„Du musst dich nicht fürchten … vor der Seuche, die wütet am Mittag“, heißt es im Psalm 91. Gemeint ist die Langeweile, der daemon meridianus, der seinen Opfern gerne in der Hitze der sommerlichen Mittagsstunden auflauert …
„Wenn die Affen es dahin bringen könnten, Langweile zu haben, so könnten sie Menschen werden.“
Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen … (1826)
„Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen. Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet.“
Walter Benjamin, Der Erzähler (1936)
„Die Langeweile ist der im Reinzustand gebliebene Wunsch nach Glück.“
Giacomo Leopardi (1798-1837)
„Andern verlieh, weit fern von den Menschen, / Nahrung und Wohnstatt / Zeus der Kronide, und hat sie gesetzt / ans Ende der Erde. / Und die haben nun Wohnstatt, ein Herz / ohne Sorgen im Busen, / Dort auf der Seligen Inseln, an strudelnden / Tiefen des Weltstroms, / Selig Heroengeschlecht, dem süß wie Honig die Früchte / Dreimal im Jahr gereift darbringt / kornspendender Acker. / Müßte ich selber doch nicht danach / hier unter den fünften / Menschen sein, nein, wäre schon tot / oder lebte erst später! / Denn von Eisen ist jetzt das Geschlecht. / Und niemals bei Tage / Werden sie ruhn von Mühsal und Weh, / und niemals zur Nachtzeit / Sind sie verschont, und die Götter verleihn / dann quälende Sorgen.“
Hesiod (etwa vor 700 v.u.Z.), „Das vierte Geschlecht“, in: „Werke und Tage“
Es gibt einen Dämon, der seinen Opfern bisweilen gerne in den sommerlichen Mittagsstunden auflauert, wenn die Sonne am Höchsten steht und die Welt kaum Schatten wirft, in dem er sich ansonsten versteckt hält. Wenn die Zeit stillzustehen scheint wie die Hitze, bei Temperaturen weit über 30 Grad Celsius, bevor vielleicht der Nachmittagswind auffrischt, schlägt er besonders gerne zu, auch grundlos. Im 3. Jahrhundert vor Christus wird er erstmals erwähnt, in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments: „Du musst dich nicht fürchten … vor der Seuche, die wütet am Mittag“, heißt es in Psalm 91. Gemeint ist die Langeweile – der daemon meridianus, der Mittagsdämon.
Vielleicht ist die flirrende Hitze der Sonne Ursprung der Langeweile, der Daseinsleere, jedenfalls wird sie seit vor- und erst recht in frühchristlicher Zeit als Mittagsdämon bezeichnet und als acedia in Verruf gebracht. Später dann hat sie Thomas von Aquin (1225-1274) als Inbegriff der Entfremdung von Gott bezeichnet, und noch heute zählt sie im christlichen Glauben zu den sieben Todsünden: Der Schwermut und die Trägheit von Körper und Geist, der Dämon der Langeweile, führt in Versuchung und macht empfänglich – für fleischliche Sünden, das wussten die Mönche. In der Stille der Mittagshitze war es dem Dämon ein leichtes, den Menschen zu verführen – zu Trübsinn, aber auch, schlimmer noch, zu unzüchtigen Gedanken … In der Stille der Einsamkeit lauert sie ihnen dann auf, die „Mönchskrankheit“.
Einmal vom Dämon befallen – Thomas von Aquin spricht davon, dass es „unmöglich (ist), dass der Mensch von Natur aus müßig sei, als hätte er keine eigene Betätigung“ – ist da nichts mehr als eine große Leere. Eine Leere, die hinter allem steht – und zugleich auch eine quälende Unruhe. Einen Ausweg gibt es dann nicht, außer der hastigen Flucht in die Rastlosigkeit, dann, wenn die Langeweile wie in der Moderne geradezu eine Art existenzieller Grundstimmung des sich selbst fremd gewordenen, des beschleunigten Menschen geworden ist. Mit einem der Zeit enthobenen und von jeder Tätigkeit freien Zustand kann er nicht umgehen – nicht gestört zu werden ist für diesen Menschen vielleicht die größte Bewusstseinsirritation.
Anders noch Friedrich Schlegel (1772-1829), der wusste, dass der Müßiggang uns gottähnlich machte: „O Müßiggang, Müßiggang! du bist die Lebensluft der Unschuld und der Begeisterung; dich atmen die Seligen, und selig ist wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb“, schreibt er in „Lucinde“ (1799). Aber auch ihm war klar, dass kein Weg zurück in dieses Paradies der Untätigkeit führt, in das der Mensch ursprünglich geworfen wurde, denn „der Fleiss und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert“, inzwischen.
