachen so übermächtig sind, daß es kaum etwas zum Ausdenken gibt“ …

Hiobs Botschaft

Der Name Hiob, so steht es in der „Zürcher Bibel“ (2007), bedeutet wahrscheinlich „Wo ist der Vater (Gott)?“ – ihm ist insofern schon eine gewisse Verzweiflung eingeschrieben. Denn darum geht es auch in dieser Geschichte aus dem Alten Testament: der Frage nach dem Leiden des schuldlosen, gottesfürchtigen Menschen und der Verantwortung Gottes dafür. Protagonist ist Hiob, ein vermögender, gläubiger Mensch – dessen Gottesfürchtigkeit aber auf die Probe gestellt wird, als der Satan Gott dazu herausfordert, Hiob schuldlos ins Unglück und in schreckliches Elend zu stürzen.

Hiob verliert nach und nach alles: Boten verkünden ihm zuerst die Vernichtung seines Vermögens und schließlich sogar den Tod seiner Kinder. Am Ende bleibt ihm nur sein von schwerer Krankheit gezeichnetes Leben (Hiob 1-2), als ihn seine Freunde besuchen und ihn zunächst über sein trauriges Schicksal bemitleiden. Sie versuchen ihn zu trösten – dann jedoch unterstellen sie ihm in langen Gesprächen, irgendeine Sünde begangen haben zu müssen und ihn von seiner Schuld zu überzeugen (Hiob 4-31). Hiob aber weist alle Erklärungen zurück und beharrt stattdessen auf seiner Unschuld – er besteht darauf, nichts getan zu haben. Vor Gott müsse er sich nicht fürchten, „denn dazu habe ich keinen Grund“, sagt er (9,35).

So verflucht Hiob Gott zwar nicht – aber doch den Tag seiner Geburt: „Mich ekelt vor meinem Leben, meiner Klage will ich freien Lauf lassen“ (10,1). Sie richtet sich an, nicht gegen Gott – in seinem Glauben kommt Hiob nicht ins zweifeln –, von ihm fordert er einen Gerichtsprozess, der zeigen soll, dass er Recht habe. Dann endlich ergreift Gott selbst das Wort (38-41) – und antwortet im Wettersturm (38,1-11): „Wer behauptet, mein Walten sei finster, und redet ohne Einsicht? (…) Wo warst du, als ich die Erde gegründet habe? Rede, wenn du es weisst! Wer hat ihre Masse bestimmt? Weisst du es? Und wer hat die Messschnur über sie gespannt? Wo sind ihre Pfeiler eingesenkt, und wer hat ihren Eckstein gelegt …? Und wer hat das Meer mit Toren verschlossen, als es hervorbrach aus dem Mutterschoss? Ich habe ihm Gewölk als Kleid gegeben und dunkle Wolken als Windeln. Ich habe ihm ein Becken gegraben und ihm Tor und Riegel gegeben. Und ich habe gesagt: Bis hierher und nicht weiter! Hier müssen deine stolzen Wogen sich legen.“

Gott bekräftigt sich hier nicht als Richter, sondern als Schöpfer – als Herrscher über die Naturgewalten, dessen Macht alles Menschenmögliche übersteige. Ihm den Prozess zu machen sei absurd. Als Menschen stehe es uns nicht an, den Allmächtigen nach seiner Gerechtigkeit zu fragen – man müsse sein Unglück eben erdulden: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gepriesen!“, sagt Hiob selbst (1,21) am Anfang der Geschichte, seine Schicksalsergebenheit am Ende vorwegnehmend. Nun übt er sich in Demut und tröstet sich „im Staub und in der Asche“ (42,6), woraufhin Gott Hiobs Vermögen nach altem Gesetz restituiert und ihm Recht gibt, während er seine Freunde tadelt: „Ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob.“ (42,7) Hiob muss für seine Freunde Fürbitte leisten, damit diese nicht vom Zorn Gottes getroffen werden …

Die Geschichte des Hiob kann so gedeutet werden, dass das Unglück und das damit verbundene Leiden ein unvermeidlicher Bestandteil der Welt und des menschlichen Lebens ist – oder zumindest ein unerklärliches Geheimnis, das der Mensch nicht begreift, von dem ihn Gott alleine erlösen könne. Denn am Ende des Buches heißt es: „Hiob starb alt und lebenssatt“ (42,16). „Das ist das Befreiende und Tröstende an der Geschichte Hiobs“, schreibt Christoph Dinkel in einer Predigt über Hiob in diesem Zusammenhang: „Der leidende und klagende Mensch, der Mensch, der an seinem Unglück und am Unglück in der Welt verzweifelt und zu Gott schreit – dieser Mensch bekommt von Gott Recht. Wie paradox ist das! Der allmächtige Gott ermutigt den leidenden Menschen, auf Gottes Gerechtigkeit, auf Gottes Gnade und Liebe zu bestehen, auch wenn aktuell aller Anlass zum Verzweifeln, zur Anklage und zum Schreien besteht.“

Warum der Mensch aber zum Unglück verdammt ist – darauf kommt das Buch Hiob nicht zu sprechen. Entsprechend auch geht Gott mit keinem Wort mehr auf seine Kontroverse mit dem Satan ein, die doch der Auslöser für das ganze Unrecht an Hiob war. So bleiben – trotz des lebenssatten, wunschlosen Endes von Hiob nach einem Leben voller Leiden – Fragen offen. Und „(d)ass sie offen bleiben müssen und sich jeder einfachen und schlüssigen Beantwortung entziehen“, heißt es im Kommentar der Zürcher Bibel, „scheint die skeptische Pointe des Buchs Hiob zu sein.“

Leibniz` beste aller möglichen Welten

Für Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) gilt das Prinzip, dass nichts ohne Grund ist oder geschieht. In seiner „Theodizee“ (1710) schreibt er in diesem Zusammenhang von einem „bestimmten Grund“, der vor aller Erfahrung gültig sei, denn, wie er sagt, „nichts geschieht, ohne dass es eine Ursache [cause] oder wenigstens einen bestimmenden Grund [raison déterminante] gibt, d. h. etwas, das dazu dienen kann, a priori zu begründen, weshalb etwas eher existiert als nicht existiert und weshalb etwas gerade so als in einer anderen Weise existiert“.

Zwar könne das nicht bewiesen, aber doch plausibel gemacht werden: Denn würde es nicht gelten und würde Gott die Welt ohne Grund geschaffen haben, wäre es uns unmöglich, sie zu erkennen. Entsprechend erweitert Leibniz den bestimmten Grund zum Prinzip vom zureichenden Grund und schreibt dazu in seiner „Monadologie“ (1714), „dass keine Tatsache als wahr oder existierend gelten kann und keine Aussage als richtig, ohne dass es einen zureichenden Grund [raison suffisante] dafür gibt, dass es so und nicht anders ist, obwohl uns diese Gründe meistens nicht bekannt sein mögen.“ Leibniz unterscheidet also den Grund für die Existenz eines Objektes (Tatsache) von dem Grund seiner Erkenntnis – und differenziert so zwischen einer Welt der Erscheinung und einer Welt der Erkenntnis. Erkenntnis soll nicht mehr an den Glauben und Offenbarungsinhalte anknüpfen, sondern auf rationale Vernunft und empirische Erfahrung gegründet werden.

Leibniz` Prinzip des zureichenden Grundes spricht aus, dass alles in dieser Welt eine kausale Ursache [causa] hat – und Gottes Handeln insofern nie willkürlich ist, sondern stets finale Gründe [ratio] hat: In der Schöpfung wird die göttliche ratio zur naturhaften causa. In seiner Einführung zu „Gottfried Wilhelm Leibniz“ (2021) schreibt Hans Poser in diesem Zusammenhang: „Jedes Ereignis dieser Welt, ausgedrückt in einer Tatsachenwahrheit, ist zugleich sowohl Teil einer Kausalkette als auch Ausdruck des Willens Gottes als Schöpfer dieser Welt, also Element einer auf Zwecken ruhenden Begründung: causae sind eigentlich rationes. Eben darum ist die Welt für den Menschen verstehbar, obwohl er die unendlichen Begründungsketten nicht zu überschauen vermag.“

Leibniz folgend beruht die Schöpfung dabei zum einen auf einer Wahl unter Möglichkeiten, zum anderen auf dem Willen, das Gewählte auch zu erschaffen. Bei der Wahl wird nun das Prinzip des zureichenden Grundes bedeutsam: Leibniz geht davon aus, dass Gott – schließlich hat er den Menschen auch nach seinem Ebenbild geschaffen – nur das Beste will, die Welt in der wir leben entsprechend auch die „beste aller möglichen Welten“ sei, wie er schreibt. Und das Beste – das ist für Leibniz die Harmonia universalis: Schon 1685 schreibt er in einem Brief, dass die Existenz der Dinge „nicht aus ihrer Essenz (folgt), sondern aus dem Willen Gottes, oder was auf dasselbe hinausläuft, aus der allgemeinen Harmonie der Dinge“, und begründet die Ordnung und Harmonie in der Welt mit den in ihr waltenden Naturgesetzen als Ausdruck einer universal herrschenden rationalen Vernunft, die alle und alles in einem vollkommenen Consensus miteinander vereine. Jedenfalls schließt Leibniz von den Naturgesetzen auf die Existenz eines Schöpfers als letzte Ursache, wobei die Schöpfung selbst von ihm als eine auf einem Willensschluss – einem Zweck – beruhende Handlung begriffen wird, die kein weiteres eingreifen benötigt: in Leibniz` bester aller möglichen Welten ist alles determiniert.

Für Leibniz sind rationale Vernunft und Glaube untrennbar miteinander vereint insofern, als dass man an den in der Welt waltenden Naturgesetzen das göttliche Wirken als kausalgesetzlich fassbaren Weltplan erkennen kann. Dem von Isaac Newton (1643-1727) in dessen „Principia“ formulierten Naturgesetzen kommt insofern eine besondere Bedeutung zu, insbesondere dem Kausalgesetz: Newton bezeichnet damit einen generellen Zusammenhang von Ursache und Wirkung beziehungsweise eine Regelmäßigkeit in der Ereignisabfolge und behauptet, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkung haben (interessanterweise nennt er als Beispiel dafür unter anderem auch die Entstehung von gleichen Steinen auf verschiedenen Kontinenten). Auf der Basis des Kausalgesetzes lassen sich dann generelle Kausalurteile bilden wie beispielsweise die newtonschen Bewegungsgesetze – oder eben auch Leibniz` Prinzip des zureichenden Grundes mit ihrer auf dieser Naturgesetzlichkeit beruhenden Kausalität. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass in Leibniz` bester aller möglichen Welten der Zufall ausgeschlossen ist – die Welt wurde schließlich ja nach den von Gott selbst eingerichteten natürlichen Prinzipien, den Naturgesetzen, geschaffen. Hier hat alles seinen Grund. Gerade deshalb kommt hier auch der aufklärerische Gedanke von der Rationalität der Natur beziehungsweise das Vertrauen in Rationalität im eigenen Handeln zum prägnantesten Ausdruck: Leibniz ist überzeugt von einer Zukunft des rationalen, technischen Fortschritts, von einer immer höher entwickelten Zivilisation …

Wie aber erklärt sich dann all das Schlechte in der Welt? Wie ist das Übel angesichts der Güte und Gerechtigkeit Gottes überhaupt möglich? Und umgekehrt: Wie kann Gott gütig und gerecht sein, da es doch das Übel in der Welt gibt? In Leibniz eigenen Worten: „Wenn Gott sich am Glück aller erfreut, warum hat er sie dann nicht alle glücklich gemacht? Wenn er alle liebt, wieso verdammt er dann so viele? (…) Und wieso begünstigt er nicht die Sünde, wenn er sie (obwohl er sie von der Welt hätte ausschließen können) wissentlich zugelassen oder geduldet hat? Ja, ist er nicht sogar ihr Urheber, wenn er alles so geschaffen hat, dass die Sünde daraus folgt? Und was wird aus dem freien Willen, wenn man die Notwendigkeit zu sündigen annimmt, was aus der Rechtmäßigkeit der Strafe, wenn man den freien Willen aufhebt? Was aus der Rechtmäßigkeit der Belohnung, wenn allein durch die Gnade die einen von den anderen unterschieden werden? Wenn Gott schließlich der letzte Grund der Dinge ist, was soll man dann den Menschen, was den Teufeln zuschreiben?“

Leibniz verhandelt diese Fragen unter dem Begriff der Theodizee und gibt in diesem Zusammenhang folgende Antwort: Die beste aller möglichen Welten ist keine perfekte Welt. Denn Gott hätte etwas absolut Vollkommenes nur schaffen können, wenn er sich selbst noch einmal geschaffen – und damit ja unweigerlich auch seine Einzigartigkeit verloren – hätte. Möglich ist für ihn überhaupt nur etwas von sich Verschiedenes. Und wenn er das schlechthin Gute verkörpert, dann erklärt sich daraus, dass er mit dem Menschen notwendigerweise auch das Schlechte in die Welt setzte. Dieses Schlechte oder Übel aber ist nicht etwa ein Gott entgegengesetztes Prinzip, sondern allein ein Mangel. Ein Mangel, der auf der Zulassung des Übels beruht, weil ohne seine Zulassung eine Erschaffung der Welt nicht möglich gewesen wäre. „Ohne diese Unvollkommenheit wäre die Welt nicht vollkommen“, erklärt Egon Friedell in diesem Zusammenhang in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (1927), „sondern sie wäre überhaupt nicht“.

Für Leibniz besteht kein Zweifel daran, dass die Welt – so schrecklich und leidvoll sie auch sein mag – doch die beste aller möglichen Welten ist. Umgekehrt rechtfertigt er so auch das Schlechte und das Leiden als etwas Unabdingbares. Anders aber als noch für Hiob, der im Hinblick auf die Frage nach dem Übel beziehungsweise Leid zu der Einsicht gelangte, dass Gottes Taten oder Zwecke für den Menschen nicht zu durchschauen seien – das menschliche Schicksal unterliegt in seinem Verständnis der göttlichen Vorsehung –, begreift Leibniz die Welt bereits zu Beginn der Aufklärung als kausalgesetzlichen und damit vernünftig geordneten Zusammenhang und insofern auch als für den Verstand erkennbar. An die Stelle der göttlichen Offenbarung tritt bei Leibniz die durch den Verstand erkennbare Natur. Allerdings bezweifelt auch er nicht, dass die Welt eine Schöpfung Gottes sei.

Voltaires Candide

Dann aber drängte sich die Natur mit aller Wucht ins Bewusstsein: die Erde zitterte, als die Bewohner von Lissabon am 1. November 1755 Allerheiligen feierten. Ein Erdbeben mit der Stärke von 8,5 auf der Richterskala und eine darauf folgende Flutwelle zerstörte damals weite Teile der Hauptstadt des erzkatholischen Portugals: ausgerechnet das Hurenviertel, die Alfama, blieb verschont, während die meisten alten Kirchen, in denen sich die Menschen zur Messe versammelt hatten, und etwa 12.000 Gebäude in Lissabon von drei heftigen Erdstößen zum Einsturz gebracht wurden. Was danach noch stand vernichtete ein tagelang wütendes Feuer. Zehntausende der damals etwa 260.000 Einwohner Lissabons – einer der bedeutendsten europäischen Handelsstädte zu der Zeit – verloren damals ihr Leben (die Angaben variieren zwischen 30.000 und 130.000).

