Berlin und sein Umland ist geprägt vom Wasser. Seinen Ursprung als Feucht- und Sumpfgebiet thematisiert die Installation Berl-Berl von Jakob Kudsk Steensen in der Halle eines ehemaligen Fernheizwerks …
„Ich will meine Stimme erheben für die Natur, für absolute Freiheit und Wildheit, im Gegensatz zur zivilisatorisch eingehegten Freiheit und Kultur; dabei betrachte ich den Menschen als Bewohner, ja als festen Bestandteil der Natur, nicht als Glied der Gesellschaft. Ich will eine extreme Position vertreten, und dies, mit Verlaub, durchaus energisch; denn Verfechter der Zivilisation gibt es ja genug (…) Alles Gute ist wild und frei!“
Henry David Thoreau, Vom Wandern (1862)
Der Frühling kündigte sich bereits an, das Heu für das Vieh in den Schobern der Bauern der Umgebung ging allmählich zur Neige, als Alexander Akimow am 26. April 1986 den Havarieschutz für die Notabschaltung des Reaktors im ukrainischen Kernkraftwerk „Wladimir Iljitsch Lenin“ abschaltete. Das Atomkraftwerk ist nur etwa 18 Kilometer von Tschernobyl mit seinen vierzehntausend Bewohnern entfernt und sogar nur rund 4 Kilometer von der im Jahr 1970 für die Techniker* und Arbeiter*innen in Zusammenhang mit dem Reaktorgebäude aus dem Sandboden gestampften Stadt Prypjat mit seinen über vierzigtausend Bewohnern. Etwa zwei Minuten später sprengte eine gewaltige Dampfexplosion den mehr als tausend Tonnen schweren Betondeckel des Reaktorkerns von Block 4 ab und es klaffte nun ein Loch im Dach, durch das nur Sekunden später eine noch heftigere „nukleare Exkursion“ die überhitzten Graphitblöcke und Kernbrennstoffe in die Umgebung schleuderte.
Im Unterschied zu westlichen Druckwasserreaktoren war die Anlage hier ein Hochleistungs-Kanal-Reaktor, ein sogenannter RBMK (Reaktor Bolschoi Moschtschnosti Kanalni), bei dem der Kern nicht mit einer Kühl- und einer separaten Dampferzeugungsschleife umgeben ist, sondern wo Hitze und Dampf in insgesamt 1.660 Druckröhren zirkulieren. In diesen Röhren befinden sich Uran-Brennstäbe, die durch normales Wasser gekühlt werden. Der dabei entstehende Dampf treibt die Turbinen des Kraftwerks an. Die Uran-Brennelemente selbst stecken in Graphitblöcken mit 14 Metern Durchmesser und 8 Metern Höhe, die für die Neutronen des Uran als Bremssubstanz, sogenannte „Moderatoren“, wirken. Geregelt wird ein Reaktorblock aber durch Stäbe mit Neutronen absorbierendem Borcarbid, die in diese Blöcke hinein- oder herausfahren: Senkt man alle diese Steuerstäbe ab, sollte die Kettenreaktion im Reaktor normalerweise enden beziehungsweise die Neutronen, die aus dem Uran fliegen, eingedämmt werden – allerdings hat ein Großteil dieser Steuerungsstäbe an ihrem unteren Ende Graphitspitzen, die beim Einfahren zunächst eine Leistungssteigerung bewirken; eine Leistungsminderung erfolgt erst bei einer größeren Einfahrtiefe.
Diese „Anomalie“ wurde den Technikern im Kernkraftwerk während eines Tests, bei dem man herausfinden wollte, ob der Turbogenerator bei einem totalen Stromausfall noch genügend „Abfahrstrom“ liefern würde, um die Speisewasserpumpen in der kurzen Phase bis zum Anspringen der behelfsmäßigen Dieselgeneratoren in Gang zu halten, zum Verhängnis. Denn das Energieniveau sank schneller als vorgesehen, weshalb der verhängnisvolle Fehler gemacht wurde, mehr als die zulässige Anzahl der Steuerstäbe hochzufahren (nur noch die Hälfte der vorgeschriebenen Mindestzahl war herabgelassen). Nun wurde der Reaktor instabil – allerdings wurden die maßgeblichen Signale nicht richtig gedeutet, widersprüchliche Angaben im Betriebshandbuch verschlimmerten die Situation noch zusätzlich (tatsächlich hätte dieser Sicherheitstest schon nachgewiesen werden müssen, um überhaupt eine Betriebserlaubnis für den sich bereits seit drei Jahren am Netz befindlichen Reaktor zu bekommen). Als der Befehl gegeben wurde, die Steuerstäbe wieder abzufahren, heizten die Graphitspitzen die Kettenreaktion für einen Augenblick so stark an, dass es zu der sogenannten „nuklearen Leistungsexkursion“ kam und in deren Folge zu den beiden Explosionen.
Danach barsten auch die Wassertanks des Notkühlsystems und ihr gesamter Inhalt ergoss sich über den Boden, während die nun von oben einströmende Luft die Graphitfeuer im Inneren anfachte, deren enorme Hitze von 2.500 Grad Celsius die radioaktive Wolke bereits in der ersten Nacht mehrere tausend Meter hoch in die Atmosphäre trieb. Tagelang stiegen flüchtige Radionuklide auf und verbreiteten sich über Europa – erst zwei Wochen später erlosch der brennende Kernbrennstoff. Bis dahin allerdings wurde eine Radioaktivität von mehreren Trillionen Becquerel in die Atmosphäre freigesetzt (was etwa hundert Hiroshima-Bomben entspricht – in Fukushima zuletzt waren es nur zehn bis zwanzig Prozent dieser Menge an radioaktiven Emissionen) … Die Welt erlebte in Tschernobyl die schwerste nukleare Havarie und den schlimmsten Industrieunfall aller Zeiten – niemals davor gab es eine Umweltkatastrophe solchen Ausmaßes.
Die Prypjatsümpfe
Durch die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl wurden insgesamt etwa 218.000 Quadratkilometer stark radioaktiv kontaminiert, mehr als siebzig Prozent dieser Fläche liegt auf Gebieten in Russland, Weißrussland und der Ukraine. Deshalb wurde etwa 37 Stunden nach dem Unglück zunächst die Stadt Prypjat evakuiert – faktisch handelte es sich um eine Umsiedlung der Bevölkerung –, bevor am 2. Mai 1986 entschieden wurde, eine Sperrzone in einem Gebiet mit einem Radius von etwa dreißig Kilometer um den havarierten Reaktorblock einzurichten. Insgesamt wurden innerhalb von vier Tagen etwa 120.000 Bewohner von über 200 Ortschaften aus einem grenzüberschreitenden Gebiet von etwa 3.500 Quadratkilometer gebracht – in den Folgejahren stieg diese Zahl sogar noch auf etwa 350.000 Menschen an. Außerdem musste eine Fläche von etwa 6.400 Quadratkilometer vollends für die menschliche Nutzung aufgegeben werden. Dazu gehören landwirtschaftliche Flächen und insbesondere auch großflächige Waldgebiete, denn die Kontamination reicht weit in das flache weißrussische Polesien (belarussisch Palesse, russisch Polesje) hinein.

Karte des verstrahlten Polesien. In den 1930er Jahren verlief die Grenze zwischen Polen und der Sowjetunion mitten durch die damals so genannten Prypjatsümpfe – das größte Feuchtgebiet Europas.
© Marc Friede, Herder Institut
Polesien ist eine über 180.000 Quadratkilometer ausgedehnte, flache und waldreiche Landschaft (etwa halb so groß wie Deutschland), die sich von Polen über die Ukraine nach Weißrussland erstreckt. Als Toponym wurde „Polesien“ erstmals in einer galizischen Chronik aus dem Jahr 1247 erwähnt, hinsichtlich der Entstehung des Namens gibt es jedoch keine einheitliche Auslegung: Die meisten sind der Meinung, dass die Wurzel „les“ (belarussisch/russisch für das Wort „Wald“) ausschlaggebend ist – „Polesien“ bezeichnet dann ein Gebiet, das an Wälder angrenzt beziehungsweise ein „Waldland“. (Weißrussland, in dem Polesien etwa ein Drittel des gesamten Territoriums ausmacht, ist zu etwa vierzig Prozent bewaldet. Der weißrussische Autokrat Alexander Lukaschenko studierte Agrarwissenschaft und war in Polesien als Direktor einer Sowchose tätig, später angeblich auch an Sägewerken in der Region beteiligt. Die Holzwirtschaft ist nach Aussagen des Autokraten von Anfang dieses Jahres die „wichtigste Branche“ und Wälder die „wertvollste Ressource“ des Landes. Seit der Unabhängigkeit von Belarus vor dreißig Jahren stieg ihre Fläche nach eigenen Angaben um eine Million Hektar, sodass nun Holz im Umfang von nahezu zwei Milliarden Kubikmeter vorhanden sei … Holz ist insofern eines der wichtigsten Exportgüter des Landes und die Forstwirtschaft bislang nicht von Sanktionen betroffen.)
Neben der Bezeichnung „Waldland“ gibt es aber noch eine andere Herleitung: sie geht von der baltischen Wurzel „pol“ beziehungweise „pal“ aus, das eine Sumpflandschaft bezeichnet. Denn das ist Polesien auch: ein verschlungenes Feuchtgebiet aus Wasser, schwimmenden Schilfinseln entlang sandig-weißer Flussdünen und unberührter, weiträumiger Niedermoore und Sümpfe, die geprägt sind vom Fluss Prypjat.
Lange fungierte der Fluss Prypjat als Namensgeber für Europas größtes Sumpfgebiet (das auch als „Europas Amazonien“ bezeichnet wird) – ein mehrere Kilometer langer Streifen beidseits des Flusses (mit der doppelten Größe des Bodensees) von der Stadt Pinsk im Süden Weißrusslands bis zur Mündung des Prypjat in den Dnjepr im Nordosten der Ukraine. Heute wird das gesamte Gebiet Polesien genannt, wobei etwa achtzig Prozent der Landschaft Polesiens Waldgebiet sind, der Rest Sumpfland. Unter den vielen Prypjat-Sümpfen zeichnet sich der Sporowskoe aus, der als einer der größten natürlichen mesotrophen Niedermoore in Europa gilt.
Der Fluss Prypjat ist etwa 755 Kilometer lang und war einst ein wichtiger Wasserweg vom Westen der Ukraine zum Dnjepr und zum Schwarzen Meer. Er entspringt im äußersten Nordwesten der Ukraine, überquert dort die Grenze zu Weißrussland, wo er in einem weiten Bogen wieder zurück in den Nordosten der Ukraine fließt und unweit der namensgleichen Stadt Prypjat in den Dnjepr mündet. Hier, inmitten des Binnendeltas zwischen Prypjat und Dnjepr, befindet sich auch der alte jüdische Handelshafen Tschernobyl – und genau hier, praktisch mitten in der größten Wasserlandschaft Europas, wurde auch das havarierte Atomkraftwerk errichtet sowie ein Kühlteich für dessen Reaktor, allerdings ohne direkten Zu- oder Abfluss zum Prypjat. (Einen guten Eindruck davon vermitteln die vielen Luftaufnahmen einer Dokumentation des Österreichischen Rundfunks aus dem Jahr 2017 über in der Sperrzone lebende Wölfe.)
Mit seinen fünf größeren Nebenflüssen („Pjat“ heißt „Fünf“, weshalb der Name des Flusses auch von den fünf Zuflüssen kommen könnte, wie einer der wenigen gebliebenen Bewohner der Sperrzone in dem Film „Prypjat“ von Nikolaus Geyrhalter aus dem Jahr 1999 erklärt) formt der Prypjat ein weitverzweigtes Wassersystem, das infolge der Schneeschmelze in den 600 Kilometer entfernten Karpaten im Westen jedes Jahr im Frühling zu Hochwasser führt, das ein etwa zwölf Kilometer breites Überschwemmungsgebiet bildet.
Diese Überschwemmungen prägen den Charakter des gesamten Gebiets, wobei Auen in den Flussniederungen wie beispielsweise die „Turauer Wiesen“ ein einzigartiges Ökosystem bilden, das außerdem den wichtigsten kontinentalen Zugvögeln wie etwa Graugänsen und Kranichen als Brutgebiet dient. Die Kraniche führen dabei zum Brutbeginn im frühen März spektakuläre Balztänze mit fantasievollen Tanzfiguren auf, die durch Sprünge und Flügelschlagen geprägt sind und bei denen auch Pflanzenteile und Stöcke in die Luft geworfen werden. Gebrütet wird dann vorzugsweise in den sumpfigen Bruchwäldern, in denen das Nest, von Wasser umschlossen, vor Feinden sicher ist. Kraniche legen dabei nie mehr als zwei Eier, deren Temperatur auch bei Kälteinbrüchen im März nicht unter dreißig Grad Celsius sinken darf, was aufgrund des dichten und isolierenden Federkleids der Kraniche auch selten geschieht.

Der Name Tschernobyl ist die ukrainische Bezeichnung für das Wermutkraut (Artemisia vulgaris), nach dem übrigens auch der Stern der biblischen Offenbarung benannt ist, der auf die Erde stürzt und alle Wasser vergiftet …
Tschernobyl liegt mitten im Sumpfgebiet des Prypjat, wo natürlich viele Wasservögel leben. Ob nun Wermut (Beifuß) auch in Tschernobyl bei der Zubereitung eines Gänsebratens verwendet wurde, entzieht sich meiner Kenntnis, aber in Deutschland wird das traditionell gemacht.