Ohne Reize kann der Mensch nur schwerlich leben, und wenn er die Stimulation nicht in sich selbst findet, sucht er sie sich anderswo. Hans Blumenberg sprach in diesem Zusammenhang in „Begriffe in Geschichten“ (1998) von einer „Dramatisierung, mit der das Leben sich lebendig erhält und der Langeweile entflieht“. Als Wesen, das Langweile empfinden kann, habe der Mensch „dramatische Bedürfnisse, auf deren Befriedigung er ein hohes Maß seiner Erfindungskraft verwendet. Ja, diese ist vielleicht nichts anderes als der Inbegriff seiner Fähigkeiten, damit fertig zu werden, dass ihn die Natur, seine Umwelt oder Welt nicht mehr selbstverständlich und wohldosiert mit den Reizen versorgen, die seine Energie abschöpfen, seine Zeit ausfüllen, ihm seine Verhaltensarten genau induzieren – mit einem Wort: ihn beschäftigen. Das ist wieder so ein harmloses Wort, das zu der Größe der Besorgnisse nicht recht passen will: Er muss sich beschäftigen, seit er nicht mehr nach dem in der organischen Natur bewährten Muster von Reiz und Reaktion beschäftigt wird.“
Vielleicht also, sagt Blumenberg, ist die Erfindungskraft nur eine Reaktion darauf, dass die Welt den Menschen nicht mehr ausreichend stimuliert, in ihm seine Tatkraft weckt und seine Zeit ausfüllt. Das ist dann, in wenigen Worten, eine Theorie der Kulturentstehung. Was der Mensch schafft, ist in diesem Sinn aus der Langeweile geboren, sie steht gewissermaßen am Anfang – und bleibt insofern ein unabdingbares Stimulans. Doch wer andererseits jede Pause mit zwanghafter und spiritueller Rastlosigkeit auffüllt, das wusste bereits Ludovico Ariosto (1474-1533), verlernt auch, mit diesem zutiefst schöpferischen Zustand der Langeweile umzugehen. Es gilt nämlich auch, einen konstruktiven Umgang mit ihr und uns selbst zu finden, wollen wir uns nicht in der Leere unserer Existenz, im Weiß des Papiers vor uns, verlieren.
Die Zecke
Sicherlich hat jeder Landbewohner, der der sommerlichen Hitze und dem daemon meridianus zu entkommen sucht indem er durch den kühlenden Wald streift, schon einmal „die Bekanntschaft eines winzigen Insekts gemacht, das, an den Zweigen der Büsche hängend, auf seine Beute, sei es Mensch oder Tier, lauert, um sich auf sein Opfer zu stürzen und sich mit seinem Blute vollzusaugen. (…) Aus dem Ei entschlüpft ein noch nicht voll ausgebildetes Tierchen, dem noch ein Beinpaar und die Geschlechtsorgane fehlen. In diesem Zustand ist es bereits befähigt, kaltblütige Tiere, wie Eidechsen, zu überfallen, denen es, auf der Spitze eines Grashalmes sitzend, auflauert. Nach mehreren Häutungen hat es die ihm fehlenden Organe erworben und begibt sich nun auf die Jagd auf Warmblüter. Nachdem das Weibchen begattet worden ist, klettert es mit seinen vollzähligen acht Beinen bis an die Spitze eines vorstehenden Astes eines beliebigen Strauches, um aus genügender Höhe sich entweder auf unter ihm hinweglaufende kleinere Säugetiere herabfallen zu lassen oder um sich von größeren Tieren abstreifen zu lassen. (…) Den Weg auf seinen Wartturm findet das augenlose Tier mit Hilfe eines allgemeinen Lichtsinns der Haut. Die Annäherung der Beute wird dem blinden und tauben Wegelagerer durch seinen Geruchssinn offenbar. Der Duft der Buttersäure, die den Hautdrüsen aller Säugetiere entströmt, wirkt auf die Zecke als Signal, um ihren Wachtposen zu verlassen und sich herabzustürzen. Fällt sie dabei auf etwas Warmes, was ihr ein feiner Temperatursinn verrät – dann hat sie ihre Beute, den Warmblüter, erreicht und braucht nur noch mit Hilfe ihres Tastsinnes eine möglichst haarfreie Stelle zu finden, um sich über den Kopf in das Hautgewebe ihrer Beute einzubohren. Nun pumpt sie langsam einen Strom warmen Blutes in sich hinein.“
Man könnte glauben, dass die Zecke das tut, weil sie den Geschmack des Blutes liebt. Dem ist aber nicht so – sie besitzt noch nicht einmal einen besonderen Sinn, um diesen Geschmack wahrzunehmen. Wie der Zoologe Jakob Johann Baron von Uexküll (1864-1944), der Verfasser der obigen Einführung zur Zecke, herausgefunden hat, ist die Zecke mit keinem Geschmackssinn versehen, sondern das alleinige Kriterium für sie ist die richtige Temperatur der Flüssigkeit, dass sie jene 37 Grad Celsius besitzt wie das Blut des Menschen und der Säugetiere, dass sie dann begierig in sich aufsaugt. Nachdem sie die Flüssigkeit aufgenommen hat, bleibt der Zecke nichts anderes zu tun, als sich zu Boden fallen zu lassen, wo sie ihre Eier deponiert, bevor sie schließlich stirbt.
