Essay

bad bat

In diesen Tagen wird das neuartige Coronavirus zwei Jahre alt. Man geht davon aus, dass die Fledermaus der Überträger des Virus ist. Schon seit langem wird mit ihr Tod und Teufel in Verbindung gebracht – sie ist das Symbol des Antichrist …

„Der Mensch von heute – ich ersticke an seinem unreinen Atem …“

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist (1888)

Ende des Jahres, am 31. Dezember, jährt sich zum zweiten Mal, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von der chinesischen Regierung über eine neuartige Lungenerkrankung, COVID-19 (Abkürzung für corona virus disease 2019), in der Millionenmetropole Wuhan in der Provinz Hubei informiert wurde. Wenige Tage später, am 7. Januar 2020 schließlich meldete sie, ein neuartiges Coronavirus (SARS-CoV-2) identifiziert zu haben. Noch immer ist nicht zweifelsfrei geklärt, woher das Virus stammt, aber auch wenn es noch andere Vermutungen geben mag – bis heute werden Fledermäuse mit der Übertragung des Virus auf den Menschen in Verbindung gebracht. Vieles liegt hier noch im Dunkeln …

Finsternis – Fledermäuse sind die unheimlichen Herrscher der Dunkelheit. Sich möglichst unsichtbar zu machen – darauf sind sie bedacht. Ihr Flattern hören wir nicht, was wir von ihnen wahrnehmen, sind bisweilen nur Schatten in der Nacht. Sie leben im Dunkeln, in völliger Finsternis mitunter, entziehen sich unseren neugierigen Blicken, unserer Erkenntnis. Außer mythologischen Zuschreibungen ist nur wenig über sie bekannt, zum Beispiel dass ihre Körper ein Reservoir für hunderte Viren sind, von denen etwa sechzig potentiell auf den Menschen übertragbar sind. Fledermäuse tragen „Tod und Teufel in sich“, sagt Fabian Leendertz, Experte für Zoonosen und bis Mitte des Jahres Leiter der Projektgruppe Epidemiologie hochpathogener Erreger am Robert Koch-Institut in Berlin. Wie können sie selbst mit diesen Viren leben? Die Fledermaus fordert die Wissenschaft heraus – genau wie das Virus.

Fledermäuse

Seit über fünfzig Millionen Jahren bevölkern Fledermäuse anatomisch praktisch unverändert unseren Planeten. Etwa 1.400 verschiedene Arten gibt es weltweit, überwiegend handelt es sich dabei um insekten-, früchte- und blätterfressende Arten genauso wie solche, die Blüten bestäuben. Nur wenige – genau gesagt drei mittel- und südamerikanische Arten – zählen zu den berühmten bluttrinkenden Vampirfledermäusen.

In Europa leben drei harmlose Fledermausfamilien: die Hufeisennasen, die Glattnasen (sie kommen am häufigsten vor) und die Bulldoggfledermäuse (zumindest von einer Art in den südlichen Regionen geht man hier aus). Alle in Deutschland lebenden Fledermäuse sind Insektenfresser: fünfundzwanzig Fledermausarten gibt es, die in unseren Nachthimmeln jagen. Bei insgesamt 104 Säugetierarten hierzulande machen Fledermäuse also fast ein Viertel der Artenanzahl aus. Die kleinsten hier lebenden Arten sind die streichholzschachtelgroße Mückenfledermaus und die Zwergfledermaus, die es gerade einmal auf drei bis acht Gramm Körpergewicht bringt – also in etwa so viel, wie ein Zuckerwürfel wiegt. Die größte heimische Art ist das Große Mausohr, welche eine Flügelspannweite von über vierzig Zentimeter erreicht.

Die Zwergfledermaus (Pipstellus pipstrellus) ist eine flexible Art, die sich in fast ganz Europa verbreitet hat und sich hierbei als „Kulturnachfolger“ ihren Lebensraum gerne in bewohnten Gegenden einrichtet. Abgesehen von osteuropäischen Populationen sind Zwergfledermäuse ortstreu, das heißt sie bewegen sich maximal in einem Umkreis von 20 Kilometern um ihr Quartier. Innerhalb dieses Radius jagen sie überwiegend Insekten, Nachtfalter und kleine Käfer. Sie werden im Durchschnitt nur etwa zwei bis drei Jahre alt, selten erreichen sie ihr Höchstalter von 16 Jahren.

Die Mückenfledermaus (Pipistrellus pygmaeus) hat sich vornehmlich über Nord- und Mittel- beziehungsweise Osteuropa ausgebreitet und lebt selten in bewohnten Siedlungen. Entsprechend sucht sie sich ihre Quartiere hauptsächlich in Baumhöhlen, Stammrissen und Spalten aller Art. Gerne lebt sie in Wassernähe und ernährt sich dort von kleinen Insekten und Fliegen. Wie die Zwergfledermaus wird auch sie selten Älter als 2 Jahre, auch wenn sie bis zu acht Jahre alt werden kann.

Die Breitflügelfledermaus (Eptesicus serotinus) ist eine in Europa weit verbreitete Hausfledermaus. Als eine der wenigen Fledermausarten at sie sich gewissermaßen auf den menschlichen Siedlungsraum spezialisiert. Sie lebt hier Mauerspalten, selten nur im Gebäudeinneren. Sie kann ein Alter von 24 Jahren erreichen, fällt bisweilen aber schon deutlich vorher einem Fressfeind zum Opfer.

Am häufigsten kommen in Deutschland Glattnasen-Fledermäuse vor (zu ihnen gehören beispielsweise der Abendsegler, die Breitflügelfledermaus oder auch die Zwergfledermaus). Die Glattnasen geben diesen Fledermäusen etwas Mausgesichtiges, davon leitet sich denn auch ihr Name „Fledermaus“ her: er kommt vom mittelhochdeutschen (1050-1350) „Vledermus“ und bedeutet so viel wie „Flattermaus“ (vom althochdeutschen fledarmūs beziehungsweise fledarōn für „flattern“). Im Althochdeutschen (750-1050) wurden Fledermäuse auch als „Mustro“ (mausähnliches Tier) bezeichnet – aber schon lange vorher, in einer Fabel von Äsop (um 600 v.u.Z.), erscheint sie als eine Art fliegende Maus, die listig die Möglichkeiten nutzt, die in der unklaren Zwitter-Existenz verborgen liegen. Es wundert also nicht, dass das Säugetier schließlich als „Fledermaus“ von Conrad Gessner (1516-1565) in seine Historia animalium aufgenommen wurde, wo er schreibt: „Die Fledermauß ist ein Mittelthier zwischen dem Vogel und der Mauß, also das man sie billich eine fliegende Mauß nennen kann, wiewohl sie weder unter die Vögel noch unter die Mäuß gezehlet werden, dieweil sie beyder Gestalt an sich hat.“

Mindestens genauso listig wie bei Äsop ist die Fledermaus in folgender Geschichte: Treffen sich zwei Mäuse, sagt die eine zur anderen: „Hast du schon gehört – Ich habe einen neuen Freund!“ „Echt?“, anwortet die andere, „Und? Hast du auch ein Foto von ihm?“ „Klar!“, sagt sie, kramt in der Tasche … und zeigt der anderen das Bild. Da erschrickt die andere Maus ganz fürchterlich und sagt: „Aber mein Gott, das ist ja eine Fledermaus!“ Daraufhin die eine: „Ach, komm! Und mir hat er erzählt, er sei Pilot!“

Tatsächlich ist man sich bis heute über die Abstammung der Fledermäuse im Unklaren. Noch der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707-1778), der als erster versuchte, die Natur zu systematisieren, ordnete die Fledermäuse zwar richtig den Säugetieren zu, darüber hinaus aber auch noch den Primaten. Denn tatsächlich ähnelt das Skelett der Fledermaus frappierend dem menschlichen.

Skelett einer Fledermaus. Fledermäuse wie der Große Abendsegler wiegen 30 bis 40 Gramm. Mit am leichtesten bei ihm ist dabei das Skelett, was für das Fliegen eine notwendige Vorbedingung ist: es wiegt gerade einmal federleichte 1,65 Gramm. Leicht kommt einem hier auch Friedrich Wilhelm Murnaus expressive Verfilmung des „Nosferatu“ (1922) in den Sinn …

Fledermäuse sind nicht mit Mäusen verwandt, auch wenn sie ihnen – zumindest die Glattnasen – ähnlich sehen. Stattdessen zählt das Fledertier zur biologischen Ordnung der „Chiroptera“, was aus dem Griechischen stammt und so viel bedeutet wie „Handflügler“. Denn Fledermäuse sind das einzige Säugetier, das aktiv fliegen kann – und sie fliegen dabei tatsächlich mit den Händen: Eine Fledermaus hat Arme und Beine, Hände und (fünf) Finger. An Oberarm, Unterarm und Händen wachsen elastische und – im Unterschied zu den Vögeln mit ihrem Gefieder – mit Adern durchzogene Flughäute, die nackt sind und ledrig wirken. Deshalb sind sie – nach Insekten, Dinosauriern und Vögeln – die vierte Tiergruppe, die erfolgreich den Luftraum für sich erobert hat. Man geht davon aus, dass etwa jedes fünfte bis sechste Säugetier auf der Erde eine Fledermaus ist.

Anders als bei den Vögeln sind ihre Finger und Mittelhandknochen also nicht zurückgebildet. Im Gegenteil: Ihre ellenlangen Finger sind voll in die Flughaut integriert. Auf diese Weise ist der gesamte Flügel sehr beweglich und der Flug der Fledermäuse dadurch viel manövrierfähiger als der der Vögel. An den Daumen der Hand befinden sich außerdem scharfe, hakenförmige Krallen, mit denen die Fledermaus klettert und sich noch in kleinsten Spalten oder Vorsprüngen einer Wand festzuhalten vermag. Auch die kopfüber hängende Schlafhaltung der Tiere – was anmutet wie ein auf dem Kopf stehendes Kreuz (Petruskreuz) – ist nur möglich, weil die Fledermaus sich ohne Kraftanstrengung mit diesen „Haken“ fixiert.

Die Flügel bei Fledermäusen übersteigen die Körpergröße bei weitem, darum wirken sie im Flug so viel größer, als es das geringe Gewicht ihrer Körper mit meistens nur wenigen Gramm eigentlich vermuten lässt. Mit einer Flügelspannweite von bis zu 43 Zentimeter ist das Große Mausohr hierbei zwar die imposanteste hierzulande lebende Art, aber selbst die Zwergfledermaus erreicht noch eine Flügelspannweite von fast zwanzig Zentimetern. Auch Große Abendsegler haben nur eine Körperlänge von sechs bis acht Zentimeter, aber eine Flügelspannweite von bis zu vierzig Zentimeter, mit denen sie Geschwindigkeiten von sechzig bis siebzig Stundenkilometern erreichen können. Man kann sie in der Dämmerung wegen ihrer schmalen Flügel und dunklen Fellfarbe leicht mit Schwalben verwechseln.