Das Erdbeben von Lissabon löste eine Schockwelle aus. Plötzlich, zum ersten Mal eigentlich, wurde einem auch weit entfernt vom Epizentrum das Risiko klar, dass die Zivilisation und das Leben in der Stadt mit sich brachten. Es erschütterte die brüchigen Fundamente, auf denen die Zivilisation damals ruhte: den zuversichtlichen Glauben an eine grundsätzlich vom Menschen beherrschbare Natur. Wie in Urzeiten rückte die Natur plötzlich als Bedrohung in den Fokus, ein neuartiges Gefährdungsgefühl überkam die Menschen. François-Marie Arouet (1694-1778), Voltaire genannt, beschreibt dieses Gefühl, wie Henning Ritter in „Nahes und fernes Unglück“ (2019) bemerkt, indem er die Menschen mit Ameisen vergleicht, die er „unsere Nächsten“ nennt, „und während er auf ihr Gewimmel herabblickt, malt er sich aus, welche Ängste sie wohl erlitten, wenn sie zertreten wurden. Mit einem teleskopischen Blick, wie er ihn auf die Ameisen richtete, blickt er auch auf die Menschen, die vom erhöhten Standort der Natur nichts weiter waren als Ameisen, und deren Leid von niemandem bemerkt wurde außer von ihnen selbst.“

Ein solch distanzierter Blick birgt die Gefahr, dass das menschliche Unglück unberücksichtigt bleibt, insbesondere bei jenen, die wie Leibniz davon ausgehen, dass hier auf Erden ohnehin alles zum Besten geordnet ist. Voltaire vermisste hier Empathie und Mitgefühl, Mitleid mit den Unglücklichen, und wollte, wie Ritter ausführt, „der Menschlichkeit neue Wege bahnen“, indem er jene dogmatischen Systeme erschütterte, die das Unglück und das Übel der Welt nur wortreich erklärten und rechtfertigten: die Theologie im Allgemeinen und Leibniz` Theodizee im Besonderen. Gefordert wurde von Voltaire stattdessen eine praktische Moral, wobei das Erdbeben von Lissabon als von Gott verantwortete Katastrophe für ihn in diesem Zusammenhang insbesondere ein wichtiges Argument gegen den dogmatischen Glaubenseifer der Inquisition war, denn, wie Voltaire sagte, „während einige verdammte Schurken einige Fanatiker verbrennen, verschlingt die Erde die einen wie die anderen“.

Dass sich plötzlich der Boden unter den Füßen auftat, verunsicherte die Menschen zutiefst und führte nicht nur zum Einsturz von Gebäuden, sondern auch zum Zusammenbruch des grundlegenden Vertrauens in die Welt – und das bedeutete auch den Verlust des Vertrauens in einen gütigen Gott, der die Welt sinnvoll und vernünftig geordnet hatte. Das Erdbeben führte insofern auch mit aller Macht vor Augen, dass Leibniz` optimistischer Ansatz nicht mehr aufrecht zu erhalten war: Leibniz` Theodizee erlaubte es nicht, dem Erdbeben irgendeinen Sinn zu geben – grundsätzlich jedoch stürzen Katastrophen Menschen mitunter in Zweifel und Krisen und stimulieren deshalb auch ein „Sinnverlangen“, wie Susan Neiman in „Das Böse denken“ (2004) bemerkt: „Was schon derart schrecklich ist, soll doch wenigstens etwas `bedeuten´“. In den verheerenden Zerstörungen aber auch nur irgendetwas Gutes erblicken zu wollen, erschien geradezu als zynisch. Niemand formulierte das deutlicher als Voltaire. Wenige Monate nach der Katastrophe schreibt er in dem Gedicht „Das Erdbeben von Lissabon (Poème sur le désastre de Lisbonne)“ (1756): „Auch L e i b n i z zeigt mir nicht die unsichtbaren / Verknüpfungen, wodurch in dieser Welt, / Der bestgeordneten von allen, die / Er sich als möglich denken kann, die größte / Unordnung ewig herrscht, ein wahres Chaos / Von Elend, das mit wenigen eiteln Freuden / Der wahrsten Schmerzen Unzahl grausam mischt. / Er sagt mir nicht, warum dasselbe Übel / Den Guten wie den Schuldbelasteten / Gleich unabwendbar trifft. Nicht minder dunkel / Ist mir, wie alles in der Welt beschaffen / Sein müßt ́, um gut zu heißen.“

Schon unmittelbar nach der Katastrophe bringt Voltaire das Erdbeben also mit Leibniz in Verbindung, verschiebt in diesem Zusammenhang aber bald seine Aufmerksamkeit weg vom Erdbeben als natürlich Bösem (malum physikum) für das – in der Perspektive konservativer Gläubiger – Gott allein die Verantwortung trägt hin zum menschlich verursachten moralisch Bösen (malum morale). In einem Brief vom 16. Dezember 1755 schreibt Voltaire in diesem Zusammenhang: „Wie Sie habe ich Mitgefühl mit den Portugiesen, doch die Menschen fügen … einander mehr Schaden zu, als die Natur ihnen zufügt. In unseren Kriegen werden mehr Menschen abgeschlachtet als bei Erdbeben umkommen. Bräuchten wir in dieser Welt nur Ereignisse wie Lissabon zu fürchten, befänden wir uns noch leidlich wohl.“ Es geht bei Voltaire nicht mehr – wie noch bei Hiob – um die Frage, wie Gott Ereignisse zulassen konnte, durch die Unschuldige leiden, sondern darum, warum Menschen unmoralisch handeln. Wie können sich Menschen auf eine Weise verhalten, die aller Vernunft trotzt, ihr im wahrsten Sinne des Wortes ins Gesicht schlägt?

Susan Neiman markiert genau hier den Beginn der Moderne: am Bestreben, die Verantwortung des Menschen für das Böse im Bewusstsein zu verankern, wobei die Verantwortungsübernahme insgesamt ein wesentliches Charakteristikum der Aufklärung ist. Sie bemerkt in diesem Zusammenhang: „Moderne, neuzeitliche Begriffe des Bösen wurden entwickelt, um Gott nicht länger den Zustand der Welt anzulasten und statt dessen selbst die Verantwortung dafür zu übernehmen.“ Deutlich sichtbar wird das an der Hinwendung Voltaires zum moralisch Bösen, insbesondere in seiner Erzählung „Candide“ (1759), einer satirischen Groteske, in der er seine Zweifel an Leibniz` bester aller möglichen Welten noch klarer als in seinem Gedicht formulierte. Der Protagonist Candid überlebt dort im Fünften und Sechsten Kapitel das Erdbeben von Lissabon zwar nicht schadlos, dem anschließenden Autodafé aber, das man (tatsächlich) veranstaltete, weil man der Meinung war, „daß das Schauspiel einiger feierlich auf langsamem Feuer verbrannter Menschen ein unfehlbares Mittel sei, die Erde am Beben zu verhindern“, entkommt er nur mit knapper Not: „Entsetzt, bestürzt, verwirrt und über und über blutend und nach Luft ringend sprach Candid zu sich selber: `Wenn dies hier die beste aller möglichen Welten ist, wie muß es dann erst auf den anderen sein!´.“

Voltaires Erzählung handelt davon, wie sich Candide (vom lateinischen candidus für aufrichtig, ehrlich), nachdem er aus seinem heimatlichen Schloss – „aus dem irdischen Paradies“, wie Voltaire schreibt – vertrieben wurde, auf die Suche nach seiner Geliebten macht und dabei von zahlreichen Geschehnissen durch die Lande fortgerissen wird. Eine schreckliche Szene menschlicher Grausamkeit reiht sich an die nächste, wobei Voltaire alle Übel in dieser Welt auflistet (Krieg, Inquisition, Kolonialisation, Sklaverei, Mord, Vergewaltigung et cetera), sodass er am Ende, wie Henning Ritter es ausdrückt, „Unglück und Unrecht zu einem riesigen Leidensberg“ gehäuft hat, „den auch die Theologen … nicht abzutragen vermochten“. Die Geschichte wird hier gewissermaßen zu einem einzigen Katastrophenzusammenhang. Am Ende versammeln sich alle vom Schicksal gepeinigten Unglücklichen, um gemäß Candids Maxime gemeinsam arbeitend „den Garten zu bestellen“, denn das ist „das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen“.

Voltaires Gedicht, das er noch unmittelbar nach dem Erdbeben verfasste, hat die Hoffnung am Schluss noch als das einzige Glück auf Erden bezeichnet, auch wenn er offen ließ, worin genau diese Hoffnung bestehen soll. Inzwischen jedoch ist der später so genannte Siebenjährige Krieg (1756- 1763) ausgebrochen, der alle europäischen Mächte erfasste – und in Voltaires Erzählung auch Candid. Vor diesem Hintergrund erscheint ihm jeder optimistische Fortschrittsglaube, alles hoffen vergeblich – und gerade wenn man davon ausgeht, dass das Übel notwendig ist, hat man desto mehr Grund gänzlich zu verzweifeln. Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren! … Was Voltaire mit seinem „Candide“ kritisiert, ist klar: Sollte die Menschheit trotz all ihrer Vielfalt etwas gemeinsam haben, dann ist es nicht die Hoffnung (auf eine bessere Welt als die beste aller möglichen), sondern es sind Verbrechen und Katastrophen. Es ist die Hölle auf Erden oder wie Voltaire in seinem Gedicht sagt: die „Erdenhölle“.

Zurecht bemerkt Neiman, dass Voltaire bei seiner Auflistung der menschlichen Übel auf Mittel verzichtet, „die uns Mitgefühl mit den Charakteren empfinden lassen, oder ihretwegen Empörung in uns hervorrufen“, um stattdessen – im Stile moderner Medien – mit schonungslos realistischen, gleichwohl satirischen Reportagen über das globale menschliche Elend zu berichten. Candides Erlebnisse im Siebenjährigen Krieg (Drittes Kapitel) beispielsweise beginnen so: „Etwas Schöneres, Hurtigeres, Glänzenderes und Wohlgeordneteres als die beiden Heere konnte es gar nicht geben. Die Trompeten, Pfeifen, Hörner, Trommeln und Kanonen bildeten zusammen eine Harmonie, dergleichen es nicht einmal je in der Hölle gegeben. Die Kanonen mähten zuerst auf jeder Seite ungefähr sechstausend Mann nieder, dann nahm das Gewehrfeuer ungefähr neun- bis zehntausend Schurken fort, welche die Oberfläche dieser besten aller Welten verpestet hatten, und das Bajonett ward ebenfalls der zureichende Grund für den Tod einiger tausend Mann. Alles in allem mochte sich das Ganze etwa auf dreißigtausend Seelen belaufen. Candid … versteckte sich während dieser heroischen Schlächterei so gut er konnte. Als dann endlich die beiden Könige ein jeder auf seinem Schlachtfelde ein Tedeum anstimmen ließen, faßte er den Entschluß, wo anders über Ursachen und Wirkungen nachzudenken.“

Katastrophe als Zeitenwende

Susan Neiman verweist darauf, dass Voltaire – anders als Leibniz – zwischen Zweck- und Wirkursachen beziehungsweise zwischen Grund und Ursache unterscheide: Vor allem in „Candide“ erwecke Voltaire in uns die Hoffnung, dass uns „letztlich der Sinn in der Geschichte aufgehen wird“, doch nur, um diese Erwartung gründlich zu enttäuschen. „Was vom zureichenden Grund übrigbleibt“, schreibt Neiman, „ist nur die dürftigste Sorte von Wirkursachen, die langatmig vor uns ausgebreitet werden“ – wie in jener Geschichte im Vierten Kapitel des „Candide“, wo Pangloß erzählt, über welche Stationen die Syphilis auch ihn erreicht hat. Mit der Syphilis, so schreibt Voltaire an anderer Stelle, hat „die Natur die Freuden der Liebe und den Quell des Lebens vergiftet“ – und letztlich auch alle Bemühungen, darin so etwas wie Sinnhaftigkeit zu finden. Voltaire neige zwar ohne Zweifel auch „zum Glauben an das Schicksal“, die Vorsehung, bemerkt Neiman in diesem Zusammenhang, er verwirft aber die Bemühungen, hinter all den unwahrscheinlichen, zufällig scheinenden Verbindungen eine Ordnung oder einen Sinn zu erkennen.

Das gilt nun auch für das Erdbeben von Lissabon, das Voltaire zum ersten Mal in einem Brief vom 24. November 1755 erwähnt, in dem er davon schreibt, dass man „sehr in Bedrängnis geraten (wird), wenn man sich vorzustellen versucht, wie die Bewegungsgesetze solche furchtbaren Katastrophen in der besten der möglichen Welten zuwege bringen“. Die Bewegungsgesetze – damit verweist Voltaire auf Newton respektive dessen Kausalgesetz, auf dem wiederum Leibniz` Prinzip des zureichenden Grundes basiert. Das erkennt Voltaire durchaus an – allerdings versucht er diese neuzeitliche Naturgesetzlichkeit nun auch mit dem Zufall zu verbinden. Neiman spricht in diesem Zusammenhang nicht von Zufällen, sondern von „unwahrscheinlichen Kausalverbindungen“ bei Voltaire. Sie meint damit Verbindungen, die so zufällig erscheinen, dass man sie kaum glauben kann, bemerkt in diesem Zusammenhang aber: „Gerade etwas so Unwahrscheinliches ergibt ja, wenn es schlecht läuft, die Tragödie. (Wäre Ödipus eine Stunde später am Kreuzweg angelangt, hätte es nur für ein einfaches Epos gereicht.)“

Wie hier in der Tragödie des Ödipus wirkt der Zufall für Voltaire in der Geschichte ebenso wie in der Naturordnung: als Katastrophe, die grundlos über die Menschen hereinbricht. In diesem Sinn auch, als Tragödie des Untergangs gewissermaßen, wird das Erdbeben von Lissabon nicht nur für Voltaire zur ersten Naturkatastrophe – zuvor war der Begriff der „Katastrophe“ allein der Dramentheorie vorbehalten und läßt sich bis zu Aristoteles` Poetik zurückverfolgen. Etymologisch leitet er sich aus der griechischen Vorsilbe „katá“ für „nach unten“ und „stréphein“ für „wenden“ her und bezeichnet insofern die Wendung zum Schlechten in der dramatischen Handlung. Aristoteles bezeichnet den Wendepunkt, mit dem die unheilvolle Entwicklung, der Untergang zum Schluss hin eingeleitet wird, als Peripetie und meint damit den grundlosen, unbegründeten Umschlag der Handlung vom Glück ins Unglück. Die Katastrophe ist in diesem Verständnis dann das Ergebnis dieser Wendung und markiert dabei aber auch immer einen Kontinuitätsbruch oder eine transformative Schwelle – danach ist alles anders –, während die Krise immer einen Ausweg oder die Möglichkeit offen läßt, in den ursprünglichen Zustand (der Normalität) zurückzukehren. Einen Gegenbegriff zur Katastrophe wiederum – die „Anastrophe“ als glückliches Ende – gibt es in unserer Kultur nicht. Unsere grundlegende, dominante Perspektive auf die Welt ist insofern immer schon pessimistisch …

Ganz in diesem Sinn wandert der Begriff der Katastrophe nun zu Beginn der Neuzeit vom Theater in andere Diskurse – und erstmals wird nun auch ein Naturereignis in diesem Sinn als Katastrophe beschrieben, als Wendepunkt in der geschichtlichen Entwicklung, obwohl es nicht zerstörerischer war als vergleichbare Erdbeben in der Vergangenheit. Wie kein anderes Naturereignis bis dahin wird das Erdbeben von Lissabon, wie Jörg Trempler in „Katastrophen“ (2013) schreibt, zur Metapher: „Es steht für eine irreversible Veränderung, was mithin als ein Hauptmerkmal von Katastrophen gelten kann: Sie bezeichnen nicht einfach das Unglück, das hereinbricht, aber auch wieder vergessen wird, sobald die Folgen beseitigt sind, sondern sie lassen einen neuen Zustand, eine neue Epoche beginnen.“ Man brauche Katastrophen, so Trempler, „um den Fortschritt in der Geschichte darzustellen. Sie dienen als Markierung, um eine Epoche von der anderen zu trennen.“ Sie markieren eine Zeitenwende.