Uexküll, auf den der Begriff „Umwelt“ zurückgeht, äußert in seinen Untersuchungen bereits Anfang des 20. Jahrhunderts „die restlose Aufgabe jeglicher anthropozentrischen Perspektive“, wie der Philosoph Giorgio Agamben in „Das Offene – Der Mensch und das Tier“ (2003) bemerkt. Auch seine Beschreibung des Lebens der Zecke erfolgt in diesem Sinn mit „nichtmenschlichen Augen“ – und stellt Agamben zufolge sogar „den Gipfel des modernen Antihumanismus“ dar (wie er zuletzt vielleicht wieder in dem oscarprämierten Dokumentarfilm „My Octopus Teacher“ (2020) zu sehen war, wo es um die quasiamouröse Beziehung des Naturfilmers Craig Foster zu einer weiblichen Krake geht, aus deren Perspektive er die Unterwasserwelt zu sehen lernt).
Am Beispiel der Zecke illustriert Uexküll, wie Agamben ausführt, die allgemeine Struktur ihrer Umwelt, die lediglich auf drei Bedeutungs- oder Merkmalträger reduziert ist, nämlich den Geruch der Buttersäure, wie sie im Schweiß aller Säugetiere enthalten ist, die Temperatur von 37 Grad Celsius, die derjenigen des Blutes der Menschen entspricht, sowie die Typologie der Haut ihrer Opfer, die gewöhnlich mit Haaren und Blutgefäßen versehen ist. „Die Zecke“, schreibt Agamben, „ist mit diesen drei Elementen in einer derart unmittelbaren, intensiven und leidenschaflichen Beziehung vereint, wie man sie vielleicht in keiner Beziehung beobachten kann, die den Menschen mit seiner scheinbar um so vieles reicheren Umwelt verbindet. Die Zecke ist diese Beziehung, sie lebt nur in ihr und für sie.“
Gleichwohl berichtet Uexküll nun jedoch von einer Begebenheit in einem Laboratorium in Rostock, wo eine Zecke angeblich über achtzehn Jahre lang ohne Nahrung, in absoluter Isolierung von ihrer Umwelt also, überlebt hat. Dafür hat Uexküll keine Erklärung, allein die Vermutung, daß die Zecke „während ihrer Wartezeit sich in einem schlafähnlichen Zustand befindet“. Ein anderes Beispiel bietet ein Experiment russischer Wissenschaftler, denen es offenbar erst kürzlich gelungen ist, 24.000 Jahre alte Mikroorganismen aus dem Permafrostboden aufzutauen und zum Leben zu erwecken (wenn das wohl die steigenden Temperaturen bald von selbst besorgen?). „Unsere Studie ist der bislang deutlichste Beweis dafür“, sagt einer der beteiligten Wissenschaftler, „dass mehrzellige Tiere Zehntausende von Jahren in Kryptobiose, dem Zustand eines fast vollständig zum Stillstand gekommenen Stoffwechsels, überstehen können“. Wie ist das möglich, noch dazu, wenn man davon ausgeht, dass Tiere wie die Zecke gänzlich aus ihrer Beziehung zur Umwelt bestehen?
Weltarmut
In einer Vorlesung über „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ (1929/30) beschäftigt sich Martin Heidegger mit der Frage nach dem Verhältnis des menschlichen Lebewesens und dem Dasein und in diesem Zusammenhang insbesondere auch, unter dem Aspekt des Menschens als animal rationale, mit dem Verhältnis zum Tier. Heidegger geht dabei von folgender These aus, wie er schreibt: „Der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend.“ Die Seinsweise des Tieres erscheint Heidegger, verglichen zu der des Menschen, zwar als die benachbartste, gleichwohl steht dem weltbildenden Menschen der ontologische Status des Tieres mit seiner Weltarmut und dem Offenen des menschlichen „In-der-Welt-Seins“, wie er es nennt, das „Nicht-Offene“ der Beziehung des Tieres zu seiner Umwelt gegenüber.
Mit seinem Konzept der Weltarmut bezieht sich Heidegger dabei direkt auf Uexküll: Seine „Umwelt“ wird bei Heidegger begrifflich zum „Enthemmungsring“, die „Bedeutungs- und Merkmalträger“ zum „Enthemmenden“ und Uexkülls „Wirkorgan“ entspricht Heideggers „Fähigkeit zu“. Das Tier ist insofern in seinem eigenen „Enthemmungsring“, in seiner eigenen Wahrnehmungswelt, eingeschlossen, die aus jeweils wenigen Elementen besteht, wie Uexküll am Beispiel der Zecke ausgeführt hat. Deswegen kann das Tier, wie Heidegger sagt, „wenn es zu Anderem in Beziehung kommt, nur auf solches treffen, was das Fähigsein `angeht´, an-läßt. Alles andere vermag im vorhinein nicht in den Umring des Tieres einzudringen“, das insofern, wie Heidegger außerdem ausführt, „benommen“ ist.
Die „Benommenheit“, dieses in totaler Opazität in sich eingeschlossen sein, macht Heidegger zufolge das Wesen des Tieres aus: „Wir kennzeichnen das spezifische tierische Bei-sich-sein, das nichts von einer Selbstheit des sich verhaltenden Menschen als Person hat, diese Eingenommenheit des Tieres in sich, darin alles und jedes Benehmen möglich ist, als Benommenheit. (…) Die Benommenheit ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das Tier seinem Wesen nach in einer Umgebung sich benimmt, aber nie in einer Welt“, sondern nur in seiner animalischen Umwelt („Enthemmungsring“). Insofern das Tier also grundlegend benommen ist, kann es nicht wirklich intentional handeln oder sich anderem gegenüber verhalten, sondern es kann sich nur, wie Heidegger sagt, instinktiv, also triebhaft, „benehmen“.