Zur fetten Gans passt ein etwas tanninreicher Rotwein gut, wie ihn Markus Schneider mit seinem „2018 Ursprung“ produziert hat. Der „Ursprung“ war 1998 die erste Cuvée des Pfälzer Winzers. Er verwendete dafür Rebsorten, die gewöhnlich nicht in der Mittelhaardt angebaut werden, sondern ursprünglich aus Bordeaux kommen: Cabernet Sauvignon und Merlot. Etwas Portugieser rundet die Cuvée ab. Auch Markus Schneiders Wein hat seinen Ursprung insofern gewissermaßen im Sumpf, denn Weinbau in Bordeaux war erst möglich, nachdem man die Wasserlandschaft des Médoc (das im Altlateinischen „Land zwischen Wassern“ bedeutet) trockengelegt hatte, vorher konnte man in dem Feuchtgebiet keine Rebstöcke pflanzen …
Nun ist Schneiders „Ursprung“ sicherlich nicht vergleichbar mit einem „Chateau Margaux“ (Margaux soll auf gallisch „Sumpf“ bedeuten), aber dafür ist er zumindest erschwinglich, und auch sonst ein kraftvoller, fast schon marmeladiger Rotwein mit weichen Tanninen und einer ausgeprägten Säure. Er offenbart Aromen von Brombeere und Heidelbeere, aber auch würzige Kräuternoten (Fenchel, Salbei) sowie eine Spur dunkler Schokolade. Auch ohne Fleischgenuß perfekt für etwas kühlere Spätsommerabende – und wer auf die Gans dennoch nicht verzichten möchte, kann sie dann ja vielleicht über sich auf ihrem Weg in den Süden beobachten …
Das Versumpfen insbesondere der flachen Niederungen am südlichen Ufer des Prypjat erfolgte – über die jährlichen Überschwemmungen hinaus – auch durch das mangelnde Gefälle des Flusses (die ganze Region wurde in der letzten Eiszeit von Gletschern quasi flach gemahlen und liegt nur zwischen 130 und 100 Metern Meereshöhe), der in dem Sumpfstreifen mäandert und so für ausgedehnte Moore, ganzjährig unter Wasser stehende Bruchwälder und eine große, artenreichen Auenlandschaft mit Kiebitzen und seltenen Schwarzstörchen sorgt. Hinzu kommen die südlichen Zuflüsse, die den Versumpfungsprozess noch dadurch unterstützen, dass sie normalerweise viel früher Auftauen als die nördlichen. Hier macht sich deutlich das vorherrschende Kontinentalklima mit seinen radikalen Temperaturunterschieden bei Jahreszeitenwechseln bemerkbar.
Der Prypjat hat die Landschaft jahrtausendelang immer wieder neu geformt. Allerdings wurde er nicht überall sich selbst überlassen, sondern insbesondere dort, wo die ausgedehnten Feuchtgebiete und die zahlreichen, in sumpfigen Tälern langsam dahinfließenden Zuflüsse dies nicht zu sehr erschweren, wie beispielsweise in der weiten Ebene um Tschernobyl, gab es im letzten Jahrhundert intensive Bemühungen, die vom Fluss geprägte Wasserlandschaft landwirtschaftlich zu nutzen. Erst seit dem Reaktorunglück verwandeln sich die Prypjat-Sümpfe langsam wieder von Kulturland zurück in einen, nun allerdings verseuchten, urwüchsigen Naturzustand – so, wie sich der Wald die Geisterstadt Prypjat immer üppiger zurückerobert.
Andernorts jedoch, außerhalb der Sperrzone, sind die Folgen der Landgewinnungsprojekte in Polesien – insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die gesamte Region zur „sowjetischen Kornkammer“ umgestaltet wurde – an den vielen Entwässerungskanälen noch deutlich zu erkennen. Die urbaren Gebiete wurden damals für den Anbau von Getreidekulturen wie Weizen genutzt, allerdings eignen sich moorsaure Böden nach einer Trockenlegung (Melioration) nur schwerlich für eine ertragreiche Landwirtschaft. So hat sich in Weißrussland, neben der Forstwirtschaft und lange in Ermangelung eigener Atommeiler, auch noch die Moor- und Torfwirtschaft als Nutzungsmöglichkeit etabliert: In Fabriken wie beispielsweise in Starobin verarbeiten riesige Trockentrommeln abgebauten Torf zu Heizmaterial – etwa fünfzig Torfmeiler mit einer Jahreskapazität von etwa 200.000 Tonnen Heizbriketts aus ökologisch wertvollen Niedermooren qualmen dort. Inzwischen jedoch, das heißt im November letzten Jahres, wurde in Ostrovets nahe der litauischen Grenze auch das erste weißrussische Atomkraftwerk eingeweiht.
Unmittelbar unter den Torfschichten liegt praktisch überall Sandboden, der nach dem Abbau von allen Nährstoffen ausgelaugt ist. Auch teure Düngemittel verhelfen dann nicht zu einem fruchtbaren Ackerbau, weshalb die von der Torfwirtschaft betroffenen Böden für den Artenschutz genauso verloren sind wie für rentable Landwirtschaft. (Die Nationalsozialisten beabsichtigten mit ihrem sogenannten „Prypjat-Plan“ zunächst, wie David Blackbourn in „Die Eroberung der Natur“ (2007) ausführt, die Kolonisierung und Urbarmachung der Sümpfe, ließen diesen Plan jedoch fallen, da sie eine „Versteppung“ der Region und „Staubstürme“ befürchteten.)
Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verseuchte der radioaktive Niederschlag weite Gebiete des heutigen Belarus – etwa ein Fünftel des Landes ist betroffen. Damals beschloss die Regierung groß angelegte Umsiedlungsprogramme für die Bevölkerung in den verseuchten Sumpf-Gebieten. Diese Umsiedlungen damals zielten nicht auf andere Moorgebiete – dennoch entstanden und entstehen auch hier noch immer neue Siedlungen. Flächen dafür zu gewinnen heißt jedoch: Trockenlegung. Auch wenn es sich hierbei vielleicht nicht um so gewaltige Massentrockenlegungen wie im letzten Jahrhundert handelt, so bedrohen diese Meliorationen für den Siedlungsbau das Ökosystem vieler Sumpfgebiete dennoch am meisten.
Belarus verfügt heute über mehr als 860.000 Hektar Sümpfe, weitestgehend noch in ihrem natürlichen Zustand, das allerdings ist weniger als ein Drittel der noch in den 1960er Jahren vorhandenen Fläche. Und ein Ende der Meliorationen ist auch nicht in Sicht: Derzeit werden eineinhalb Millionen Hektar tiefgelegene Landgebiete entwässert und Deiche entlang des Prypjat aufgestockt. Zwar will auch Lukaschenko „Schutzgebiete“ am Fluss einrichten – zuletzt wurde der seit 1996 bestehende Nationalpark Polesien von 615 auf 885 Quadratkilometer erweitert und 2016 mit dem Sumpfgebiet Ol`many zu einem insgesamt 2.130 Quadratkilometer großen Biosphärenreservat vereinigt –, allerdings dürfen auch hier Flächen immer noch land- beziehungsweise forstwirtschaftlich genutzt werden. Verheerende Auswirkungen drohen außerdem durch einen von der aktuellen ukrainischen Regierung in Kiew vorangetriebenen Plan zum Bau einer 2.000 Kilometer langen Wasserstraße, die vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee führen soll – mitten durch das atomar verseuchte Sperrgebiet.
Sumpflandschaften
Die Entstehung der Sümpfe beginnt mit dem Ende der letzten Eiszeit vor etwa 11.000 Jahren, als sich in Mitteleuropa ungefähr die heutigen Klimabedingungen eingestellt haben und die Erwärmung abgeschlossen war. Etwa vor 10.000 Jahren beginnt die Epoche der Nacheiszeit, das Postglazial, in der sich bereits stabile „Urlandschaften“ herausgebildet hatten, die vom anthropogenen Einfluss, also der menschlichen Umgestaltung der Landschaft zu einer Kulturlandschaft im Zuge der sogenannten Neolithischen Revolution, verschont blieben. Zu ihnen gehörten insbesondere auch Moore und zahlreiche Sumpfgebiete.
Moore entstanden, wie Hansjörg Küster in „Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa“ (2010) ausführt, als sich nach dem Ende der Eiszeit Schmelzwasser in den zahllosen abflusslosen Niederungen und Senken sammelte, die in von Gletschern zuvor geformten, flachen Gebieten entstanden. Hier bildeten sich Seen, in anderen Niedermoore, wobei in die Seen mit der Zeit zunehmend feines Erdreich und Humus gespült wurde, nachdem der Permafrostboden aufgrund der Klimaerwärmung aufgetaut war und sich die Vegetation – fast überall sind dichte Wälder gewachsen – in den Senken ausgebreitet hat. Dadurch verlandeten viele Seen und entwickelten sich ebenfalls zu Niedermooren, die vom Grundwasser mit Mineralstoffen und Feuchtigkeit gespeist wurden.
Niedermoore waren eigentlich durchgehend feucht oder sogar nass, weshalb dort Überreste abgestorbener Pflanzen nicht von Mikroorganismen zersetzt werden konnten wie an anderen Pflanzenstandorten – unter Wasser gibt es ja keinen Sauerstoff, ohne den auch die Mikroorganismen nicht leben können. So sammelte sich das abgestorbene, aber nicht zersetzte Pflanzenmaterial an und das Niedermoor begann allmählich in die Höhe zu wachsen: Vor etwa 8.000 bis 9.000 Jahren bildete sich so Torf. (Im Gegensatz zu einem Moor bildet sich in einem Sumpf kein Torf aus – organisches Material wird in ihm, insbesondere durch gelegentliches Austrocknen, vollständig abgebaut.)
In vielen Niederungen entstand Torf über dem Einflussbereich des Grundwassers, wenngleich es an seiner Oberfläche weiterhin nass blieb. Allerdings gelangten so immer weniger Nährstoffe, die Pflanzen für ihr Wachstum brauchen, vom Grundwasser an die Mooroberfläche, sodass sogenannte Niedermoorpflanzen regelrecht „verhungerten“. Nur noch wenige Pflanzen, vor allem Torfmoose (Sphagnen), konnten auf den sich in die Höhe wölbenden Moorflächen überleben. Auf diese Weise, erklärt Küster, entstanden Hochmoore, „deren Name nicht besagen soll, dass sie nur in Hochlagen der Gebirge vorkommen; denn Hochmoore gibt es auch in Niederungen. Der Name bezieht sich auf die Lage der Mooroberfläche über dem lokalen Grundwasserspiegel, der zur Ausbildung dieser eigenartigen Landschaftsform führt.“
Hochmoore sind stabile Landschaften, die sich weitgehend unabhängig vom übrigen Geschehen in der Landschaft entwickeln, wobei ihnen Mineralstoffe und Wasser nur noch vom Regen zugeführt werden (man nennt sie deshalb auch Regenwassermoore). Sie sind deshalb außerordentlich nährstoffarm, entsprechend gerät auch die Vegetation eher kleinwüchsig: Wollgräser, Zwergsträucher wie Besenheide, Erika, Krähenbeere oder Rosmarinheide und einige wenige Kräuter bildeten sich.
Gerade weil sie nicht von der Wasserversorgung durch Bach- und Flussläufe abhängig sind, dehnten sich solche Hochmoore in Europa großflächig aus und dominierten bald das Landschaftsbild. Das auch deshalb, weil das Abtauen der Gletscher am Ende der Eiszeit nicht nur einen Anstieg des Meeresspiegels (die Küstenlinie der Nordsee verschob sich deutlich nach Süden, etwa auf den heutigen Verlauf) und ein damit verbundener Anstieg des Grundwasserspiegels zur Folge hatte, sondern auch, weil dadurch das Klima – zumindest im Sumpfreichen niederdeutschen Raum, also in Norddeutschland – ozeanischer wurde, was höhere Niederschläge zur Folge hatte, die wiederum ideale Voraussetzungen für die Entstehung und Ausdehnung der Moore boten.
Küster macht darauf aufmerksam, dass man sich „an der Entstehung von Hochmooren modellhaft klarmachen (kann), welch lange Zeit der Reifungsprozess einer Landschaft nach dem Ende der Eiszeit prinzipiell benötigte. Hochmoore gab es am Ende der Eiszeit nicht; die ersten Mooroberflächen wuchsen erst Jahrtausende später aus dem Grundwasserspiegel heraus.“ Gleichwohl war mit der Entstehung von Hochwassermooren ein stabiler Zustand in der Landschaft insofern erreicht, als diese Sumpfgebiete – anders als die Flusstäler, die durch Waldrodungen und Ackerbau in eine Kulturlandschaft überführt wurde – von den Menschen weitestgehend gemieden wurden, da sie zunächst unbewohnbar schienen: Wie in den radioaktiv verseuchten Prypjatsümpfen heutzutage war es lebensgefährlich – zu einfach konnte man, Kolken und Tümpel ausweichend, in den weichen Torfmoosen versinken; die Durchquerung war schlichtweg zu unsicher. Dass das „Mädchen aus dem Uchter Moor“ in Niedersachsen, Deutschlands bisher älteste Moorleiche, eines Tages nicht mehr auftauchte, war sicher allen zu ihrer Zeit Warnung genug.
Anthropologischer Schock
Dass es in Tschernobyl einen Unfall gab, erfuhr man in Moskau noch in der selben Nacht, über die wahre Dimension der Katastrophe allerdings wurde man sich im Kreml erst allmählich und spät klar, wie Michail Gorbatschow in einer Dokumentation über das Ereignis berichtet. Kaum ein Jahr nach dem Beginn der von ihm als Perestroika bezeichneten radikalen Umgestaltung der gesamten Zentralverwaltungswirtschaft, sah sich die sowjetische Führung mit einem beispiellosen Feind konfrontiert: dem unsichtbaren Atom. Und auch sein Ziel, den Staat transparenter und zugleich rechenschaftspflichtig zu machen – die Politik der Glasnost – war damit von Beginn an mit einer kaum zu bewältigenden Aufgabe konfrontiert. Jedenfalls entschied man sich schnell dafür, das Militär miteinzubeziehen – sie schienen eher geeignet, die Krise zu bewältigen, als die überforderten zivilen Nuklearbehörden. Und sei es, dass man das Leben von hunderttausenden Soldaten riskieren mußte, „Liquidatoren“ und anderer unmittelbar am Atomkraftwerk oder zu Aufräumarbeiten in der Region eingesetzter Menschen …
In der Sowjetunion herrschte zu der Zeit, wie Stephanie Cooke in „Atom“ (2010) schreibt, eine „autokratische Kultur der Geheimhaltung“, die „den industriellen Fortschritt über die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung stellte“. Ein solches Umfeld mag ideal zur Produktion von waffenfähigem Plutonium sein, im Falle einer solchen Katastrophe allerdings fatal. So erfuhr die Außenwelt offiziell erst davon, als die amtliche Nachrichtenagentur Tass am Montag den 28. April, mit zweitägiger Verspätung, in einer Kurzmeldung darüber berichtete. Der Kreml selbst gab an diesem Tag nur eine kurze Bekanntmachung heraus – Gorbatschow konnte oder wollte insofern den immer noch herrschenden Sowjet-Stil der Öffentlichkeitsarbeit, das Stillschweigen, nicht überwinden.
