Als man 1868 die Ursache für die Verheerungen in den südfranzösischen Weinbergen identifizierte, hätte man keinen treffenderen Namen finden können: „Phylloxera vastatrix“, „verwüstende Laus“. Das war keine Übertreibung, sollten etwa fünfzig Jahre später doch etwa 2,5 Millionen Hektar Rebfläche allein in Europa von dem nur 1,5 Millimeter großen, gemeinhin „Reblaus“ genannten Insekt zerstört worden sein – fast achtzig Prozent aller Rebstöcke. Die Verwüstung war einzigartig und lange gab es vor ihr kein Entrinnen. Phylloxera vastatrix hätte den Weinbau damals beinahe beendet.
Die Reblaus ist ein komplexes Wesen, wobei man grundsätzlich zwischen einer Blatt- und einer Wurzelreblaus unterscheidet. Da praktisch alle Rebsorten hierzulande – sie stammen ausnahmslos von der Rebenspezies Vitis vinifera ab – an den Blättern resistent sind, ist für die Verwüstungen Ende des 19. Jahrhunderts ausschließlich die „Radicicola“, die Wurzellaus, verantwortlich. Von ihr geht alle Gefahr aus, da sie im Wurzelwerk das Leitgewebe schädigt und damit die Wasser- und Nährstoffzufuhr in den Rebstock. Einmal befallen, dauert es höchstens drei Jahre, bis die Pflanze abgestorben und somit letztlich vernichtet ist.
Fünf bis sechs Mal im Jahr legt die Wurzellaus etwa 600 Eier – und die Natur will es, dass es bei den Wurzelläusen nur sich selbst befruchtende Weibchen gibt. Gerade Geschlüpft überwintert die Reblaus erst einmal tief im Boden, bevor sie dann aber im Frühjahr mit ihrem Rüssel die Wurzeln ansticht und dabei ihren Speichel in das Gewebe des Rebstocks einbringt. Der reagiert darauf abwehrend, indem er knotig verdickte Wucherungen bildet, sogenannte „Wurzelgallen“, die bei dem harmloseren Befall des weichen Holzes in den Wurzelspitzen auch „Nodositäten“ genannt werden, wenn der Befall jedoch auch das ältere, härtere Holz betrifft „Tuberositäten“ – von denen die Reblaus aber gerade lebt, indem sie sie aufsaugen. Denn während die harten Wurzeln von dem Schädling nicht direkt angenagt werden können, ist das bei den weichen Wucherungen anders (die außerdem auch noch für die Eiablage dienen).
Tuberositäten sind für den Rebstock gefährlich, weil die Reblaus über sie tief in das Gefäßsystem eindringen kann und sich Infektionen, die schließlich für das Absterben des Rebstocks sorgen, in der Pflanze ausweiten können. Dem sind aber nicht alle Reben schutzlos ausgeliefert – denn im Unterschied zu den europäischen Rebsorten von Vitis vinifera sind die Wurzelstöcke von amerikanischen Rebenspezies gegen die Reblaus resistent: Auf dem nordamerikanischen Kontinent ist die Reblaus heimisch. Um zu überleben haben sich die Rebsorten dort, beispielsweise die Vitis cinerea, über Jahrmillionen an den Schädling angepasst und gelernt, die Plage abzuwehren, indem sie einen klebrigen Saft ausscheiden, der die Fresswerkzeuge der Laus verstopft.
So verursacht die Reblaus an amerikanischen Reben also keinen Schaden, jedenfalls ist dem Rebstock nichts anzumerken, weshalb auch die Gefahr lange unbekannt blieb – bis man Mitte des 19. Jahrhunderts einige Stöcke zu Kreuzungszwecken nach Frankreich importierte. Weil Amerikanerreben – sieht man von wenigen Ausnahmen wie beispielsweise Vidal ab – wegen ihrem sogenannten „Foxtone“, einer unangenehmen Geschmacksnote, als nicht wirklich zur Produktion reintöniger Weine geeignet galten, wollte man herausfinden, ob sich das durch Kreuzungen womöglich ändern ließe. Nun kam es aber, wie es kommen mußte: das Wurzelwerk der importierten Reben war von der Reblaus befallen – und das Verhängnis nahm seinen Lauf …
Je nach Quelle trat das Unheil erstmals 1858 in Arles in der Provence oder 1864 an der Südlichen Rhône in Erscheinung, wo man jedenfalls – ohne zunächst die Ursache dafür zu erkennen – bei den zahlreich abgestorbenen Rebstöcken feststellte, dass praktisch das gesamte Wurzelwerk verschwunden war. Das wurde bald überall beobachet: 1867 erstmals im österreichischen Klosterneuburg, 1871 in Portugal, 1874 erstmals in Deutschland auf dem Annaberg bei Bonn, 1875 in Italien, 1878 in Spanien et cetera. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war etwa drei Viertel der europäischen Rebfläche vernichtet – eine nie dagewesene Katastrophe für den Weinbau.