Insofern das Tier benommen ist, ist ihm auch „die Möglichkeit des Vernehmens von etwas als etwas genommen …, und zwar nicht jetzt und hier, sondern genommen im Sinne des `überhaupt nicht gegeben´“, schreibt Heidegger weiters. „Weil das Tier aufgrund seiner Benommenheit und aufgrund des ganzen seiner Befähigungen innerhalb einer Triebmannigfaltigkeit umgetrieben ist, hat es grundsätzlich nicht die Möglichkeit, auf das Seiende, das es nicht ist, sowie auf das Seiende, das es selbst ist, sich einzulassen. Aufgrund dieser Umgetriebenheit hängt das Tier gleichsam zwischen sich selbst und der Umgebung, ohne daß das eine oder das andere als Seiendes erfahren würde.“ Anders und mit Agamben gesagt: Im „Benehmen“ begegnet das Tier seiner Umwelt, die für es offen ist, „aber nicht offenbar. Das Seiende ist für das Tier offen, aber nicht zugänglich … Diese Öffnung ohne Offenbarung definiert die Weltarmut des Tieres, während die Weltbildung den Menschen charakterisiert.“
Das hierarchische Verhältnis zwischen Mensch und Tier, wie es Rainer Maria Rilke in seiner Achten der „Duineser Elegien“ (1912/1922) zum Ausdruck bringt, umkehrend, kann für Heidegger das Offene, die Unverborgenheit des Seienden, also nur vom Menschen gesehen werden, da das Tier, wie er sagt, „auf seinen Nahrungs- und Beute- und Geschlechtskreis bezogen“ ist. Dennoch ist es in seiner Benommenheit auch, wie Heidegger erklärt, „hinausgestellt in ein Anderes, was … als Enthemmendes … eine wesenhafte Erschütterung in das Wesen des Tieres bringt“. In dieser wesenhaften Erschütterung durch die animalische Öffnung auf das Enthemmende hin erst vernimmt das Tier in seiner Benommenheit, in seiner Weltarmut, die eigene Nicht-Offenheit.
Genau darin erkennt Heidegger nun den Ort, an dem sich das „Wesen der Menschheit“, wie er schreibt, von dem des Tieres abhebt, an dem sich für ihn der Übergang von der animalitas zur humanitas vollzieht, denn die Benommenheit des Tieres rücke hier „in die nächste Nähe“ zur Langeweile des Menschen. Für Heidegger „ist das, was beim Menschen der Benommenheit des Tieres entspricht und das Offene der Welt zu dem Weder-offen-noch-geschlossen der Umwelt in eine `nächste Nähe´ bringt, die tiefe Langeweile“, schreibt Agamben in „Der Gebrauch der Körper“ (2020).
Langeweile als Stimmung
Für Heidegger ist der Mensch gewissermaßen das Tier, das sich langweilt: Wie bei der Benommenheit des Tieres (seit dem Jahr 2012 weiß man, dass auch sie sich langweilen können) findet sich der Mensch in seinem Dasein durch die Langeweile „gerade vor das Seiende, das uns umgibt (gestellt), sofern in dieser Langeweile das Seiende, das uns umgibt, keine Möglichkeit des Tuns und keine Möglichkeit des Lassens mehr bietet“. Der Mensch erfährt sich dann etwas ausgeliefert, das sich ihm verweigert, genauso, wie das Tier in seiner wesenhaften Benommenheit gefangen und in einem Nicht-Offenbarten exponiert ist.
Die Langeweile ist für Heidegger eine „Stimmung“. Damit ist bei ihm kein seelischer Gemütszustand, kein inneres Gefühl wie beispielsweise die Wut gemeint, die sich stets auf etwas konkret Seiendes, ein bestimmtes Objekt in der Welt bezieht, sondern Stimmung hat einen ontologischen Charakter: Sie ist eine bestimmte Weise die Welt zu erfahren, sie zu entdecken und zu erschließen, sowie uns selbst in unserem Dasein und anderen zu begegnen.
Die Langeweile als Stimmung wirft dabei gewissermaßen einen Schatten über die Welt als ganze – sie beeinflußt unseren Umgang mit der Welt wesentlich. Unser Dasein ist, Heidegger zufolge, immer schon „gestimmt“, unser In-der-Welt-sein unterliegt immer schon einem „Gestimmtsein“, das uns überhaupt erst eine Orientierung gibt. Und diese Orientierung ist auch jedem bewussten Wissen und jeder sinnlichen Wahrnehmung vorgängig: Vor jeder Wahrnehmung und jedem Bewußtsein erschließt sich die Welt dem Menschen in einer Stimmung.