Erst am 14. Mai äußerte sich Gorbatschow zum ersten Mal im Fernsehen selbst über den Unfall, doch auch das nur ausweichend und kaum eine Information preisgebend. Die Bevölkerung wurde noch immer weitestgehend im Dunkeln gelassen und „Glasnost erwies sich nun als eine herbe Enttäuschung“, schreibt Cooke in ihrer Geschichte zum nuklearen Zeitalter: „Gorbatschows Glasnost, die Politik der Transparenz, konnte bei einem Ereignis dieser Tragweite kaum Platz greifen, da die meisten Beamten des Systems an den alten Gewohnheiten im Umgang mit Krisen festhielten. (…) Und wegen des psychischen Schocks, den die in Tschernobyl ablaufende Havarie ihren Werten und Überzeugungen tagtäglich zufügte …“
Diese Schockwellen jedoch waren auch außerhalb der Sowjetunion noch mehr als deutlich zu spüren, beispielsweise für den Soziologen Ulrich Beck (1944-2015), der noch im selben Jahr „Risikogesellschaft“ (1986) veröffentlichte. Für Beck waren mit Tschernobyl tiefgreifende Veränderungen unseres Lebens verbunden, weil unsere Sinne im Angesicht der atomaren Gefahr nutz- und funktionslos geworden seien und es insofern zu einem „Verlust der Sinnessouveränität“ gekommen sei. Er bezeichnet das als „anthropologischen Schock“ und bemerkt in diesem Zusammenhang in dem Essayband „Politik in der Risikogesellschaft“ (1991): „Mit dem Atomzeitalter entsteht eine Verdoppelung der Welt. Die Welt hinter der Welt, die uns unvorstellbar bedroht, bleibt unseren Sinnen ein für allemal unzugänglich“.
Mit frappierender Ähnlichkeit zur aktuellen Pandemiesituation habe Tschernobyl, so Beck, bewusst werden lassen, dass sich der individuelle Zugriff auf die Wirklichkeit grundlegend verändert habe, da die private Verfügung über die Wahrnehmungsmittel aufgehoben sei: Die sinnlich vermittelten Wirklichkeitsbilder, so führt Beck aus, seien „enteignet“ worden und angesichts der unsichtbaren atomaren Gefahr „gesellschaftlichen Institutionen – Wetterdienst, Massenmedien, Ministerien, Grenzwert-Verkündungen usw. – ausgeliefert“. Über diese gesellschaftlichen Einrichtungen könne überhaupt erst ein Gefahrenbewusstsein entwickelt werden, was allerdings nicht heißt, dass ohne dieses gesellschaftlich aufbereitete „Wissen“ keine Gefahr bestehe: „Die Objektivität der jenseits unserer sinnlichen Zugriffsmöglichkeiten liegenden Gefahr ist die eine Sache“, schreibt Beck, „die andere ist die Konstruktion der Gefahrenwirklichkeit durch die gesellschaftlichen Instanzen, die hierfür ein Monopol besitzen.“
Für Beck ist der Einzelne im Atomzeitalter der Souveränität seiner Sinne und damit seines eigenen Urteils beraubt worden: Wenn wir es nicht schon immer waren, sind wir Beck zufolge seither auf die Existenz von „Medienproduktionen“ reduziert, insofern, als die „Entmächtigung unserer Sinne“ uns in die Lage zwingt, das „Diktat der Informationen“ hinzunehmen beziehungsweise sie bestenfalls „im Wechselspiel der Widersprüche zu relativieren“. Durch diesen Verlust der Souveränität der Sinne jedoch verliert das Individuum jede Möglichkeit von Privatheit und Rückzug – es wird notgedrungen zu einem gesellschaftlichen, politischen Wesen: „Unsere Lebensformen und Vorstellungen von Individualität, `eigener Entscheidung´, `eigenem Leben´ beruhen auf einem ungebrochenen, persönlichen Zugriff auf Wirklichkeit“, schreibt Beck. „Wo wir von diesem abgeschnitten sind, werden wir … in eine Kollektivexistenz hineinversetzt, über die uns nur noch das Nicht-Wahrhaben-Wollen der Gefahr in der Intaktheit unserer Sinne hinwegtäuschen kann.“ Ansonsten aber hat der Einzelne seine individuelle Kompetenz über Fragen der Gesundheit eingebüßt – und das gilt auch für die Sicherheit.
Da für die Menschen im Postglazial noch weite Gebiete in ihrem Siedlungsraum aufgrund der zunehmenden Versumpfung der Landschaft praktisch nicht genutzt werden konnten, begannen sie Wege zu bauen: Bis zu sechseinhalb Kilometer lange Moorwege aus nebeneinandergelegten Baumstämmen wurden bereits, wie archäologische Ausgrabungen beweisen, vor über 6.000 Jahren angelegt und zeugen von der Mobilität der Menschen bereits zu dieser Zeit (5.000 bis 4.500 Jahre alte hölzerne Scheibenräder und Wagenachsen von vierrädrigen Karren wurden in Deutschland ebenso gefunden – sie sind nur unwesentlich jünger als die weltweit ältesten Belege dafür aus dem Vorderen Orient). Auch wenn noch unklar ist, wofür die Wege genau dienten – man weiß nicht, ob und gegebenenfalls wie sie in ein weitläufiges Wege- und (Fern-)Handelsnetz eingebunden waren –, so steht doch fest, dass sie besonders nasse Moorrandbereiche und Moorengen überbrückten. Die Menschen legten diese Wege insofern auch als Anpassung an die sich ändernden Umweltverhältnisse und zur Minimierung der Gefahr, im Moor zu versinken, an: Der Weg garantierte ihren Unternehmungen Sicherheit.
Eine solche Sicherheit (Gewissheit) allerdings gibt es für Beck im Atomzeitalter nicht mehr, das ist für ihn eine weitere Folge des anthropologischen Schocks, sie ist allenfalls noch eine statistische Wahrscheinlichkeit ohne Gewissheit. Aber den „Unterschied zwischen Sicherheit und wahrscheinlicher Sicherheit trennen Welten“, sagt Beck, denn die „Scheinsicherheit des Fehlschlusses von wahrscheinlicher auf wirkliche Sicherheit“ sei mit der Reaktorkatastrophe endgültig in die Luft geflogen: „Ein solches Ereignis hatte vorher keine einzige der Risikostudien der Nuklearindustrie ins Kalkül gezogen“, schreibt Cooke: „Der Mensch verlor die Kontrolle über seine Erfindung, die sich aus noch nicht vollständig verstandenen Gründen gegen ihn wandte.“ Entsprechend seien, erklärt Beck, die „Illusionen über die technische Kontrollierbarkeit der technischen Entwicklungen, die diese bisher angeleitet haben (geplatzt)“.
War der gebräuchlichste Umgang mit der Gefahr bis dahin die Versicherung – sie nimmt, wie Thomas Blanke in einem Essay in „Politik in der Risikogesellschaft“ (1991) ausführt, mit den Versicherungen in der Seehandelsschifffahrt in der langsam beginnenden Renaissance in Italien ihren Ausgang, während sich parallel dazu der aus dem Altgriechischen und dem Arabischen stammende Begriff risco („Klippe“) für das Umschiffen gefährlicher Felsen etablierte –, verliert dieses Prinzip der Vergesellschaftung von Gefahren zu Risiken angesichts der offenbar unkalkulierbaren Risiken der Atomtechnik seine Bedeutung. Mit ihm ist das Wahrscheinlichkeitskalkül insgesamt, die technische Rationalität, für die Entwicklung ganzer Gesellschaften obsolet, zumindest aber fragwürdig geworden.
Die Reaktorkatastrophe hat auch gezeigt, dass die atomare Gefahr nicht-selektiv ist und insofern „alle unsere Machtbegriffe – Handlung, Steuerung, Entscheidung – aufhebt“. Allein der Wind bestimmt, wohin die unsichtbare Atomwolke schwebt. So ist in der Moderne „ein Gefährdungsschicksal entstanden, eine Art Gegenmoderne, die all unsere Begriffe von Raum und Zeit und sozialen Differenzierungen aufhebt (…) Wer noch von `den inneren Angelegenheiten eines anderen Landes´ redet, denkt in Kategorien, die unsere Wirklichkeit nicht mehr greifen.“
Für Beck machen Katastrophen wie Tschernobyl deutlich, dass die Gesellschaft sich selbst zum dominanten Risiko geworden wird – das ist gewissermaßen die zentrale These von „Risikogesellschaft“: Der Fortbestand der Gesellschaft im Anthropozän (Beck selbst hätte damals vielleicht gesagt: der Globalisierung) ist nicht länger von unzureichend beherrschten inneren Widersprüchen (wie etwa noch für Karl Marx) bedroht oder äußeren Bedrohungen wie etwa Wetterkapriolen (auch wenn die, wie zuletzt im Ahrtal, zunehmend verheerende Auswirkungen haben), sondern von selbsterzeugten Risiken, insbesondere technisch bedingten: „Die Prinzipiell nicht beherrschbaren Katastrophentechnologien, die sich aller menschlichen Erfahrungs- und Handlungsdimensionen von Raum und Zeit, Geschwindigkeit und Wahrnehmbarkeit entziehen, sind längst zur Realität geworden“, schreibt Blanke.
Nach wie vor ist unser Dogma jedoch immer noch, Beck folgend, der rationale Fortschrittsglaube. Dabei wissen wir seit langem, dass die Regeln strikter Kausalität auf weltweit vernetzte Umweltgefahren nicht anwendbar sind. Katastrophen wie Tschernobyl machen klar, dass solche Gefahren den Unfall abgeschafft haben – jedenfalls als räumlich und zeitlich begrenztes Ereignis. Schon Tschernobyl hat insofern bewiesen, so könnte man es vielleicht mit dem Schriftsteller Walter Serner sagen, dass auch die letzte Illusion verloren ist, nämlich jene, illusionsfrei zu leben. Umgekehrt, so sagt Ulrich Beck: „Wir Menschen irren uns. Das ist vielleicht die letzte Gewissheit, die uns geblieben ist. Wir haben ein Recht auf Irrtum. Eine Entwicklung, die dies ausschließt, führt weiter in den Dogmatismus oder den Abgrund – wahrscheinlich beides.“
Immersive Landschaften
In Zusammenhang mit Tschernobyl beobachtet Ulrich Beck „das Ende jeglicher sinnlichen Wahrnehmung und den Beginn einer gesellschaftlichen Konstruktion von Gefahrenwirklichkeit“, die für ihn gewissermaßen in einer Verdoppelung der Welt kulminiert, in der allerdings die Information mit Wirklichkeit gleichgesetzt wird: Wirklichkeit werde, so Beck, in der Informationsgestaltung überhaupt erst hergestellt, „(h)ier noch von `Manipulation´ zu sprechen“, schreibt er, „heißt, die Begriffe eines anderen Zeitalters zu verwenden“. Schließlich sei die atomare Gefahr „die Steigerung der Manipulation, die diesen Begriff nicht mehr erlaubt, da sie sich, gleichsam befreit von der Schwerkraft der sinnlichen Gegenkontrolle, ganz im freien Raum der Konstruktionen und Interpretationen bewegen kann“.
Die Welt wird gewissermaßen zur Bühne und Politik zum Theater: Unwiderruflich führe der Weg für die „Politik in der Risikogesellschaft“ (1991), so Beck, „hinein in eine Inszenierung und Perfektionierung symbolischer, kosmetischer Umgangsformen mit Risiken, für die es nun allerdings im wahrnehmungsfreien Raum der Konstruktionen vielfältigste Möglichkeiten gibt“. Eine solche trügerische Möglichkeit sei, gerade dort, wo alles andere sich dem politischen Zugriff zu entziehen scheint, die Festlegung von Grenzwerten: „Man kann Grenzwerte vereinheitlichen und so den Konstruktcharakter und das Auch-nicht-Wissen, das in ihrer Widersprüchlichkeit wenigstens noch aufschien, zum Verschwinden bringen“, schreibt Beck. „Man kann sie hochsetzen und damit Niveauanhebungen in Verseuchungsgraden in Normalität verwandeln. Was heißt schon `gefährlich´?“
Politik ersetze so jedoch Handeln durch Semantik: Gefährlichkeit wird hier zur zentralen Frage einer, wie Beck sagt, „definitionspolitischen“ Festlegung von Grenzwerten (ähnlich wie es derzeit auch im Hinblick auf die Inzidenz geschieht). Damit aber tritt an die Stelle einer realen, sinnlich wahrnehmbaren Welt – angesichts der unsichtbaren Bedrohung – eine virtuelle Gefahrenwirklichkeit, auf die allein hin unser Handeln dann bezogen ist. Es ändert sich der ontologische Status von Wirklichkeit: Als Gefahrenwirklichkeit wird sie letztlich wie eine immersive Landschaft in der Virtual Reality – insofern, als Immersion (von englisch „immersion“, „eintauchen“) hier den Effekt beschreibt, den virtuelle Welten auf den Betrachter* haben: Die Wahrnehmung in der realen Welt vermindert sich und man identifiziert sich zunehmend mit der fiktiven Welt, taucht sozusagen komplett in diese virtuelle Landschaft ein. Das soll nicht heißen, dass es die Gefahr nicht gibt, aber unsere Wahrnehmung und unser Handeln ist in der – letztlich konstruierten, weil qua Grenzwert festgelegten – Gefahrenwirklichkeit nicht mehr auf eine natürliche Welt bezogen, sondern auf eine virtuelle, nur noch datenbasierte wenn man so möchte, die einem dennoch ein Gefühl von Sicherheit vermitteln soll.
Eine solche immersive virtuelle Landschaft schafft auch der dänische Künstler Jakob Kudsk Steensen mit seiner audiovisuellen Installation Berl-Berl – einer computergenerierten Sumpflandschaft aus Klängen und Bildern, mit denen er unsere Wahrnehmungs- und Verhaltensweise beeinflussen will. Er nutzt dazu die frei zugängliche Software „Unreal Engine“, „a complete suite of development tools for anyone working with real-time technology. It gives creators across industries the freedom and control to deliver cutting-edge entertainment, compelling visualizations, and immersive virtual worlds“, wie es auf der Firmenseite heißt. In einem Gespräch, das im Ausstellungskatalog abgedruckt ist, bemerkt Kudsk Steensen in diesem Zusammenhang: „Auch ich arbeite mit Technologien oder viralen Medien, denn große technologiebasierte Infrastrukturen beeinflussen die Art und Weise, wie wir die Welt um uns herum sehen und wahrnehmen. Diese Strukturen werden zunehmend von wenigen großen, kommerziellen Organisationen bestimmt. Daher wächst die Notwendigkeit, eine andere Lebens- und Wahrnehmungsweise einzubringen.“
Hat Kudsk Steensen in seinen letzten Arbeiten auch mit sogenannten Mixed- oder Augmented-Reality-Systemen gearbeitet (während Mixed Reality die physische Umwelt der Nutzer*innen mit einer digitalen – zum Beispiel über Eye-Tracking-Technologien – verknüpft, überblendet Augmented Reality die reale Umgebung mit digital generierter Information: man kann dann beispielsweise bei einem Spaziergang virtuelle Darstellungen oder Geräusche zum aktuellen Standort auf dem Display seines Handys wahrnehmen), ist Berl-Berl eine rein virtuelle Realität, bei der es nicht um interaktive Prozesse, sondern um neue Seherfahrungen geht.