Der Abendsegler (Nyctalus noctula) kommt in ganz Europa vor (sieht man von Irland und Schottland und Nord-Skandinavien ab) und ist eine klassische Waldfledermaus, wobei sie Baumbestände im Flachland bevorzugt. Sie ist keine ortstreue Art, sondern legt große Distanzen zurück: Entfernungen von bis zu 1.500 Kilometer können vorkommen, seine Hauptzugsrichtung ist dabei Südwesten. Sein Quartier sucht er sich bevorzugt in Baumhöhlen und Felsspalten. Aufgrund seiner Körpergröße wird er älter als die Zwergfledermaus, nämlich etwa 2-5 Jahre durchschnittlich, höchstens aber 12 Jahre.

Die Hufeisennasen-Fledermaus dagegen hat sehr breite Flügel, mit denen sie zwar langsam (sie ist nur mit etwa acht Kilometer pro Stunde unterwegs, was ein sehr begrenzter Aktionsradius bedeutet), dafür aber höchst präzise navigieren kann (aufgrund ihrer geringen Geschwindigkeit vermag sie in nur einer sechzehntel Sekunde eine Kehrtwende zu vollziehen und beherrscht darüber hinaus den Rüttelflug auf der Stelle).

Glattnasen haben etwas entwickeltere (und größere) Augen als die Hufeisennasen, so dass sie das Restlicht der Nacht nutzen oder auch im Zwielicht der Dämmerung auf Beutejagd gehen, wie beispielsweise der Große Abendsegler. Er jagt in der Abenddämmerung und nutzt dabei insbesondere seinen Sehsinn zur Beutejagd – darüber hinaus aber besitzt er zusätzlich auch noch, wie alle Fledermäuse, ein Echoortungssystem, das bei ihm allerdings etwas einfacher entwickelt ist und nicht zur präzisen Ortung von Beutetieren dient, sondern hauptsächlich dazu, im Flug Hindernissen auszuweichen.

Anders als die Glattnasen haben die Hufeisennasen tatsächlich eine hufeisenförmige Nase als Ergebnis der Evolution. So skurril sie erscheinen mag, hilft ihr diese Nase allerdings bei der Orientierung und Peilung während des Flugs: Fledermäuse „erhören“ sich ihre Umgebung, das heißt alle Fledermäuse nutzen dazu ein angeborenes Ultraschall- beziehungsweise Echoortungssystem (was erstmals in den 1920er Jahren von dem englischen Wissenschaftler Hamilton Hartridge festgestellt wurde). Die Hufeisennase ist hierbei das „technisch“ am weitesten entwickelte Echoortungssystem bei Fledermäusen: während Glattnasen-Fledermäuse ihre Ultraschallwellen gewöhnlich über den Mund ausstoßen, ist die Hufeisennase – wie auch das Langohr – in der Lage, durch die Nase und nicht den Mund zu rufen (das erleichtert die Aufnahme von Beute). Ihre Rufe reichen dabei etwa zehn Meter weit. Gleichzeitig empfängt sie auch reflektierte Schallwellen über ihre trichterartige Nase.

Bei der Echoortung stößt die Fledermaus Töne im Ultraschallbereich aus, die von Objekten reflektiert werden, so dass die Fledermaus in der Lage ist, die eigene Entfernung zu diesem Objekt exakt zu bestimmen, indem ihr Gehirn anhand der zeitlichen Tonverschiebung den Abstand zum angepeilten Objekt errechnet. Die Häufigkeit des Peiltons kann dabei variieren: die Hufeisennase beispielsweise sendet vier bis zwölf Signale pro Sekunde, die Frequenz kann aber plötzlich auf auf 40 bis 50 Signale im Verfolgungsflug erhöht werden.

Die Echoortungsrufe einiger Fledermausarten sind extrem laut. Abgesehen davon, dass beispielsweise der Große Abendsegler als Glattnasen-Fledermaus zur Jagd insbesondere auch seine Augen nutzt, müssen aufgrund seiner hohen Fluggeschwindigkeit seine zusätzlich ausgestoßenen Rufe weit dringen und deshalb sehr laut sein: entsprechend erreicht sein Messton eine Lautstärke von hundertzwanzig Dezibel und eine Reichweite von etwa fünfzig Meter. Er ruft außerdem in einem Frequenzbereich, der für manche Menschen gerade noch wahrnehmbar ist. Grundsätzlich jedoch liegen die Peilrufe der Fledermäuse in einem Ultraschallbereich, den das menschliche Ohr nicht mehr hören kann: Fledermäuse stoßen Töne mit einer Frequenz von 30.000 bis 70.000 Schwingungen (30-70 Kilohertz) pro Sekunde aus, während das menschliche Gehör nur Töne bis etwa 20 kHz wahrnehmen kann. Einzig die hierzulande selten gewordene Bechsteinfledermaus stößt Rufe unter 15 kHz aus, die entsprechend auch für uns hörbar sind.

Das raffinierte Echoortungssystem erlaubt es Fledermäusen – im Zusammenspiel mit ihren Ohren – sich in völliger Dunkelheit, also im Blindflug, zu orientieren (außerdem verinnerlichen sie eine imaginäre Karte der ihnen vertrauten Umgebung). Fledermäuse können sich so ideal vor möglichen Fressfeinden schützen, indem sie komplett finstere Lebensräume wie Höhlen erschließen, in denen sich beispielsweise eine nachtaktive Eule nicht mehr zurechtfinden könnte, weil sie Restlicht benötigt, um sehen zu können.

Waldbewohnende Fledermäuse sind auf spaltenreiche Bäume beziehungsweise höhlenreiche Regionen angewiesen, während sich „kulturfolgende“ Arten ihre Quartiere in Dachböden oder Kirchtürmen suchen oder zur Überwinterung und Aufzucht auch verlassene Bunker- und Festungsanlagen, wie in Berlin beispielsweise die Zitadelle Spandau, die mit bis zu 10.000 Fledermäusen aus zehn verschiedenen Arten (darunter Mausohren, Wasser- und Fransenfledermäuse) eine der größten Fledermausquartiere Europas ist. Der Zoologe Martin Eisentraut (1902-1994) begründete hier 1932 die systematische Erforschung der Fledermaus in Deutschland.

Die Fransenfledermaus (Myotis nattereri) lebt in ganz Europa, vorwiegend in Wälder, manchmal auch im Siedlungsraum. Ihr Quartier wechselt sie normalerweise nicht – es handelt sich um eine ortstreue Art. Quartier bezieht sie im Winter gerne in Höhlen, Stollen oder gegebenenfalls in Kellern. Sie ernährt sich wie alle Fledermäuse von Insekten, Faltern und Käfern und kann über zwanzig Jahre alt werden, gewöhnlich aber wird sie durchschnittlich nur etwa 3 Jahre alt.

Beim Beutefang arbeitet das Ortungssystem der Fledermäuse so genau, dass sie sogar Objekte erkennen können, die kleiner als 0,2 Millimeter sind. Auf diese Weise findet zum Beispiel die Bechsteinfledermaus mit ihren sehr großen Ohren unzählige still auf Blättern oder dem Boden sitzende Beutetiere mittels Echoortung und fängt diese teilweise sogar im artistischen Rückwärtsflug. Hufeisennasen können Nachtfalterarten sogar an ihrer Flügelschlagfrequenz erkennen, das heißt sie sind in der Lage, bereits im Bruchteil einer Sekunde schmackhafte Falter von weniger schmackhaften zu unterscheiden. Unzählige Insekten und Gliederfüßer werden so jeden Sommer zur Beute von Fledermäusen.

Während die Rufe der Fledermäuse überwiegend in einem Ultraschallbereich liegen, der die menschliche Hörfähigkeit übersteigt, gibt es einige Insektenarten, die diese Ultraschallwellen wahrnehmen können. Sie haben Methoden entwickelt, dem raffinierten Echoortungsruf zu trotzen: Sobald beispielsweise eine Florfliege Ultraschallsignale wahrnimmt, legt sie ihre Flügel an den Körper an und lässt sich zu Boden fallen. Sie dort orten zu können, fällt den Fledermäusen wesentlich schwerer. Auch einige Schwärmerarten haben eine Strategie gegen die Peilrufe der Fledermäuse entwickelt: sie sondern ebenfalls Geräusche im Ultraschallbereich ab. Durch das Reiben zweier Körpersegmente des Hinterleibs gegeneinander erzeugen die Nachtfalter ein regelrechtes Feuerwerk von Ultraschalllauten. Dank dieser Störsignale funktioniert die Echoortung der Fledermäuse nicht mehr. Selbst aus nächster Nähe können Fledermäuse die Schwärmer nicht mehr wahrnehmen.

Gleichwohl gibt es auch Fledermausarten wie das Braune und das Graue Langohr, die zusätzlich zur Echoortung auch normale akustische Signale – also ihre Ohren – zur Nahrungssuche nutzen: die hochspezialisierten Schalltrichterohren der Langohrfledermäuse, die etwa drei Viertel der Körperlänge haben, erlauben es ihnen, ihre Rufe zu flüstern, was sie auch vor dem „Abhören“ durch darauf spezialisierte Beutetieren schützt.

Fledermäuse haben in der Nacht ihre evolutionäre Nische gefunden. Unterschiedliche Arten haben dabei unterschiedliche ökologische Lebensräume erschlossen, wobei alle gleichermaßen insektenreiche Nahrungsgebiete brauchen. Für stehende und langsam fließende Gewässer sowie Feuchtgebiete und Waldrandteiche trifft das im besonderen Maße zu – hier sind verschiedene Insekten in einer vergleichsweise hohen Dichte anzutreffen. Die Wasserfledermaus beispielsweise hat sich auf solche Habitate spezialisiert und benutzt ihre Schwanzflughaut als Kescher, mit dem sie auf die Wasseroberfläche gefallene Insekten gezielt in ihr Maul befördert. Auf diese Weise fängt eine einzelne Wasserfledermaus bis zu fünftausend Mücken pro Nacht.

Das Braune Langohr (Plecotus auritus) bevölkert ganz Europa, auch den Kaukasus. Es bevorzugt lockere Laub- und Nadelwälder im Tiefland und im Mittelgebirge, lebt mitunter aber auch in Parks und Stadtgärten, die sie praktisch nicht verläßt (sie ist ortstreu). Ihr Quartier findet sie in Baumhöhlen, Vogelkästen oder auch auf Dachböden. Ihre bevorzugte Nahrung sind Zweiflügler, Heuschrecken, Würmer und Spinnen. Durchschnittlich erreicht das Braune Langohr ein Alter von vier Jahren, maximal 30 Jahre.

Die Wasserfledermaus (Myotis daubentonii) kommt fast überall in Europa vor. Sie lebt in Wäldern in Gewässernähe und ist relativ ortsfest, das heißt ihr Aktionsradius liegt bisweilen unter 150 Kilometern. Ihr Quartier sucht sie sich gerne in Höhlen, aufgelassenen Bunkern oder Stollen. Im Durchschnitt wird sie etwa 5 Jahre alt, kann aber auch bis zu 30 Jahre errreichen.