Die Langeweile als Stimmung ist insofern ein „fundamentales Existenzial“, wie Heidegger in „Sein und Zeit“ (§ 29) sagt, die existenzielle Grundverfassung des Menschen, durch die sich unser Dasein gewissermaßen selbst erschließt. Als Existenzial verortet sie uns in der Welt, wobei uns die Stimmung, in Heideggers Worten, wie der daemon mediteranus „überfällt. Sie kommt weder von `Außen´ noch von `Innen´, sondern steigt als Weise des In-der-Welt-seins aus diesem selbst auf.“ „Das Gestimmtsein“, fügt Heidegger hinzu, „bezieht sich nicht zunächst auf Seelisches, ist selbst kein Zustand drinnen, der dann auf rätselhafte Weise ausgelangt und auf die Dinge und Personen abfärbt.“ Der Ort der Stimmung ist insofern also weder in der Innerlichkeit noch in der Welt, sondern an ihrer Grenze, an der Schwelle dazwischen.
Heidegger unterscheidet dabei zwei Strukturmomente, die der Langeweile zugrunde liegen: Zum einen die „Leergelassenheit“, das heißt die Verlassenheit in der Leere, in die der Mensch „geworfen“ wird, als wesentliche Erfahrung der Langeweile; zum anderen die damit verbundene „Hingehaltenheit“ an das sich im Ganzen versagende Seiende. Beide zusammen machen die Langeweile aus, in der sich der Mensch insofern an etwas ausgeliefert erfährt, das sich ihm verweigert. Die ursprüngliche Erfahrung der Welt und des In-der-Welt-seins, die in der Langeweile als Stimmung geschieht, ist Heidegger zufolge insofern immer schon die Enthüllung einer „Geworfenheit“, wie er sagt, deren Struktur eine wesentliche Negativität innewohnt – die es jedoch anzunehmen gilt.
Für Heidegger versagt sich das Seiende in der Langeweile jedem Zugriff, die Gleichgültigkeit dominiert dann unser Dasein, gleichwohl jedoch – und darin liegt denn auch der Unterschied im Vergleich der Langeweile mit der Benommenheit des Tieres – offenbart es in gewisser Weise durch den Entzug auch seine Möglichkeiten. Heidegger bemerkt in diesem Zusammenhang: „Das Seiende im Ganzen ist gleichgültig geworden. Aber nicht nur das, in eins damit zeigt sich noch irgendetwas, geschieht das Aufdämmern der Möglichkeiten, die das Dasein haben könnte, die aber gerade in diesem `es ist einem langeweilig´ brachliegen …“.
Das Verb brachliegen stammt aus der Sprache der Landwirtschaft, wo Brache dasjenige Feld bezeichnet, das man zur Erholung unbestellt liegen läßt, um es dann im folgenden Jahr wieder zu besäen und zu bewirtschaften. Das Brachfeld dient bei uns insofern – seit Einführung der Dreifelderwirtschaft (abwechselnd ein Feld für Sommer-, eines für Wintergetreide sowie ein Brachfeld) durch Karl den Großen (748-814) – als Ausgleichsfläche, wird jedoch bisweilen meistens als Weidefläche für das Vieh und somit gewinnbringend genutzt. Echtes Brachland – herrenloses, verwildertes Land, in dem sich die Natur ungehindert ausbreitet und wuchert – ist insofern nur noch selten zu finden. Das jedoch bedeutet brachliegen für Heidegger: ein Feld oder einen Garten unkultiviert zu lassen. Insofern ist mit der Brache stets auch ein Moment der Inaktivität verbunden, gleichzeit aber bietet ein Brachfeld jedoch auch alle Möglichkeiten zur Bearbeitung.
Anders formuliert könnte man sagen, dass das, was sich dem Menschen in der Langeweile öffnet, keinen konkreten Inhalt hat, sondern nur die reine Möglichkeit als Potenz ist. Das Tier hingegen besitzt hierzu kein Vermögen, seine Beziehung zur Umwelt ist so beschaffen, dass sich in ihr niemals so etwas wie eine reine Potenz eröffnen kann. Die Langeweile, im Sinne dieses überhaupt erst ermöglichenden Brachliegens der Zeit, erscheint insofern als ein „metaphysischer Operator“, wie Agamben sagt, „in welchem der Übergang von der Weltarmut zur Welt, von der animalischen Umwelt zur Welt des Menschen stattfindet“. In ihr erst, sozusagen in diesem Möglichkeitsraum an der Schwelle zum Akt, zur praktischen Tätigkeit, erfolgt, wie Agamben weiters ausführt, so etwas wie die „Anthropogenese, das Da-sein-werden des lebendigen Menschen“, bevor sich die verschiedenen Modalitäten unserer Existenz als jeweils eigene Lebensformen schließlich entfalten und artikulieren.