Die Software „Unreal Engine“ ermöglicht es Kudsk Steensen, eine äußerst realistische, bewegte Sumpflandschaft zu erzeugen, die sich, anders als ein Video, permanent verändert: Während sich die imaginäre „Kamera“ beispielsweise langsam durch die Pflanzenwelt bewegt und dabei über ein Blatt fährt, reagieren das Blatt und der ihm zugeordnete Klang, wobei komplizierte Algorithmen gewährleisten sollen, dass sich solche Sequenzen nicht wiederholen, die Perspektive der Kamera in der Sumpflandschaft also immer variiert. Nichts soll sich wiederholen, alles geschieht langsam – Kudsk Steensen nennt seine Mittel „langsame Medien“, weil sie Aufmerksamkeit erzeugen sollen und nicht Zerstreuung –, und als Betrachter ist man eingeladen, mit der „Kamera“ komplett in diesen Sumpf einzutauchen und ihn permanent anders zu erleben. Und hierin liegt vielleicht auch die große Leistung immersiver Kunstwerke: Sie zu erfahren bedeutet, in sie einzutauchen – und sich zu versenken heißt, sich Zeit zu nehmen.
Dazu erschafft Kudsk Steensen das komplette Panorama einer Sumpflandschaft: Er dringt mit der „fliegenden Kamera“ in den Boden ein, zoomt ins Wurzelwerk, schwenkt nach oben, gleitet durch das Wasser ins Unterholz weiter durch das Strauchwerk in die Baumkrone und den Himmel darüber. Verstärkt wird all das noch dadurch, dass über einen Teil der Ausstellungsfläche ein glänzender, reflektierender tiefschwarzer Boden ausgelegt wurde, der die großen hochauflösenden LED-Bildschirme spiegelt, sodass man das Gefühl hat, man befindet sich mitten in diesem Sumpf: Das Bewusstsein dafür, einer virtuellen Welt ausgesetzt zu sein, verblasst hier bisweilen soweit, dass man die virtuelle Umgebung mit der Zeit beinahe als real empfindet, wenngleich die wahrgenommene Welt hier natürlich, wie für Platons Höhlenbewohner, nur ein vorübergehender Schatten und nicht die Fülle des Glanzes des Lebens unter der Sonne ist.
Industriemahnmal
Bevor das Graphitfeuer zwei Wochen nach den beiden Explosionen in Tschernobyl erlosch, hat es den Schutzschild des Reaktors aufgelöst und die Brennelemente zu einer Art Lava geschmolzen, Corium genannt, die sich in den Boden gefressen und eine höhlenartige Struktur gebildet hat. Wäre dieses Corium durch den Boden gedrungen, hätte es darunter liegende Wassertanks erreicht und es wäre zu einer weiteren, noch wesentlich gewaltigeren Explosion gekommen, außerdem hätte die Gefahr bestanden, dass radioaktives Material die natürlichen Grundwasserreservoirs der Region verseucht. Um das zu verhindern pumpte man zuerst das Wasser aus den Tanks ab und trieb eilig einen 150 Meter langen Tunnel unter das Kraftwerk, an dessen Ende eine große Kammer ausgehoben wurde, die man mit Beton auffüllen wollte, was dann allerdings nicht notwendig war.
Dringend geboten war jedoch, zu verhindern, dass weiterhin radioaktive Partikel unkontrolliert in die Atmosphäre gelangen. Deshalb errichtete man, ganz abgesehen von den ungeheuren finanziellen Aufwendungen (Gorbatschow spricht von insgesamt 18 Milliarden Dollar), in einem gewaltigen Kraftakt bis November 1986 einen Sarkophag aus über 400.000 Kubikmeter Stahlbeton, der 2019 noch zusätzlich mit einer stählernen Schutzhülle, dem sogenannten New Safe Confinement, umgeben wurde.
Auch wenn die Reaktorkatastrophe nicht der Sargnagel für die UdSSR war – der errichtete Sarkophag über dem Block 4 des Atomkraftwerks „Wladimir Iljitsch Lenin“ kann durchaus als Sinnbild für das niedergegangene Sowjetreich fungieren, zumal dann, wenn man davon ausgeht, dass die Geschichte der UdSSR untrennbar verbunden ist mit der Ausbeutung ihrer reichen Rohstoffvorkommen und damit, wie man diese Vorkommen einsetzt und in Energie verwandelt. Die Losung dazu – den Plan für den industriellen Umbau des Landes, der auch noch Stalin prägte – gibt Lenin bereits im Jahr 1917, sie lautet: „Sozialismus ist Sowjetmacht und Elektrifizierung des ganzen Landes“. Das war der ursprüngliche Plan der Bolschewiken, basierend noch auf der Verstromung von Kohle (obwohl im aserbaidschanischen Baku seit spätestens 1907 Öl im industriellen Maßstab gefördert wird). An sein Ende gekommen ist dieser Plan gewissermaßen mit Tschernobyl …
Der Sarkophag über dem Reaktor im Prypjatsumpf ist dabei eigentlich ein doppeltes Mahnmal: nicht nur für den Niedergang der Sowjetunion, sondern auch dafür, dass Natur nicht beherrschbar ist. Davon zeugt auch Kudsk Steensens Installation Berl-Berl, und zwar zum einen durch sein Thema: die Sumpflandschaft; und außerdem durch den Ausstellungsort: einer seit 2004 zum Technoclub Berghain (dem legendären Zentrum der Berliner Clubkultur) gehörenden, aber von ihm selbst nur selten genutzten Halle des ehemaligen Fernheizwerks Stalinallee, das Anfang der 1950er Jahre – im Zuge des Aufbaus der Ostberliner Renomiermeile – auf dem Gelände eines alten Bahnhofs errichtet wurde um dort Wärme über die Verbrennung der über die Gleise gelieferten Kohle zu erzeugen. Heute ist die Halle in dem unter Denkmalschutz stehenden Industriegebäude im Stil des Sozialistischen Klassizismus komplett entkernt und bildet sozusagen nur noch die zivilisatorische Hülle, in der Kudsk Steensens immersive Landschaft – gleichsam eine Würdigung der Natur im Virtuellen – erstrahlt.
Subversivität
„Seltsam, wie der Baum die Wirklichkeit und das gesamte Denken des Abendlandes beherrscht hat … der Wurzelgrund, G r u n d , r o o t s und f o u n d a t i o n s . Das Abendland unterhält eine privilegierte Beziehung zum Wald und zur Rodung; die dem Wald abgerungenen Felder sind von Kornpflanzen bewachsen, Objekte einer Abstammungskultur vom Baumtyp …“, schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari in „Rhizom“ (1977). Dagegen stehen die Sümpfe: Sie sind die Antithesen unseres Fortschrittsglaubens, unserer Ordnung – gefährlich, chaotisch und wild – und sollten daher eingedämmt, besser aber noch gleich trockengelegt werden im Zeichen der Zivilisation.
Schon immer haben sich Sümpfe dem unersättlichen Fortschritt der Zivilisation widersetzt – nicht nur durch ihre widerspenstige, undurchdringliche Pflanzenwelt und Myriaden von Malaria, Sumpffieber, übertragenden Stechmücken, sondern sie unterlaufen auch all unsere rationalen, auf Unterscheidungen beruhende Klassifikationssysteme: In ihrer Hybridität zwischen Land und Wasser stehen Sümpfe, wie die Biologin Dane Sutherland im Ausstellungskatalog von Berl-Berl schreibt, „für eine Topologie morastiger Ununterscheidbarkeit“ und offenbaren ein subversives Wesen, das „der modernen Tendenz, die Umwelt zu beherrschen, fundamental zuwider(läuft)“.
Sümpfen fehlt alles, was andernorts für Stabilität und Orientierung sorgt, hier schwankt alles. Einen Sumpf zu Kartografieren gleiche insofern „dem Vermessen von dichtem Nebel oder Miasmen“, schreibt Sutherland. Nicht zuletzt deshalb waren Sümpfe schon immer die weißen Flecken unserer Landkarten: Die Menschen legten zwar schon vor Jahrtausenden Wege an ihren Rändern an, in die schaurigen Moore hinein aber wagte sich niemand, sie blieben lange unkultiviert und menschenleer (oder dienten, wie die Prypjatsümpfe im Zweiten Weltkrieg – dieses „Loch“, wie man sagte, wurde von der Wehrmacht komplett gemieden –, als Rückzugsraum für den partisanischen Widerstand der Sowjets, die sich damit genau an die Taktik der Germanen – die Tacitus zufolge ja ebenfalls in einem „widerwärtigen“ Wald- und Sumpfgebiet lebten – in der Hermannsschlacht gegen die Römer hielten, die hier nicht ihre gewohnte Schlachtordnung einnehmen konnten).
Im Sumpf besteht das Leben nicht nur nebeneinander, sondern hier ist alles völlig ineinander verschlungen. Alles Leben wirkt hier gleichzeitig, das heißt der Sumpf ist etwas, das unter dem ewigen Wechsel von Werden und Vergehen lebt und dauert – und sich insofern aller Zeitlichkeit entzieht. „Wir leben nicht auf einer linearen Zeitachse“, sagt Kudsk Steensen: Der Sumpf macht sichtbar, dass „(e)twas, das in fünfzig Jahren geschieht, direkt mit einem Ereignis von gestern zusammenhängen könnte“. Der Sumpf macht klar, dass der Mensch mit seinem Auftauchen vor etwa 2,8 Millionen Jahren innerhalb der etwa 4,55 Milliarden Jahre andauernden erdgeschichtlichen Entwicklung von der elementaren Ansammlung von Wasser und Einzellern bis hin zu gewaltigen Klimaveränderungen im Anthropozän nur einen geringen (wenn auch fortdauernden) Teil ausmacht.
Diese ganze Geschichte liegt gewissermaßen im Sumpf – und entzieht sich unseren traditionellen Repräsentationssystemen. Sümpfe, in deren Terrain alle Spuren der Vergangenheit verschluckt und gleichsam doch bewahrt sind, haftet etwas Mystisches an. Sie sind Orte des Geheimnisvollen, undefinierbar Gruseligen, und gelten schon immer als Anomalie: Der Sumpf war seit jeher der Nährboden für unsere Ängste und ein Ort, der für uns Gefahren symbolisierte. In diesem subversiven Sinn, als Symbol unserer Irrationalität, fungiert er aber gleichsam auch als eine Art „mentales Modell“, wie Sutherland schreibt. Möchte man diese Schattenwelt jedoch erfassen, gilt es den sicheren Grund zu verlassen und tief in den Sumpf einzutauchen.
Versumpfen
Ein tiefes Misstrauen gegen seine „rastlose, nervöse, geschäftige, triviale“ Zeit beseelt Henry David Thoreau (1817-1862). Sein ziviler Ungehorsam führt ihn in die Wildnis des Waldes – in eine selbst errichtete Holzhütte am Ufer des Waldensees, unweit seines Heimatortes Concord in Massachusetts. Denn, wie Thoreau bemerkt: „Der wilde Wald wächst auf jungfräulicher Erde, und dieser Boden ist den Menschen nicht minder förderlich als den Bäumen“. Deshalb will er hier in der unberührten Wildnis die nächsten Jahre sein selbstgewähltes, allerdings nicht völlig isoliertes Exil verbringen und sich auch die „stille Verzweiflung“ über die „Zivilisationszwänge“, die er als vermögender und ungebundener Erbe zwar nicht wirklich selbst erlebt, aber bei seinen Zeitgenossen beobachtet hat, von der Seele schreiben. Es geht ihm dabei nicht, wie Karl Marx (1818-1883) etwa zur selben Zeit, um eine gesellschaftliche Umwälzung (auch wenn er aus Gewissensgründen – das Gewissen allein soll, nach Maßgabe der Natur, das Handeln leiten – vehement für die Sklavenbefreiung einsetzt), sondern in erster Linie um eine Erneuerung des Individuums; seine Freiheit und Autonomie stehen bei Thoreau im Vordergrund.
Erweist sich der zweifelhafte Untergrund der Sümpfe, der bodenlose Morast, für den Fortschritt als Hindernis, unterläuft Thoreau mit seinen Texten die vertrauten negativen Assoziationen und wendet sie sogar ins Gegenteil: „Die Sümpfe in der Umgebung meines Heimatortes erbauen mich mehr als die gepflegten Gärten in unserem Städtchen. Es gibt meiner Meinung nach keine prächtigeren Parterres als die dichten Beete des Zwerglorbeers (Cassandra calyculata), die jene sensiblen Stellen der Erdoberfläche bedecken. Botanik nutzt mir hier nur dahingehend, dass ich auch weiß, wie die Sträucher und Kräuter heißen, die dort gedeihen: Blaubeere, Rosmarinheide, Lorbeerrose, Azalee, Rhododendron – all dies wächst auf dem schwankenden Torfmoos. Solche Massen stumpfroter Büsche hätte ich gern vor meinem Haus stehen, denke ich oft; ich brauche keine Blumen in Kübeln und Rabatten, keine verpflanzten Fichten, keine getrimmten Buchsbäume, nicht einmal Kieswege; so ein fruchtbares Fleckchen Moor will ich …“
Diese Absage an das zivilisierte Leben ist weniger als eine Provokation gedacht (vielleicht auch), und Thoreau belegt den Sumpf umgekehrt auch nicht einfach mit „Schönheit“, sondern eher etwas wie eine aufkeimende „Öko-Logik“, wie es Sutherland nennt, die in der komplexen Vielfalt des Sumpfes das geradezu einzigartige dieses Lebensraums erkennt. Tatsächlich beherbergen Feuchtgebiete, auch wenn sie insgesamt nur ein Prozent der Ökosysteme unseres Planeten ausmachen, etwa zehn Prozent aller Arten (ganz abgesehen davon, dass sie enorme Mengen Kohlenstoff speichern und als wichtige Wasserfilter und Regulatoren fungieren, die – anders als kanalisierte Flussläufe und die versiegelte Stadt – ungeheure Wassermassen absorbieren können).