Der waldbewohnende Große Abendsegler hingegen nutzt zur Jagd den Luftraum hoch über den Baumkronen, während Hufeisennasen sogenannte Wartenjäger sind: sie hängen (energieschonend) in Ästen und senden von dort aus extrem hochfrequente Echoortungsrufe über ihre namensgebende hufeisenförmige Nase aus. Erst wenn sie etwas konkret orten, beginnen sie, das vorbeifliegende Insekt zu verfolgen.

Während der Jagd kann der Puls einer Fledermaus auf deutlich über tausend Schläge pro Minute steigen (gemessen wurde eine Herzrhythmus-Aktivität von 1.066 bpm) – während der Puls im Wachzustand bei etwa 400 Schlägen pro Minute liegt. Möglich ist das deshalb, weil die Fledermaus das leistungsstärkste Herz unter den Säugetieren hat und proportional zur Körpergröße sogar das größte aller Lebewesen (es ist etwa dreimal größer als bei anderen Lebewesen). Um diese Leistung zu erbringen atmet eine Fledermaus während des Flugs außerdem bis zu 600 Mal in der Minute – und auch die Sauerstoffsättigung des Blutes ist bei ihr auf Hochleistung getrimmt: sie beträgt 27 Prozent, während es die meisten anderen Säugetiere nur auf etwa 18 Prozent bringen.

Fledermäuse sind die schnellsten Tiere beim Fliegen – sie entfalten hier ihre höchste Leistungskraft. Dabei allerdings steigt ihre Körpertemperatur ungewöhnlich stark an. Um der Gefahr der Überhitzung bei der körperlichen Höchstleistung im Flug entgegenzuwirken, hat die Fledermaus deshalb ein einzigartiges Kühlsystem: sie kann zwar weder schwitzen noch hecheln, dafür aber durchziehen viele Blutgefäße die Flughaut, die die Fledermaus – je nach Temperatur – verengen oder erweitern kann und so den Körper durch den Luftstrom um die Flügel kühlen.

Gleichwohl verbraucht das Fliegen enorm viel Energie – ein großer Aufwand ist nötig um gegen den Luftwiderstand auf Temperatur zu kommen. Um das dennoch leisten zu können, muss die Fledermaus viel – und vor allem regelmäßig – Nahrung zu sich nehmen, weshalb sie meistens auch zwei Mal pro Nacht auf Beutejagd geht. Ein Viertel ihres Körpergewichts nimmt die Fledermaus bei jeder Mahlzeit zu sich, vorausgesetzt allerdings, sie findet genug Nahrung. Denn dass sie genug findet, ist aufgrund des hohen Pestizideinsatzes in der Landwirtschaft seit Mitte der fünfziger Jahre nicht mehr gewährleistet. Dennoch benötigt zum Beispiel ein Großer Abendsegler etwa zwei Kilogramm Nahrung pro Sommer, während die Zwergfledermaus immerhin etwa 50 Insekten pro Flug frisst und eine Kolonie von fünfhundert Großen Mausohren gar eine unglaubliche Tonne Insekten und Käfer jeden Sommer verschlingt.

Das Trinken erledigt die Fledermaus meist, indem sie dicht über Gewässer fliegt, dabei ihr Fell ins Wasser taucht und das daran haftende Wasser dann ableckt. Da ihre Flughäute wasserabweisend sind, ist das für sie völlig gefahrlos: sollte sie einmal doch ins Wasser fallen, kann sie entweder aus dem Wasser heraus wieder starten oder einfach ans Ufer schwimmen.

Trotz ihrer enormen körperlichen Fähigkeiten geht die Fledermaus aber auch äußerst effizient mit ihren Möglichkeiten um, nicht umsonst gehört sie zu den langlebigsten Säugetieren (einige Arten werden über zwanzig Jahre alt, sogar eine über vierzigjährige Fledermaus ist dokumentiert). Dass sie ihren Ruhepuls im Winterschlaf auf nur drei bis fünf Herzschläge pro Minute senkt, ist nur ein Indiz dafür.

Wenn sie sich ausruhen, hängen Fledermäuse aus Schutzgründen kopfüber von der Decke ihres Quartiers, hier droht ihnen kaum Gefahr. Möglich ist das aufgrund ihres aktiven Venensystems, das verhindert, dass ihnen das Blut in den Kopf sackt. Das Hängen kostet sie keine Kraft, eine Sehne rastet von selbst ein, und die Zehen bleiben so von selbst gekrümmt. Es kommt deshalb immer wieder vor, dass im Schlaf verstorbene Tiere – anders als Vögel – nicht zu Boden fallen, sondern in der hängenden Haltung mumifzieren.

Außerdem können Fledermäuse ihre Körpertemperatur regulieren um Energie zu sparen. Täglich fallen sie hängend in eine Tageslethargie, Torpor genannt, bei der die Körpertemperatur auf bis zu fünfzehn Grad Celsius absinkt. Iim Winterschlaf zwischen November und März, wenn kaum noch Insekten zu finden sind, kann sie sogar auf drei Grad abfallen. Die Tageslethargie senkt den Energieverbrauch drastisch und scheint ein Geheimnis ihrer langen Lebensdauer zu sein, macht aber das Aufwachen zu einem langwierigen Ritual, währenddessen die Fledermaus angreifbar ist. Bei einer Grauen Langohrfledermaus wurde folgender Ablauf beobachtet: langsame, pumpende Atembewegungen an den Körperflanken, bis sich die Ohren zeigten. In den folgenden Minuten wurde die Atmung heftiger, der Körper zitterte und an den Ohren war ein pulsierendes Vibrieren zu sehen. Innerhalb von acht Minuten waren die Atembewegungen so schnell geworden, dass sie als Einzelbewegungen nicht mehr wahrzunehmen waren, als sich plötzlich die Ohren steif aufrichteten – und die Fledermaus schließlich wegflog.

Viele Fledermäuse paaren sich im Herbst. Mit für den Menschen teilweise wahrnehmbaren trillernden Balzrufen locken beispielsweise die Männchen des Großen Abendseglers gleich mehrere paarungsbereite Weibchen in ihre Tagesquartiere. Rauhaut- und Zweifarbfledermäuse werben hingegen mit Balzflügen um die Weibchen, während sich bei der Großen Hufeisennase mehrere eng miteinander verwandte Weibchen in einer Paarungssaison stets mit demselben Männchen paaren, wodurch zwar die Abstammungslinie dieselbe bleibt (also die Verwandtschaftsgrade unter den Fledermäusen erhöht werden), aber dennoch Inzucht zumindest nicht gefördert wird.

Die Zweifarbfledermaus (Vespert. murinus) hat sich in Mittel- und Osteuropa ausgebreitet. Ursprünglich war sie eine Felsfledermaus in waldigem Bergland und in Steppenregionen, im Flachland lebt sie inzwischen aber auch in Dachböden. Dabei wandert sie generell von Nordost nach Südwest, entsprechend anpassungsfähig ist sie bei der Quartierswahl. Ihre bevorzugte Nahrung sind Zweiflügler und Nachtfalter, vor allem aber Mücken. Ihr Höchstalter beträgt zwölf Jahre.

Aber auch während des Winterschlafes kommt es oft zur Begattung. Mehrere Männchen streiten sich um die Weibchen, das heißt die Männchen wachen kurz auf, beißen ein Weibchen in den Nacken und kopulieren dann mit ihr, wobei mehrere Männchen hintereinander ein Weibchen begatten. Damit die Jungtiere aber nicht im Winter geboren werden, wo es keine Nahrung gibt, sammeln die Weibchen das Sperma im Fortpflanzungstrakt und bewahren es über den Winter in ihrem Uterus auf. Erst Ende März – nachdem die Fledermäuse über den Winter etwa ein Drittel ihres Körpergewichts verloren haben – kommt es zum Eisprung und erfolgt die Befruchtung der Eizelle.

Nur wenige Fledermausarten verbringen den Winter nicht bei uns, sondern ziehen, ähnlich wie Zugvögel, in wärmere Gefilde. Mitunter legen sie dabei – wie die Rauhautfledermaus – Strecken von bis zu zweitausend Kilometer zurück. Dabei paaren sie sich bisweilen auch erst beim Flug in den Süden in den von den Männchen besetzen „Balzhöhlen“ entlang der Zugrouten.

Die Rauhautfledermaus (Pipistrellus nathusii) hat sich in Mittel- und Osteuropa verbreitet und findet ihren Lebensraum bevorzugt im Wald, selten in Siedlungen. Bei ihr handelt es sich um eine wandernde Art (zwischen 40 und 80 Kilometer täglich), wobei sie sich Quartier in Felsspalten, Mauerrissen oder auch Baumhöhlen sucht. Ihre Nahrung besteht hauptsächlich aus an Wassernähe gebundene Insekten. Sie erreicht ein Höchstalter von mindestens 14 Jahren, normalerweise aber wird sie nur etwa 3 Jahre alt.

Aufgrund der langen Wartezeit vor der Befruchtung der Eizellen können zwischen Paarung und Geburt bei Fledermäusen durchaus neun Monate liegen – auch wenn die Tragezeit eines Weibchens durchschnittlich nur zwei Monate beträgt. Die beiden Geschlechter teilen sich schließlich die Aufzucht der Jungtiere in den sogenannten Wochenstuben. Gewöhnlich ist es nur ein Junges, manchmal zwei. Nicht zuletzt aufgrund dieser geringen Geburtenrate sind praktisch alle heimischen Fledermäuse inzwischen vom Aussterben bedroht: neben den bereits erwähnten landwirtschaftlichen Giften, von denen Fledermäuse täglich tausende Mikrodosen aufnehmen, ist es auch der Einsatz von Windkraftanlagen (der Luftdruck der Rotorblätter kann die inneren Organe der Fledermäuse leicht zerquetschen), der dazu geführt hat, dass praktisch alle Fledermausarten in Deutschland noch immer auf der „Roten Liste“ stehen, auch wenn sich die Bestände aufgrund strengerer Schutzbestimmungen und des Verbots einiger Pestizide seit den neunziger Jahren langsam wieder erholen.

Viren – Fluch der Fledermaus

Fledermäuse sind ein Reservoir für zahlreiche Viren, praktisch jedes ihrer Organe kann Viren enthalten. Dennoch scheint ihr Immunsystem selbst gegen äußerst gefährliche Viren resistent zu sein. In diesem effizienten Immunsystem liegt denn auch die evolutionäre Leistung der Fledermäuse. Für den Menschen hingegen ist der Kontakt mit Fledermäusen gefährlich – insbesondere ihr Speichel und ihre Ausscheidungen, die hochinfektiöse Viren enthalten. Nicht zuletzt deshalb gelten ihre Höhlenquartiere, in denen sie oft zu tausenden Leben, auch als Brutstätte für neue Viren (abgesehen davon, dass die Luft eine hohe Konzentration von Kohlenstoff, Stickstoff, Methan und Amoniak enthält, sammeln sich die Viren in den Exkrementen als sogenannter „Guano“ am Boden).