Bartleby, der Schreiber
Die Brache ist ein Stück unbearbeitetes Land, das vor uns liegt wie das unbeschriebene weiße Blatt Papier, das uns auffordert, beschrieben zu werden. Für einen Schreiber, wie sie damals, vor Erfindung der Xerox-Kopiermaschine im Jahr 1959, in den New Yorker Büroräumen häufig tätig waren, bedeutete ein weißes Blatt Papier Arbeit. Das wußte auch jener Notar in der Wall Street, den Herman Melville in seiner Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ (1853) zu Wort kommen läßt. Bei ihm „gab es nun reichlich Arbeit für Schreiber“, ein zusätzlicher Angestellter wurde gebraucht, und tatsächlich: „Auf meine Annonce hin stand eines Morgens ein regloser junger Mann auf der Schwelle zu meinem Büro, dessen Tür wir offengelassen hatten, da es Sommer war.. (…) Es war Bartleby“, der nun den Schritt über die Schwelle tat.
Die Geschichte von Bartleby ist die einer völligen Verweigerung. Lehnt er zunächst nur bestimmte kleinere Tätigkeiten ab, den Gang zur Post beispielsweise, ist er bald noch nicht einmal mehr bereit Kopierarbeiten zu übernehmen. Der Grund bleibt unklar, aber Bartleby, der Schreiber, hat aufgehört zu schreiben: „I would prefer not to“ („Ich möchte lieber nicht“), entgegnet er allen Anfragen. Nach und nach gewinnt er so Macht über die Kanzlei und deren Besitzer – der sich schließlich genötigt sieht, den „Schreiber“ zu kündigen. Bartleby jedoch weigert sich den Arbeitsplatz und das Gebäude zu verlassen. So wird er verhaftet und ins Gefängnis gebracht, wo er schließlich sogar das Essen verweigert, bevor er dort dem Leben entschläft.
Agamben geht es bei seinem Interesse für Bartleby darum, ein Verständnis für dessen Negativität zu entwickeln. Bartlebys Formel „I would prefer not to“ erschöpft sich nämlich nicht in der Verweigerung, der Negation – „nichts liegt ihm ferner als das heldenhafte Pathos der Verneinung“, schreibt Agamben –, und ist insofern auch nicht nur als Gegenteil von Positivität zu verstehen, sondern sie hebt, wie Gilles Deleuze in „Bartleby oder die Formel“ (1994) schreibt, „eine Ununterscheidbarkeits-, eine Zone der Unbestimmtheit aus, die unaufhörlich zwischen den nicht-gemochten (non-préférées) Tätigkeiten und einer bevorzugbaren (préférable) Tätigkeit wächst. Jede Besonderheit, jede Referenz wird abgeschafft. Die Formel vernichtet endgültig `abschreiben´, die einzige Referenz, in Bezug auf die irgendwas gemocht oder nicht gemocht werden könnte. Ich möchte lieber nichts als irgendetwas: nicht ein Wille zum Nichts, sondern die Zunahme eines Nichts an Willen.“
Agamben nun nimmt das zum Anlass seines Versuchs einer Neubestimmung der Negativität, die für ihn dabei grundsätzlich mit einer Umdeutung des Verhältnisses zusammenhängt, „in dem Vermögen, Unvermögen und Akt zueinander stehen“, wie Eva Geulen in „Giorgio Agamben zur Einführung“ (2005) bemerkt. Unvermögen soll dabei nicht nur als Negation des Vermögens begriffen werden, sondern als „ein eigenständiger Ermöglichungsgrund“. In diesem Zusammenhang rückt auch der Begriff der Potenz in den Fokus beziehungsweise die verschiedenen Weisen, in denen Potenz an der Schwelle zum Akt existeren kann.
Als Begriff erhält die Potenz ihre Bedeutung erstmals bei Aristoteles: Ihm zufolge vollzieht sich jede Entwicklung teleologisch, zielgerichtet, durch die Vervollkommnung ursprünglicher Anlagen und Potenzen (des Vermögens), bis alle Möglichkeiten Wirklichkeit geworden sind und die Entwicklung damit an ihrem Ziel (telos) angekommen und abeschlossen ist. Er verbindet insofern das Vermögen (dynamis) und die Verwirklichung (energeia), mithin Wirklichkeit und Möglichkeit, Agamben erkennt dabei jedoch eine „Autonomie der Möglichkeit“ bei Aristoteles, die sich, wie Geulen bemerkt, „im Übergang von einer Möglichkeit zu einer Wirklichkeit nicht erschöpft“. Ein Vermögen, etwas das man kann, geht schließlich nicht verloren, wenn man es nicht ausübt – so wie Bartleby sein Vermögen zu Schreiben ja nicht verliert, wenn er „lieber nicht“ schreibt. Es bleibt bestehen, so wie das Denken, mit dem auch das weiße Blatt Papier nicht einfach verschwindet, nur weil auf ihm noch nichts geschrieben steht.
Voraussetzung dieser Deutung ist der Umstand, wie Geulen ausführt, „dass für Aristoteles die Möglichkeit (etwas zu tun = dynamia) stets auch die Möglichkeit beinhalten muss, es nicht (akut) zu tun (= adynamia).“ Von diesen beiden Modi, in denen sich Aristoteles zufolge jede Potenz artikuliert, wie er im IX. Buch der „Metaphysik“ ausführt, interessiert Agamben nur die „Potenz nicht zu sein“, die „Impotenz“ (adynamia) also: Dass die Potenz immer auch Impotenz ist, dass jedes Tunkönnen immer auch ein Nichttunkönnen ist, ist für ihn die bedeutungsvolle Entdeckung. „Impotenz“ bedeutet dabei nicht nur Mangel an Potenz, Nichttunkönnen, sondern auch und vor allem „unterlassen können“. Und genau dieses unterlassen können ist es, worin das Unvermögen seine eigene Macht erhält und ist – dafür steht Bartleby mit seiner Formel.