Damit aus einem Naturereignis eine „Katastrophe“ im Sinne einer geschichtlichen Zäsur wird, bedarf es allerdings der Deutung (nicht das Erdbeben ist etwas Neues, sondern allein die Zuschreibung von Bedeutung.) Entsprechend wird der Begriff der Katastrophe von unterschiedlichen Akteuren nun auch anders verwendet: So sprechen zwar auch die Theologen bei Zerstörungen, die von Naturgewalten verursacht sind, von „Katastrophen“, interpretieren diesen Begriff jedoch der Vorsehung (oder dem alttestamentarischen Interpretationsrahmen) entsprechend noch als einen Akt göttlicher Strafe für die Sündhaftigkeit des Menschen, wie bei der Sintflut.

Das ändert sich bei Voltaire, für den das Erdbeben genauso eine „Katastrophe“ ist, die nun aber allein natürliche Gründe hat. Denn ohne das er es weiter begründen könnte legt er dem Erdbeben von Lissabon die um den Zufall erweiterten newtonschen Bewegungsgesetze als Ursache zugrunde – nutzt die so verursachte Katastrophe und das damit verbundene Leid der Menschen aber als Argumente, um die dominanten dogmatischen Systeme seiner Zeit anzugreifen und damit die noch von Leibniz konstatierte Verbindung von Glaube und Vernunft in der besten aller möglichen Welten: Das, was jemand tut, und das, was ihm zustößt, hat bei Voltaire – anders als bei den Theologen – nichts mehr miteinander zu tun: es geschieht grundlos. So setzt mit Voltaire respektive dem Erdbeben von Lissabon letztlich endgültig das Ende einer vom Glauben geprägten Epoche ein und es beginnt eine Epoche der Säkularisierung ehemals theologischer Deutungen: Von nun an ersetzten Vernunft, Katastrophe und Risiko die Vorstellungen von Glaube, Schuld und Sünde – und Geologie jene von der Sintflut.

Am Abgrund …

Folgt man der alttestamentarischen Genesis (1,1-2,3), formte Gott am Schluss der Schöpfung Adam aus Staub und Lehm. Er war der erste Mensch, der Stammvater der Menschheit – und bestand also aus Erde. Darauf verweist schon sein semitischer Name, bei dem sich aus dem sprachlichen Fundament eines Mitlauts verschiedene Begriffe entwickelten: auf Hebräisch bedeutet dam „Blut“, adam „rot“, und so wurde der Name in der Urfassung des Alten Testaments genutzt. Darüber hinaus steht adamah für einen „roten Erdboden“, Adam ist also auch ein „Erdling“: Die Genesis („Ursprung“, „Entstehung“) verknüpft den Menschen aufs innigste mit dem Boden, spricht doch Gott dort in 3,17-19 in Zusammenhang mit dem paradiesischen Sündenfall zu ihm: „Verflucht ist der Erdboden um deinetwillen, mit Mühsal wirst du dich von ihm nähren (…) bis du zum Erdboden zurückkehrst, denn von ihm bist du genommen. Denn Staub bist du, und zum Staub kehrst du zurück.“ Schon unmittelbar nach der Vertreibung aus dem Paradies aber stellte sich heraus, „dass die Bosheit des Menschen gross war“ (Gen 6,5) und „die Erde voller Gewalttat“ (Gen 6,13). Wundert es da, angesichts der ursprünglichen Verwandtschaft, dass sich der Erdboden unter der Last der Menschheit auftut und das Wasser der Sintflut über die Erde kam um alles zu vertilgen?

Thomas Burnet (1635-1715) ist skeptisch. Wie Gottfried Hofbauer in „Die geologische Revolution“ (2015) erklärt, ist er es, der in seiner „Heiligen Theorie der Erde“ (1681) erstmals von einer natürlichen Entstehung der Erde spricht und „die ganze Schöpfungsgeschichte bis zum Ende der Erde am Jüngsten Tag als eine natürliche Entwicklung skizziert“. Mit Newton diskutiert er über die Frage, wie wörtlich der biblische Schöpfungsbericht zu verstehen sei – und widerspricht Newton, der für eine wörtliche Interpretation plädiert: Für Newton besteht der Unterschied zwischen Menschheits- und Erdgeschichte noch darin, dass die Erde sechs Tage vor dem Menschen erschaffen wurde – auch wenn die sechs Tage womöglich länger dauerten als heutige Tage.

Burnet hingegen meint, wie er geradezu häretisch schreibt: „Wenn der Schöpfungsbericht in einem Teil ein Idealbild ist, dann kann er dies in einem gewissen Maß in jedem Teil sein.“ So beginnt er als einer der ersten, nach einer plausiblen, rationalen Erklärung für die Entwicklung der Erde und die Entstehung des Flutereignisses zu suchen und entwickelt, wie Hofbauer schreibt, „sein auf Naturgründe bauendes Sintflut-Modell“ – nach dem einzigen in der Bibel dokumentierten Naturereignis von „möglicherweise erdgeschichtlichem Format“.

Der alttestamentarische Bericht war für Burnet unlogisch und nicht mit den damals bereits bekannten Naturgesetzen vereinbar. Immer wieder bezieht er sich auf entsprechende Stellen in der Genesis: er bezweifelt die biblische Sintflut nicht, kommt aber zu dem Ergebnis, dass die Wassermenge der Ozeane dafür nicht gereicht haben konnte. Er geht deshalb davon aus, dass sich im Erdinneren mit Wasser gefüllte Hohlräume befinden mussten, die sich bei der Entstehung der Erde gebildet hatten. Erst durch den Einbruch der Erdkruste über diesen Hohlräumen und die dadurch verursachte Verdrängung des Wassers sei die gewaltige Katastrophe möglich gewesen, als die die Sintflut in der Genesis beschrieben wird. Für Burnet jedenfalls ist klar, dass sie es war, die aus der ehemals ebenen Erdoberfläche die heutige Landschaft geschaffen hat, die er auch als „gigantische und widerliche Ruine“ bezeichnet. Die Sintflut ist für ihn insofern die Ursache für die Erdoberfläche in ihrer heutigen Gestalt.

Wie Burnet geht auch Immanuel Kant (1724-1804) in Hinblick auf die Ursachen des verheerenden Erdbebens von Lissabon davon aus, dass der Boden unter uns „hohl“ sein müsse – er spricht in diesem Zusammenhang von „unterirdischen Wölbungen“, also Höhlen. Anders aber als Burnet sind diese Hohlräume bei Kant nicht mit Wasser, sondern mit Gas gefüllt, das dort als Überrest eines kondensierten Gasnebels, aus dem einst das Planetensystem entstanden ist, gefangen ist. Kant selbst spricht davon, dass es zur Erläuterung der Entstehung dieser „Höhlen“ notwendig wäre, „bis in die Geschichte der Erde im Chaos zurück [zu] gehen“ (Hofbauer verweist darauf, dass die damalige Vorstellung einer im Inneren heißen, womöglich glutflüssigen Erde auf dieser Hypothese gründet).

Kant ist einer der ersten, der nach den natürlichen Ursachen der Katastrophe von Lissabon fragt und bereits im März 1756, wenige Monate nach dem Erdbeben, drei Abhandlungen dazu veröffentlichte. Er wolle darin nicht die „menschliche Tragödie“ beschreiben, sondern bemerkt: „Alles, was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß man zusammennehmen, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie her einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweiflung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Mut niederschlagen. Eine solche Erzählung würde rührend sein (…) Ich beschreibe hier nur die Arbeit der Natur.“

Man weiß heute, dass das Epizentrum des Erdbebens damals etwa 160 Kilometer südwestlich von Lissabon im Atlantik lag. Moderne Berechnungen haben ergeben, dass dem Erdbeben ein Tsunami folgte, weil sich dort der Meeresboden an einer Stelle um elf Meter gehoben und an einer anderen um sechs Meter gesenkt hat. „Das alles wusste Kant natürlich nicht“, schreibt Josef Bordat in diesem Zusammenhang in „Kant und das Erdbeben von Lissabon“ (2007), „und er spricht auch nicht von Epizentrum und sich bewegenden Platten, sondern von einer `Explosion´ im Meeresboden und sich ausbreitenden Druckwellen“. Das Erdbeben als Ergebnis der Arbeit der Natur erfolgte Kant zufolge nämlich aufgrund einer zufälligen „Explosion“ des in den Hohlräumen gefangenen Gases, was zu den Erschütterungen und einer sich ausbreitenden Druckwelle geführt habe. Kant spricht zwar nicht von einem „Epizentrum“ des Erdbebens, verortet die „Explosion“ aber dennoch im Meeresboden, wo sie für das „Aufwallen der Gewässer“ und die „Fortpflanzung der Erschütterungen im Meere“ verantwortlich sei.

Kant erklärt, dass sich die Wölbungen „fast in einem Zusammenhange durch weitgestreckte Gegenden sogar unterm Boden des Meeres fortlaufen“ und parallel zu den Gebirgen und „auch den großen Flüssen“ verlaufen – und eben diese Richtung sei es auch, „wonach die Erderschütterungen sich vornehmlich ausbreiten“. Daraus erkläre sich auch das erhebliche Ausmaß der Schäden des Erdbebens: da Lissabon der Länge nach an den Ufern des Tajo gebaut sei, der Flussverlauf aber genau der Verlaufsrichtung des Erdbebens entspreche. Er stellt deshalb die Frage, ob Lissabon der geografischen Lage entsprechend nicht an anderer Stelle – im Verhältnis zum Fluss in die Breite – wieder aufgebaut werden sollte, was schließlich auch eine „Anstal(t)“ sei, „die die Vernunft darbietet“? Genau darauf verweist auch Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), wie Henning Ritter bemerkt, der in einem Brief an Voltaire vom 18. August 1756 – den Kant nicht kannte – darauf aufmerksam macht, dass nicht die göttliche Vorsehung anzuklagen sei, sondern die Menschen, die an der Stelle, wo das Erdbeben ausgebrochen ist, eine Stadt errichtet hatten. Entsprechend auch schreibt Kant: „Es läßt sich leicht raten, daß, wenn Menschen auf einem Grund bauen, der mit entzündbaren Materien angefüllet ist, über kurz oder lang die ganze Pracht ihrer Gebäude durch Erschütterungen über den Haufen fallen könne …“

Obwohl Kant noch nicht auf empirischem Datenmaterial aufbauen konnte und seine Überlegungen geologisch nicht ganz zutreffend sind – die Bedeutung der Plattentektonik erkannte man erst in den 1960er Jahren –, zeitigt sein Ansatz doch erstaunliche Erkenntnisse. Jedenfalls kann das Erdbeben für ihn nicht als interventionistischer göttlicher Eingriff betrachtet werden, sondern habe eine natürliche, weltliche Ursache – auch wenn es, was er später in seiner „Kritik der Urteilskraft“ (1790) weiter ausführt, ein Gefühl furchterregender Erhabenheit bei den Menschen seiner Zeit verursacht hat, indem es die Grenzen dessen sinnfällig gemacht hat, was man mit seinen Sinnen zu erfassen und mit seinem Verstand zu ergründen vermag. Gleichwohl ist ihm gerade auch deshalb klar, wie Bordat bemerkt, dass es nun gelte, die Naturgesetze zu erforschen, nach denen Gott das gewohnte Schöne, aber eben auch das schreckliche Erhabene – Kant selbst spricht von der „Erschütterung der Länder“, der „Wut des bewegten Meeres“ oder auch den „feuerspeienden Bergen“ – eingerichtet habe. Denn Kant zufolge handelt es sich bei beidem, dem Schönen wie dem Erhabenen, um Folgen derselben Naturgesetze und die Katastrophe ist nur deshalb furchterregend, weil man sie als Besonderheit nicht einzuordnen und zu erklären versteht – allenfalls eben als schrecklichen Zufall (Kant selbst spricht von „Zufällen“ in der geordneten Natur, wie Bordat ausführt).

Erdgeschichte ist zu dieser Zeit eine Katastrophengeschichte, das heißt, die Natur wird grundlegend „katastrophisch“ gesehen beziehungsweise selbst zum Katastrophengeschehen, wie Eva Horn in „Zukunft als Katastrophe“ (2014) erklärt: Sie ist ein Gefüge, das „immer wieder von Zerstörungen und Auslöschungen heimgesucht wird. (…) Sie erzeugt und vernichtet Lebensformen, bringt aber auch immer wieder neue hervor.“ Es ist Georges Cuvier (1769-1832), der diesen Katastrophismus ausdrücklich proklamierte, indem er einen Bruch zwischen Gegenwart und geologischer Vergangenheit entdeckte: Anhand von Knochenvergleichen identifizierte er 1796 mit dem Mammut erstmals eine ausgestorbene Art. Die kurze Arbeit, die er dazu veröffentlichte, enthielt, wie Hofbauer bemerkt, zwei Motive, die in der Folgezeit wichtig werden: „(1) Es gab eine Welt vor der heutigen, in der große Säugetiere lebten. Ein Teil dieser Spezies wurde aber am Ende dieses erdgeschichtlichen Abschnitts durch eine Katastrophe ausgeölscht (ausgestorbene Spezies wurden von Cuvier als `verlorene Spezies´ [espèce perdue] bezeichnet). (2) Neben den Resten der ausgestorbenen Säuger findet man k e i n e Reste des Menschen. Damit gibt es in den Augen Cuviers eine klare Trennung zwischen der Gegenwart, also dem kurzen Zeitraum der Menschheitsgeschichte und einer vorangegangenen, langen Erdgeschichte. Die Existenz prähistorischer Menschen wurde erst viel später, in der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt …“

Mit weiteren ausgestorbenen Arten entdeckt Cuvier gewissermaßen auch die Vergangenheit, konnte die doch bis dahin noch, wie Hofbauer schreibt, „aus der lebensweltlichen Perspektive überblickt werden, das Zeitmaß waren Jahre und Jahrhunderte“. Bischof James Ussher (1581-1656) beispielsweise datierte den Anfang der Welt, den Beginn der Schöpfung, auf den Abend vor dem 23. Oktober 4004 v.u.Z. Cuvier selbst aber schreibt: „Wäre es nicht auch zum Ruhme der Menschheit, die Grenzen der Zeit zu überschreiten [franchir les limits du temps], und mittelst einiger Beobachtungen eine Geschichte der Erde und eine Folge von Ereignissen zu finden, welche an Alter das menschliche Geschlecht übersteigen?“

Tatsächlich findet Cuvier in den tertiärzeitlichen Schichten des Pariser Beckens Fossilien ausgestorbener Spezies, mit denen er beweisen kann, dass das Aussterben beziehungsweise die Katastrophe ein allgegenwärtiger Aspekt der Erdgeschichte ist, und nicht nur etwas Singuläres. Er definiert in diesem Zusammenhang auch noch die heutige Bedeutung des Begriffs „Fossil“, die eigentlich von „graben“ kommt, wie Hofbauer weiß, aber erst durch Cuvier seine heutige Bedeutung erlangt hat. Denn bis dahin galt es, wie es beispielsweise in der renommierten Freiberger Geologenschule hieß, als „ein aus dem Gebirge gewonnenes Mineral“.