Von dieser Landschaft möchte sich Thoreau inspirieren lassen – gewissermaßen auch zu einem neuen Leben. Deshalb taucht er ein in die Wildnis, denn er ist sich sicher, dass gerade in der unberührten, wilden Landschaft, dem Wald- und Sumpfgebiet, das Leben schlechthin steckt: „Lebendigkeit und Wildheit sind eins. Das Wildeste ist auch das Lebendigste. Der Mensch hat es noch nicht bezwungen“, schreibt er in „Vom Wandern“ (1862), und fügt hinzu: „Das Wilde garantiert die Erhaltung der Welt. Jeder Baum reckt seine Wurzelfasern nach dem Wilden aus“. Das Wilde ist hier der Boden – ein Nährboden für alles Lebendige. Und wild ist auch der Sumpf – Humus für das Wilde Denken.
Der Sumpf ist für Thoreau insofern auch ein Denkmodell. Er ist zwar etwas zutiefst Subversives, Thoreau sieht in ihm aber zugleich auch etwas Heilendes: Im Gewirr des Unkrauts im tiefen, uralten Morast erkennt er „heilende Kräuter“, in den berauschenden Sumpfgasen und Miasmen – wie die Phytia im Orakel von Delphi – die „Nachtgedanken der Erde“, im Sumpf selbst einen „Tempel“: „Wenn ich Erholung brauche“, schreibt Thoreau, „suche ich mir den finstersten Wald oder den schlammigsten, umfänglichsten und – im Empfinden des Normalbürgers – schaurigsten Sumpf. Ich betrete einen Sumpf wie einen heiligen Ort – wie ein sancta sanctorum [das Heiligste des Heiligen].“
Thoreau erobert den Sumpf nicht, indem er ihn kolonisiert, sondern indem er sich geradezu mystisch in ihn versenkt und sich von der kalten, feuchten Materialität inspirieren lässt. So findet der Sumpf in Thoreau gewissermaßen eine Stimme – werden Sumpf und die „Nachtgedanken der Erde“ zu einer gestalterischen Ressource, die bei Thoreau zum Ausdruck kommt: „Ich will eine Kultur“, schreibt er in „Vom Wandern“, „die jede Menge Schlamm von den Sumpfwiesen holt und damit den Boden unterstützt – und keine, die sich allein auf Heißdünger, verbesserte Geräte und neue Anbaumethoden verlässt! (…) Ich halte es für falsch, jeden Menschen oder jeden Teil des Menschen zu kultivieren; ebenso falsch finde ich es, jeden Hektar Boden zu kultivieren. Ein Teil davon soll bestellt werden; doch der größere Teil soll Wiese und Wald bleiben und keinem unmittelbaren Zweck dienen, sondern einem vorsorgenden, nämlich durch den jährlichen Zerfall der Vegetation einen Humus für eine ferne Zukunft bilden.“
Ästhetik des Versumpfens
Wie Thoreau taucht auch Jakob Kudsk Steensen ein in den Sumpf – nicht literarisch, sondern leibhaftig: „Ich glaube, dass man sich auf eine Umgebung einlassen muss, um … neue Perspektiven zu entdecken“, sagt er – und tatsächlich sieht man ihn auf Bildern bis weit über die Hüfte im Wasser stehen und fotografieren … Man nennt das Feldarbeit: Denn Berl-Berl beginnt mit der Arbeit im Sumpf, in dem Kudsk Steensen etliche Stunden für die Recherche zur Installation verbringt. Er konzentriert sich dabei auf die Sümpfe im Berliner Umland, das heißt Ausgangspunkt waren die verbliebenen Feuchtgebiete Berlin-Brandenburgs, vor allem der Spreewald, wo er zunächst ein umfangreiches Bildarchiv erstellte.
Mit dem Eintauchen in den Sumpf, mit seiner Ästhetik des Versumpfens, stellt sich Kudsk Steensen, darauf verweist Sutherland, in die Tradition von Thoreaus Öko-Logik. Er benutzt dazu mit der Makrofotogrammetrie ein relativ neuartiges Verfahren, bei dem er, wie auch schon bei seinen letzten Arbeiten, Fotografien aus der realen Wirklichkeit eines bestehenden ökologischen Systems (im Fall von Berl-Berl aus den Feuchtgebieten des Spreewalds) in ein dreidimensionales digitales Modell am Computer verwandelt, um dort mittels geeigneter Software eine immersive virtuelle Landschaft zu erzeugen.
Ähnlich wie bei der Atomwolke, aus der – in Daten übersetzt – eine Gefahrenwirklichkeit entsteht, erzeugen fotogrammetrisch erfasste Objekte, wie es im Glossar des Ausstellungskataloges heißt, „in einem Koordinatensystem aus X-, Y- und Z-Achsen einen komplexen Satz von Datenpunkten“ – eine sogenannte Punktwolke –, „der die Oberflächen des Objekts im virtuellen Raum digital abbildet“. Punktwolken sind also ein Satz von Datenpunkten in einem dreidimensionalen Koordinatensystem, die nun als Gitternetzmodelle am Computer mit naturgetreuen oder auch künstlichen virtuellen Strukturen versehen und animiert werden können, um daraus eine immersive Landschaft zu kreieren. Und eben das tut Kudsk Steensen bei Berl-Berl mit den in eine dreidimensionale Datenwolke übersetzten, ultradetaillierten Fotografien aus dem Spreewald.
Kudsk Steensen bildet den Spreewald nicht einfach 1:1 ab, sondern die Verwendung der Computersoftware „Unreal Engine“ eröffnet auch die Möglichkeit zur virtuellen Wiederbelebung von bereits ausgestorbenen Spezies. Aus diesem Grund arbeitet Kudsk Steensen bei Berl-Berl mit dem Naturkundemuseum Berlin zusammen, auf dessen digitalisierten Archive – Tonaufzeichnungen und Fotogrammetrien – er zurückgreifen konnte. Am Computer läßt Kudsk Steensen dort archiviertes Datenmaterial in veränderter Form wieder lebendig werden und erschafft so, wie er sagt, „eine neue Daseinsform, in der Arten als Daten weiterleben können“, als digitale Inkarnationen in neuer Form gewissermaßen.
Der Prozess vom Physischen ins Virtuelle, vom Materiellen ins Immaterielle, ist bei ihm insofern begriffen als ein Verwandlungsprozess: Berl-Berl ist kein fotorealistisches Abbild eines Sumpfes, sondern in ihm sind auch Erinnerungen verarbeitet – die Vergangenheit in Form ausgestorbener Spezies –, deren Daten hier digital zu neuartigen fiktiven, virtuellen Spezies verwandelt werden. Insofern erschafft Kudsk Steensen kein reales Ökosystem, sondern nur die, wie er sagt, „hyperlokale“ Illusion davon – gleichsam jedoch auch von einem verlorenen Paradies gewissermaßen.
Slawische Ursprünge
Berl-Berl erinnert nicht nur eine biologische Vergangenheit, sondern hat auch eine kulturelle Dimension – nicht zuletzt dadurch, dass der titelgebende Ausdruck „Berl“, von dem sich wiederum „Berlin“ ableitet, doch der alte slawische Begriff für „Sumpf“ ist: „Birlin, Berlin“ bedeutet „Ort in einem sumpfigen Gelände“ und ist abgeleitet von von „birl-, berl-“ für „Sumpf, Morast“, ergänzt um das die Lage bezeichnende slawische Suffix „-in“. Die urkundliche Überlieferung erfolgte tatsächlich mit dem Artikel („der Berlin“) und spricht für einen ursprünglichen Flurnamen, der von den Slawen, die die ersten Siedler von Berl-in waren, aufgenommen wurde.
Kudsk Steensons Installation zeugt insofern auch von der kulturellen Geschichte Berlin-Brandenburgs und kann durchaus als eine Art „Deep Mapping“ beziehungsweise multimediale Tiefenkartierung des brandenburgischen Sumpfgebietes verstanden werden: Kudsk Steensens Installation bringt nicht nur Berlin mit seinem geologischen Ursprung in Verbindung (Feuchtgebiete, die durch ein Urstromtal geformt wurden), sondern verweist zugleich auf das kulturelle slawische Erbe der Region, dessen Spuren noch überall in Berlin zu finden sind – von Ortsnamen wie Marzahn (ebenfalls ein slawischer Ausdruck für „Sumpf“) bis hin zu den Holzpfählen, auf denen zum Beispiel die Museumsinsel im Wasserlauf der Spree errichtet wurde –, und die in der Kultur der Sorben, einer slawischen Minderheit im Spreewald, noch immer lebendig ist.
Die Sorben sind heute eine Bevölkerungsgruppe mit etwa 60.000 Menschen, von denen etwa ein Drittel in der Niederlausitz in Brandenburg lebt (Niedersorben) die anderen zwei Drittel in der sächsischen Lausitz (Obersorben), wobei Nieder- und Obersorben unterschiedliche slawische Sprachen sprechen. Man geht davon aus, dass das slawische Volk der Sorben ursprünglich aus der Sumpflandschaft beidseits des Prypjats auf das ehemals germanische Gebiet gelangte: Polesien beziehungsweise das Feuchtgebiet zwischen Prypjat und mittlerem Dnjepr gilt als Zentrum und Heimat der Urslawen. (Vom dem vermutlich warägischen Volk der Rus ist nicht viel bekannt, außer dass sie, wie Peter Frankopan in seiner Weltgeschichte „Licht aus dem Osten“ (2017) schreibt, „vom Raub“ lebten und hier am Dnjepr so viele Menschen gefangen nahmen, dass sie deren Namen – Slawen – auf all anderen Gefangenen übertragen haben: Sklaven.)
Von der Sumpflandschaft des Prypjat aus wanderten westslawische Stämme in der Völkerwanderungszeit ab dem 6. Jahrhundert in westliche Richtung zunächst auf den Balkan, im 7. Jahrhundert erreichten sie dann auch Gebiete, aus denen die zuvor dort lebenden germanischen Völker weitestgehend abgewandert waren – die Wald- und Sumpfgebiete der Spree und der Havel –, bevor sie schließlich bis an die Elbe gelangten. Unter ihnen waren etwa zwanzig sorbische Stammesverbände, die hier ein Gebiet von ungefähr 40.000 Quadratkilometer (in elf der sechzehn deutschen Bundesländer) besiedelten.
Ein schriftliches Zeugnis des fränkischen Chronisten Federgar aus dem Jahr 631 berichtet zum ersten Mal von den Sorben: Demnach hat sich der Stamm der „Surbi“ mit ihrem Fürsten „Derwan“ (Federgar schreibt in Latein: „Dervanus dux gente Surbiorum“) zwischen Saale und Mulde niedergelassen. Ansonsten kennt man bereits einen Stamm Namens „Milceni“ („Milzener“) sowie die „Lusici“ („Lusitzer“) in der Niederlausitz, auf die die Landschaftsbezeichnung „Lausitz / Luzyca“ zurückgeht, abgeleitet vom altsorbischen Wort „Lug“ („sumpfige, mit Wald bewachsene Niederung“). Aus dieser Bezeichung wurde der Stammesname für deren Bewohner. Sie selbst bezeichneten sich in ihrer Muttersprache mit dem slawischen Wort „Serby“, aus dem schließlich das Ethonym „Sorben“ für alle slawischen Stämme in dem Gebiet abgeleitet wurde. (Slawen sind eine Sprachgemeinschaft, die mit etwa vierzig Prozent der Bevölkerung die größte Sprachgruppe Europas bilden, wobei die Sorben als kleinster Teil der slawischen Völkergemeinschaft gelten.)
Im 8. und 9. Jahrhundert gerieten die Sorben in zunehmende Abhängigkeit vom (ost-)fränkischen Reich und wurden in dieses eingegliedert – es gelang ihnen also nie, einen eigenen Staat zu gründen. Stattdessen lebten die Sorben von Anfang an als Bauern in kleinen Stammesverbänden, die jeweils nur wenige dörfliche Siedlungen umfassten, es gab aber auch Herrschaftszentren: Ab dem Ende des 9. Jahrhunderts entstehen überall in den von ihnen besiedelten Feuchtgebieten Höhenburgen, die das Gelände überragten, oder wenn die geeigneten Standorte dafür fehlten, auch Niederungs- oder Sumpfburgen mit Ringwällen als natürlicher Schutz. Man kennt etwa achtzig solcher civitates, die sorbische „Hauptburg“ wurde dabei in Budissin im Stammesgebiet der Milzener errichtet, dem heutigen Bautzen.
Noch immer erkennt man ehemals slawische Ortschaften an ihrem Namen: Etwa sechzig Prozent der Ortsnamen in den östlichen Bundesländern haben einen slawischen Ursprung, typische Endungen in diesem Zusammenhang sind zum Beispiel -itz, -in und -ow. Insgesamt aber wurden von den Sorben nur etwa 5-10 Prozent der Fläche des besiedelten Gebietes genutzt, der größte Teil war noch von Wald bedeckt. Das ändert sich erst, als im 12. und 13. Jahrhundert germanische Stämme die Gebiete östlich der Elbe zurückeroberten – und weite Teile des Landes für die Landwirtschaft nutzbar machten. Dörfer, die durch Rodungen deutscher Siedler entstanden, sind an den Endungen -hagen und -horst erkennbar, allerdings lebten Germanen und Sorben nicht strikt voneinander separiert, sondern durchaus im kulturellen Austausch.
Die Deutschen besiedelten zunächst Holstein im Norden, anschließend das Havelland westlich von Berlin sowie das Spreegebiet östlich davon, bevor sie weiter in Gebiete jenseits der Oder und der Weichsel expandierten. Eine wesentliche Ursache für diese Ausbreitung nach Osten dürfte im starken Bevölkerungswachstum im 11. und 12. Jahrhundert aufgrund des wärmeren Klimas (der sogenannten mittelalterlichen Warmzeit) liegen.
Die Landschaft um Berl-in
Wasser prägt Berlin und seine Umgebung, denn praktisch die gesamte Landschaft Brandenburgs wurde im letzten Eiszeitalter – der sogenannten Weichsel-Eiszeit – geformt, als eine von Skandinavien bis südlich von Berlin reichende Eisschicht Norddeutschland bedeckte. Drei Eiszeitperioden lassen sich in dieser Region unterscheiden (sie verliefen zeitlich parallel zu den letzten drei im Alpenraum, wo insgesamt vier erkannt wurden: Günz-, Mindel-, Riß- und Würm-Eiszeit), wobei die Weichsel-Eiszeit (die auf die Elster- und Saale-Eiszeit folgte) wie die Würm-Eiszeit in den Alpen vor etwa 2,5 Millionen Jahren begann und vor etwa 11.000 Jahren endete.

Karte vom Berliner Urstromtal. Unterhalb erkennt man das ältere Baruther Urstromtal mit dem Spreewald, darüber liegt das jüngere Eberswalder Urstromtal (in dem sich auch das „Teichland Linum“ und der Oderbruch befinden).