Mit Bartlebys Unterlassungen sind für Agamben neue ethische Implikationen für die Konstituition menschlicher Gemeinschaften verbunden: „In unserer Tradition der Ethik“, schreibt Agamben in „Bartleby oder die Kontingenz“ (1998), „ist oft versucht worden, das Problem der Potenz umzuwenden, indem man es auf Begriffe des Willens und der Notwendigkeit reduzierte: ihr Hauptthema ist nicht, was man kann, sondern was man will oder was man muß.“ Und das ist es auch, woran der Notar in seiner zunehmenden Verzweiflung Bartleby unaufhörlich erinnert: Wenn sich Bartleby seiner Aufforderung, zur Post zu gehen („Gehen Sie doch mal hinüber ins Postamt, ja“), sein gewohntes „Ich möchte lieber nicht“ entgegenhält, übersetzt der Notar das mit „Sie wollen nicht?“ („You will not?); genauso wie er ihn darauf aufmerksam macht, dass er nun endlich das Büro verlassen muss („Der Augenblick ist gekommen … aber jetzt müssen Sie gehen“), was Bartleby wiederum mit seiner Formel erwidert, woraufhin der Notar ihm nochmal nachdrücklich bestimmt: „Sie müssen.“ Bartleby nun? „Er schwieg.“
Deleuze bemerkt im Hinblick auf dieses Schweigen Bartlebys, dass die Formel grundsätzlich eine zerstörerische Macht hat: „Es gibt keinen Zweifel, die Formel wirkt verheerend, verwüstend, und läßt nichts übrig“, sagt er. Sie „`entkoppelt´ die Worte und die Dinge, die Worte und die Taten … sie schneidet die Sprache von jeder Referenz ab, gemäß der absoluten Berufung Bartlebys, ein Mann ohne Referenz zu sein, jener, der auftaucht und verschwindet, ohne Referenz auf sich selbst oder etwas anderes.“ Für Deleuze hebt die Formel insofern „in der Sprache eine Art Fremdsprache aus … Die Regel bestünde dann in dieser Logik der negativen Präferenz, des Negativismus jenseits jeder Negation. (…) Melville erfindet eine Fremdsprache, die das Englische unterläuft und es mit sich reißt: Es ist das OUTLANDISH oder das Deterritorialisierte, die Sprache des Wals“, die „die ganze gesprochene Sprache mit dem Schweigen konfrontiert, sie ins Schweigen umkippen läßt“ – wie Moby Dick das Boot Captain Ahabs.
Für Deleuze kippt die Formel die Sprache gewissermaßen vom Sein ins Nichts, gleichwohl läßt sich die Formel, Agamben folgend, weder auf das Sein noch auf das Nichts zurückführen: Unserer Vernunft mag es zwar widerstreben, dass etwas ohne Grund geschehen könne, aber Bartlebys Unterlassung hat keinen Grund, genausowenig wie eine Intention. Er verkörpert stattdessen die Seinsweise einer Potenz, die von jeder Vernunft gereinigt ist. Beseitigt man die Vernunft, wird gewöhnlich der menschliche Wille oder die Laune (Willkür) zur Ursache dessen, was auf der Welt geschieht – die dann im besten Fall, wie Agamben bemerkt, zum „Schlaraffenland“ werden würde –, nicht aber bei Bartleby: Bei ihm gibt es nur dieses „lieber nicht“, das zwar auch völlig von der Vernunft befreit ist, das nun aber, anders als das Müssen und Wollen, nicht mehr dazu dient, wie Agamben sagt, „die Vorherrschaft des Seins über das Nichts zu sichern“ oder auch umgekehrt.