In dem Maße, in dem es Cuvier gelang, aus den Gesteinen eine Geschichte zu entwickeln – und sei es die Geschichte vom Aussterben von Arten infolge von Katastrophen –, kann Natur auch als Naturgeschichte wahrgenommen werden, wenngleich Cuvier nicht erklärt, wie neue Arten entstehen beziehungsweise woher die jeweils jüngeren Gesteinsformationen stammen. „Haben sie irgendwie und irgendwo die letzte Katastrophe überlebt oder waren sie inzwischen gar neu entstanden?“, fragt Hofbauer in diesem Zusammenhang. Entsprechend sollte es also bis zu einer natürlichen Entwicklungsgeschichte des Lebens noch dauern. Bevor Charles Darwins „Vom Ursprung der Arten“ (1859) und die darin formulierte Evolutionstheorie erscheint, wird erst einmal noch Cuviers Katastrophentheorie – die mit dem Vulkanismus und Nicolas Desmarest (1725-1815), der den vulkanischen Ursprung von Basalt nachwies, eine zwischenzeitliche Fortsetzung erlebte – abgelöst von einem Ansatz, der die Naturgeschichte nicht mehr als zeitlich geordnete Ereignisabfolge interpretiert, sondern als eine Entwicklungsgeschichte, bei der die geologischen Prozesse und Veränderungen der Natur in den Fokus der Aufmerksamkeit treten.

Schon Kant schreibt 1777 über eine solche Naturgeschichte: „Wir nehmen die Benennung N a t u r b e s c h r e i b u n g und N a t u r g e s c h i c h t e gemeiniglich in einerlei Sinne. – Allein es ist klar: dass die Kenntnis der Naturdinge, wie sie j e t z t sind, immer noch die Erkenntnis von demjenigen wünschen lassen, was sie ehedem g e w e s e n s i n d und durch welche Reihe von Veränderungen sie durchgegangen, um an jedem Orte in ihrem gegenwärtigen Zustand zu gelangen. (…) Man muß, so sehr man auch und zwar mit Recht der Frechheit der Meinungen feind ist, eine G e s c h i c h t e der Natur wagen, welche eine abgesonderte Wissenschaft ist, die wohl nach und nach von Meinungen zu Einsichten fortrücken könnte.“

Schon wenige Jahre später, 1788, wurde dieser Aufforderung entsprochen. Die Naturgeschichte als Entwicklungsgeschichte nimmt ihren Anfang mit einem Besuch von James Hutton (1726-1797) von Siccar Point, einem Felsvorsprung an der schottischen Ostküste, bei dem er von John Playfair begleitet wird, der darüber später schreibt: „Wir fühlten uns unvermeidlich in die Zeit zurückversetzt, in der der Schiefer, auf dem wir standen, noch auf dem Grund des Meeres lag, und der Sandstein vor uns gerade erst in Form von Sand oder Schlamm aus dem darüber befindlichen Ozean zur Ablagerung kam. Eine noch weit entfernte Epoche bot sich dar, in der selbst die ältesten dieser Gesteine, anstatt vertikal aufrecht zu stehen, in horizontalen Schichten auf dem Meeresboden lagerten, und noch nicht durch die unermesslichen Kräfte durcheinander gebracht waren, die das feste Pflaster unserer Erdkugel auseinander gerissen haben. Ja selbst noch weiter entfernte Umwälzungen erschienen am Horizont dieser außergewöhnlichen Perspektive. So weit in den Abgrund der Zeit [abyss of time] blickend, schien uns der Verstand schwindelig zu werden.“

In den Abgrund der Zeit blickend – mit seinem Besuch von Siccar Point und der daran anschließenden Entwicklung des Prinzips der Ablagerungsschichten (Schichtenprinzip) gilt James Hutton, der schon kurz vorher eine „Theorie der Erde“ (1785) verfasst hat, als Begründer der modernen Geologie, weil er sich, wie Hofbauer ausführt, „auf die am Siccar Point aus den Strukturen heraus entwickelbare Logik ein(lässt)“. Hutton wird dort klar, wie Hofbauer schreibt, dass „(j)edes geologische Zeugnis … Resultat eines Prozesses oder einer `Ursache´ (ist). Alles was wir sehen und greifen können, verweist auf etwas Vorangehendes, das selbst nicht mehr materiell greifbar, aber notwendig wirksam oder gegeben gewesen sein muss. Auch das älteste Zeugnis am Siccar Point, die steil gestellten – von Playfair als schistus/Schiefer bezeichneten – Schichten, sind schon das Ergebnis vorausgehender Bedingungen und Prozesse: Hier belegen sie, dass auch zur Zeit der Ablagerung dieser Schichten in ihrer Umgebung bereits ein Festland existiert haben muss, das, wie auch alle heutigen Festländer, von Abtragung und Umlagerung des durch die Verwitterung gelockerten Gesteins betroffen gewesen sein muss.“

Einen voraussetzungslosen „Urzustand“ oder „Urgrund“ hat es insofern nie gegeben – einen Ursprung zu finden ist unmöglich. Entsprechend schreibt Hutton selbst: „Das Ergebnis unserer gegenwärtigen Untersuchung ist daher, dass wir weder die Spur eines Anfangs, noch die Aussicht auf ein Ende finden.“ Hofbauer verweist darauf, dass Hutton hier nicht gemeint hat, dass die Erde kein Anfang und kein Ende hätte, sondern vielmehr, dass es vergeblich ist einen Anfang oder ein Ende finden zu wollen, denn wie Hutton schrieb: „gleich in welche Richtung wir blicken, wir sehen nur die Kette von Ursachen und Wirkungen“.

Gleichwohl hat die Entdeckung der geologischen Zeit den Blick auf die Vergangenheit geändert, das heißt mit Hutton verändert sich die Wahrnehmung von Zeit und Geschichte: „Die bis dahin als unveränderlich angesehene Erdoberfläche hat Veränderungen erfahren, die Natur hat Geschichte“, schreibt Hofbauer in diesem Zusammenhang. „Und zwar `Geschichte´, so wie wir sie heute verstehen: Veränderung, Entwicklung, Umwandlung.“ Auch das ist Säkularisierung: zuvor glaubte man, die Welt sei, wie in der Bibel verkündet, innerhalb von sechs Tagen entstanden. Durch die „Verzeitlichung“ in der Geologie ändert sich nun der Zeitbegriff: Hatte dieser bislang entweder keine Bedeutung, weil er doch mit der Schöpfung verbunden war, wo alles geschaffen worden war, oder mit einer Ereignisabfolge verbunden – katastrophisch oder nicht –, wird jetzt zum ersten Mal ein natürlicher Prozess erkennbar, in dessen Verlauf sich die Welt im Lauf der Zeit verändern, entwickeln und verwandeln konnte.

Vorsicht

Nicht nur der Blick zurück ändert sich also, sondern auch der in die Zukunft: In der christlich bestimmten Vergangenheit bedeutete Zukunft zugleich das Ende der Welt, nun sollte er sich in eine vom Schatten einer bald drohenden Apokalypse befreiten Zukunft richten. Wenn aber die Katastrophe von Lissabon schon die Hoffnung erschütterte, die noch in Leibniz` kausalgesetzlich geordneter bester aller möglichen Welten ein wesentliches Moment des Fortschrittsoptimismus war, dann sollte doch wenigsten eine vom Leid befreite Zukunft möglich sein. Der Fokus der Aufmerksamkeit verschiebt sich also weg von der noch in Leibniz` Theodizee gestellten Frage nach den Ursachen des Leides, hin zur Verhinderung zukünftigen Leids.

Ganz in diesem Sinne hat Kant seine Ideen zum Wiederaufbau Lissabons formuliert – um mögliche Schäden schon von vornherein zu vermeiden. Zugleich wirft er allen Schicksalsgläubigen vor, sich unbekümmert und unbesorgt einem gnädigen Gott zu überlassen. Er schreibt: „Wir wohnen ruhig auf einem Boden, dessen Grundfeste zuweilen erschüttert wird. Wir bauen unbekümmert auf Gewölben, deren Pfeiler hin und wieder wanken und mit dem Einsturze drohen. Unbesorgt wegen des Schicksals, welches vielleicht von uns selber nicht fern ist …“ Um ein solches Schicksal zu verhindern – um Zukunft nicht mehr nur erleiden zu müssen –, sind aber verlässliche Vorhersagen über potentielle Katastrophen nötig, damit man präventiv tätig werden kann. Wenigstens die potentiellen Auswirkungen von Erdbeben und Vulkanausbrüchen, Überschwemmungen und anderen Naturereignissen gilt es vorherzusehen.

Ihre entscheidenden Impulse erhält die Erdbebenforschung letztlich im Sinne einer Warnung durch das Ereignis von Lissabon 1755. Insbesondere die Geologie, die in den steinernen Bodenstrukturen Resultate eines logisch zu entziffernden Prozesses erkennt, sollte hierbei zum wichtigsten Deutungs- und Sinngebungsinstrument werden, indem sie Erdbeben und andere Naturkatastrophen von Anfang an als immanente Bestandteile der Erdgeschichte begreift. Naturkatastrophen werden dabei durch die Geologie, über die bloße Deutung hinaus, zum Gegenstand der Prognostik. Aus der Vorsehung wird so gewissermaßen die Vorhersage. Eva Horn bemerkt in diesem Zusammenhang: „Wenn Zukunft als radikaler Bruch, als künftiger Schaden oder gar Desaster gedacht wird, dann kann der Bezug zu ihr nur ein negativer sein: Diese Zukunft muss verhindert werden. So ist die lange Geschichte der Techniken und Institutionen des Vorhersehens – von der antiken Divination bis zu modernen Prognoseverfahren – zu einem guten Teil eine Geschichte der Reflexion darauf, wie Übel verhindert, wie künftige Schäden erkannt und wie ihnen vorgebeugt werden kann.“

Nicht erst seit Lissabon ist die Prävention also der eigentliche Zweck der Prognostik. Ganz in diesem Sinn bemerkt auch Kant über das Voraussehen, die praevisio: „Dieses Vermögen zu besitzen interessiert mehr als jedes andere; weil es die Bedingung aller möglichen Praxis und der Zwecke ist, worauf der Mensch den Gebrauch seiner Kräfte bezieht. Alles Begehren enthält ein (zweifelhaftes oder gewisses) Voraussehen dessen, was durch diese möglich ist. Das Zurücksehen aufs Vergangene (Erinnern) geschieht nur in der Absicht, um das Voraussehen des Künftigen dadurch möglich zu machen; in dem wir im Standpunkte der Gegenwart überhaupt um uns sehen, um etwas zu beschließen, oder worauf gefaßt zu sein.“

Mit der Vorsicht verschiebt sich der Fokus von Kant: weg vom Naturereignis hin zum Menschen. Für ihn wird das Vermögen der Vorhersage zur Grundlage für Entscheidungen im Sinne des Treffens von Vorsichtsmaßnahmen, nämlich auf etwas gefaßt zu sein, wie er sagt. Wenn dabei das Zurücksehen aufs Vergangene das Voraussehen des Künftigen erst möglich macht, begreift er die Zukunft ganz im Sinne einer zeitlichen Kausalität von Ursache und Wirkung: als Verlängerung der Vergangenheit. Horn bemerkt diesbezüglich: „Die gleichen Gesetze, die die Gegenwart geprägt haben, werden auch die Zukunft bestimmen.“ Hier geht es dann aber nicht mehr in erster Linie darum, dem Orakel zu vertrauen – in dem Fall dem geologischen Orakel (auch in Delphi erhielt die Pythia ihre Eingebungen angeblich von Miasmen, die einem Spalt im Erdboden entstiegen) –, sondern um ein Wissen über die Vergangenheit. Anders, und mit Eva Horn gesagt: „Kennzeichnend für die epistemologische Grundlage dieses Präventionsregimes ist nicht mehr das Vertrauen auf ein Wissen vom Kommenden, sondern das Wissen um die eigenen Unbekannten …“

Das Wissen um die eigenen Unbekannten – ihre Aufklärung bedeutet für Kant letztlich auch die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Wo ist die Mutter? Wo ist der Vater?

Grundsicherung?

Unmittelbar nach dem Erdbeben von Lissabon fordert Kant in seinen Abhandlungen noch „Demut“ vor den Naturgesetzen, schließlich seien die Naturgewalten und die damit verbundenen Naturkatastrophen als allgemeine Bedingungen eingebunden in die menschliche Existenz – Fortschritt hin oder her. Der Mensch, sagt Kant, ist eben doch „niemals mehr als ein Mensch“. Jetzt, fast dreißig Jahre später, fordert er die Befreiung des Menschen aus „seiner selbstverschuldeten (…) beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit“, wie er in „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784) schreibt. „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, öffentlich, fordert er dort und erklärt an anderer Stelle: „Selbstdenken heißt: den obersten Probierstein der Wahrheit an sich (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.“

Kant erklärte, dass sich die Menschen bei ihrem Handeln nicht vom Glauben, sondern von der Vernunft leiten lassen sollten. So kommt mit ihr auch Leibniz` Theodizee und die damit zusammenhängende Verbindung von Vernunft und Glaube, die bereits Voltaire als unvereinbar erklärte, endgültig an ihr Ende. An die Stelle des Glaubens setzte Kant allein die menschliche Vernunft, zumindest in Hinblick auf unsere Deutung der Welt beziehungsweise ihre Erkenntnis.

Bislang ging man davon aus, dass Erkenntnis aus der gemeinsamen Tätigkeit der Sinne und des Verstandes entsteht. Man gründete sie auf der Annahme unaufgeklärter Fakten in der empirischen Welt und ging davon aus, dass unsere Sinne und der Verstand die Welt an sich erkennen, so wie sie auch unabhängig von unserer Wahrnehmung existiert. Für Kant nun existiert keine Welt an sich, sondern für ihn ist vor aller sinnlichen Wahrnehmung und rationalen Erfahrung, aus denen sich wiederum die Erkenntnis ergibt, bereits die Vernunft da – die „reine Vernunft“, wie er sagt. Sie gehe dem Erkenntnisprozess voraus – eine empirische Welt (Natur) existiere nicht unabhängig von dieser apriorischen Vernunft. Kant unterscheidet insofern also eine Welt der Erscheinung und eine davon verschiedene Welt unserer Erkenntnis, davon handelt seine „Kritik der reinen Vernunft“ (1781). Er versucht darin nachzuweisen, dass der Mensch die Erscheinungen in der empirischen Welt ihrer Form nach a priori konstruiert, indem er die Sinneseindrücke raum-zeitlich ordnet und schließlich mit spontan gebildeten Begriffen verbindet. So werde aus der Wahrnehmung Erfahrung, aus der wiederum Erkenntnis erwachse.

Ausgangspunkt für Kants Überlegungen ist die Behauptung von David Hume (1711-1776), dass die Idee der Kausalität, also die Verknüpfung von Ursache und Wirkung, nicht aus der Erfahrung stamme, sondern von uns zu den Ereignissen hinzugedacht werde: aus einem bloßen post hoc („danach“) machen wir eigenmächtig ein propter hoc („deshalb“). Diesen Gedanken des post hoc ergo propter hoc („danach, also deshalb“) nahm Kant auf, stellte aber fest, dass der Begriff der Kausalität nicht nach aller Erfahrung a posteriori in die Natur hineingetragen wird, sondern bereits vor aller Erfahrung a priori in uns entsteht, weil durch ihn Erfahrung überhaupt erst möglich werde – Kausalität unsere Erfahrung also erst macht.