Untersuchungen des Biologen Fabian Leendertz an hunderten Fledermäusen in Westafrika haben ergeben, dass diese bis zu sechzig bislang unbekannte Arten der sogenannten – hochgefährlichen – Paramyxoviren in ihrem Blut haben. Zu den Paramyxoviren zählt beispielsweise das nach dem australischen Hendra benannte Virus, sie sind aber auch für so verbreitete Krankheiten wie Masern, Mumps, Pocken oder die Kinderlähmung verantwortlich. „Unsere Analyse zeigt“, zitiert Gunnar Decker in „Die Fledermaus – Bote der Nacht“ (2018) den an der Studie beteiligten Virologen Christian Drosten, „dass die Urahnen der heutigen Paramyxoviren fast alle in Fledermäusen existiert haben“ – ganz abgesehen von anderen gefährlichen Viren, die für Krankheiten wie das nach einem kongolesischen Fluss benannte Ebola (verantwortlich dafür war ein Filovirus, zu denen auch der erstmals 1967 im hessischen Marburg entdeckte und danach benannte Virus gehört) oder das von einem Coronavirus verursachte SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome / Schweres Akutes Atemwegssyndrom).

Für Fabian Leendertz ist klar, dass Fledermäuse „zwar Tod und Teufel in sich (tragen) – aber gefährlich sind sie nur, wenn der Mensch in ihre Lebensräume eindringt“. Die Globalisierung, die selbst vor abgelegenen Regionen nicht halt macht, erweist sich hierbei als Fluch. Das gilt zum Beispiel für den Ausbruch einer für die Hälfte der Infizierten tödlichen Enzephalitis in Malaysia und Singapur (mit insgesamt etwa 265 Betroffenen) im Jahr 1998: Auslöser dafür war der Nipah-Virus, der ebenfalls zu den Paramyxoviren zählt, der zahlreiche Schweine in einer entlegenen, mitten im Urwald errichteten Anlage für Massentierhaltung infizierte. Als Reservoirwirt stellte man Flughunde fest (die von Linné irrtümlich als Pteropus vampyrus bezeichnet wurden, sich aber nicht von Blut, sondern vegetarisch ernähren): es reichte hier offenbar, dass die Schweine angefressenes und fallengelassenes, also mit dem Speichel infizierter Flughunde in Kontakt gekommenes Obst fraßen.

Auch der Ausbruch von Ebola in Westafrika wird mit Fledermäusen in Verbindung gebracht. Als Quelle konnten einige Kinder identifiziert werden, die infizierte Angola-Bulldogfledermäuse (Mops condylurus) fingen und grillten. Infizierte Fledermäuse, die in die menschliche Nahrungskette gelangten, sind auch der Grund für den erstmaligen Ausbruch von SARS im Jahr 2002 in der chinesischen Provinz Guangdong. SARS ist eine atypische Lungenentzündung – wie jetzt auch COVID-19 –, bei der Antibiotika wirkungslos sind. Damals entdeckte man (Christian Drosten war entscheidend daran beteiligt) einen bis dahin unbekannten Coronavirus, SARS-CoV-1, als Erreger – und stieß bei der Suche nach der Quelle des Virus auf ein Restaurant im südchinesischen Shenzan, das auch Fledermäuse verarbeitete. Kurz darauf konnte das Virus bei einer Hufeisennase nachgewiesen werden, die inzwischen als Reservoirwirt des SARS-Virus nachgewiesen ist.

Hufeisennasen-Fledermäuse haben ähnliche Nasenhöhlen wie der Mensch – die Nasenhöhle des Menschen ist für die Coronaviren insofern kein völlig unbekanntes Terrain. In der Nasenhöhle bilden Drüsen, sogenannte Becherzellen, das Nasenssekret (Schleim), das Viren normalerweise abtransportiert. Einigen Coronaviren gelingt es allerdings, das Hindernis zu überwinden und über die Becherzellen in den Körper einzudringen, denn diese sind stärker als andere Zellen des menschlichen Körpers mit Rezeptoren bedeckt, die von den Viren erkannt werden. Dort docken sie nach dem „Schlüssel-Schloss-Prinzip“ an die Zellmembran an und schleusen ihr genetisches Material ins Innere der Zelle, die nun beginnt, hunderte von Viren zu produzieren, die sich im restlichen Körper (Organismus) verbreiten.

Eingangstor ist immer die Becherzelle – beim Menschen genauso wie bei der Fledermaus –, bei Fledermäusen allerdings sind die Konsequenzen nicht so gravierend, weil die Viruslast bei ihnen wesentlich geringer bleibt. Die Hufeisennasen-Fledermaus kann das Virus insofern zwar nicht komplett abwehren, aber den Ausbruch der Krankheit verhindern und das Virus so kontrollieren. Das gelingt ihr durch immunstimulierende Proteine: versucht ein Virus einzudringen warnt der Botenstoff „Interferon Alpha“ die Fledermaus vor dem Eindringen, das heißt er informiert die Zellen der umliegenden Umgebung, dass es zu einer Infektion gekommen ist. Hat eine Zelle das Virus entdeckt, bildet sie Interferone um das Immunsystem zu aktivieren, das nach dem Empfang des Signals den eindringen Virus beziehungsweise bereits infizierte Zellen beseitigt.

Der Mensch hingegen besitzt praktisch kaum „Interferon Alpha“, entsprechend wird das Immunsystem bei ihm nicht mobilisiert, um den Virus abzuwehren. Während sich die Fledermaus also gewissermaßen permanent in Abwehrbereitschaft befindet, muss der Mensch bei einer Virusinfektion erst Interferone bilden. Insofern wird bei ihm das Immunsystem erst aktiv, wenn der Virus bereits eingedrungen ist und es deshalb praktisch zu spät ist.

Vampirfledermaus

Virusübertragungen von der Fledermaus auf den Menschen sind kein modernes Phänomen, allerdings dringt der Mensch immer weiter in ihre ursprünglichen Lebensräume vor, wodurch es vermehrt zu Kontakten kommt. Unabhängig davon, ob nun auch SARS-CoV-2 von Fledermäusen übertragen wurde oder nicht – COVID-19 beweist, dass aus zeitlich und räumlich begrenzten Epidemien im Zuge der Globalisierung inzwischen unversehens weltweite Pandemien werden können.

Breitet sich mit dem Coronavirus also womöglich erstmals ein von der Fledermaus auf den Menschen übertragener Virus über die gesamte Welt aus, hat sich die mit einer Virusinfektion verbundene existenzielle Unsicherheit und Angst auch schon in früheren Zeiten pandemisch ausgebreitet. Schon im 3. Buch Mose wird die Fledermaus als „unrein“ bezeichnet und es war entsprechend verboten, sie zu essen: in Leviticus 11,13 heißt es zur Fledermaus, dass man sie „verabscheuen (soll) – sie dürfen nicht gegessen werden, sie sind ein Gräuel“.

Gräuel und Angst erregend war und ist nach wie vor auch für Viele die südamerikanische Vampirfledermaus: hier basiert die Furcht vor einer Virusinfektion auf der Angst vor dem Biss eines unbekannten nächtlichen Angreifers, der uns im Schlaf überfällt (der Begriff „Infektion“ bedeutet seinem Wortsinn nach, ein Gift verabreicht zu bekommen und stammt vom lateinischen īnficere für „anstecken“, „vergiften“; wörtlich „hineintun“). Der Ende des 19. Jahrhunderts entstandene moderne Mythos des blutsaugenden Vampirs, der nachts als Fledermaus Schlafende angreift, die, ohne geweckt zu werden, vom Biss infiziert selbst zu Vampiren werden, hat hier seinen realen Hintergrund.

In der beißenden und blutsaugenden Fledermaus hat der moderne Vampir-Mythos seine biologische Grundlage. Allerdings wurde erst 1931 zweifelsfrei festgestellt, dass Vampirfledermäuse ihre Opfer auch mit Viren infizieren können, denn sie Tragen das Lyssa-Virus, auch Tollwut genannt, in sich (11 der 12 bisher bekannten Tollwut-Virus-Spezies wurden bei ihnen identifiziert. Man geht davon aus, dass auch etwa ein Prozent der europäischen Fledermäuse damit infiziert sind – auch jede fünfte Breitflügelfledermaus, die inzwischen zu 95 Prozent für die Tollwut in Europa verantwortlich ist). In Südamerika fallen jährlich etwa eine halbe Million Rinder dem Virus zum Opfer. Aber immer wieder sterben auch zahlreiche Menschen bei solchen Tollwut-Epidemien.

Von den drei in Süd- und Teilen Nordamerikas vorkommenden Arten der Vampirfledermaus ist Desmodus rotundus, der Gemeine Vampir, am verbreitetsten und insofern auch am bedrohlichsten. Dabei blieb die etwa 9 Zentimeter große Fledermaus als Vampir relativ lange unentdeckt, erst 1769 begann der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707-1788) zu ahnen, dass es sich hier um eine blutsaugende Art handeln muss. Berichte, dass auch schlafende Menschen zu Opfern von Vampirfledermäusen werden, gibt es seither immer wieder. Dennoch blieb das zunächst nur eine Vermutung, bis 1869 der deutsche Zoologe Reinhold Hensel (1826-1881) erstmals auf den Urheber der trichterförmigen Wunden bei den Bissopfern stieß. Die systematische Erforschung der Vampirfledermaus setzte aber erst nochmal hundert Jahre später mit dem Zoologen Uwe Schmidt ein, der 1969 auch lebende Exemplare mit nach Deutschland brachte und hier, in Bonn, eine Kolonie zu Forschungszwecken einrichtete.

Der Gemeine Vampir ernährt sich, als Resultat einer einzigartigen evolutionären Anpassung, ausschließlich von Blut, das macht ihn auch für den Menschen gefährlich (einmal ausgebrochen, verläuft Tollwut beim Menschen immer tödlich, die WHO geht von jährlich etwa 55.000 Toten durch Lyssa-Infektionen aus). Mit einer Flügelspannweite von nur etwa 40 Zentimeter ist Desmodus rotundus im weltweiten Vergleich dabei nicht besonders groß. Ungewöhnlich bei ihm ist, dass er seine Arme nicht nur als Flügel benutzt, sondern auch als vordere Extremitäten zum Laufen. „Desmodus rotundus“, erklärt Gunnar Decker, „geht – vor allem wenn er sich mit Blut vollgetrunken hat – oft `zu Fuß´. Auch greift er seine Opfer nicht selten vom Boden aus an.“ Zur bevorzugten Bissstelle wird dann das Bein des Beutetiers.

Vampirfledermäuse leben in Gemeinschaft mit mehreren hundert anderen Exemplaren, oft in Höhlen. Sie sind sehr empfindlich, was Temperatur und Luftfeuchtigkeit betrifft, was ihren natürlichen Lebensraum auch erheblich einschränkt. „Bereits bei Temperaturen von unter 16 Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von unter fünfzig Prozent kann der Gemeine Vampir nicht überleben“, weiß Decker. Anders als europäische Arten verfällt die Vampirfledermaus nicht in eine energieschonende Kältestarre, sondern er muss seine Körpertemperatur ständig zwischen 33 bis 37 Grad Celsius aufrechterhalten, was bei niedrigeren Außentemperaturen eine erhöhte Nahrungsaufnahme, also mehr Blut, bedeutet.