Die Zerstörungen waren so umfassend, dass man irritiert davon war, dass manche Gegenden wie beispielsweise die Camarque in der Provence von der Epidemie offensichtlich verschont blieben. Die Weinberge für den bekannten Sable de Camarque stehen hier auf sandigen Böden an der ehemaligen Küstenlinie – und als man endlich die Reblaus als Ursache für das massive Absterben der Rebstöcke anderswo ausmachte, wurde klar, dass sie in Sandböden nicht überleben kann. Auch hohe Gebirge wie die chilenischen Anden hindern die Reblaus offensichtlich an der Ausbreitung – und so gibt also natürliche Hindernisse für sie (während andere Länder wie Zypern oder Australien auf strenge Quarantänemaßnahmen setzten), gleichwohl hat es die 1870 in Frankreich gegründete „Kommission zur Bekämpfung der Reblauskrise“ unter dem Vorsitz von Louis Pasteur (1822-1895) nicht geschafft, ein synthetisches Mittel zur Ausrottung des Schädlings herzustellen – und so blieb es auch bis heute.
Dann aber entdeckte Jules Émile Planchon (1823-1888), der die Reblaus auch identifizierte und als „phylloxera vastatrix“ benannte, dass es eine andere Lösung für das Problem gab. Da amerikanische Reben von der Reblaus unbeschadet blieben, verwendete er sie als Unterlagsreben für die wertvolleren, in Europa verbreiteten Rebsorten von Vitis vinifera: Er propfte sie einfach auf deren Wurzeln – und tatsächlich: es funktionierte.
Bis aber tatsächlich alle befallenen Weinberge gerodet und neu bestockt werden konnten, mußten trotz des enormen Schadens erst einmal die vorhandenen Ressentiments gegen dieses neue Verfahren – „Veredelung“ genannt – beseitigt werden. Es sollte tatsächlich bis ins Jahr 1910 dauern, bis man begriff, dass sich durch die Wurzeln der amerikanischen Unterlagsreben qualitativ nichts am Wein ändert. Schließlich hängt der Geschmack allein von den Trauben respektive den Beeren ab – die Wurzeln und der Rebstock, verpfopft oder nicht, fungieren nur als Transportsystem für die aus dem Boden aufgenommenen Nährstoffe.
Während der Wein für den Sable de Camarque oder der von einigen Inseln in der griechischen Ägäis mitunter noch aus Trauben von wurzelechten Rebstöcken hergestellt wird, hat sich das Verfahren der Veredelung inzwischen überall durchgesetzt – und ist innnerhalb der Europäischen Union sogar gesetzlich vorgeschrieben. Und so geht man heute davon aus, dass etwa 85 Prozent aller Rebstöcke auf resistenten amerikanischen Unterlagsreben wurzeln.
Dabei war die Neubestockung Anfang des 20. Jahrhunderts natürlich mit enormem Aufwand und Kosten verbunden – und noch immer wird viel Zeit und Geld in die Erforschung der Reblaus gesteckt, denn die Gefahr ist nach wie vor nicht gebannt. Im Gegenteil: in den 1980er Jahren wurde den Winzern in Kalifornien eine Empfehlung der „University of California“ in Davis zum Verhängnis, die vorsah, die Bestockung neuer Rebflächen mit Merlot mit der Unterlagsrebe „AxR 1“ vorzunehmen. Der Klon allerdings erwies sich als nicht reblausresistent. Die Folge war ein Desaster – alle Rebstöcke mussten wieder gerodet werden – das sich auf hunderte Millionen Dollar belief.
In den 1990er Jahren ist in Nordamerika außerdem eine neue Reblaus-Variante („Biotypus B“) aufgetaucht, die zur Jahrtausendwende bereits die Nordinsel Neuseelands erreichte – und inzwischen auch die bedeutenderen Weinanbaugebiet auf der Südinsel erreicht hat. Man hatte hier jedoch genug Zeit, auf die Bedrohung zu reagieren, wobei der Fall zeigt, dass die Forschung an neuen Unterlagsreben weiterhin wichtig ist. Denn wie bei den Rebsorten gibt es auch bei den Unterlagsreben verschiedene Klone mit unterschiedlichen Eigenschaften, aus denen man – je nach Bodentyp und Bedrohung – wählen kann. So ist es letztlich allein der Forschung zu verdanken, dass für die bedrohten neuseeländischen Weinberge gezielt Unterlagsreben gezüchtet werden konnten, die auch gegen die neue Variante resistent sind.