© Grabenstedt, wikipedia.de
Der Berliner Raum ist seit etwa 19.000 Jahren eisfrei. Neben den Seen, die aus zurückgebliebenen, aufgetauten Toteiskörpern entstanden (wie zum Beispiel der Müggelsee im Osten oder der Tegeler See im Norden der Stadt) formten insbesondere drei sogenannte Urstromtäler in dieser Zeit die Landschaft in Brandenburg zu der Gestalt, die sie noch heute hat. Alle drei liegen dabei innerhalb des großen Warschau-Berliner-Urstromtales: Das etwa 21.000 Jahre alte Baruther Urstromtal, das gleichsam die maximale südliche Ausdehnung des skandinavischen Kontinentalgletschers markiert (etwa 75 Kilometer südlich von Berlin) und in dem auch das Spreewaldgebiet liegt; das Berliner Urstromtal etwas weiter nördlich, dessen Lauf heute die Spree für sich nutzt und das vor etwa 18.000 Jahren entstand, als sich das Eis aufgrund der einsetzenden Klimaerwärmung bereits etwas weiter nach Norden zurückgezogen hatte; und schließlich noch das Eberswalder Urstromtal vor etwa 15.000 Jahren als das nördlichste und jüngste der Brandenburger Urstromtäler.
Urstromtäler sind breite Talniederungen, die durch Schmelzwasser infolge der Klimaerwärmung am Ende der Eiszeit entstanden. Grundsätzlich entscheidend für ihre Entstehung war, dass die Landschaft Norddeutschlands von Süden nach Norden abwärts geneigt ist, weshalb die Schmelzwässer nicht weit nach dem ansteigen Süden abflossen – aber auch nicht in Richtung Norden, da die Flüsse hier durch den gewaltigen skandinavischen Kontinentalgletscher blockiert wurden. Den Schmelzwässern blieb als einzige Möglichkeit der Weg parallel zum Eisrand Richtung Nordseebecken, das damals aufgrund des deutlich niedrigeren Meeresspiegels noch trocken war (er stieg aufgrund des Abschmelzens des Kontinentalgletschers um etwa 120 Meter). So entstanden die sogenannten Urstromtäler mit einer Breite von bis zu 20 Kilometern.
Teichland Linum
Urstromtäler sind geprägt von einem flachen sandigen Grund, auf dem sich oft breite Torfflächen bildeten, wie zum Beispiel in Linum, einem Dorf etwa 45 Kilometer nordwestlich von Berlin im Eberswalder Urstromtal. Der Torf bildete sich hier auf einer mächtigen, bis zu 20 Meter dicken extrem flachen Sandbodenschicht, dem sogenannten Sander, die der Kontinentalgletscher sozusagen gemahlen hatte: Die einzigen Erhebungen in Norddeutschland sind aufgewehte Sanddünen wie beispielsweise die Püttberge mit einer Höhe von 30 Metern als höchste Erhebung in der ehemaligen Kontinentalgletscherzone Brandenburgs. (Sieht man vom Kutschenberg mit 201 Meter ab, der sich südlich von dieser ehemaligen Gletscherzone befindet, sind die höchsten Erhebungen Berlin-Brandenburgs keine natürlich entstandenen, sondern aufgeschütteter Kriegsschutt wie beim vielleicht bekannten Teufelsberg, einem Trümmerhaufen im Südwesten Berlins mit knapp über 120 Metern Höhe.)
Die Sande der wenig fruchtbaren Böden in Brandenburg dienen als Grundwasserspeicher, auf denen sich im Postglazial entweder Kiefernforste bildeten, wie beispielsweise in der Zauche südwestlich von Berlin, oder großflächige Versumpfungsmoore. So eben auch in Linum, wo eine etwa 23.000 Hektar große Niedermoorlandschaft entstanden ist. Linum liegt im Rhinluch, einem Feuchtgebiet, das vom namensgebenden Fluss Rhin im Flussbett des ehemaligen Eberswalder Urstroms durchflossen wird. Dieses große Flusstal fiel mit dem weiteren Zurückschmelzen der Gletscher noch in der Eiszeit trocken, das heißt es bildeten sich Seen, die im Laufe der Zeit durch den natürlichen Verlandungsprozeß im Postglazial zu Mooren wurden: „Luch“ ist in Brandenburg die Bezeichnung für ein Gewässer, in dem das Wasser bereits vor der Anlage moderner Drainagesysteme praktisch stand (schon die Sohlen der breiten Urstromtäler lagen nur relativ wenig über dem Meeresspiegel und flossen deshalb nicht ab). Ermöglichte man aber den Wasserabfluss und staute dieses Wasser in Teichen, ließ sich auf dem trockengelegten mineralreichen Niedermoortorf gut Ackerbau und Viehwirtschaft betreiben, weshalb die großflächigen Moorkultivierungen in Brandenburg-Preußen, insbesondere unter Friedrich dem Großen (1712-1786), besonders erfolgreich waren: Insgesamt etwa 142.000 Hektar Land wurden so als „Speckgürtel“ um Berlin herum erschlossen.

Karte des Havellands westlich von Berlin mit dem Rhinluch im Norden (hier ist auch das „Teichland Linum“), der Havel-Insel Werder (dem nördlichsten Anbaugebiet für Qualitätswein in Deutschland), sowie dem Zisterzienserkloster Lehnin etwas weiter westlich davon, zwischen Brandenburg und Werder (den Initiatoren des Weinbaus in Brandenburg).
© ulamm, wikipedia.de
Mit der Kultivierung der brandenburgischen Niedermoore begann man, wie Hansjörg Küster weiß, in den Jahren zwischen 1718 und 1724, als man etwa 15.000 Hektar Niedermoore im etwas südlicher vom Rhinluch gelegenen Havelländischen Luch im Becken des Berliner Urstromtales trockenlegte. Etwa 550 Kilometer Entwässerungsgräben wurden damals gezogen. Das größte Moorkultivierungs-Unternehmen war jedoch die Erschließung des Oderbruchs östlich von Berlin, an der Grenze zu Polen im Eberswalder Urstromtal gelegen. Vor seiner Trockenlegung glich das Oderbruch mit dem mäandernden Fluss und den jährlichen Frühjahrsüberschwemmungen der Wasserlandschaft in Polesien (natürlich in einem etwas kleineren Maßstab). In den Jahren 1747 bis 1753 allerdings legte man das Gebiet trocken und gewann dadurch 56.000 Hektar urbares Land, was Friedrich der Große mit dem vielzitierten Satz kommentierte: „Hier habe ich im Frieden eine Provinz erobert, ohne einen Mann zu verlieren.“
Ebenfalls im Eberswalder Urstromtal, aber weiter westlich, liegt Linum, errichtet auf einer slawischen Wallanlage aus dem 11. Jahrhundert und, wie fast alle Dörfer Brandenburgs, etwas erhöht liegend, geschützt von der sie umgebenden Feuchtigkeit. Hier begann man um das Jahr 1783 damit, die umliegenden Moore zu entwässern und die Torfvorkommen im Luch intensiv auszubeuten. Der Torf wurde dann als Heizmaterial über die nahe Havel in das rasant anwachsende Berlin verschifft. Erst mit der Steinkohleverwendung ab dem Ende des 19. Jahrhunderts fand der Torfabbau ein Ende. Bis dahin allerdings entstanden in den ehemaligen Torfstichen große, flache Teiche zur Fischzucht – eine inzwischen als „Teichland Linum“ bezeichnete, 240 Hektar große Wasserlandschaft, die sich ab September zum größten europäischen Binnenrastplatz für hunderttausende Kraniche und Graugänse entwickelt hat (im Jahr 2006 wurden an einem Tag 72.000 Kraniche und 60.000 Gänse gezählt) – ein beeindruckendes Naturschauspiel für jeden, der es vor Ort erlebt.
Wenn sich die Kraniche im Rhinluch sammeln, sieht man sie manchmal abends in ihrer typischen aerodynamischen Keilformation über Berlin fliegen. Ausgehend vom vordersten Vogel, bei dem mit jedem Flügelschlag Wirbelschleppen mit Aufwinden an den Rändern entstehen, schlagen die dahinter fliegenden Kraniche ihre Flügel zeitlich etwas versetzt genau dann, wenn sie diesen Aufwind spüren. So sparen sie etwa ein Zehntel Energie auf ihren anstrengenden Flügen. Die anmutigen Vögel mit einer Flügelspannweite von über zwei Meter ziehen jedes Jahr im Herbst mit ihren trompetengleichen Rufen (die Altvögel verdanken ihr gewaltiges Stimmvolumen der mit 1,30 Metern enormen Länge ihrer Luftröhre und sorgen damit dafür, dass niemand verloren geht) – die man hört, weil die Kraniche in maximal hundert Metern Höhe übers Land ziehen – von ihren Brutgebieten in Skandinavien, den baltischen Staaten aber auch Polesien in sehr schmalen Zugkorridoren gen Süden, um etwa in den Stieleichenwäldern der spanischen Extremadura zu überwintern.
Im Rahmen der Meliorationsmaßnahmen zum Torfabbau wurde die Landschaft des Rhinluchs massiv verändert und zu einer landwirtschaftlich geprägten Kulturlandschaft mit Teichen, Wiesen und Weiden umgestaltet, auf denen heute das Linumer Wiesenkalb grast. Daneben aber dienen die abgegrasten Flächen den Zugvögeln als optimales Revier zur Futtersuche. Jeden Abend treffen die einzelnen Kranich-Familientrupps (Kraniche werden bis zu vierzig Jahre alt) dann von den umliegenden Feldern in den Teichen ein, wo sie gemeinsam in den seichten Gewässern, sicher vor Feinden, übernachten.
Neben den Kranichen und Graugänsen, die immer im Frühjahr und Herbst hier Zeit verbringen, ist Linum insbesondere auch für die brütenden Storchenpaare bekannt, die dem Dorf auch den Beinamen „Storchendorf“ gegeben haben. Etwa 200.000 Storchenpaare gibt es weltweit, 4.000 davon brüten in Deutschland. In Linum treffen die Weißstörche zwischen März und Mai ein und ziehen dann ab Ende August entlang der Ostroute wieder nach Afrika (die Störche, die den Sommer in Norddeutschland verbringen, ziehen über die Türkei und den Nahen Osten dorthin, während die Störche im Westen Deutschlands die gefährlichere Route über Gibraltar wählen, wo sie die etwa zwanzig Kilometer breite Meerenge überwinden müssen: über Wasser jedoch gibt es keine Thermik, die die Vögel dringend brauchen, und außerdem können Störche nicht schwimmen oder vom Wasser aus starten). Sie folgen dabei einem angeborenen Zug- und Orientierungsprogramm – das erklärt auch, weshalb die Jungvögel (Storchenpaare brüten jedes Jahr etwa drei bis fünf Eier aus) vor ihren Eltern losziehen.
Auch die Weißstörche profitieren von der Umgestaltung des Rhinluchs in eine großflächige Landwirtschaft – vermutlich würden sie ohne die vom Menschen gestaltete Kulturlandschaft sogar überhaupt keinen adäquaten Lebensraum finden: Anders als Kraniche, die Menschen instinktiv meiden, ist der Storch ist ein typischer Kulturnachfolger, der ohne die Umwandlung des Sumpfs zur Wiese und zum Acker kaum Nahrung (zum Beispiel Frösche und Mäuse) finden würde und deshalb meistens innerhalb menschlicher Siedlungen nistet.
Berl-in
Berlin ist umgeben von ausgedehnten Wasserlandschaften, aber Gewässer prägen auch das Stadtgebiet selbst: In dem Berliner Urstromtal, das große Schmelzwasserströme abführte, fließen, von Südosten kommend, die vergleichsweise kleinen Flüsse Spree und Dahme und münden weiter westlich in die Havel, die in ihrem Verlauf einer glazialen Rinne folgt und das Urstromtal lediglich quert, ohne es länger zu benutzen. Alle drei Flüsse strömen durch das Stadtgebiet von Berlin, wobei sie mitunter stark mäandrieren und vielerorts Flussseen (wie beispielsweise Zeuthener See und Langer See im Südosten) ausgebildet haben. Dieser wechselhafte Verlauf macht den Reiz des Berliner Gewässersystems aus, wobei die letzten 1.000 Jahre Besiedlungsgeschichte die Gewässerlandschaft der Stadt maßgeblich veränderten und es kaum mehr natürliche Flussläufe im Stadtgebiet gibt (eine Ausnahme in diesem Zusammenhang ist die aktuelle Maßnahme zur Renaturierung der Panke).
Als die Slawen ab dem 7. Jahrhundert auf ehemals germanisches Gebiet vordrangen, ließen sie sich auch in der Gegend um Berlin nieder: die „Heveller“ (Havelslawen) westlich von Berlin im Havelland, östlich davon waren es die „Sprewanen“ vom Stammesverband der „Lutizen“, die im Spreewald lebten und sich von dort die Spree entlang nach Nordwesten in Richtung des heutigen Berlins ausbreiteten: Slawische Spuren finden sich überall an den Ufern der Spree und deren Nebengewässer, allerdings bisher noch nicht im späteren Berliner Stadtkern.

Die Region um Berlin vor der Gründung der Stadt (zwischen Spandau und Köpenick) um das Jahr 1237.
© Lienhardt Schulz, wikipedia.de
Die Sprewanen im Osten errichteten ihre Siedlungen beiderseits der Spree und lebten auf dem Barnim und dem Ostteltow, ihre Hauptansiedlung war in Copnic, dem heutigen Köpenick. Ihr Siedlungsgebiet ist hauptsächlich geprägt von der Spree, aber auch von der Dahme, einem 95 Kilometer langen Nebenfluß der Spree südöstlich von Berlin, dessen Name sich möglicherweise ableitet vom slawischen Begriff „Dembrowa“ für „Eichenwald“ (könnte aber auch von einer älteren germanischen Bezeichnung für einen „dunklen Fluss“ abstammen; solche alten Namen wurden oft von der germanischen Restbevölkerung an die slawischen Zusiedler weitergegeben). Im Westen wiederum lebten die Heveller, deren Siedlungsgebiet – aus dem sich dann die Markgrafschaft Brandenburg unter den germanischen Askaniern entwickelte – erstreckte sich von Spandau über deren Hauptort Brandenburg bis hinter Rathenow, immer entlang der Havel.