Eine Vampirfledermaus muss gewöhnlich jede Nacht Blut trinken – das gilt insbesondere während der Aufzucht von Jungen. Schon wenige Tage nach der Geburt beißt sich dieses mit seinen noch nicht rasiermesserscharf ausgebildeten Schneidezähnen an den Zitzen der Mutter so fest, dass die es auf ihre Beuteflüge mitnehmen kann. So werden die Jungen bis zu acht Wochen mit herumgetragen und bis zu zehn Monaten gesäugt. Erst dann erfolgt die Umstellung der Ernährung auf Blut. Dazu verändert sich die Verdauung komplett, das heißt, wie Decker bemerkt, „diese Phase wird dadurch eingeleitet, dass die Jungtiere Kot fressen, um die zur Blutverdauung notwendigen Bakterien aufzunehmen.“

In dieser Phase lernt die junge Vampirfledermaus auch das richtige Beißen ihrer Opfer – ohne diese aus ihrem Schlaf zu wecken – sowie den besonderen Wechsel von Saug- und Leckbewegungen beim Trinken des Blutes ihrer Opfer. Häufig sind das Rinder. Desmodus rotundus geht dabei langsam und vorsichtig vor – der Biss hat etwas von einem zeremoniösen Ritual, wie Decker schreibt: „Erst wird wiederum minutenlang eine geeignete Stelle gesucht, in die Desmodus rotundus dann langsam, sehr langsam die scharfen Zähne senkt, nachdem er die Stelle zuvor gründlich eingespeichelt hat. Dieser Speichel hat offenbar eine anästhesierende Wirkung – und enthält zudem das Enzym Desmoteplase, einen Blutverdünner …“

Der gesamte Beissvorgang wurde in einem Labor beobachtet – Decker zitiert: „Nach etwa einer Minute drückt die Fledermaus unter fortwährendem Lecken sein leicht geöffnetes Maul an die Haut des Beutetieres. Im Verlauf der Zeit verstärkt es den Andruck des Maules und die Frequenz des Leckens erhöht sich auf etwa 3 Zungenbewegungen je Sekunde (der eingespeichelte Hautbezirk hat jetzt noch einen Durchmesser von etwa 5 mm). Nach 3-10 Minuten verringert sich die Leckfrequenz, und das Maul schließt sich langsam, so dass eine Hautfalte zwischen oberen und unteren Incisivi eingeklemmt wird. (…) Plötzlich stemmt sich die Fledermaus nach vorn, schließt die Kiefer (wobei eine Nickbewegung des Körpers zu beobachten ist) und beißt die sich zwischen den Zähnen befindliche Hautfalte ab.“ So entsteht eine Wunde mit etwa vier Millimeter Durchmesser, an der die Fledermaus nun zu trinken beginnt. (…) Die Aufnahme des Blutes ist weder ein richtiges Saugen, wie man es in früheren Zeiten annahm, noch ein eigentliches Auflecken. Beim Fressen liegt die gespaltene Unterlippe meist am Wundrand an … und die Zunge wird 2 bis 3 mm vor- und zurückbewegt (maximal 5 Bewegungen je Sekunde). Zwischen Wunde, Zungenunterseite und Unterlippe bildet sich eine Blutbrücke.“

Der gesamte Vorgang dauert zwischen zehn Minuten und einer halben Stunde – je nachdem, wie stark die Blutung ist. Eine Vampirfledermaus trinkt jedenfalls bis zu 50 Milliliter pro Nacht und gebissenem Beutetier. Um eine solche Menge Blut aufnehmen zu können, besitzt der Magen der Vampirfledermaus einen sogenannten „Blindsack“, der sich von sechs auf sechzehn Zentimeter im gefüllten Zustand erweitern kann. Die Fledermaus kann dann praktisch nicht mehr fliegen – und bewegt sich stattdessen laufend. Allerdings befinden sich im Blindsack verschiedene Drüsen, die das getrunkene Blut zügig eindicken und verarbeiten, so dass Desmodus rotundus nach relativ kurzer Zeit die meiste mit dem Blut aufgenommene Flüssigkeit wieder ausscheidet.

Für das schlafende Beutetier, dass von all dem nichts bemerkt, ist der Aderlass mit der einen Vampirfledermaus allerdings noch nicht beendet: „Gibt der Vampir schließlich die Biss-Stelle frei“, schreibt Decker, „warten oft schon andere Demodus rotundus, um sofort weiterzutrinken. So kann der Blutverlust schon während einer Nacht für das Beutetier durchaus erheblich sein.“ Nicht selten sterben die Tiere bereits nach relativ kurzer Zeit an Entkräftung, kehren Vampirfledermäuse doch instinktsicher immer wieder zu dem von ihnen gebissenen Tier zurück, dessen Wunde sie Nacht für Nacht erneut öffnen und weitertrinken.

Arno Schembs Leidenschaft ist der Weinbau – und der Erwerb renovierungsbedürftiger, alter Häuser, allesamt im rheinhessischen Worms-Herrnsheim. Wenn er nicht schon in den stockfinsteren Dachstühlen dieser Häuser Bekanntschaft mit der Fledermaus gemacht hat, dann sicherlich im Herrnsheimer Schloss, dass er 2006 kaufte und darin sein Weingut einrichtete, das fortan den Namen „Château Schembs“ tragen sollte. Von hier aus bewirtschaftet er zehn Hektar Rebfläche mit 65.000 Reben – auch französischer Provinienz, wie zum Beispiel beim „Noir“, der aus Pinot Noir-Trauben gemacht wurde.

Der Schlossbesitzer hat Sinn für Tradition – das macht sich auch im „2017 Noir“ bemerkbar, der in typischen 600 Liter großen Halbstückfässern aus Eichenholz ausgebaut wurde, wie man es im Weinbau in Rheinhessen schon lange macht. Zur unio mystica beim Trinken des Blutes – also, den Wein verköstigt kann man sagen: es entstand ein eleganter, strukturierter Wein mit ausgeprägter Säure und gut eingebundenen Tanninen, kraftvollen Aromen von Sauerkirsche, dunklen Waldbeeren und einer feinen, dezenten Kräuterwürze. Vielleicht nicht unbedingt zum Weihnachtsbraten, aber hey, ein blutrot-samtig-weicher Wein – wahrlich gut für einen kräftigeren Biss…

Mythos Vampir

Berichte über die Erfahrungen von nächtlichen Vampirangriffen auf schlafende Menschen drangen schon im 18. Jahrhundert nach Europa. Hier trifft mit diesen Berichten über die Vampirfledermaus Natur auf einen Mythos, der spätestens mit Bram Stokers Literarisierung in „Dracula“ (1897) zu einem Menschheitsgleichnis wird: die Fledermaus als Vampir und der Vampir als Fledermaus werden tief in unserem kollektiven Bewusstsein verankert.

Darüber hinaus hat die mythische Vampir-Figur des Grafen Dracula aber auch noch ein reales historisches Vorbild im rumänischen Fürsten Vlad III. (1431-1477), Drăculea, auch genannt „Ţepeş“. Der Beiname Drăculea meint, dass Vlad III. der „Sohn des Drachen“ ist, was konkret bedeutet, dass dessen Vater Vlad II. ein Mitglied des von Kaiser Sigismund ins Leben gerufenen Drachenordens (Orden der Drachenritter) war, der sich als Verteidiger des christlichen Abendlandes insbesondere gegen das Osmanische Reich begriffen hat. Das rumänische „drac“ allerdings kann auch „Teufel“ bedeuten – und „ Drăculea“ würde dann „Sohn des Teufels“ heißen. Sein anderer Beiname weist jedenfalls in diese Richtung, bedeutet „Ţepeş“ doch: der „Pfähler“ oder „Aufspießer“.

Vlad III. herrschte über die Walachei in den Karpaten und gilt im heutigen Rumänien als Nationalheiliger, da er das Land erfolgreich gegen eine Übermacht des osmanischen Heeres verteidigen konnte – obwohl er sich vom Papsttum alleingelassen fühlte, und sich deshalb auch vom Christentum lossagte. Vlad III. erscheint für manche so als Antichrist – und zweifellos hat dazu auch seine grausame Praxis des Aufspießens von Gefangenen beigetragen, auch wenn diese tödliche Folter in den Stadtrechten des 13. und 14. Jahrhunderts durchaus auch hierzulande üblich war. Der Mythos aber besagt, dass es Vlad III. ein besonderes sadistisches Vergnügen bereitet habe. Jedenfalls gibt es einen Holzschnitt aus dem Jahr 1499, der ihn speisend während einer solchen Massenpfählung zeigt. Und auch die anderen zeitgenössischen Darstellungen von Vlad III. zeichnen ihn durchweg als Antichrist.

Vlad III. Drăculea tafelt während einer Massenpfählung, Holzschnitt von Markus Ayrer, Nürnberg 1499. Ältere zeitgenössische Bilder von Vlad III. zeigen ihn als Pontius Pilatus, der Jesus das Kreuzigungsurteil verkündet (dieses Bild stamm von 1463 und hängt in der Nationalgalerie Ljubljana) sowie als ein in Geschäfte verstrickter und sich von Jesus abwendender Vertreter der Weltlichkeit bei dessen Kreuzestod (wie auf der rechten Seite des Altarflügels von 1460 in der Wiener Kirche Maria am Gestade).

Schon zu Lebzeiten also galt Vlad III. als grausam und brutal – jedoch nicht als Vampir, zumindest ist nicht überliefert, dass er auch das Blut der Ermordeten getrunken hätte. Gleichwohl hat sich seine Herrschaftspraxis in Zusammenhang mit dem Vampirismus erhalten: das Pfählen. Das zeigt sich bei der ersten bereits damals so bezeichneten „Vampyrpest“ um 1730 auf dem Balkan, die schnell die Aufmerksamkeit des noch neuen Mediums Zeitung in den europäischen Metropolen auf sich zog. Hier tauchte das erste Mal der Begriff des Vampirs auf (in fast allen slawischen Sprachen Osteuropas existieren verschiedene Formen des Begriffs, unter anderem „Strigoi“, „Vurdalak“ oder auch „Nosferat“, die aber allesamt unter „Vampir“ subsumiert wurden, dessen Wortherkunft wiederum bis heute unklar ist).