Mit diesem Ansatz kehrt Kant den ganzen Erkenntnisprozess um: Während man bisher annahm, Wahrheit könne nur aus der Naturerfahrung gewonnen werden, erklärt Kant, dass alle Erfahrung nur bedingt wahr sei und absolute Wahrheit nur „vor der Erfahrung, außerhalb der Erfahrung und ohne die Erfahrung“ gefunden werden könne, wie Friedell zusammenfasst: „Was wir Wirklichkeit nennen, jene anschauliche Welt, wie sie von unserer `Sinnlichkeit´ … hervorgebracht wird, ist in Wahrheit nur Erscheinung, eine ideale Welt, in der die Dinge bloß als Phänomene unseres Bewußtseins existieren.“

Kant unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei apriorische Erkenntnisformen: unsere Denkformen und unsere Anschauungsformen, nämlich Raum und Zeit. Wie unsere Denkformen sind auch Raum und Zeit für Kant keine empirisch beobachtbaren Eigenschaften, sondern liegen unserer Wahrnehmung zugrunde: was wir Welt nennen, hat den Raum und Zeit zur Vorbedingung. „Die Tatsache, daß Dinge gleichzeitig sind oder aufeinander folgen, setzt bereits die Zeit voraus“, schreibt Friedell in diesem Zusammenhang. Und auch, „daß Dinge nebeneinander oder voneinander entfernt sind, setzt bereits den Raum voraus. Zeit und Raum sind die Form, in der die Dinge erscheinen k ö n n e n. Zeit und Raum lassen sich von den Erscheinungen nicht wegdenken; hingegen kann man sich sehr wohl die Zeit und den Raum denken ohne alle Erscheinungen.“

Friedell fährt fort: „Gegeben sind uns zunächst nur gestaltlose Empfindungen, diese ordnet unsere `anschauende Vernunft´ in Raum und Zeit, dadurch werden sie zu Erscheinungen. Aber diese Erscheinungen wollen wiederum geordnet, in eine gesetzmäßige Verknüpfung gebracht werden. Diese Aufgabe löst die `denkende Vernunft´oder der Verstand mit Hilfe der `reinen Begriffe´: durch sie wird aus den Erscheinungen Erfahrung. Durch Anschauungen werden uns die Gegenstände nur gegeben, durch Begriffe werden sie gedacht. Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen sind leer.“

Natur bei Kant ist in diesem Sinn gewissermaßen immer schon nur eine Deutung: sie wird uns, wie Friedell fortführt, „Bewußtseinsinhalt, anschaulich und gesetzmäßig geordneter Zusammenhang, weil sie vorher durch die in unserer Seele bereitliegenden Erkenntnisvermögen der Anschauung und des Verstandes als diesen `Gegenstand´ gesetzt haben. `Verbindung´, sagt Kant, `liegt nicht in den Gegenständen und kann von ihnen nicht durch Wahrnehmung entlehnt werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes´, der selbst nichts andres ist als das Vermögen, a priori zu verbinden. Unser Verstand erzeugt selbsttätig, spontan vermöge einer Fähigkeit, die Kant `produktive Einbildungskraft´ nennt, bestimmte Verknüpfungen, bestimmte Gesetze: die sogenannten `Naturgesetze´. `Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.´ Das ist die Antwort auf die Frage: wie ist Natur möglich?“, schließt Friedell.

Es geht also nicht mehr darum, wie noch bei Leibniz, eine naturgesetzlich erkennbare Welt und ihren kausalgesetzlich fassbaren Weltplan als Folge einer göttlichen Schöpfung miteinander zu versöhnen, sondern bei Kant wird die Frage nach Gott in Zusammenhang mit der Schöpfung der Welt ausgeklammert und die Kausalität, die bisher garantierte, dass man die empirischen Welt (Natur) zu erkennen vermag, zu einer subjektiven Kategorie der menschlichen Vernunft. Die Erkenntnis der Welt an sich bleibt uns so aber verschlossen: „Wir können nur sagen, daß den Erscheinungen etwas `zugrunde liegt´, daß sich hinter den Dingen, jenseits unserer Erfahrungsmöglichkeit noch irgend etwas befindet: das Ding an sich“, schreibt Friedell. Das jedoch liegt hinter dem, was wir mit unseren Sinnen und unserem Verstand zu erfassen vermögen und ist insofern „ein bloßer Grenzbegriff. Es bezeichnet die Grenze, wo unsere Erkenntnis aufhört“.

Friedell fasst deshalb zusammen: „Die empirische Welt ist unwirklich, phänomenal, aber der Glaube an sie ein kategorischer Imperativ“. Der Glaube – und Kant selbst war tief religiös und forderte Demut vor dem Schöpfer und der Schöpfung –, wird von Kant insofern nicht gänzlich verworfen, sondern in Hinblick auf den Erkenntnisprozess nur als unbedeutend und irrelevant zurückgewiesen. Als transzendentes Wesen kann Gott niemals Gegenstand unserer Erkenntnis werden, sondern er ist eine „Idee“, die weder bewiesen noch widerlegt werden kann – er ist eine Sache des Glaubens wie die Idee der Freiheit, der Unsterblichkeit oder die der Seele. Der Wert solcher Ideen besteht darin, dass sie für uns eine Handlungsorientierung sein können. Friedell bemerkt in diesem Zusammenhang: „Die Ideen geben uns keine Gesetze wie die Kategorien, sondern nur Maximen, Richtlinien, sie sind nicht `konstitutive´, sondern bloß `regulative´ Prinzipien, nicht ein realer Gegenstand unseres Verstandes, sondern ein ideales Ziel unserer Vernunft … die nichts anderes ist als das Vermögen, Ideen zu bilden.“

Ohne Zweifel hatte Kant hier auch die Idee der Freiheit und eine freie Gesellschaft im Sinn – die mit seiner Einsetzung der Vernunft verbundene Aufforderung, sich mutig seines eigenen Verstandes zu bedienen, zielte ja genau daraufhin. Kant wollte den Menschen die Angst nehmen – letztlich jene Angst, aus der Thomas Hobbes in „Leviathan“ (1651) unter dem Eindruck der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges noch die gesellschaftliche Ordnung im Sinne eines Gesellschaftsvertrags hervorgehen läßt: Hobbes zufolge lebt der Mensch im Naturzustand unter der Herrschaft der ungehemmten Gewalt, der Barbarei. Hier herrsche ein anarchischer „Krieg aller gegen alle“, das heißt die ursprüngliche Gleichheit aller Menschen bedeutete gleichzeitig die Möglichkeit eines jeden Menschen, jeden anderen zu töten. Durch die Einsetzung eines „Gesellschaftsvertrages aller mit allen“ nun, indem die Menschen, um ihr Leben zu schützen, das Recht auf Gewalt, das Gewaltmonopol, an die realpolitische Instanz des Souveräns (Staat) übertragen, der so die gesellschaftliche Ordnung garantieren soll, wird Sicherheit gestiftet und der Mensch von seiner Angst befreit.

Die Todesfurcht, war für Hobbes dabei das entscheidende Motiv für den Menschen, ein vertraglich verbindliches Gemeinwesen mit den anderen einzugehen. Hobbes schreibt in diesem Zusammenhang: „Genug von dem bloßen Naturzustand des Menschen, aus dem er nur durch Vernunft und gewissermaßen auch durch seine Leidenschaften gerettet werden konnte. Die Leidenschaften, die die Menschen zum Frieden unter sich geneigt machen können, sind: die Furcht überhaupt und insbesondere die Furcht vor einem gewaltsamen Tod, ferner, das Verlangen nach den zu einem glücklichen Leben erforderlichen Bedürfnissen, und endlich die Hoffnung, diese sich durch Anstrengung wirklich zu verschaffen. Die Vernunft aber liefert uns einige zum Frieden führende Grundsätze …“

Um die Menschen aus ihrem angstbehafteten Naturzustand – und die Angst vor einem strafenden Gott gehört hier für ihn, wie schon für Hobbes, hinzu – zu befreien, formulierte Kant nun ganz in diesem Sinn von der praktischen Vernunft diktierte moralische Grundsätze als gesellschaftliche Handlungsanweisung: So wie seine „Kritik der reinen Vernunft“ von den Gesetzen des Erkennens handelt, wollte er den Menschen mit seiner nächsten Veröffentlichung, der „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788), die Gesetze des Handelns mit auf den Weg geben. Kant erklärt dort, dass Ideen wie jene der Freiheit zwar über unsere Erfahrung hinausgehen, dass wir aber auf praktischem Weg zu ihnen gelangen können, indem wir sie, wie Friedell des weiteren ausführt, „vermöge unseres sittlichen Willens zu subjektiven und persönlichen Gewissheiten, zu Gegenständen unseres Glaubens machen. (…) Wie die theoretische Vernunft der Erscheinungswelt die Gesetze diktiert, so gibt die praktische Vernunft sich selbst das Sittengesetz, und dieses lautet: `Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.´“

An die Stelle kirchlicher Dogmen setzt Kant das Sittengesetz – das für ihn gewissermaßen als moralisches Grundgesetz, als Gesellschaftsvertrag fungiert: es ist sein Vertrag für eine freie und egalitäre Gesellschaft. Denn wie auch die Naturgesetze existiert der Gesellschaftsvertrag für ihn bereits a priori in uns – für jeden gleich: „Unsere Begriffe von Gut und Böse stammen so wenig aus der Erfahrung wie unsere Anschauungen von Raum und Zeit“, schreibt Friedell hierzu. Vielleicht nirgends deutlicher als hier bringt Kant, wie Arsenij Gulyga in seiner Biographie „Immanuel Kant“ (1981) bemerkt, Leibniz` Prinzip des zureichenden Grundes mit dem menschlichen Handeln zusammen – wodurch allerdings ein Problem entstehe, das Gulyga als „Problem der Freiheit“ identifiziert: Kant formuliert das Sittengesetz als kategorischen Imperativ und insofern als Ausdruck einer absoluten Ethik – er schreibt aber auch davon, dass wir das Sittengesetz aus Pflichtgefühl beachten sollen. Als sinnliche Wesen sind wir nämlich nur „der Naturnotwendigkeit unterworfen“, wie Friedell bemerkt, „als moralische Wesen sind wir frei“. Dadurch aber können wir auch – anders als noch bei Leibniz, wo alles vorherbestimmt ist – moralische Schuld auf uns laden.

Kant trennt das natürlich und moralisch Böse voneinander, das heißt, das natürlich Böse hat hier überhaupt keinen Sinn mehr: in der von Gott geschaffenen Welt existiert das Böse zwar, aber gewissermaßen nur als moralisch Böses – Schuld liegt ausschließlich beim Menschen. Um es zu vermeiden, uns schuldig zu machen, müssen wir das Sittengesetz aber beachten wollen. Denn bei Kant gibt es zwar eine Freiheit des Willens, aber nur, wie Gulyga schreibt, „als bewußte Determinierung der Handlung in dem Sinne, daß die Motive der Vernunft am Willensakt beteiligt sind“. Umgekehrt bedeutet das, dass nur der unvernünftig Handelnde schuldig wird. Aber wie dann eben Jean Baudrillard (1929-2007) schreibt: „Die Unvernunft siegt in jedem Fall – eben darin besteht das Prinzip des Bösen.“

Etwas wollen müssen oder etwas wollen müssen – das ist unlogisch, ein innerer Widerspruch, wie Voltaires „Erdenhölle“ ein Oxymoron, in dem aber zumindest das Sowohl-als-auch begrifflich ausgedrückt wird. In Hinblick auf den Gesellschaftsvertrag nämlich ist der inhärente Widerspruch weniger offensichtlich, aber er besteht hier dennoch: Denn Hobbes begriff den Naturzustand nicht als eine geschichtliche Epoche die dann durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Ordnung abgelöst wird – sondern als allgegenwärtige Gefahr für die moderne Zivilisation, jederzeit wieder in diesen Zustand der Barbarei, der Grausamkeit, zurück zu fallen. Hobbes, der Ordnung, Sicherheit und Gerechtigkeit durch den Staat (Souverän) garantiert sieht, schreibt dazu: „Man kann die Lebensweise, die dort, wo keine allgemeine Gewalt zu fürchten ist, herrschen würde, aus der Lebensweise ersehen, in die solche Menschen, die früher unter einer friedlichen Regierung gelebt haben, in einem Bürgerkrieg abzusinken pflegen“ und ergänzt: „Einigkeit ist gesunder, Aufruhr hingegen kranker Zustand und Bürgerkrieg der Tod“.

Hier, in der Gefahr einer sozialen Katastrophe von Innen heraus, dem Ausbruch einer von der Vernunft im Zivilisationsprozess nie wirklich gebändigten Gewalt, „deutet sich die Gedankenfigur eines switch an, der die Hobbessche Trennung von Sicherheit und Gefahr demontiert – es könnte die Anstrengung, sich Sicherheit zu verschaffen, selbst äußerste Gefahren heraufbeschwören“, schreibt Jan Philipp Reemtsma in diesem Zusammenhang in seinem Beitrag für den Band „Modernität und Barbarei“, veröffentlicht 1996. Das ist das Jahr, in dem Reemtsma entführt und eingekerkert wurde; er weiß also um die zivilisatorische Kehrseite – und er erkennt, dass in dieser „Kippfigur“ „(n)icht das Gegenteil – vernachlässigt, provoziert, gehegt, geheckt – Macht über die Zivilisation (gewinnt), sondern etwas wird sein eigenes Gegenteil“. Die Katastrophe tritt hier nicht mehr – wie noch bei der Naturkatastrophe – von Außen ein, sondern die Verhältnisse im Inneren der Gesellschaft kippen um. Genau das ist die „Dialektik der Aufklärung“ (1947), wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schreiben: Wenn „die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“, wenn „der Fortschritt in den Rückschritt um(schlägt)“. (Wie etwa bei Voltaire, der sich – wie auch die anderen Aufklärer – „Philosoph“, „Freund der Weisheit“, nennt und sich der Vernunft verschrieben hat, sein Geld aber wie selbstverständlich im Sklavenhandel anlegt.)

Die Angst vor dem Rückfall in die Barbarei infolge des Zerfalls staatlicher Macht ist allen modernen Gesellschaften implantiert, sagt Reemtsma, und „hat sein Gegenstück in einer weiteren Obsession der Moderne: der Fetischisierung des Konsenses als letztem und eigentlichem Ziel all unserer Bemühungen“, insbesondere unserer demokratiepolitischen. Hobbes hat einen Staat konstruiert, in dem keine Politik stattfindet, bemerkt Reemtsma. Das aber bedeute umgekehrt, dass Politik „vor allem durch eines gekennzeichnet (ist): Unsicherheit, und sie ist so eine ständige Bedrohung des Hobbesschen Sicherheitsversprechens.“ Nicht zuletzt hierin liege der Grund für die immer wieder zu beobachtenden demokratiefeindlichen Versuche, Politik als gesellschaftlichen Aushandlungsprozess ganz abzuschaffen.

Kleist und die Sprache der Gewalt

„Oft fährt die Gewalt nahezu in die Sprache selbst“, schreibt Jan Philipp Reemtsma in einem Essay zu Heinrich von Kleist (1777-1811). Wohl bei niemandem vor ihm kam die rational nicht begründbare barbarische Gewalt, der Blutrausch in seiner schrecklichsten Grausamkeit, deutlicher zur Sprache. „Die Gewalt, die ihren Zweck in sich selber findet, ist eines der finstersten Geheimnisse überhaupt, und die Modernität Kleists besteht darin, dass er ihm so nahe gekommen ist wie kein anderer“, schreibt Ulrich Greiner in seinem Artikel „Bis an die Grenze des Sagbaren“ (2011) in diesem Zusammenhang. Insbesondere „Das Erdbeben von Chili“ (1807) ist diesbezüglich von beispielhafter Fürchterlichkeit.