Während sich im unteren Spreetal aufgrund des niedrigen Grundwasserspiegels stellenweise eine trockene Tundralandschaft mit ausgedehnten Kiefernforsten herausbildete, innerhalb derer das Feuchtgebiet des Spreewalds eine Ausnahme bildet, dominieren im Havelland im Westen Berlins feuchte Niederungen und Moorgebiete das Erscheinungsbild des Tals. Die Havel zieht hier über 334 Kilometer Länge ihre Kurven (die direkte Entfernung von der Quelle zur Mündung in die Elbe beträgt nur 94 Kilometer). Aufgrund des geringen Höhenunterschieds von nur knapp über 40 Meter und ihrer gemächlichen Fließgeschwindigkeit haben sich zahlreiche Seen in in ihrem Verlauf gebildet, von denen sich vermutlich auch ihr Name abgeleitet hat: Der Name der Havel (sorbisch „Habola“) soll noch aus der vorslawischen, germanischen Besiedlungsphase stammen und ist vermutlich vom germanischen „Habula“ abgeleitet, das mit „Hafen“ und „Haff“ etymologisch verwandt ist, wobei der Wortstamm „Haf“ eine Bucht oder Ausbuchtung bezeichnet (noch heute ist „Hafen“ im süddeutschen, schweizerischen und österreichischeen Sprachraum auch eine Bezeichnung für eine irdene, bauchige Keramik) – und tatsächlich ist die Havel auch ein buchten- und seenreicher Fluss.
Auch Berlins heutiges Zentrum hat vermutlich keinen slawischen Ursprung, entstand aber nicht in vorslawischer Zeit, sondern erst im Mittelalter – an einer Engstelle des ansonsten schwer zu durchquerenden, sumpfigen Berliner Urstromtals: Ende des 12. Jahrhunderts legten vermutlich niederrheinische Kaufleute auf einer Insel, die von zwei Armen der Spree umflossen wird, eine Siedlung an, der sie den Namen Cölln gaben. Der Name Cölln ist vermutlich eine Namensübertragung von Köln am Rhein, der auf lateinisch colonia, „Pflanzstadt in einem erorberten Land, `Kolonie´“ zurückgeht (ganz auszuschließen ist aber auch die Herleitung vom sorbischen „Kol`no“, der zu „Kol“, „Pfahl“, gebildet wäre, nicht; aber da in Kölln an der Spree bislang keine slawischen Funde gemacht wurden, handelt es sich wohl von Anfang an um eine rein deutsche Siedlung).
Dort, wo die Insel in der Spree liegt, verengt sich zwischen den Hochflächen des Teltow und des Barnim das sumpfige Urstromtal auf vier bis fünf Kilometer, und zumindest der südliche Teil der Insel mit seinem Talsandplateau eignete sich geologisch gesehen für die Anlage einer Siedlung, während der nördliche Teil durch sumpfigen Untergrund geprägt war, genauso wie das Ufer nördlich gegenüber der Insel Cölln, das ja (wie oben bereits ausgeführt) aus slawischer Zeit bereits den Flurnamen „Berl-in“, „Sumpf, Morast“ hatte. Deshalb nannte man die neu errichtete Siedlung in der ersten urkundlichen Erwähnung im Jahr 1237 auch „Kölln bei Berlin“ („Colonia juxta Berlin“).
Sieht man von Cölln ab, erfolgte die Gründung der ersten Dörfer im Bereich des heutigen Berlin und der anschließenden Landesausbau in die Zeit der askanischen Markgrafen, insbesondere seit Albrecht der Bär ab 1150 seine Herrschaft in Brandenburg im Havelgebiet errichtete. Seine Zeit war durch eine geschickte Siedlungspolitik und eine kluge Einbeziehung des international agierenden Zisterzienserordens im Kloster Lehnin (1180 gegründet) gekennzeichnet. Die Zisterzienser waren es auch, die in der Mark Brandenburg den Weinbau einführten: Im Jahr 1317 kauften sie für 244 Mark brandenburgisches Silber die etwa vierzig Kilometer südwestlich von Berlin gelegene Ortschaft Werder an der Havel – und mit ihr den Werderaner Wachtelberg, einen etwa sechzig Meter hohen Hügel, auf dem sie wohl ihre ersten Rebstöcke in Brandenburg pflanzten.
Werder liegt weit über dem 50. Breitengrad und damit eigentlich viel zu weit nördlich für Weinbau: die Trauben reifen hier in dem kühlen kontinentalen Klima normalerweise nicht gut aus, weshalb Qualitätsweinbau in solchen Breitengraden kaum möglich ist. Nun herrscht am Werderaner Wachtelberg allerdings ein eher gemäßigtes Klima, was die Zisterzienser mit ihrem untrüglichen Gespür für Weinbau sofort erkannten: Werder liegt auf einer Insel in der dort 700-1.400 Meter breiten Havel („Werder“ bedeutet, ähnlich wie „Werth“ oder „Wörth“, „Insel im Fluss“) und diese großen Wasserflächen der Havel sowie die Werder umgebenden Seen bieten ausgesprochen gute Bedingungen für ein Mikroklima, das sich für Weinbau eignet, da sie temperaturausgleichend wirken: Sie speichern Wärme, reflektieren Sonnenlicht in den ansteigenden und nach Süden ausgerichteten Weinberg und sorgen dafür, dass sich die Kaltluft nicht zwischen den Rebzeilen staut, sondern von der vorbeifließenden Havel abgezogen wird. (Die frostfreie Zeit wird mit etwa 185-190 Tagen von Ende April bis zum Ende Oktober angegeben, gerade genug für die in etwa erforderlichen 180 Tage Vegetationszeit der Rebe.)
Außerdem verfügt der Werderaner Wachtelberg über eine Besonderheit: Die Reben stehen hier – was sehr selten ist – auf einem Sandboden, der leicht erwärmbar ist, aber eher nährstoffarm und gering wasserspeichend. Dieses seltene Terroir sorgt für milde und säurearme Weine – trotz des kühlen, nördlichen Standorts: Man spricht tatsächlich von einer besonderen „Lindigkeit“ der Werderaner Weine … Wie dem auch sei: der Werderaner Wachtelberg (mit seinen 30.000 Rebstöcken auf 4,8 Hektar) ist jedenfalls seit 1991 als „Großlagenfreie Einzellage“ in das Weinanbaugebiet Saale-Unstrut aufgenommen und damit der nördlichste für Qualitätswein zugelassene Weinberg Deutschlands.
Spreewald
Der Spreewald (niedersorbisch „Blota“, „Sümpfe“), eine von zahlreichen Wasserläufen durchzogene Niederung mit aufgehäuften Sanddünen, ist eine seit der Besiedlung durch die slawische Minderheit der Sorben erschaffene Kulturlandschaft in der Lausitz, die sich etwa einhundert Kilometer südöstlich von Berlin im Bundesland Brandenburg erstreckt. Hauptmerkmal ist die natürliche Flusslaufverzweigung der Spree, die durch etliche angelegte Kanäle deutlich erweitert wurde. Als Auen- und Moorlandschaft ist der Spreewald für den Naturschutz von überregionaler Bedeutung – der Spreewald ist Europas größter Erlenauwald – und auch seit 1991 als ein etwa 475 Quadratkilometer großes UNESCO-Biosphärenreservat geschützt.

© Maximilian Doerrbecker, chumwa
Die Entstehung der Landschaft des Spreewaldes ist, wie in ganz Brandenburg, auf die letzte Eiszeit zurückzuführen, wobei man zwischen Ober- und Unterspreewald unterscheidet: Gesteinsablagerungen in Form von Grundmoränen (unter dem Eis) und Endmoränen (am Eisrand) bildeten die Landschaft zum Ende der Eiszeit, dazwischen strömten die Schmelzwasser die das Baruther Urstromtal bildeten. Während der Oberspreewald nun vollständig in diesem Urstromtal liegt, befindet sich der Unterspreewald in einer Talung, die entstand, als die Schmelzwässer dort durch eine Lücke das Baruther Urstromtal nach Norden verließen (die Grenze des Ober- zum Unterspreewald bildet die Talverengung bei Lübben). Dadurch unterscheiden sich Ober- und Unterspreewald also nicht nur kulturell, sondern auch landschaftlich voneinander.
Schon im Postglazial verzweigten sich die Schmelzwasser der Eiszeitgletscher zu einem Delta, das die charakteristische Landschaft des Oberspreewalds formte. Durch die von den Schmelzwassern des Urstroms geschaffenen ausgedehnten Niederungen fließt heute die vergleichsweise kleine Spree etwa 400 Kilometer von ihrer Hauptquelle im Lausitzer Bergland, nahe der Grenze zu Tschechien, bis sie in Berlin in die Havel mündet.
Auch durch den Spreewald folgt die Spree also dem flachen Baruther Urstromtal, weshalb sie nach dem doch relativ hohen Gefälle zwischen Lausitzer Bergen bis hierher nun etwas ruhiger wird und dadurch auch ihre Gestalt verändert: die Spree teilt sich hier nämlich in zahlreiche Wasserläufe auf, „Fließe“ genannt, die sich zu den Lebensadern des Spreewalds entwickelt haben.
In der Nacheiszeit allerdings floss die Spree allerdings zunächst als mäandrierender und nicht als verzweigter Fluss durch das heutige Spreewaldgebiet: Aufgrund der Lage in den Urstromtälern ist die Landschaft des Spreewalds extrem flach und eben, sodass beim Abfluss der Schmelzwässer große Massen von sandigen Ablagerungen zurück blieben, die die mäandrierende Spree nun aufgrund des geringen Gefälles von nur 7 Metern auf 34 Kilometern nicht wegschwemmen konnte, sondern zu einem breiten Sandfächer aufschüttete, zwischen dem sich der Fluß fingerförmig verzweigte. Durch diese Flusslaufverzweigungen kam es auch zur Vermoorung des Spreewaldes, das heißt es entstand ein ausgedehntes, baumbestandenes Auen- und Moorgebiet.
Während also nach dem Versiegen der Schmelzwässer im flachen Urstromtal im Laufe der Zeit einerseits eine Moorlandschaft mit einem dichten Baumbestand entwickelte, häufte die Spree (und wohl auch der Wind) andererseits einige Sandinseln oder Dünen auf, die aus der Ebene emporragten und deshalb nicht vermoorten. Diese Sandhügel werden „Kaupen“ genannt – und auf ihnen wurden auch die ersten Siedlungen errichtet, weshalb für den Spreewald auch Streusiedlungen charakteristisch sind. Heute leben im Spreewald etwa 50.000 Menschen in etwa 40 Dörfern mit etwa 1.000 bis zu 400 Jahre alten Häusern (deren Giebeln häufig – als Reminiszenz an den sorbischen Schlangengott – die Form zwei sich kreuzenden Schlangen haben. Tatsächlich gab es in dieser Feuchtlandschaft schon immer viele Schlangen, Ringelnattern insbesondere, die mit ihrer Zunge die Duftspuren der zahlreichen Wasserfrösche verfolgen.)
Abgesehen davon schängeln sich zwischen den Kaupen außerdem die weitverzweigten Wasserstraßen, deren natürlicher Verlauf insbesondere durch die germanischen Askanier zu einem über 1.500 Kilometer langen Labyrinth aus Wasserstraßen und Kanälen, den sogenannten Spreewaldfließen, ausgeweitet wurde – auf einer mit 475 Quadratkilometer nur etwa halb so großen Fläche wie Berlin –, wobei etwa 200 Fließe mit etwa 267 Kilometern Länge noch heute beschiffbar sind. Nicht zum Vergnügen jedoch, sondern zur wirtschaftlichen Nutzung hat sich der Mensch die natürlichen Wasserstraßen erschlossen: Jedes Gehöft besitzt auch heute noch einen kleinen Hafen sowie einen etwa sieben Meter langen, nicht motorisierten Kahn, mit dem früher die Ernte vom Feld geholt wurde.
Seit sich die Sorben im 7. Jahrhundert hier niedergelassen haben, wird die natürliche Wasserlandschaft des Spreewalds zu einer Kulturlandschaft umgestaltet: Wo es erforderlich war, wurden weitere Gräben und Stichkanäle als Verbindungswasseradern geschaffen. Man mußte Nassböden beseitigen und die schwer zugänglichen Wälder auflockern beziehungsweise roden, um die hydrologischen Bedingungen zu verbessern. Damit wurde auch das natürliche Reservoir Grünland für die Viehwirtschaft erschlossen, ein wichtiger Faktor für eine sich nach und nach entwickelnde Landwirtschaft, die sich gegenüber dem Fischfang als Wirtschaftsform durchsetzte. Während der Brunftzeit fungieren die Wiesen des Spreewalds auch als Brunftplatz für das zahlreiche Rotwild: Mitten in der Wiese steht dann der „Platzhirsch“ – um ihn herum sein Harem aus mehreren Hirschkühen –, der seine Position in kräftezehrenden Kämpfen gegen die zahlreichen Rivalen verteidigt.
In den relativ flachen Fließen leben etwa 36 verschiedene Fischarten, unter anderem Bitterlinge, Grundlinge und Hechte. Knapp unter der Wasseroberfläche sind sie leichte Beute, nicht zuletzt deshalb ist der Spreewald Lebensraum zahlreicher Fischotter – nirgendwo in Brandenburg leben mehr von den scheuen, nur zur Paarungszeit gemeinsam lebenden Wassermardern –, die im Wurzelgeflecht ideale Unterschlupfmöglichkeiten finden und bis zu acht Minuten unter Wasser jagen können. Daneben finden Kraniche und sogar einige extrem seltene Schwarzstörche Schutz in den überschwemmten, unzugänglichen Teilen des Erlenauwaldes und bauen hier im Frühjahr ihre Nester. Sogar Seeadler gibt es im Spreewald: Sie werden bis zu dreißig Jahre alt und bleiben ein Leben lang zusammen. Im Spreewald bauen sie jahrelang an ihren Adlerhorsten, die bis zu einer Tonne schwer werden und deshalb auf kräfigen Eichen und Buchen errichtet werden, die auf dem sandigen Boden hier auch wachsen. Nach der fünfwöchigen Brutzeit müssen die Adlerjungen mehrmals am Tag mit frischem Fisch aus den Fließen gefüttert werden. Aufgrund der unbändigen Natur des Wassers wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts erste Stauanlagen errichtet, die den Wasserstand regulieren und Missernten vermeiden sollen. Etwa 150 solcher Wehre zur Wasserstandsregulierung gibt es. So besteht der Spreewald heute aus etwa vierzig Prozent Wald und 60 Prozent Wiesen und Feldern: Etwa 10.000 Hektar wurden entwässert und werden inzwischen landwirtschaftlich genutzt, insbesondere im Oberspreewald nehmen heute Dauergrünland, Bruchwald und Äcker die Beckenlandschaft ein.