Der Begriff Vampir bezeichnete damals ein Gespenst, das heißt einen von den Toten auferstandenen „Wiedergänger“. Um diese Untoten endgültig ins Jenseits zu befördern, waren besondere Maßnahmen nötig, über die Voltaire in seinem Essay über „Vampire“ (1764) berichtet: „Von 1730 bis 1735 war von nichts anderem als von Vampiren die Rede“, schreibt er, „man lauerte ihnen auf, man durchbohrte ihnen das Herz, und sie wurden verbrannt: Sie erinnerten an die alten Märtyrer; je mehr man verbrannte, desto mehr tauchten auf.“

Seinen Ausgang nahmen die Vampirerscheinungen 1731 in der serbischen Jagodina, im Dorf Medvegya, bevor sich das Phänomen über den gesamten slawischen Südosten bis ins rumänische Transsylvanien ausbreitete. Hier würden Verstorbene, verdammte Seelen, des Nächtens ihren Verwandten erscheinen und ihnen das Blut aussaugen – jedenfalls seien diese Untoten für die verbreiteten Seuchen und Krankheiten im Dorf verantwortlich. Die Wissenschaft war herausgefordert: Um den Gerüchten über die Untoten und der „Vampyrpest“ auf den Grund zu gehen, schickte die Habsburgermonarchie eine Abordnung von „Medizi“ in das Dorf. Verbirgt sich etwas hinter dem Phänomen? Oder geht es doch nur um rückständigen Aberglauben innerhalb der slawischen Bevölkerung, die „sehr dem Weine ergeben“ sei, „der mehr als alles andere den Verstand verstopft und die Anschauung durcheinanderbringt“, wie ein Geistlicher aus dem Umfeld des Papstes bemerkte. Die verachteten Dorfbewohner jedenfalls verlangten, dass man die Toten ausgräbt um zu sehen, dass sie nicht tot sind. Dann sollte man die Leichen pfählen und verbrennen …

Tatsächlich stellte die Habsburger Abordnung fest, dass manchen Leichen Blut aus den Mündern tropfte, sie aber kaum Anzeichen von Verwesung zeigten (dass das Blut aufgrund der Aufblähungen im Verwesungsprozess normal ist, war damals nicht bekannt, genausowenig, dass die Entwicklung von für die Fäulnis der Leichen wichtigen Bakterien in einer anaeroben Situation, beispielsweise in feuchtem Lehmboden, verhindert wird). Andreas Puff-Trojan zitiert in „Vampire! Schattengewächse der Aufklärung“ (2021) aus dem Protokoll des verantwortlichen Wissenschaftlers für die Exhumierung: „7 Wochen lang gelegen, in keiner Truchen, sondern blossen feichten Erden, wäre notwendig halbs schon verweesen zu seyn; allein sie ware annoch das Maul offen habend, das helle frische Bluth auß Nasen und Maul heraus gefloßen, der Leib hoch aufgeblasen, und mit Bluth unterloffen, welches mir selbst suspect vorkommet.“

Für die ortsansässige Bevölkerung ist die Unversehrtheit der Leichen ein untrügliches Zeichen für „Vampyrismus“. Für die Wissenschaftler hingegen ist klar, dass man zu wenig über den menschlichen Körper weiß – und so beginnt sich ein internationaler Disput über die Frage zu entspinnen, wie Decker schreibt: „Wie tot sind die Toten wirklich? Und dann als zweite Frage: Kann es sein, dass sie andere Menschen, vor allem Familienangehörige, nach ihrem Tod `schädigen´, also krank machen und töten?“

An der Vampir-Debatte dieser Zeit realisiert sich, folgt man Puff-Trojan, ein Aufklärungsbewusstsein, das nach natürlichen Ursachen und vernünftigen Erklärungen für die seuchenartige Verbreitung des Vampirglaubens sucht und in diesem Zusammenhang insbesondere eine Verbindung mit der Einbildungskraft herzustellen versucht. Eine der wichtigsten Publikationen dazu stammt vom evangelischen Theologen und Vampirforscher Michael Ranft (1700-1774). Sein naturwissenschaftlicher Gestus – frei von theologischen Dogmen – ist bis dahin unbekannt.

Ranft geht davon aus, dass beim Vampir(aber)glauben eine Einbildung beziehungsweise „Kräfte (potentiae)“ am Werk seien, die von einem „bösen Dämon“ stammen müssten. Er schreibt dazu: „Es scheint uns nicht völlig unwahrscheinlich, daß die ganze Vampyrpest bei Serben und anderen in einer magischen Ansteckung (contagium magicum) besteht … Wir sagen Ansteckung, weil sie sich gleich einer Seuche weiter ausbreitet und mit ihrem Anhauch nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Familien infiziert und ausrottet; und wir nennen sie magisch, weil der Teufel sein Wirken unter die Kräfte der Natur mischt, und so einige widernatürliche Effekte erzielt.“

Ranft verbindet hier die Seuche mit dem Begriff der Ansteckung, den – wie Puff-Trojan ausführt – erstmals „Athanasius Kircher ins Spiel brachte, um Ausbreitungen von Seuchen naturwissenschaftlich zu beschreiben. (…) Kircher, der bereits einfache Mikroskope benutzte, nahm an, dass `Würmlein´, also kleinste lebende Organismen, die Erreger von Seuchen seien. Aber diese `Würmlein´ könnten ja durchaus `widernatürliche Effekte´ teuflischen Handelns sein“. Entsprechend konnte sich für Ranft der Vampir(aber)glaube also wie eine Seuche verbreiten, weil es zu einer „magische(n) Ansteckung“ in Form von dämonischen „Kräfte(n) (potentiae)“ kam – erst dadurch wurde das Erscheinen des Vampirs möglich.

Die Einbildungskraft ist insofern begriffen als der eigentliche Erreger, der Infektionsherd der „Vampyrpest“. Ansonsten könnte eine mögliche, natürlich-biologische Erklärung für die Vampirepidemie auch sein, dass die Toten zu flach Begraben wurden, bemerkt Ranft, so dass Ratten Gänge bis zu ihnen gruben und sich Krankheitserreger auf diesem Weg verbreiteten. Die Dorfbewohner hätten darauf wohl geantwortet, dass sich Vampire selbstverständlich verwandeln können: in gewöhnliche Ratten, in Fledermäuse ohnehin. Seit langem ist sie ist für viele slawische Völker, wie Gunnar Decker bemerkt, ein „Todesorakel“ …

Der Vampir-Aberglauben jedenfalls war verbreitet und hielt sich hartnäckig – noch wurden Tote, die man verdächtigte, Vampire zu sein, gepfählt und verbrannt. So sah sich schließlich die Habsburgische Kaiserin Maria Theresia in Wien genötigt, sich der Angelegenheit persönlich anzunehmen. 1755 ordnete die aufgeklärte Monarchin den sogenannten Vampirerlass an, „ein Gesetz mit dem programmatischen Aufklärungstitel: `Der Aberglaube ist abzustellen´“, wie Puff-Trojan weiß. Unter das Gesetz fällt insbesondere das Verbot, Leichen im „Verdachtsfall“ eigenmächtig zu exhumieren. Dies galt fortan als Störung der Totenruhe und wurde mit einer schweren Strafe geahndet – gleichwohl konnte der Vampir(aber)glaube nie wirklich vollständig beendet werden.

Theologische Aufklärungsversuche

In der christlichen Kultur erblickt man in der Fledermaus etwas Dämonisches. Als Gegenbild zum strahlend weißen Engel, der mit seinen Federflügeln aus lichten himmlischen Sphären herabzuschweben scheint, werden der schwarzen Fledermaus, dem Wesen aus finsterster Nacht mit seiner ledrigen Flügelhaut, in der christlichen Mythologie Tod und Teufel zugeschrieben. Angeblich hat schon Divus Basilius (329-379), auch „Basilius der Große“ genannt, gesagt: „Die Natur der Fledermaus ist mit der des Teufels blutverwandt.“ Bevor sie im 17. und 18. Jahrhundert zum Sinnbild des Todes wird, tauchte die Fledermaus jedenfalls in Darstellungen seit dem 13. Jahrhundert bereits als Teufelssymbol auf.

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In christlichen Darstellungen galt die Fledermaus schon lange als Symbol für den Teufel, den man deshalb auch häufig mit Fledermausflügeln darstellte.

Schon immer also stand die Fledermaus in der christlichen Kultur mit Tod und Teufel in Verbindung und fungierte als Bote finsterer Mächte – das gilt auch für den slawischen Raum, wo die Fledermaus, wie Decker ausführt, schon seit langem ein „Todesorakel“ ist und nun der Vampir „jene Kontur als `geflügeltes Gespenst´ (bekommt), die sich im Folgenden schärfen wird“. Gleichwohl gibt es hier Bemühungen, die Bevölkerung mit Vernunftgründen von ihrem Aberglauben abzubringen.

Anders als der eher naturwissenschaftlich orientierte Michael Ranft will der französische Benediktiner Augustin Calmet mit seiner „Dissertation sur les vampires“ (1751) dabei allein mittels theologischer Argumente zeigen, dass es Vampire nicht gibt und der Vampir(aber)glaube insofern ein gefährlicher Irrglaube ist. Dazu vergleicht er die vermeintlichen Vampirerscheinungen mit Darstellungen aus der Bibel, wobei ihn insbesondere die Erweckung des toten Lazarus interessiert sowie Jesus` Auferstehung nach dem Kreuzestod. Für ihn ist klar, dass der Teufel keine lebensspendende Kraft besitzt, sondern dass allein Gott in seiner Allmacht („toute-puissance“) Tote auferwecken könne. Die sichtbaren Wunder („miracle visible“) entspringen ihm zufolge also allein aus Gottes Natur – alles andere sei gefährlicher Aberglaube.

Allerdings weist Calmet, wie Puff-Trojan bemerkt, auch auf eine Ausnahme hin: In der Zeit vor dem Jüngsten Gericht – von dem keiner weiß, wann es beginnt – werden falsche Propheten auftreten, wie Jesus prophezeit hat. Allein in dieser Zeit habe das Böse die Macht, Tote ins Leben zurückzuholen um die Gläubigen zu prüfen. Das Böse erscheine dann als Antichrist – er ist gewissermaßen der Keim jenes zerstörerischen Virus, den das Christentum schon immer in sich trägt.

Der Begriff „Antichrist“ kommt in der Bibel nur an einer einzigen Stelle vor, nämlich im erster Brief des Apostel Johannes (1. Johannes 2,18f) – als Warnung: „Kinder, die letzte Stunde ist da. Ihr habt ja gehört das ein Antichrist kommt. Jetzt aber sind viele Antichristen aufgetreten; daran erkennen wir, dass die letzte Stunde da ist. Aus unserer Mitte sind sie hervorgegangen, aber sie gehörten nicht zu uns; denn wenn sie zu uns gehört hätten, wären sie bei uns geblieben.“

Mit dem Erscheinen des Antichrist ist zwar das Ende der Zeit gekommen, beunruhigender erscheint Calmet allerdings, dass der Antichrist aus „unserer Mitte“, also aus der Gemeinde kommt – wie nun ja auch bei den vermeintlichen Vampirerscheinungen. Denn das würde bedeuten, dass es sich bei ihm um einen Bekannten (oder sogar Verwandten) handelt, der sich nicht nur gegen die Gemeinschaft entschieden hätte, sondern darüber hinaus auch gegen die göttliche Liebe und die mit ihr verbundene Verheißung des Ewigen Lebens. Stattdessen hätte er sich für den Tod entschieden – da er aber als Antichrist gleichsam doch unweigerlich mit Christus verbunden ist und insofern auch, und sei es noch so entfernt, von seiner Auferstehung weiß, wäre er des Todes quasi nur in einem verfluchten Status des Untot-Seins. Sind Vampirerscheinungen also vielleicht doch möglich und sogar ein Zeichen für den Antichristen und das Ende der Zeit?