Beim Titel der Novelle bezieht sich Kleist zwar auf das Erdbeben, das die chilenische Hauptstadt Santiago 1647 verwüstet hat, er verarbeitet in der Erzählung aber zahlreiche Fakten des Erdbebens von Lissabon 1755, sodass seine Beschreibungen insgesamt, wie Monika Schmitz-Emans in ihrem Essay „Literarische Echos auf Lissabon 1755“ (2012) schreibt, „größere Affinitäten zu Darstellungen dieses Erdbebens als zu dem in Santiago auf(weisen)“. Dass sich das Erdbeben bei Kleist am Morgen von Allerheiligen ereignet ist sicherlich das deutlichste Indiz, Spekulationen über ein göttliches Strafgericht, die den katholischen Klerus zu strengen Buß- und Mahnpredigten veranlassen, ein weiteres. Diese Predigten führen in Kleists Novelle dazu, dass ein uneheliches Liebespaar wegen ihrer in der Öffentlichkeit als skandalös geltenden Verbindung für ein Erdbeben verantwortlich gemacht wird, dem tausende Menschen zum Opfer gefallen sind. Die beiden überleben die Katastrophe, werden dann aber kurze Zeit darauf in einer Kirche von einem – vom Priester aufgehetzten – gewaltsamen Mob gelyncht. So überleben sie zwar zunächst die Naturgewalt, nicht aber die ihrer Mitmenschen (in der Novelle ist die Säkularisierung noch nicht angekommen – und das Opfer des Sündenbocks ein schneller Prozess).

Kleist schreibt hier über eine Naturkatastrophe zur Zeit einer historischen Katastrophe – beide zeitigen für ihn aber das gleiche Ergebnis: sowohl das Erdbeben als auch Napoleon sorgen für einen Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung und ihre Auflösung in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Allein, Kleist hat die Hoffnung auf eine dauerhafte Verwirklichung dieser Ideale durch einen auf Grundlage eines nach Vernunftgründen eingerichteten Gesellschaftsvertrags schon längst aufgegeben – spätestens mit der Belagerung von Mainz (1792) durch französische Truppen, die er als preußischer Soldat selbst miterlebt hat. Schockierender aber dürfte für ihn – wie für alle, die zunächst noch mit der Revolution sympathisiert haben – die anschließende Terrorherrschaft 1793-94 der französischen Revolutionäre gewesen sein. Jedenfalls hält die Schicksalsgemeinschaft der Erdbebenopfer in der Novelle nicht länger als die Gesellschaftsutopie von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – schon bald regiert, hier wie dort, die rohe Gewalt.

Kleist erlebt den gesellschaftlichen Umsturz als Katastrophe insofern, als dadurch nur die alte Ordnung aufgelöst wurde, aber nicht absehbar ist, was an seine Stelle treten könnte. Woran soll er Glauben, was soll er hoffen? Es gibt für ihn keine Gewissheit und keinen Halt mehr, „sondern nur Haltlosigkeit, Entstabilisierung aller Lebens- und Denkzusammenhänge“, wie Günter Blamberger in „Heinrich von Kleist“ (2011) schreibt. Die Unsicherheit stürzt ihn in eine Krise. Auf seine unnachahmliche Weise schreibt Stefan Zweig in „Der Kampf mit dem Dämon“ (1925), dass „(a)lle Lebenspläne, die er methodisch entworfen, zerfetzt (sind), vom Sturm des Schicksals; nun lebt er den Willen … seiner Natur, die aus unendlicher Qual des Menschen Unendliches zu formen liebt.“ Schmitz-Emans zufolge variiert er in diesem Sinn in der Novelle sein „dominante(s) Thema des Sündenfalls und der irreversiblen Entzweiung vom Ursprung. (…) Der `Sündenfall´ der Liebenden steht für den Beginn der Menschheitsgeschichte; das Erdbeben und der Kollektivmord in der Katastrophe stehen für die beiden Typen von Kräften, welche die Weltgeschichte prägen: für die Gewalt der Natur und für die menschliche Gewalt.“

Das tragische Ende der Novelle macht, so Schmitz-Emans weiters, „die Verblendung all derer, die sich in einer sozialen Ordnung aufgehoben wissen möchten, nur umso drastischer bewusst. Kleist `erledigt´ das Modell `Vorsehung´ auf so unpathetische wie radikale Weise. Entweder es gibt keinen Gott, oder dieser ist ein Sadist. Die Natur ist sinnlos, der Mensch aber monströs …“

Kleist beschreibt den barbarischen Gewaltausbruch am Ende der Novelle so: „Don Fernando, als er Constanzens Leichnam erblickte, glühte vor Zorn; er zog und schwang das Schwert, und hieb, daß er ihn gespalten hätte, den fanatischen Mordknecht, der diese Greuel veranlaßte, wenn derselbe nicht, durch eine Wendung, dem wütenden Schlag entwichen wäre. Doch da er die Menge, die auf ihn eindrang, nicht überwältigen konnte: leben Sie wohl, Don Fernando mit den Kindern! rief Josephe – und: hier mordet mich, ihr blutdürstenden Tiger! und stürzte sich freiwiliig unter sie, um dem Kampf ein Ende zu machen. Meister Pedrillo schlug sie mit der Keule nieder. Darauf ganz mit ihrem Blute besprüzt: schickt ihr den Bastard zur Hölle nach! rief er, und drang, mit noch ungesättigter Mordlust, von neuem vor./ Don Fernando, dieser göttliche Held, stand jetzt, den Rücken an die Kirche gelehnt; in der Linken hielt er die Kinder, in der Rechten das Schwert. Mit jedem Hiebe wetterstrahlte er einen zu Boden; ein Löwe wehrt sich nicht besser. Sieben Bluthunde lagen tot vor ihm, der Fürst der satanischen Rotte selbst war verwundet. Doch Meister Pedrillo ruhte nicht eher, als bis er der Kinder eines bei den Beinen von seiner Brust gerissen, und, hochher im Kreise geschwungen, an eines Kirchpfeilers Ecke zerschmettert hatte. Hierauf ward es still, und alles entfernte sich. Don Fernando, als er seinen kleinen Juan vor sich liegen sah, mit aus dem Hirne vorquellenden Mark, hob, voll namenlosen Schmerzes, seine Augen gen Himmel.“

„So radikal hat keiner geschrieben“, schreibt Greiner. Der Mensch ist hier gewissermaßen in den hobbes`schen Naturzustand zurückgekehrt – es ist wie im Krieg aller gegen alle. Die Gewalt aber inszeniert Kleist nicht allein inhaltlich, sondern schon seine Sprache ist Gewalt – ganz unabhängig von der grauenhaften Szene. Wendet man seinen Blick davon ab und auf die Sprache selbst, „fällt zuerst die regelwidrige Interpunktion auf“, so Greiner. „Kleist benutzt die Satzzeichen als rhythmische Markierungen, er verwendet sie wie ein Schlagzeug, um den Exzess anzufeuern. Nicht allein das, was diese Satzkaskade schildert, ist Gewalt, sondern der sprachliche Sturzbach selber ist Gewalt, eine Gewalt, die das Sprachgefüge bis ins Innerste zum Beben bringt, aber niemals zum Einsturz.“ In diesem Sinn, fasst er zusammen, gleichen Kleists Satzgefüge „Brücken, die gewaltige Schluchten überspannen. Wer sie betritt, fürchtet ihren Einsturz, aber sie halten.“

Greiner verwendet hier ein Bild zur Beschreibung von Kleists Textgefüge, das bereits Kant in Hinblick auf unsere brüchige zivilisatorische Grundlage benutzte, als er von dem einsturzgefährdeten Gewölbe sprach. Kleist selbst nun greift diesen Gedanken auf und macht ihn gewissermaßen zu einem Lebensgleichnis: neben der Skizze eines Würzburger Torbogens schreibt er im November 1800 in einem Brief, dass dessen Gewölbe, der Rundbogen auf den beiden Pfeilern, nur steht, „weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen“. Auch wenn Kleist hier nicht berücksichtigt, dass der Mittelstein im Bogen nur deshalb hält, weil die horizontalen Kräfte durch Widerlager aufgefangen werden, zieht er aus diesem Gleichnis, wie er sagt, „einen unbeschreiblich erquickenden Trost, … daß auch ich mich halten würde, wenn Alles mich sinken lässt“. Es ist jedenfalls dieses Bild vom „Sturz aus Halt“, diese „paradoxe Kipp-Figur“, wie Blamberger schreibt, die dann immer wieder in seinen Texten auftaucht, besonders offensichtlich beispielsweise in Prothoes Aufforderung an Penthesilea: „Steh, stehe fest, wie das Gewölbe steht, / Weil seiner Blöcke jeder stürzen will!“

Es ist dieses Gleichnis, der Sturz im Halt, der ihm dann schon bald – während der sogenannten Kant-Krise, von der Kleist erstmals im nachfolgenden Jahr, 1801, in dem eingangs zitierten Brief berichtet – zum Gesetz wird, wie Blamberger ausführt, nämlich zum „Gesetz des Widerspruchs“: Kleist folgte hier dem um 1800 entdeckten „Gesetz der Verteilungselektrizität“, das als zentrales Naturgesetz, der damaligen Auffassung nach, physikalische wie moralische Erscheinungen gleichermaßen regierte und das von einem Zeitgenossen folgendermaßen beschrieben wurde: „Die Wirkung selbst, welche ein elektrisirter Körper auf einen anderen nicht elektrisirten Körper, der in seine Atmosphäre gebracht worden ist, äußert besteht überhaupt darin, daß er in ihm durch die Kraft der elektrischen Materie, ihres Gleichen zurückzustoßen, oder andere Materie anzuziehen, diejenige Electricität erweckt, welche der seinigen entgegengesetzt ist.“

Kleist fasziniert sich für die polare Kontaktelektrizität – es ist, als ob er hier für das, was er bisher nur als Gleichnis formulierte, ein Naturgesetz gefunden hätte. Mit dem hier beschriebenen Prinzip der Dualität von Anziehung und Zurückstoßung nimmt er jedenfalls ein zentrales Element der Elektrizitätslehre seiner Zeit als „gegensätzisches Prinzip“, wie man damals sagte, in sein Denken auf und bezieht es dann auch auf Gefühle, Affekte, Eigenschaften und Charaktere (wie beispielsweise „Michael Kohlhaas“ (1810), „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“, der nach erlittenem Unrecht zur mörderischen Rache schreitet). Allerdings hebt er Polarität nicht wieder dialektisch auf und verzichtet insofern auf einen Ausgleich. „Solche Kipp-Figuren gibt es bei Kleist viele, die `balance of power´, die dem Wechselspiel der Kräfte ein Ende setzen könnte, dagegen selten“, schreibt Blamberger in diesem Zusammenhang. Aber genau „(i)n dieser Verweigerung liegt u.a. seine Modernität“. Denn Kleist erkennt genau in dieser gegensätzlichen Polarität eine verborgene Einheit – wie schon bei den widersprüchlichen Kräften im Gleichnis vom Sturz im Halt.

Das „gegensätzische Prinzip, in dem das Unterschiedene untrennbar miteinander zu einer Einheit verbunden ist, lässt sich auch, wie Blamberger ausführt, in der Metapher eines Wettkampfs ausdrücken, in dem der Kampf die Kämpfer zumindest für eine gewisse Zeit vereint. Kleist selbst jedenfalls benutzt diese Metapher, wenn er das Leben als Ringkampf mit immer neuen, wechselnden Gegnern beschreibt, wie im Jahr vor seinem Selbstmord in „Von der Überlegung“ (1810): „Das Leben selbst ist ein Kampf mit dem Schicksal; und es verhält sich auch mit dem Handeln wie mit dem Ringen. Der Athlet kann, in dem Augenblick, da er seinen Gegner umfasst hält, schlechthin nach keiner anderen Rücksicht, als nach bloß augenblicklichen Eingebungen verfahren; und derjenige, der berechnen wollte, welche Muskeln er anstrengen, welche Glieder er in Bewegung setzen soll, um zu überwinden, würde unfehlbar den kürzeren ziehen, und unterliegen. Aber nachher, wenn er gesiegt hat oder am Boden liegt, mag es zweckmäßig sein und an seinem Ort sein, zu überlegen, durch welchen Druck er seinen Gegner niederwarf … Wer das Leben nicht, wie ein solcher Ringer umfasst hält, und tausendgliedrig, nach allen Windungen des Kampfes, nach allen Widerständen, Drücken, Ausweichungen und Reaktionen, empfindet und spürt: der wird, was er will, in keinem Gespräch, durchsetzen; viel weniger in einer Schlacht.“

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Francisco de Goya (1746-1828), Duell mit Knüppeln (1820-23), Museo del Prado, Madrid

Für Kleist herrscht im Wettkampf ein Polarverhältnis, bei dem, wie Blamberger schreibt, „die Schwäche des einen die Stärke des anderen ist. Ein Kampf trennt und vereint die Kämpfer zugleich, diese Einheit ist vergänglich und relativ, kein statisches, sondern ein dynamisches Gleichgewicht.“ An Kleists Betrachtungen solcher Kämpfe macht Blamberger zentrale Aspekte von Kleists „Faszination von riskanten Bewegungen“ fest (die auch in seiner Erzählung „Über das Marionettentheater“ zum Ausdruck kommt). Jedenfalls kann von einer kausalen Entwicklung oder rationalem Handeln hier keine Rede mehr sein, eher von einer diskontinuierlichen Bewegung von Kampf zu Kampf: „Früher oder später führt der Kampf zu Sieg oder Niederlage und damit zur Auflösung der gegebenen Entgegensetzung und potentiell zur Situation einer neuen Entgegensetzung“, schreibt Blamberger.

Anders als in den sich entwickelnden Naturwissenschaften seiner Zeit, wo es insbesondere auch um die Vermeidung von Risiken durch Naturkatastrophen geht, ist Kleist, wie Blamberger schreibt, „zunehmend fasziniert von den Augenblicken des Kontrollverlusts und den in diesen Augenblicken zu entdeckenden Figuren der Steuerung, also den Verhaltensformen des Risikos“. Deutlich wird das beispielsweise an seinen Ausführungen zum Leben als Kampf, wo es „(d)ie Logik situativen Handelns ist“, wie Blamberger bemerkt, „dass Wissen erst im Handeln generiert wird und nicht umgekehrt Wissen und Pläne einfach in Handlungen transformiert werden können.“ Kleist selbst schreibt, dass die Überlegung „ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat (findet). Wenn sie vorher, oder in dem Augenblick der Entscheidung selbst, ins Spiel tritt: so scheint sie nur die zum Handeln nötige Kraft, die aus dem herrlichen Gefühl quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu unterdrücken; dagegen sich nachher, wenn die Handlung abgetan ist, der Gebrauch von ihr machen lässt, zu welchem sie dem Menschen eigentlich gegeben ist, nämlich sich dessen, was in dem Verfahren fehlerhaft und gebrechlich war, bewusst zu werden, und das Gefühl für andere künftige Fälle zu regulieren.“ (Kleist formuliert hier eigentlich ein Konzept von Performativität, dass sich klar von der Inszenierung unterscheidet und sich gegen jede Form von Theatralität wendet.)

Dass Kleist das Risiko nicht scheut, sondern sucht, wird auch an seinem Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (1805) deutlich, wo er davon spricht, dass die Gedanken beim Sprechen selbst erst entstehen („l`idée vient en parlant“). Dazu passt auch seine Praxis, den Gegner im rhetorischen Duell „aus dem Stegreif“ zu widerlegen: „Stegreif“, bemerkt Blamberger, „ist ein altes Wort für Steigbügel. Wer in den Steigbügeln bleibt, aus dem Stegreif einen Entschluss fasst, spricht etc., der handelt sozusagen in der Bewegung, ohne den Stillstand der Reflexion zu suchen.“ Kleist praktiziert so eine Rhetorik, die „tatsächlich erst in der `Klemme´ ihre ganze Effektivität entfaltet“.