Haben sich die Menschen früher noch selbst mit allen notwendigen Nahrungsmitteln versorgt, bildeten sich im Zeitalter des Merkantilismus, wie Hansjörg Küster weiß, zunehmend spezialisierte Agrarregionen mit einer gewissen Monopolbildung heraus: Man wollte Überschüsse produzieren, mit denen man Handeln konnte. So konzentrierte man sich im Spreewald zunehmend auf eine Kulturpflanze, die vermutlich mit den Sorben hierher gelangte: die Gurke. Der Spreewald entwickelte sich zum bekanntesten deutschen Gurkenanbaugebiet – und die Bedingungen sind hier auch ideal für die raschwüchsige Liane: In der Wachstumsperiode herrscht ein feucht-warmes Klima und Wasser gibt es hier ohnehin reichlich. Außerdem war es einfach, die Gurken spreeabwärts auf dem Wasserweg nach Berlin zu transportieren, wo man die Spreewaldgurke auf den Märkten verkaufen konnte. Noch heute werden auf 700 Hektar über 45.000 Tonnen Gurken jährlich geerntet – und zwar von Hand von sogenannten „Gurkenfliegern“, hart arbeitenden Erntehelfern, die auf den Auslegern von gemächlich fahrenden Traktoren liegend über die Anbaufelder „schweben“. (Ansonsten ist Brandenburg – allerdings nicht der Spreewald – seit der frühen Neuzeit auch noch für den Spragelanbau bekannt, der einerseits lockeren, sandigen Boden voraussetzt und andererseits die reichliche Verfügbarkeit von Wasser.)
Landwirtschaft ist das Eine, den Kern des Spreewalds aber bildet auch heute noch der verbliebene Rest des ursprünglichen Erlenhochwalds, in dem rund 18.000 Tier- und Pflanzenarten leben. Insbesondere im Unterspreewald hat sich ein dichter Erlen- und Eschenwald herausgebildet, in dem sich heute wieder der Biber ausbreitet, nachdem er wegen seines warmen und wasserabweisenden Fells (Biber haben 23.000 Haare pro Quadratzentimeter, der Mensch im Vergleich maximal dreihundert) fast ausgerottet wurde. Heute bauen wieder etwa vierzigtausend Exemplare des bis zu dreißig Kilogramm schweren nachaktiven Nagetiers an vielen Gewässern des Spreewalds ihre Burgen. Biber sind nach dem südamerikanischen Wasserschwein das zweitschwerste Nagetier der Welt – etwas kleiner sind das südamerikanische Nutria und die aus Alaska stammenden Bisame: Die eingeführten Nager bauen zur Paarungszeit im April Burgen aus Schilf, deren Eingang sich unter Wasser befindet. Im Spreewald, dessen Fließe nie austrocknen, finden Bisame insofern ideale Lebensbedingungen.
Paradoxerweise aber ist auch dieser vermeintlich unberührte Wald inzwischen eine Kulturlandschaft: Erlen, die als das beste Holz weltweit gelten (angeblich sind ein Großteil der Pfähle, auf denen Venedig steht, aus Erlenholz), können nur auf mineralischen, sandigen Böden keimen – der im Spreewald inzwischen jedoch unter einer etwa dreißig Zentimeter dicken Moorschicht verborgen liegt. Deshalb sammeln Förster die schwimmenden Erlensamen aus den Fließen – immerhin etwa 150 Kilogramm jedes Jahr – und setzen sie in geeignete Böden. Ohne die Förster würden im Spreewald tatsächlich schon lange keine Erlen mehr wachsen …
Ausblick
Deutschland ist in Europa der größte Kohlendioxid-Emittent und hat deshalb beschlossen, seine Energiewirtschaft bis zum Jahr 2050 komplett auf erneuerbare Energien umzustellen. Da der Energiebedarf bis dahin vermutlich noch nicht gänzlich aus erneuerbaren Ressourcen gewonnen werden kann, wird derzeit die Erdgas-Pipeline „Nord Stream 2“ gebaut – russisches Erdgas soll dann als Zwischenlösung auf dem Weg zur emissionsfreien Energieversorgung fungieren. Das ist politisch äußerst umstritten, ganz abgesehen von den Stimmen, die behaupten, dass man schon heute komplett mit erneuerbarer Energie auskommen könnte, wenn …
Hierzulande hat man sich jedenfalls für den Verzicht auf Atomkraft ausgesprochen, anders als andere europäische Ländern (wie beispielsweise Frankreich oder Finnland, das gerade ein viertes Atomkraftwerk baut), wo man das Risiko der Atomenergie offenbar für eher beherrschbar hält als die Folgen des Klimawandels. In Deutschland ist hingegen beabsichtigt, den Betrieb der noch laufenden sechs der ursprünglich 36 Atomkraftwerke nächstes Jahr zu beenden, obwohl erst die Hälfe des Strombedarfs in Deutschland über erneuerbare Energie erzeugt wird und Atomkraft noch immer 13 Prozent generiert. Die restlichen 37 Prozent werden über die Verbrennung von Kohle erzeugt, aber auch der Verzicht auf fossile Energie bis zum Jahr 2038 ist beschlossene Sache: Da Kohle für mehr als ein Viertel des Kohlendioxid-Ausstoßes in Deutschland verantwortlich ist, soll das letzte Kohlekraftwerk dann vom Netz gehen.
Vom Kohlausstieg betroffen ist insbesondere auch die Spreewald-Region, denn in der Lausitz befindet sich das nach dem Rheinischen Revier größte Kohleabbaugebiet Deutschlands – die Roh-Braunkohle der Region war der wichtigste Energielieferant für die DDR: Unmittelbar am ungeschützten Rand des Spreewalds ist hier in der Mitte des Tertiärs (Miozän) vor etwa 12-20 Millionen Jahren ein riesiges Braunkohlevorkommen entstanden (während im Ruhrgebiet der inzwischen stillgelegte unterirdische Abbau von Steinkohle dominierte). Braunkohle, früher auch „Turff“ genannt, entsteht wie die Steinkohle durch Inkohlung organischer Substanzen, wobei in der Kohle die Energie des Sonnenlichts gespeichert ist, das vor über 300 Millionen Jahren im Zeitalter des Carbon schien („Carbo“ ist das lateinische Wort für „Kohle“). Setzt man diese Energie frei, wie bei der Stahlproduktion, entstehen Temperaturen über 1.000 Grad Celsius – nur so kann Stahl, als Grundlage der Schwerindustrie, erzeugt werden. Im Carbon-Zeitalter lag Deutschland nur etwa fünf Grad nördlich des Äquators – also dort, wo heute der Kongo liegt – und es herrschte entsprechend ein tropisches Klima. Große Tropenwälder dominierten das Landschaftsbild: Sumpfwälder, die immer wieder überflutet wurden – ein sich ständig wiederholender Prozess: Flüsse überschwemmten die Region, transportierten jedoch auch Sedimente aus den Gebirgen hierher, und so entstand regelmäßig neues Land, auf dem neuer Wald wuchs. In der Tiefe wiederum wurden die Pflanzenreste durch enormen Druck, Luftabschluss und Wärme umgewandelt – erst in Torf, der verwandelte sich in Braunkohle („Turff“) und die wiederum in die wertvollere Steinkohle (Braunkohle hat nur etwa zwei Drittel des Heizwerts von Steinkohle). Dieser Prozeß wird durch den Begriff Inkohlung bezeichnet: Torfmoore, die im Lauf von Jahrmillionen mehrfach von Sanden oder Flusskiesen überdeckt wurden und sich zu einem abbaubaren Sedimentgestein verwandelten. So entstand aus einer ursprünglich zwanzig Meter dicken Holzschicht eine zwei Meter dicke Kohleschicht, von denen heute bis zu 100 übereinander liegen – Milliarden Tonnen Kohle, wobei die Braunkohle hauptsächlich direkt zur Strom- und Wärmeerzeugung genutzt wird.
Zwar hat auch die Atomenergiewirtschaft seit ihrem Bestehen in Deutschland 630.000 Kubikmeter radioaktiv verseuchten Sondermüll produziert, dessen sichere Endlagerstätte noch immer nicht gefunden wurde, aber auch die Kohleindustrie hat ihren Müll einfach nur in die Atmosphäre entsorgt: Rund 20 Prozent aller Kohlendioxid-Emissionen in Deutschland stammen aus Braunkohlekraftwerken; für die Stromerzeugung braucht allein das Kraftwerk „Schwarze Pumpe“ täglich 36.000 Tonnen Rohbraunkohle (während der Verbrennung der Kohle werden neben Schadstoffen wie Schwefeldioxiden und Stickoxiden auch Staub und vor allem das Treibhausgas Kohlendioxid freigesetzt: aus einer Tonne Kohle werden etwa eine Tonne CO2).
Von der Luftverschmutzung abgesehen, hat der oberirdische Abbau der Kohle außerdem für eine ungeheure Zerstörung der Landschaft und des natürlichen Lebensraumes in der Lausitz gesorgt, auch der des Menschen: Betroffen waren bisher etwa 136 Dörfer, deren etwa 16.000 Bewohner – wie im radioaktiv verseuchten Polesien – umgesiedelt werden mußten, da der riesige Kohlebagger (wie er beispielsweise im Spreewälder Besucherbergwerk F60 zu besichtigen ist) auch vor ihnen nicht Halt machte. (Ein solches Dorf war auch Wolkenberg, das von den Baggern des Tagebau Welzow Süd „gefressen“ wurde. Heute versucht man, an diesem Ort sieben Rebsorten auf etwa sechs Hektar mit 26.000 Reben auf einem aufgeschütteten, etwa dreißig Meter hohen Weinberg zu kultivieren.)
Hinzu kommt, dass der mit Kohle erzeugte Strom zwar der Günstigste sein mag, aber nicht nur die Umwandlung der in der Kohle enthaltenen Energie in Strom und Wärme ist ineffizient (etwa die Hälfte geht verloren), sondern zum Abbau der Kohlevorkommen muss zuvor auch das Grundwasser bis unter das Braunkohleflöz abgesenkt, die Landschaft also entwässert werden. Die Auswirkungen auf den Wasserhaushalt der Region sind gewaltig, denn die Absenkung des Grundwassers zur Gewinnung der Braunkohle zieht auch niedrigere Grundwasserstände in angrenzenden Gebieten nach sich, den so genannten Absenkungstrichter. So werden durch den Tagebau also auch benachbarte Gebiete wie der Spreewald entwässert.
Bis zum heutigen Tag sind mehr als 13 Milliarden Kubikmeter Grundwasser aus den Lausitzer Kohleabbaugebieten gepumpt worden, was – neben dem Ausbleiben von Frühjahrshochwassern (Schmelzwasser aus den Lausitzer- und den Krausnicker Bergen im Unterspreewald) aufgrund der Klimaerwärmung – mit dazu beiträgt, dass Überschwemmungen im Spreewald heute nicht mehr in den Auwäldern, sondern praktisch nur noch bei starkem Regen auf den Wiesen stattfindet, wo das Wasser allerdings auch schnell wieder versickert.
Der Kohleabbau hat dazu geführt, dass die eigentlich wasserreiche Lausitz zu einer der trockensten Regionen Deutschlands wurde. Wo der Tagebau die Kohlevorkommen abgebaggert hat, bleibt nur der Abraum zurück – und das ist Sand. So entstand in der Brandenburger Lausitz eine Wüstenlandschaft, in der die Natur etwa dreißig Jahre bräuchte, um sich zu erholen beziehungsweise natürlich zu regenerieren. Da man so lange nicht warten möchte, gewissermaßen als Kompensation, sollen deshalb spätestens nach dem Ende der Kohleindustrie im Jahr 2038, aus den früheren Tagebauen dreißig Seen entstehen mit einer Wasserfläche von insgesamt mehr als 11.500 Hektar (etwa der Größe der Müritz) – Europas größte künstliche Seenlandschaft. Nach dem Vorbild des 7.000 Hektar großen Senftenberger Seengebietes, dessen Flutung im Jahr 1972 erfolgte, wurde mit dem Gräbendorfer See, der nicht ganz 500 Hektar groß ist und etwa 92 Millionen Kubikmeter Wasser fasst, dazu im Jahr 2007 ein Anfang gemacht.
Aktuell entsteht auf dem Gelände des 2015 ausgekohlten Tagebaus Cottbus Nord der etwa 1.900 Hektar große Cottbusser Ostsee. Etwa achtzig Prozent seines Wassers, so ist geplant, sollen von der Spree stammen, insgesamt geht man von dreißig Millionen Kubikmetern Wasser jährlich aus, die in die Senke fließen. Bis ins Jahr 2025 soll er fertig geflutet sein, er wäre dann Deutschlands größter künstlicher See. Allerdings wird die Flutung derzeit immer wieder wegen massivem Wassermangel in der Spree unterbrochen – ein Ende der Trockenheit ist nicht abzusehen.
Gesetzlich sind die Betreiber des Tagebaus zur Renatuierung der genutzten Flächen verpflichtet. Praktisch alle Pläne zur Urbarmachung sehen dabei die Errichtung von Tagebauseen vor, die der Lausitz eine neue Identität abseits der Bergbauindustrie verschaffen sollen. Doch diese Pläne stammen noch aus Zeiten der DDR. In ihnen sind die Klimaerwärmung und die ausbleibenden Niederschläge nicht berücksichtigt – und auch nicht das immer gravierender werdende Verdunstungsproblem der großen Flachwasserseen.
So sorgt die bereits etwa 7.000 Hektar große künstliche Seenlandschaft zusätzlich für eine Verschärfung des ohnehin schon bestehenden Wasserproblems in der Lausitz – und noch immer pumpen die 2.700 Brunnen an den vier noch bestehenden Tagebauen, nach Angaben der Kohleindustrie selbst, etwa 360 Millionen Kubikmeter Grundwasser jährlich an die Oberfläche. Auch wenn davon angeblich siebzig Prozent wieder zurück ins Grundwasser gelangen sollen (eine gesetzliche Verpflichtung dazu, wie bei anderen Industrien, gibt es nicht, der Tagebau genießt diesbezüglich einen Sonderstatus), hat all das letztlich unabsehbare langfristige Folgen für die Trinkwasserversorgung und den natürlichen Wasserhaushalt in der Region – insbesondere auch für die vielen brandenburgischen Feuchtgebiete wie den Spreewald. So verdeutlicht der Blick aus dem Sumpf heraus zwar, dass Landschaft schon immer im Wandel war, in ständiger Veränderung; ein Ende der Kohleindustrie jedoch sollte wohl besser früher als später erfolgen …