Die Zweifel, die sogar einen aufgeklärten Theologen wie Calmet bei der Untersuchung des Vampirismus für einen kurzen Augenblick überkommen, werden von den orthodoxen Priestern gerne aufgegriffen – und der Vampirglaube in der Bevölkerung sogar noch verstärkt. Wie Decker ausführt, sind die nicht verwesenden Leichen „Teufelswerk“ – gerade anders als in der katholischen Kirche, für die das ein Zeichen für „Heiligkeit“ ist. Decker schreibt: „Gewiss trägt die orthodoxe Kirche eine erhebliche Mitschuld am Aufkommen der Vampir-Hysterie, da auch viele orthodoxe Priester diesem Aberglauben anhingen. In ländlichen Gegenden traten sie dem Vampir-Kult also nicht nur nicht entgegen, sondern beförderten ihn sogar. (…) Der eben erst überwunden geglaubte, doch virulent gebliebene Hexenglaube kehrte nun in Gestalt der Vampire zurück.“

Nietzsches Antichrist

Indem sie die Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung schüren, stellen sich die Priester gegen eine wissenschaftliche Aufklärung der Vampirerscheinungen. Für Friedrich Nietzsche ist klar, dass dahinter eine Absicht steckt. Ohne ausdrücklick auf die slawische „Vampyrpest“ einzugehen schreibt er in „Der Antichrist“ (1888) in diesem Zusammenhang: „Der Priester kennt nur Eine große Gefahr: das ist die Wissenschaft, – der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung. Aber die Wissenschaft gedeiht im ganzen nur unter glücklichen Verhältnissen, man muß Zeit, man muß Geist überflüssig haben, um zu `erkennen´ … `Folglich muß man den Menschen unglücklich machen´, – dies war zu jeder Zeit die Logik des Priesters. (…) Der Schuld- und Strafbegriff, die ganze `sittliche Weltordnung´ ist erfunden gegen die Wissenschaft (…) Der Mensch soll nicht hinaus-, er soll in sich hineinsehn; er soll nicht klug und vorsichtig, als Lernender, in die Dinge sehn, er soll überhaupt gar nicht sehn: er soll leiden … Und er soll so leiden, daß er jederzeit den Priester nötig hat. (…) Der Schuld- und Straf-Begriff, eingerechnet die Lehre von der `Gnade´, von der `Erlösung´, von der `Vergebung´ – Lügen durch und durch und ohne jede psychologische Realität – sind erfunden, um den Ursachen-Sinn des Menschen zu zerstören: sie sind das Attentat gegen den Begriff Ursache und Wirkung! (…) Ein Priester-Attentat! Ein Parasiten-Attentat! Ein Vampyrismus bleicher unteririscher Blutsauger!“

„Umwerthung aller Werthe“ nennt Friedrich Nietzsche das, was er in „Der Antichrist“ umzusetzen versucht – es ist allerdings zugleich, wie Heinrich Meier in „Nietzsches Vermächtnis“ (2019) schreibt, eine „der entschiedensten Verneinungen“ des Christentums. Jedenfalls wird das Christentum bei Nietzsche zum „Vampyrismus“ – ein zerstörerischer Virus insofern, als „(d)ie christliche Kirche nichts mit ihrer Verderbnis unberührt (ließ), sie hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge“ gemacht. Mit ihren christlichen „Bleichsuchts- ihrem `Heiligkeits´-Idealen“ habe sie „jedes Blut, jede Liebe, jede Hoffnung zum Leben (ausgetrunken)“ und sie sei eine parasitäre Praxis „gegen Gesundheit, Schönheit … gegen das Leben selbst.

„Gegen die Langeweile kämpfen Götter selbst vergebens. (…) Folglich schuf Gott das Weib. Und in der Tat, mit der Langeweile hatte es nun ein Ende (…) Erst durch das Weib lernte der Mensch vom Baume der Erkenntnis kosten. – Was war geschehn? Den alten Gott ergriff eine Höllenangst. Der Mensch war sein größter Fehlgriff geworden, er hatte sich einen Rivalen geschaffen, die Wissenschaft macht gottgleich (…) Wie wehrt man sich gegen die Wissenschaft? Das wurde für lange sein Hauptproblem. Antwort: fort mit dem Menschen aus dem Paradiese! Das Glück, der Müßiggang bringt auf Gedanken, – alle Gedanken sind schlechte Gedanken … Der Mensch soll nicht denken. – Und der `Priester an sich´ erfindet die Not, den Tod, die Lebensgefahr der Schwangerschaft, jede Art von Elend, Alter, Mühsal, die Krankheit vor allem, – lauter Mittel im Kampfe mit der Wissenschaft! Die Not erlaubt dem Menschen nicht zu denken …“ (Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1888)

Insofern habe das Christentum „die Krankheit nötig“, schreibt Nietzsche, „Krankmachen ist die eigentliche Hinterabsicht des ganzen Heilsprozeduren-Systems der Kirche“. Entsprechend fördere der christliche Priester das Leiden, dient ihm doch die Krankheit zur Durchsetzung seines Willens zur Macht. Umgekehrt wird die Gesundheit – und das ist für Nietzsche insbesondere auch eine geistige Gesundheit – als eine Art „Teufel, Versuchung“, wie er sagt, bekämpft. „Gegen den Geist, gegen die superbia des gesunden Geistes“ jedenfalls, wie Nietzsche sagt, spricht das Christentum „den Fluch“ aus – und genau dagegen nun wiederum antwortet Nietzsche mit seinem Fluch, wie der Untertitel von „Der Antichrist“ lautet: „Fluch gegen das Christentum“.

Nur in Opposition zum „Geist“, das heißt zur wissenschaftlichen Erkenntnis, gewinnt das Christentum als Glaubenssystem seine innere Einheit. Als ein „Nicht-wissen-wollen, was wahr ist“ charakterisiert Nietzsche den Glauben. Und zu seiner Verteidung „müssen alle geraden, rechtschaffenen, wissenschaftlichen Wege zur Erkenntniss von der Kirche als verbotene Wege abgelehnt werden. Der Zweifel bereits ist eine Sünde“ – und genau daraufhin prüft der Antichrist im Verständnis des Apostel Johannes ja den Gläubigen. Aber, wie Nietzsche sagt: „Ohne Zweifel keine Wissenschaft, ohne Ungehorsam keine Philosophie.“

So liegt in Nietzsches Verneinung des Christentums also auch eine Bejahung: letztlich des Lebens selbst. Es geht ihm dabei um eine vorwärtsgewandte Perspektive und um einen „höherwertigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewiesenen“ Typus Mensch, denn dieser „war bisher beinahe das Furchtbare“, wie Nietzsche sagt: Aus Furcht heraus nämlich habe das Christentum „einen Todkrieg gegen diesen höheren Typus Mensch gemacht, es hat alle Grundinstinkte dieses Typus in Bann getan, es hat aus diesen Instinkten das Böse, den Bösen herausdestilliert: – der starke Mensch als der typisch Verwerfliche, der `verworfene´ Mensch´. Das Christentum hat … ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht.“ Stattdessen „wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, – der Christ …“.

Das Christentum leite den Menschen „nicht mehr vom `Geist´“ ab, sondern habe ihn „unter die Tiere zurückgestellt“. Dabei sei der Mensch nur „das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte“. Fehlten dem modernen Mensch schon alle natürlichen Instinkte – dann habe habe ihm das Christentum auch noch seinen Willen genommen: „Ehedem gab man dem Menschen, als seine Mitgift aus einer höheren Ordnung, den `freien Willen´: heute haben wir ihm selbst den Willen genommen, in dem Sinne, daß darunter kein Vermögen mehr verstanden werden darf.“

An die Stelle des Willens – der nur noch postuliert werde, um „einander Schuld zuzuweisen“ und sich gegenseitig „moralisch niederzuhalten“, wie er in „Jenseits von Gut und Böse“ (1886) schreibt – sei ein „Bedürfnis nach Glauben“ getreten, das jedoch selbst nur „ein Bedürfnis der Schwäche“ sei. Vor dem Hintergrund der christlichen Bestimmung des Glaubens als Gehorsam, wie beispielsweise im Römerbrief von Paulus formuliert, schreibt Nietzsche: „Der Mensch des Glaubens, der `Gläubige´ jeder Art ist notwendig ein abhängiger Mensch, – ein solcher, der sich nicht als Zweck, der von sich aus überhaupt nicht Zwecke ansetzen kann. Der `Gläubige´ gehört sich nicht, er kann nur Mittel sein, er muß verbraucht werden, er hat jemand nötig, der ihn verbraucht.“ So verbreitete sich das Christentum als „Vampyrismus“ über die Welt …

Notwendig sei insofern eine „Umwerthung der Werte“ – und die beginnt für Nietzsche beim Mitleid: „Man nennt das Christentum die Religion des Mitleidens“, schreibt er; Das Mitleid allerdings, so führt er aus, „steht im Gegensatz zu den tonischen Affekten, welche die Energie des Lebensgefühls erhöhn: es wirkt depressiv. Man verliert Kraft, wenn man mitleidet. Durch das Mitleiden vermehrt und vervielfältigt sich die Einbuße an Kraft noch, die an sich schon das Leiden dem Leben bringt. Das Leiden selbst wird durch das Leiden ansteckend.“

Für Nietzsche ist klar, dass das Leben durch das Mitleid verneint beziehungsweise „verneinungswürdiger“ gemacht werde. Mitleiden jedenfalls sei „die Praxis des Nihilismus. Nochmals gesagt: dieser depressive und kontagiöse [ansteckende] Instinkt kreuzt jene Instinkte, welche auf Erhaltung und Wert-Erhöhung des Lebens aus sind: es ist ebenso als Multiplikator des Elends wie als Konservator alles Elenden ein Hauptwerkzeug zur Steigerung der décadence, – Mitleiden überredet zum Nichts … (…) Aristoteles sah, wie man weiß, im Mitleiden einen krankhaften und gefährlichen Zustand, dem man gut täte, hier und da durch ein Purgativ [Katharsis, Reinigung] beizukommen: er verstand die Tragödie als Purgativ. (…) Nichts ist ungesunder, inmitten unserer ungesunden Modernität, als das christliche Mitleid. Hier Arzt sein … das ist unsere Art Menschenliebe …“

Nietzsches Kritik am Mitleid ist weniger sozialdarwinistisch als man zunächst vielleicht vermuten mag, sondern zielt letztlich darauf, dass man aus seiner Perspektive hier das christliche Gebot der Nächstenliebe auf eine „Moral der Selbstlosigkeit auf Gegenseitigkeit reduziert“. Hinzu komme seit Kant, dass das, was ehemals der „freie Wille“ war, nun etwas werde, um „einander Schuld zuzuweisen und so moralisch niederzuhalten“, wie er in „Jenseits von Gut und Böse“ (1886) schreibt.