So wird der Kampf, der Widerstreit – ob rhetorisch oder körperlich – für Kleist letztlich zu einer Art „Laboratorium zur Beobachtung von Bewegungsgesetzen in nichtplanbaren Situationen“, wie Blamberger sagt (Kleist stelle beispielsweise in seinem 1808 verfassten Drama „Hermannsschlacht“, wie er ausführt, „Anweisungen zum Handeln in der gegenwärtigen Wirklichkeit“ bereit und führt vor, wie man den Befreiungskrieg als beweglichen Partisanenkampf nach dem Vorbild des spanischen Widerstandes gegen Napoleon organisieren kann). Für Blamberger überlässt sich Kleist dabei der Macht der Kontingenz – sie wird, wie der Widerspruch, zu einem „generativen Kern von Kleists Leben und Schreiben. Krisen, Risiken, Zufälle entdeckt er als Quelle des Neuen.“ Sicherheit hingegen – das gibt es nicht in diesem Leben, auch Gewissheit nicht, das erfährt Kleist durch Kants „traurige Vernunft“, wie er sie nennt. Jederzeit möglich ist allein die Katastrophe. Und so geht es Kleist mit dem „Motiv des Bebens“, wie Schmitz-Emans meint, auch nicht mehr „um die theologische bzw. teleologische Auslegung von Naturkatastrophen, sondern um ein Sinnbild für die Situation des Menschen in der Moderne, für die `Bodenlosigkeit´ äußerer wie innerer Erfahrung“. Ganz in diesem Sinn bemerkt auch Stefan Zweig: „Kleist war überspannt im Sinne von: zu viel gespannt, er war von seinen Gegensätzen ständig auseinandergerissen und beständig bebend in dieser Spannung …“

Halt hat Kleist zeitlebens nicht gefunden – nicht in seinen Texten, in der Liebe ohnehin nicht.„Eine ganze Meute von Unglück hetzt hinter ihm her“, schreibt Zweig, „(w)as immer ihn bewegt, wird zu Krankheit und Exzeß“. Manchmal „strömt er beinahe über von lechzender Sehnsucht nach dem Ende, nach jenem letzten Hinab in die letzte Tiefe. Immer weiß er um den Abgrund, aber er weiß nicht, ob er vor ihm liegt oder hinter ihm, ob er das Leben ist oder der Tod (…) Sein ganzes Leben ist ein einziges Flüchten vor dem Abgrund …“ Am Ende ist er „der Qual müde“, schreibt Zweig, und wirft sich in die Tiefe – kapituliert vielmehr –, und verübt Selbstmord am Berliner Wannsee. „In der Tat: er verstand es besser, zu sterben als zu leben“, bemerkt Zweig und schließt mit der Bemerkung: „Oft ist ein guter Tod der beste Lebenslauf.“

Fortschritt als Katastrophe

Wenn man, wie Kleist, von einer Meute von Unglück durchs Leben gehetzt wird, verwandelt sich der Begriff der Katastrophe von einem Ereignis- in einen Zustandsbegriff. Die schreckliche Katastrophe ist dann die Kontinuität selbst, die Fortführung des Jetzt. Am prägnantesten hat das, darauf verweist Eva Horn, Walter Benjamin in Zusammenhang mit „Charles Baudelaire“ (1939) auf den Punkt gebracht: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es `so weiter´ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene. Strindbergs Gedanke: die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier.“

Diesem Gedanken entspringt auch sein Engel der Geschichte aus den „Geschichtsphilosophische Thesen“ (1940), eigentlich eine Bildbeschreibung von Paul Klees „Angelus Novus“, das Benjamin im Jahr 1921 erworben hat. Darauf ist ein Engel dargestellt, der, wie Benjamin schreibt, „das Antlitz der Vergangenheit zugewendet (hat). Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Für Benjamin ist die gesamte Menschheitsgeschichte seit der Vertreibung aus dem Paradies nichts als eine ununterbrochene Kette von Katastrophen – bis in der Moderne das Risiko gewissermaßen auf Dauer gestellt ist. Wenn man „Moderne“ überhaupt definieren kann, dann vielleicht am ehesten damit, dass hier allmählich der Mensch in die Rolle des rational handelnden Subjekts tritt, das – unter Berücksichtigung der Wechselbeziehungen, in die Natur und Gesellschaft eingebunden sind – auch und gerade Katastrophen verursacht: Nicht mehr der strafende Gott, sondern die Hybris menschlichen Eingreifens in die Welt wird zur Ursache des Unglücks. Der technische Fortschritt in Zusammenhang mit der Industrialisierung hat das Risiko für Katastrophen dabei nur noch potenziert.

Ulrich Becks Risikogesellschaft

Seit dem Erdbeben von Lissabon wächst das Bewusstsein für das Risiko von Katastrophen. Das Erdbeben markiert so gewissermaßen den Beginn einer neuartigen Entwicklung und wird insofern auch zu einem entscheidenden Ereignis für die Formierung der Gesellschaft hin zur modernen „Risikogesellschaft“ (1986), als die sie dann der Soziologe Ulrich Beck (1944-2015) charakterisierte: Eine Gesellschaft, die sich durch selbst erzeugte Gefährdungen und Risiken durch komplexe technische Systeme auszeichnet, die global, nicht wahrnehmbar und deren Folgen letztlich auch unabsehbar sind. Für ihn sind es unabsehbare Risiken und Gefahren durch Technologien, die zu nicht vorhersehbaren gesellschaftlichen Veränderungen führen. In diesem Sinn auch bezeichnet Beck die Gesellschaft als eine „katastrophale Gesellschaft“, in der „der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden droht“. (Katastrophen schaffen keine neue moralische Realitäten, bemerkt Susan Neiman in diesem Zusammenhang, sondern nur deren Deutung.)

Am Anfang dieser Entwicklung, wo sich überhaupt erstmals eine Vorstellung von Risiko durch Naturgewalten herausbildete, glaubte man noch, sich gleichsam vorsorglich dagegen versichern zu können. Mit der Versicherung jedoch ersetzt die Wahrscheinlichkeit das newtonsche Kausalgesetz: Das Interesse am Wissen um die eigenen Unbekannten verlagert sich weg von den Erkenntnis der empirischen Welt hin zu einem Wissen, das sich, wie Eva Horn erklärt, „eher in Wahrscheinlichkeitsberechnungen … niederschlägt“. Die Idee der Versicherung stammt aus der Seehandelsschifffahrt in der langsam beginnenden Renaissance in Italien, wie Thomas Blanke in „Politik in der Risikogesellschaft“ (1991) in diesem Zusammenhang bemerkt. Parallel dazu etablierte sich der aus dem Altgriechischen und dem Arabischen stammende Begriff risco („Klippe“) für das Umschiffen gefährlicher Felsen. Unabdingbar für solche Versicherungen ist jedoch eine vorausgehende rationale Berechnung der Gefahren – und das heißt insbesondere die Erstellung eines Wahrscheinlichkeitskalküls. Erst wenn diese Kalkulation unterbleibt, wird der Unfall gegebenenfalls zur Katastrophe.

Um den Umschlag zur Katastrophe zu verhindern, ist man von nun an aber dazu aufgefordert Verantwortung zu übernehmen und sich vorsorglich gegen Risiken abzusichern – oder aber in Technik zu investieren, um Gefahren abzuwehren. So wurde aus der unberechenbaren Bedrohung durch Naturgewalten, wie Claus Leggewie und Harald Welzer in diesem Zusammenhang in „Das Ende der Welt wie wir sie kannten“ (2011) bemerken, „die bewusst eingegangene (und im wahrsten Sinne des Wortes versicherbare) Beziehung zu einer Natur, deren Risiken permanent durch Technik gezähmt werden müssen (…) (D)ie für die Neuzeit grundlegende Dichotomie zwischen Natur und Gesellschaft“ etablierte sich gerade über diesen Glauben, die Naturgewalten über die Technik kontrollieren zu können.

Je komplexer die anthropogenen technischen Systeme allerdings wurden, desto mehr entzogen sie sich den Möglichkeit menschlicher Kontrolle – und wurden damit selbst zu einem Risiko, wie beispielsweise bei der Reaktortechnik. Genau hier schlägt der Fortschritt um und es erwächst aus der Anstrengung, sich Sicherheit zu verschaffen, selbst die äußerste Gefahr, wie Reemtsma erklärt hat: Denn mit dem technischen Fortschritt ist eine kritische Infrastruktur gewachsen, mit der nun auch eine völlig neue Art von Risiko entstanden ist, nämlich das unkalkulierbare Risiko: Risiken sind hier nicht mehr – wie noch für Kleist – persönliche Gefahrensituationen, gegen die man sich gleichsam versichern könnte, sondern inzwischen „globale Gefährdungslagen“ mit der Möglichkeit der „Selbstvernichtung des Lebens auf der Erde“, wie Beck schreibt.

Zahlreiche ökologische Katastrophen haben klar gemacht, dass die Gefahren komplexer technischer Systeme den Un(glücks)fall längst abgeschafft haben – jedenfalls als räumlich und zeitlich begrenztes Ereignis. Tschernobyl ist in diesem Sinn, wie Eva Horn bemerkt, „der Prototyp des Unfalls als Zivilsationskatastrophe“. Hier ist keine Naturgewalt wirksam, sondern nichts als die Interaktion des des Menschen mit der von ihm geschaffenen Technik. Der Unfall ist so, Horn folgend, „die spezifische Katastrophe der Moderne, denn er ist essentiell an einen fortgeschrittenen Stand der Technik gebunden. (…) (D)ie aller Technik immer schon immanente Störung ist die eigentliche Signatur des modernen Katastrophismus. Im Unfall enthüllt sich das Wesen des Technischen als immer schon angelegte Tendenz zur Dysfunktion, zur Zerstörung, zum Katastrophischen. (…) GAU ist der `Größte Anzunehmende Unfall´ oder `Auslegungsstörfall´; der „Super-GAU“ dagegen seine nicht-antizipierbare, nicht-verhinderbare Überschreitung.“

Zwar müssen komplexe technische Systeme immer auch auf mögliche Störungen hin ausgelegt sein, Unfälle als Zivilisationskatastrophen aber halten sich nicht mehr an solche Regeln der Auslegung, sondern gehen ihrem Wesen nach „über die Plan- oder Vorhersehbarkeit des GAU hinaus. Tschernobyl war kein GAU, sondern eben dessen massive Überschreitung“, schreibt Horn. Komplexe technische Systeme tragen insofern einen solchen Unfall, für den sie eben nicht mehr ausgelegt sind, immer schon in sich, weshalb die Katastrophe so „das immanente Wesen der Technik (offenbart): die Störung, die Entgleisung, die Fehlfunktion, die jedem Funktionieren immer schon innewohnt“ – so, wie sich die Katastrophe bei Aristoteles, die Peripetie, auch immer aus dem Handlungsverlauf selbst entwickelt und nicht wie beim deus ex machina von Außen kommt. Die Regeln strikter Kausalität sind hier nicht anwendbar, es gilt das Kontingenzprinzip, oder anders formuliert: Jeder Unfall ist, wie Horn ausführt, „die `Zukunftsform´ einer jeden Technologie (…) Die Katastrophe wirkt unsichtbar und unabsehbar fort und entwirft so ihre eigene katastrophische Zukunft – eine Zukunft der Angst.“ Und zwar nicht erst, seit die Kriegsfront mitten durch Saporischschja verläuft …

Bei solchen Gefahren und Risiken versagt das Wahrscheinlichkeitskalkül der Versicherung, das lange noch der gebräuchliche Umgang mit der Angst war: Risikokalkulation, Versicherung und Entschädigung haben, wie Beck sagt, „die Rationalität in der Unsicherheit einer offenen Zukunft verbürgt, annähernd gerecht mit den Folgen umgehen zu können“. Angesichts der unkalkulierbaren Risiken komplexer technischer Systeme jedoch hat dieses Prinzip der Vergesellschaftung von Gefahren zu Risiken seine Bedeutung verloren. So hat der technische Fortschritt letztlich mit seinen unabsehbaren Risiken auch „einen Gesellschaftsvertrag aufgekündigt“, wie Beck sagt.

Der Fortbestand der Gesellschaft im Anthropozän ist nicht länger von unzureichend beherrschten inneren Widersprüchen (wie etwa noch für Karl Marx) bedroht oder äußeren Bedrohungen wie etwa Erdbeben oder anderen Naturgewalten, sondern von menschlich verursachten, selbsterzeugten Risiken, die aber inzwischen unabsehbar sind und sich im Unglücksfall auch nicht mehr kontrollieren lassen: „Die Prinzipiell nicht beherrschbaren Katastrophentechnologien, die sich aller menschlichen Erfahrungs- und Handlungsdimensionen von Raum und Zeit, Geschwindigkeit und Wahrnehmbarkeit entziehen, sind längst zur Realität geworden“, schreibt Blanke diesbezüglich. Und nicht zuletzt deshalb spricht Beck auch von einem „anthropologischen Schock“ in Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Gerade diese Katastrophe habe deutlich gemacht, dass sich die moderne Gesellschaft selbst zum dominanten Risiko geworden ist – das ist gewissermaßen die zentrale These von „Risikogesellschaft“.

Vom Ende der Naturbeherrschung

In den letzten Jahren hat das Bedrohungsszenario für die Menschheit, die „Weltrisikogesellschaft“ (2008), auch über die immanenten Gefahren komplexer technischer Systeme hinaus zugenommen, genauso wie das Risikobewusstsein. Das gilt insbesondere in Hinblick auf die menschlich verursachte Klimaerwärmung und hier besonders für sogenannte „Kipp-Punkte“ („tipping points“): kritische Schwellen im Klimasystem, deren Überschreitung mit katastrophalen, irreversiblen Veränderungen verbunden wären, wie in Hinblick auf die Erderwärmung beispielsweise die Zwei-Grad-Schwelle. „Der tipping point bezeichnet jenen Punkt“, schreibt Eva Horn, „in der ein vormals stabiler Zustand plötzlich instabil wird, kippt und in etwas qualitativ anderes `umschlägt´. (…) Er bezeichnet die Möglichkeit, dass durch die stetige Zugabe kleiner Mengen oder die Akkumulation von kleinen Schritten, winzigen Taten, alltäglichen Verhaltensweisen eine Situation kippt, aus der Balance gerät.“

Tipping points sind „(d)ie heute geläufige Metapher, die der alten Bildlichkeit des kata strephein (nach unten wenden) zu neuer Aktualität verholfen hat“, erklärt Horn. Denn genau hierin besteht die Vorstellung einer „Zukunft als Katastrophe“ als „exakte Verbindung von Kontinuität und Bruch“: Der Klimawandel insgesamt lässt sich nur schwer in bekannte Katastrophenereignisse einordnen, „(e)r ist kein solches Zäsurerreignis wie das welterschütternde Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755“, schreiben Leggewie und Welzer in diesem Zusammenhang, „bildet aber wie dieses eine Dauerirritation des Bewusstseins, die darin besteht, dass bald schon etwas Bestimmt-Unbestimmtes eintreten könnte“, wenn unser Wachstum ganz im benjaminschen Sinne fortschreitet wie bisher. Einzelne tipping points markieren demgegenüber in einer nie dagewesenen Deutlichkeit die Grenzen dieses Wachstums. Anders als bei der Klimakatastrophe, die ingesamt als eine „Katastrophe ohne Ereignis“ wahrgenommen wird, kommt in den tipping points das gegenwärtige Bewusstsein einer Zukunft als Katastrophe deutlicher zum Ausdruck, eben „in einem Moment, wo die bloße Fortsetzung des Alltäglichen und Gewöhnlichen sich langsam zu einem katastrophischen Bruch aufaddieren könnte“, wie Horn schreibt. Tipping points markieren insofern jene Punkte, an denen ein bislang stabiles System disruptiv werden könnte (der Begriff der „Disruption“ leitet sich vom lateinischen Begriff „disrumpere“ von „platzen, zerbrechen, zerreißen“ her und bezeichnet insofern eine plötzliche Wesensveränderung eines Systems).

Gleichwohl ist die Klimaerwärmung nicht das einzige anthropogen verursachte Problem, sondern Leggewie und Welzer beschreiben mehrere Problemfelder (dazu gehören, abgesehen von Artensterben und Bodenerosion unter anderem auch das Ökosystem der Meere, der Sozialstaat oder die Finanzmärkte), die auf solche Kipppunkte zusteuern und die zusammen eine Art „Metakrise“ bilden, wie sie sagen. Diese Metakrise besteht gerade in der oben beschriebenen Kontinuität aller gegenwärtiger Tendenzen. Sie hat keine identifizierbaren „Schuldigen, keinen präzisen Moment oder einen begrenzbaren Ort, kein einzelnes Szenario“, wie Horn in diesem Zusammenhang bemerkt, sondern vielmehr zahlreiche „wahrscheinliche und unwahrscheinliche Zeitpunkte, Lokalitäten und Verlaufsformen“. In ihr dominiert das „dumpfe untergründige Gefühl …, dass die Fortsetzung des Gegenwärtigen, der `Fortschritt´ als Fortsetzung und Eskalation des Gegenwärtigen“ genau zu jener Zukunft führen wird die sich gravierend vom Gegenwärtigen unterscheiden wird – und zwar eben, wie Horn bemerkt, „nicht zum Guten“.

Zukunft der Katastrophe

Nicht erst seit Kant wurde die rationale Beherrschung der Natur zum Endzweck der Gesellschaft: es ging darum, Katastrophen in den Griff zu bekommen, insbesondere in den Griff der Technik. Gewachsen ist daraus eine kritische Infrastruktur, die – je komplexer die anthropogenen Systeme wurden – immer mehr selbst zum Risiko wurde. Zwar versuchte man, Risiken zu berechnen und Schwellenwerte festzulegen, gerade Katastrophen wie zuletzt Fukushima haben aber gezeigt, dass das derart eingehegte Restrisiko nicht nur eine Metapher ist: komplexe Risiken sind nur begrenzt – wenn überhaupt – vorhersagbar. Relativ einfach ist es immer nur dann, wenn die newtonschen Bewegungsgesetze anwendbar sind, wie beispielsweise bei einem Meteoriteneinschlag. Aber es ist geradezu das Wesen moderner Katastrophen, dass sie trotz aller Planung plötzlich und unerwartet eintreten – und insofern auch nicht nach den newtonschen Prinzipien verlaufen: ihrer Komplexität ist der Zufall eingeschrieben.

Eine sichere Vorhersage von Katastrophen ist insofern nicht möglich – und ihr Eintreten gewissermaßen immer nur eine Frage der Zeit. Selbst die Katastrophe von Lissabon hätte man mit modernen Methoden nicht vorhersagen können, handelt es sich bei der Plattentektonik, die für das Erdbeben damals ursächlich war, doch um ein nichtlineares System, bei dem Anfangsbedingungen, Kräfte und Dynamiken nicht ausreichend bestimmt sind und selbst minimale Änderungen gravierende Auswirkungen haben können. Dasselbe gilt für technische Systeme, deren Komplexität sich ebenfalls außerhalb der newtonschen Mechanik befindet und sich insofern genausowenig kontrollieren lassen.

Auch und gerade aufgrund der Beschleunigung von technischen und technolgischen Prozessen wird man Katastrophen – zumindest bei komplexen antropogenen Systemen – immer seltener rechtzeitig vorhersagen können. Eine entsprechend gewachsene Vulnerabilität findet sich überall in unserer zivilisierten, globalisierten Gesellschaft mit ihren kritischen Infrastrukturen. Umso wichtiger ist ein vernünftiger Umgang mit Katastrophen: Früher begriff man die Apokalypse, so zitiert Christian Weber in seinem Artikel „Katastrophe als Katalysator“ (2011) den Theologen Bernd Schipper, nur als Schwelle zu einer künftigen Welt: „In einem Moment, wo durch Menschenhand keine Besserung mehr möglich ist, muss die Gottheit die Uhr zurückdrehen und nochmals anfangen.“ Danach könne Johannes in seiner Offenbarung (21,1) verkünden: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr..“ Der agnostische Katastrophiker hingegen müsse auf Verbesserungen im Hier und Jetzt drängen.

Der Naturvertrag

Michel Serrres` „Der Naturvertrag“ (1994) beginnt so: „Ein stockschwingendes Feindespaar bekämpft sich inmitten von Treibsand. Die taktischen Finten seines Kontrahenten belauernd, beantwortet jeder Hieb mit Gegenhieb und Nachstoß mit Ausweichen. Jenseits des Bildrahmens beobachten wir als Zuschauer die Symmetrie der Aktionen im Zeitverlauf: welch großartiges – und geläufiges – Schauspiel! / Nun stecken die Duellanten auf diesem Gemälde Goyas knietief im Schlamm. Bei jeder Bewegung saugt ein zähflüssiger Strudel sie weiter ein, so daß sie einander anch und nach selbst begraben. Wie schnell? Das hängt vom Grad der Aggressivität ab: Je hitziger der Kampf, desto lebhaftere und abgerissenere Bewegungen, und um so schneller sinken sie Ein. Von diesem Abgrund, der sie einsaugt, ahnen die Kämpfenden nichts – uns dagegen, den Außenstehenden, bleibt er nicht verborgen. / Wer wird sterben, fragen wir uns. Wer wird gewinnen fragen sie sich, und fragt man sich zumeist. (…) mehr als wahrscheinlich, daß die Erde sie verschlungen haben wird, bevor sie selbst ihren Sieg auskosten …“

Unabhängig von der Frage, ob es sich auch bei den beiden Duellanten um jene verdammte Schurken handelt, von denen Voltaire in Zusammenhang mit der Inquisition gesprochen hat – auch hier jedenfalls verschlingt die Erde den einen wie den anderen. Ist sie uns schon damals zum gemeinsamen Feind geworden? Haben wir es nur bis heute nicht erkannt, weil die Geschichte „der Natur gegenüber blind (bleibt)“? Für Serres herrscht ein Krieg gegen die Natur. Es lässt sich heute jedoch nicht mehr verleugnen, dass die Welt selbst zum geschichtlichen Akteur wird – indem die Erde „ihrerseits damit droht, uns erneut zu beherrschen“, wie Serres schreibt. „Durch sie, in ihr und mit ihr teilen wir ein und dasselbe zeitliche Schicksal. In noch höherem Maße, als wir sie besitzen, wird sie uns besitzen, wie früher, als wir notwendigerweise den Zwängen der Natur unterworfen waren, doch anders als früher. Früher lokal, heute global.“

Für Serres ist klar: „Die Geschichte steht damit an einem Kreuzweg: entweder Tod oder Symbiose.“ Denn für ihn leben wir nicht in einer Weltrisikogesellschaft, sondern in einer Art globalen Gefahrengemeinschaft, in der die Naturzerstörung längst zur Wirklichkeit wurde. Um zu überleben müssen wir „zurück zur Natur!“, was ein neues symbiotisches Verhältnis zur Erde voraussetzt. Es müsse ein neuer „Naturvertrag“ geschlossen werden: Wir müssen, so Serres, „den ausschließlichen Gesellschaftsvertrag durch einen Naturvertrag der Symbiose und Wechselseitigkeit ergänzen“. Der Gesellschaftsvertrag hat den Menschen aus dem Naturzustand, dem Krieg aller gegen alle, herausgehoben in eine Sphäre des Rechts. Von ihm aus betrachten wir auch alles Recht, der Gesellschaftsvertrag stellt insofern die Grundlage unserer Zivilisation dar. Nun wurde er in seinem Geltungsbereich zwar fortlaufend erweitert – galt er in der Antike zunächst nur für Männer, wurde der Rechtsanspruch sukzessive ausgeweitet und mit der Deklaration der Menschenrechte schließlich auf die gesamte Menschheit übertragen –, die Natur aber wurde als Rechtssubjekt bisher ausgeklammert. „Durch die ausschließlich gesellschaftsbezogenen Verträge haben wir die Bindung, die uns mit der Welt verknüpft, fahrenlassen“, sagt Serres. Das müsse sich jetzt ändern.

Aus Serres Perspektive begann mit Hiob, lange bevor die Gesellschaft den Opferstatus mit Rechten ausstattete, das von Leibniz in der Theodizee formulierte Grundsatzproblem der göttlichen Legitimation des Unrechts in der Welt. Zweifellos ist Hiob, lange vor Ödipus, der unglücklichste aller Menschen – bevor sein Schicksal dann bei Voltaire zu einem gewöhnlichen wird angesichts der unzähligen Leiden, für die sich die Menschheit selbst verantwortlich zeigt. Der hobbes`sche Gesellschaftsvertrag als Grundlage wird dann vollends bei Kleist brüchig. Heute rückt mit der anthropogenen Klimaerwärmung wieder die Natur als Akteur ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Serres zufolge brauchen wir deshalb eine neue zivilisatorische Grundlage: den Naturvertrag – nicht zuletzt angesichts unseres ausbeuterischen, desaströsen Verhältnisses zur Natur beziehungsweise zum Planeten Erde.

Grundlegend für den Naturvertrag ist für Serres das Symbiose-Recht, das sich „durch Wechselseitigkeit auszeichnet: So viel die Natur dem Menschen gibt, so viel muß der Mensch ihr, die jetzt Rechtssubjekt geworden ist, zurückerstatten.“ Wie schon bei der Theodizee wird auch hier die Frage nach der Gerechtigkeit maßgeblich. Serres bemerkt in diesem Zusammenhang: „Vor mehr als dreihundert Jahren entschied eine berühmte Theodizee über die Ursache der Leiden und des Übels und löste das Problem der tragischen Verantwortung des Schöpfers: Wir dagegen wissen nicht, vor welchem Tribunal oder in welchen Formen heute eine ähnliche Streitsache zu verhandeln wäre …“

Aus diesem Grund fordert Serres anstelle der überholten Theodizee eine sogenannte „Epistemodizee“, worunter er „die Gesamtheit der Beziehungen von Wissenschaft und Recht, von Vernunft und Urteil“ versteht. Denn für Serres steht fest, dass immer „rechtlich beurteilt wird, was als wissenschaftlich `wahr´ gilt, zum anderen aber auch wissenschaftlich erkannt wird, was rechtlich `richtig´ sein kann“, wie Malte-Christian Gruber in „Bioinformationsrecht“ (2015) schreibt. „Wissen allein genügt uns nicht mehr“, schreibt Serres in diesem Zusammenhang. Es gehe vielmehr darum, die Wissenschaft mit den Mitteln des Recht in die Verantwortung zu nehmen – Verantwortung nicht nur für das Leben der Menschen, sondern auch für dessen natürlichen Lebensgrundlagen. Angesichts dessen, dass der Mensch im Anthropozän gewissermaßen selbst zu einer Naturgewalt geworden ist, müsse man die Erde vor ihm schützen. Der Naturvertrag soll so, wie der Gesellschaftsvertrag Hobbes zufolge den Kampf aller gegen alle beendete, auch ein rechtlich geregeltes Miteinander zwischen Mensch und Erde stiften.

Serres Idee des Naturvertrags liegt gewissermaßen den aktuellen Bemühungen für eine Verfassung des Anthropozän zugrunde. Es geht hier darum, in der Natur nicht mehr nur ein Objekt des Umweltschutzes zu sehen, sondern sie als ein Rechtssubjekt zu betrachten, dass seine ökologischen Interessen und Rechte selbst wahrnimmt und durchsetzt, gegebenenfalls aber auch vor Gericht einklagen kann. Besonders Ecuador – zu dem auch die Galapagosinseln gehören – hat sich diesbezüglich verdient gemacht und bereits 2008 die Natur als Rechtssubjekt verfassungsrechtlich anerkannt. Ein ganzes Kapitel der ecuadorianischen Verfassung ist dem Recht der „Mutter Erde“ („Pacha Mama“) auf vollständige Achtung ihrer Existenz und ihre Erhaltung gewidmet: „Nature shall be the subject of those rights that the Constitution recognizes for it“, steht in Artikel 10 Absatz 2 der ecuadorianischen Verfassung. Ausdrücklich wird dort festgeschrieben, dass Ansprüche der Natur – in menschlicher Vertretung – gerichtlich geltend gemacht werden können, auch wenn keine Schädigung durch den Menschen besteht. Außerdem wurde auch über Prozesse der Dekommodifizierung der Natur verfügt, also der Verringerung der Kommerzialisierung von Ökosystemleistungen. Wasser wurde so zu einem unveräußerlichen Menschenrecht erklärt und den Gesetzen des Marktes entzogen.

Die Änderung der ecuadorianischen Verfassung erwies sich als ein Anfang – aber bisher folgten weltweit nur wenige weitere Initiativen. Seit einigen Wochen gehört auch Spanien zur „Avantgarde“ was die Rechte der Natur anbelangt, hat man dort doch im Oktober dieses Jahres die Salzwasserlagune Mar Menor in den Status einer juristischen Person erhoben … Immer noch eine seltene Ausnahme oder schon ein Grund zur Hoffnung?

Peter Handke zum Schluß

„Es stimmt nicht, daß mir das Schreiben genützt hat. In den Wochen, in denen ich mich mit der Geschichte beschäftigte, hörte auch die Geschichte nicht auf, mich zu beschäftigen. Das Schreiben war nicht, wie ich am Anfang noch glaubte, eine Erinnerung an eine abgeschlossene Periode meines Lebens, sondern nur ein ständiges Gehabe von Erinnerung in der Form von Sätzen, die ein Abstandnehmen bloß behaupteten. Noch immer wache ich in der Nacht manchmal schlagartig auf, wie von innen her mit einem ganz leichten Anstupfen aus dem Schlaf gestoßen, und erlebe wie ich bei angehaltenem Atem vor Grausen von einer Sekunde zur anderen leibhaftig verfaule. Die Luft steht im Dunkeln so still, daß mir alle Dinge aus dem Gleichgewicht geraten und losgerissen erscheinen. Sie treiben nur eben noch ohne Schwerpunkt lautlos ein bißchen herum und werden gleich endgültig von überall niederstürzen und mich ersticken. In diesen Angststürmen wird man magnetisch wie ein verwesendes Vieh, und anders als im interesselosen Wohlgefallen, wo alle Gefühle frei miteinander spielen, bestürmt einen dann zwanghaft das interesselose, objektive Entsetzen“, schreibt Handke am Ende.

Dann kommt er zum Schluß. Schon in seinem ersten Roman „Die Hornissen“ (1966) droht der Protagonist am Ende in der dünnen Eisschicht einzubrechen, über die er läuft. Er scheint dort zunächst noch – wie Kleist – „die Ordnung der Bewegungen, die ihn herausführt“ gefunden zu haben, dann aber bricht er doch unvermittelt ein. Hans Holler bemerkt in einem Kommentar dazu: „Die Traumvision von der `Ordnung der Bewegungen´ aber, die einen `herausführt´, bleibt eine Leitvorstellung des Schreibens bei Handke.“ Auch seine Erzählung über das Wunschlose Unglück schließt Handke mit dem Gedanken des Abstürzens ab: „Das Grausen ist etwas Naturgesetzliches: der horror vacui im Bewußtsein. Die Vorstellung bildet sich gerade und merkt plötzlich, daß es ja nichts mehr zum Vorstellen gibt. Darauf stürzt sie ab, wie eine Zeichentrickfigur, die bemerkt, daß sie schon die längste Zeit auf der bloßen Luft weitergeht.

Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.“

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