Die Heilung von der Krankheit, vom Virus des Christentums, steckt für Nietzsche im Ungehorsam und in der aus dem Zweifel erwachsenden wissenschaftlichen Erkenntnis. Denn „Groß verdient der Mensch genannt zu werden“, schreibt Nietzsche – es geht ihm hier schon lange nicht mehr um den Übermenschen –, wenn er „den Glauben überwunden und zu seinen Überzeugungen Abstand gewonnen hat … Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Überkraft des Geistes beweist sich durch Skepsis. (…) Ein Geist, der Grosses will, der auch die Mittel dazu will, ist mit Nothwendigkeit Skeptiker (…) Die grosse Leidenschaft braucht, verbraucht Überzeugungen, sie unterwirft sich ihnen nicht (…) die Leidenschaft der Erkenntnis. Sie ist die Eine Leidenschaft, die sich souverän wissen kann, weil ihr im Unterschied zu allen anderen Leidenschaften die Rückwendung auf sich selbst in der Erkenntnis wesentlich ist. Der Skeptiker vermag in ihr den Grund und die Macht seines Seins zu finden …“

Das Geheimnis der Fledermaus

Nietzsche verurteilt in seinem Antichrist nicht das Christentum per se, sondern den Dogmatismus der Kirche – das, was man nach dem Kreuzestod aus dem Leben Jesu, seinem Evangelium, gemacht hat. Als Jesus noch lebte, schreibt Nietzsche, ist „(d)ie `Sünde´, jedwedes Distanz-Verhältnis zwischen Gott und Mensch abgeschafft, – eben das ist die `frohe Botschaft´[= „Evangelium“]. Die Seligkeit wird nicht verheißen, sie wird nicht an Bedingungen geknüpft: sie ist die einzige Realität – der Rest ist Zeichen, um von ihr zu reden.“ Jesus` Evangelium, seine Botschaft, „war doch gerade das Dasein, das Erfülltsein, die Wirklichkeit dieses `Reichs´ gewesen“, schreibt Nietzsche im Hinblick darauf, dass sich mit dem Leben Jesu das „Reich Gottes“ ja bereits verwirklicht habe.

Indem die Evangelisten nun aber seinen Tod als Opfertod – zur Vergebung der Sünden – interpretierten, ist es Nietzsche zufolge „mit Einem Male zu Ende mit dem Evangelium! Das Schuldopfer, und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heldentum! – Jesus hatte ja den Begriff `Schuld´ selbst abgeschafft, – er hat jede Kluft zwischen Gott und Mensch geleugnet, er lebte diese Einheit von Gott und Mensch als seine `frohe Botschaft´ … Von nun an tritt schrittweise in den Typus des Erlösers hinein: die Lehre vom Gericht …, die Lehre von der Auferstehung, mit der der ganze Begriff `Seligkeit´, die ganze und einzige Realität des Evangeliums, eskamotiert [beiseitegeschafft] ist – zugunsten eines Zustandes nach dem Tode!“

Das aber ist die Logik des Vampirs – des „listigen, heimlichen, unsichtbaren, blutarmen Vampyren“, wie Nietzsche ihn bezeichnet. Und es besteht kein Zweifel: „Das Christentum war der Vampyr …“, schreibt Nietzsche: er hat das Leben „(n)icht besiegt, – nur ausgesogen!“. An seine Stelle tritt eine unwirkliche Welt, eine „Fiktions-Welt“, wie er sagt, die „ihre Wurzel im Haß gegen das Natürliche (– die Wirklichkeit! –) (hat), sie ist der Ausdruck eines tiefen Mißbehagens am Wirklichen … Aber damit ist alles erklärt.“

„Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christentume mit irgendeinem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen (`Gott´, `Seele´, `Ich´, `Geist´, `der freie Wille´ – oder auch `der unfreie´); lauter imaginäre Wirkungen (`Sünde´, `Erlösung´, `Gnade´, `Strafe´, `Vergebung der Sünde´). Ein Verkehr zwischen imaginären Wesen (`Gott´, `Geister´, `Seelen´); eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropozentrisch; völliger Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen); eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst-Mißverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus, mit Hilfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie, – `Reue´, `Gewissensbiß´, `Versuchung des Teufels´, `die Nähe Gottes´); eine imaginäre Teleologie (`das Reich Gottes´, `das jüngste Gericht´, `das ewige Leben´).“ (Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1888)

Nietzsches „Umkehrung der Werte“ bedeutet in diesem Zusammenhang gewissermaßen: die Wirklichkeit und das Leben wieder in den Blick zu nehmen – und die Fledermaus als „bad bat“, als unheilvollen Vampir, zu eskamotieren, sie zu einem Symbol des Antichrist zu machen … sie zu lieben! Von der „grosse(n) Leidenschaft“ hat Nietzsche im Antichrist gesprochen, von der „Leidenschaft der Erkenntnis“ … denn obwohl sie als Überträger etlicher lebensbedrohlicher Krankheiten so gefährlich sind: Wie kam es zur Bildung jener immunstimulierenden Interferone, die verhindern, dass die Fledermäuse selbst erkranken? Kann man daraus etwas über den Umgang beispielsweise mit Autoimmunkrankheiten erfahren?

Zahlreiche Wissenschaftler*innen interessieren sich für solche Fragen – von der Stony Brook University in New York beispielsweise, die die weltweit umfangreichste Sammlung an Fledermausgewebe und -organen aufbewahrt, bis zu den sogeannten „BatIK“-Labors in Dublin und Singapur, wo die DNA sämtlicher 1.400 Fledermausarten analysiert wird (derzeit sind erst sechs Arten vollständig genetisch entschlüsselt: die große Samtfledermaus, die Große Hufeisennase, der Nil-Flughund, die kleine Lanzennase, das große Mausohr und die Weißrand-Fledermaus). Ziel all dieser Institutionen und der leidenschaftlich daran arbeitenden Expert*innen ist es, mehr Erkenntnisse über das Erbgut und das einzigartige Immunsystem der Fledertiere zu erlangen – um so womöglich zukünftige Virus-Pandemien verhindern zu können.

Nach neuestem Stand der Wissenschaft beruhen die erstaunlichen Fähigkeiten der Fledermaus wahrscheinlich darauf, dass sie irgendwann begonnen hat zu fliegen: wie es scheint, hat die neue Fortbewegungsart eine genetische Revolution in Gang gesetzt – als hätte der Erwerb der Flugfähigkeit das Immunsystem der Fledermaus zur Anpassung gezwungen. Jedenfalls haben sich die Gene, die die Immunität der Fledermaus bestimmen, durch zahllose Mutationen verändert, seitdem ihre Vorfahren vor etwa 55 Millionen Jahren Flügel entwickelten. Die Entdeckung der genetischen Grundlagen dieser einzigartigen Anpassung jedenfalls könnte die Entwicklung neuer Therapien ermöglichen, die der Gesundheit des Menschen zugutekommen.

Indem Fledermäuse beim Fliegen ihre höchste Leistungskraft entfalten, steigt auch ihre Temperatur außergewöhnlich stark – es ist, als ob ihr Körper während der nächtlichen Flüge ständig „fiebert“. Nicht nur beim Menschen bekämpft Fieber gewöhnlich Infektionen, das heißt die hohe Körpertemperatur bremst normalerweise die Vermehrung von Viren und steigert umgekehrt die Aktivität des Immunsystems, um eingedrungene Viren unschädlich zu machen. Ein fiebriger Körper ist insofern eine feindliche Umgebung für den Virus. Aber bedeutet ein hoher Energieaufwand und eine gestiegene Körpertemperatur automatisch auch ein höher Virenschutz?

Bekanntlich überhitzt die Fledermaus während des Flugs nicht, da sie ihre Körpertemperatur mit ihren nackten Flügeln steuern kann. Sie verfügt insofern über ein effizientes Kühlungssystem: Wärme wird von der Brustmuskulatur und dem Pizeps über den im Flug kühler werdenden Außenmuskel abgeleitet. Das jedoch bedeutet, dass ihre Widerstandskraft nicht am „Fieber“ liegen kann (sonst müssten auch Entzündungen auftreten, weil sich ja auch Giftstoffe im Körper sammeln), sondern auf dem Stoffwechsel beruhen muss.

Im menschlichen Körper reagiert das Immunsystem zum Beispiel bei einer COVID-19-Erkrankung über und löst sogenannte „Zytokin-Stürme“ aus. Zytokine sind körpereigene Botenstoffe, die die Immunantwort auf einen Angriff regulieren. Aufgrund der Zytokine kommt es zu einer Überreaktion – dann greifen die Immunzellen verhängnisvollerweise alles in ihrer Umgebung an, auch die Lunge, das Herz und sogar das Gehirn. Das wurde bei Fledermäusen noch nie beobachtet, ganz im Gegenteil: Fledermäuse können Entzündungen kontrollieren, während beim Menschen Infektionen (Toxine) die Produktion von Proteinen provozieren, die die Entzündung beschleunigen, bevor das Immunsystem aktiv wird. Fledermäuse hingegen mussten den Anforderungen des Fliegers gerecht werden – einen Umgang mit der enorm steigenden Körpertemperatur finden: um Fliegen zu können mussten sie ihre Reaktion auf die dabei produzierten entzündungsfördernden Toxine dämpfen. Es ist davon auszugehen, dass es derselbe Mechanismus ist, der die Überproduktion von Viren verhindert.

Womöglich bewirkten die aus dem Flug resultierenden Zwänge bei ihnen auch noch eine weitere bemerkenswerte evolutionäre Veränderung des Genmaterials: Fledermäuse altern nämlich offensichtlich nicht, das heißt ob eine Fledermaus zwei oder dreißig Jahre alt ist, kann man ihr nicht ansehen – ganz abgesehen davon, dass sie eine für ihre Körpergröße außerordentlich lange Lebenszeit haben (Mausohren beispielsweise werden über 30 Jahre alt). Für das Altern sind sogenannte Telomere (in Chromosomen) verantwortlich, die sich im Laufe des Lebens bei Säugetieren normalerweise verkürzen. Nicht aber bei Fledermäusen: ihr im Zuge des Fliegens verändertes Genmaterial ermöglicht wohl auch „alternative Telomerverlängerungen“, das heißt die Fledermaus verfügt über einen Mechanismus, der die Länge ihrer Telomere auch im Alter konstant hält. Trotz ihres schlechten Images: Fledermäuse tragen also nicht nur tödliche Viren, sondern auch zahlreiche Heilmittel und Therapien in sich …

Für Nietzsche ist der Glaube, sind Überzeugungen „Gefängnisse. Das sieht nicht weit genug, das sieht nicht unter sich (…) Die Freiheit von jeder Art Überzeugungen gehört zur Stärke, das Frei-blicken-können“, schreibt er …. Unter sich zu blicken – das gelingt nicht auf der Erde stehend, dazu muss man sich in die Luft begeben, dazu muss man fliegen … Beim Segelfliegen nun – das weiß ich aus eigener Erfahrung – muss man, wenn man als Pilot zu leicht ist für den Flieger, ein Gewicht mit ins Cockpit nehmen, um fliegen zu können, um den Flieger auszubalancieren …

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