Es geht bei Bartleby also nicht wie bei Hamlet um „Sein oder Nicht-Sein“, sondern die Formel bleibt an der Schwelle zwischen Beidem. Hier jedoch erscheint, wie Agamben sagt, „nicht der farblose Abgrund des Nichts, sondern der Lichtspalt des Möglichen“ und mit ihm gewissermaßen eine neue Ethik im Hinblick auf das menschliche Zusammenleben. Denn bei Bartleby, dem Schreiber, der nicht schreibt, ist jede Spur eines „Müssens“ und „Wollens“ ausgelöscht, er ist die „vollkommene Potenz“ geworden insofern, als die Potenz, wie Agamben weiters sagt, „nicht der Wille (ist) und das Unvermögen nicht die Notwendigkeit. (…) Zu glauben, daß der Wille Macht habe über die Potenz, daß das Übergehen in den Akt das Ergebnis seiner Entscheidung sei, die mit der Ambiguität der Potenz Schluß macht (die immer Potenz zu tun oder nicht zu tun ist) – genau das ist die andauernde Illusion der Moral.“
Mit seiner Formel stellt Bartleby genau diese Vorherrschaft des Willens über die Potenz infrage. „Die Formel“, bemerkt Agamben, „so hartnäckig wiederholt, zerstört jede Möglichkeit, einen Bezug zwischen Können und Wollen herzustellen … Sie ist die Formel der Potenz“, jener Potenz, deren Ambiguität eben stets auch das unterlassen können impliziert, das sie letztlich als menschliche Potenz bestimmt. Die Möglichkeit überhaupt zu haben – das macht Bartleby erst zum Menschen und unterscheidet ihn vom Tier: Auch wenn es an jenem Sommertag, als Bartleby beim Notar auftauchte, vielleicht keine 37 Grad Celsius gehabt hat, heiß war es offenbar, sonst hätte die Tür zum Büro nicht offen gestanden; aber während Bartleby hier „lieber nicht“ arbeitet, bleibt der Zecke bei dieser Temperatur gar keine andere Möglichkeit als zuzustechen …
Der Mensch, das macht Bartlebys Formel klar, ist das jenseits von Müssen und Wollen „im Modus der Potenz existierende Lebewesen“, wie Agamben sagt, das genauso gut, wie es etwas kann, auch sein Gegenteil vermag (gemäß etwa der pazifistischen Parole „Stell dir vor es Krieg und keiner geht hin“). „Dies setzt ihn mehr als jedes andere Lebewesen der Gefahr des Irrtums aus“, schreibt Agamben, „doch es erlaubt ihm zugleich, seine Fähigkeiten nach Belieben zu akkumulieren und zu beherrschen, sie in ein `Vermögen´ zu verwandeln. Denn nicht nur das Maß dessen, was jemand kann, bestimmt den Rang seiner Handlung, sondern auch und vor allem die Fähigkeit, sich mit der Möglichkeit, es nicht zu tun, in Beziehung zu setzen.“
Während die Sonne nur strahlen kann und andere Lebewesen „nur das in ihre biologische Berufung eingeschriebene Verhalten vermögen“ (oder vielleicht noch ihre unmittelbare Beziehung zur Umwelt aufzuheben, wie die Zecke im Rostocker Labor, ohne deswegen aber aufzuhören ein Tier zu sein), ist der Mensch, wie Agamben sagt, „das Tier, das die eigene Impotenz vermag“. Nur aufgrund seines Vermögens zum Unvermögen, dazu, etwas nicht zu tun, ist der Mensch stets und vor allem „Möglichkeit des Menschseins“.
Das Vermögen zum Unvermögen, die Möglichkeit, untätig zu bleiben, ist für Agamben insofern der (negative) Grund des Menschseins, aus dem sich gewissermaßen die Figur des Bartleby erhebt. Als Schreiber, der aufgehört hat zu schreiben, hat sich Bartleby allerdings der Macht des Impotenz gewissermaßen schicksalshaft ergeben. Die Möglichkeit, die seine Formel aufzeigt, bleibt ihm selbst versagt: Das Unvermögen in sein Gegenteil zu wenden. Bartleby ist insofern gewissermaßen ein Gefangener seiner Negativität, in ihm zeigt sich gerade nicht, wie ansonsten im Zustand der Langeweile, wie Heidegger weiß, „das Aufdämmern der Möglichkeiten, die das Dasein haben könnte, die aber gerade in diesem `es ist einem langeweilig´ brachliegen …“. So bleibt Bartleby letzlich eine extreme Gestalt des Nichts in seiner absoluten oder, wie Agamben sagt, „vollkommenen Potenz“ – entschlossen im Abgrund der Möglichkeit verharrend, dessen Mahlstrom sich für Bartleby als unentrinnbar erweist.
Als Wesen der reinen Potenz verkörpert Bartleby gewissermaßen die Untätigkeit. Sieht man nun jedoch von der negativ konnotierten Schicksalhaftigkeit bei Bartleby ab und begreift man diese Untätigkeit Agamben folgend nicht, wie bei der Langeweile, als Trägheit, sondern als katargesis, gewinnt Bartlebys Verhalten Bedeutung. Es wird dann zu einer Art Tätigkeit, die nicht in einem Werk aufgeht, sondern bei der der auf ein Werk orientierte Antrieb deaktiviert ist (katargesis kommt vom neutestamentlichen Wort katargein, das soviel bedeutet wie „wirkungslos machen, entbinden, außer Kraft setzen“). Als katargesis ist die Tätigkeit immer ein tun (zum Beispiel glauben, essen, trinken, denken oder lieben) und entfaltet sich ausschließlich performativ in der Zeit, verräumlicht sich aber nie als Objekt. Insofern wird die Tätigkeit hier zu einer Tätigkeit, wie Agamben in „Die kommende Gemeinschaft“ (2003) sagt, „in der das Wie das Was vollkommen ersetzt, in der das formlose Leben und die unbelebte Form in einer Lebensform zusammenfallen“.
In diesem Sinn gerinnt bei Bartleby die Potenz zur Lebensform, insofern darunter ein Leben begriffen ist, das sich im Übergang zu einer Verwirklichung nicht erschöpft beziehungsweise „in dem die einzelnen Akte und Prozesse des Lebens niemals einfach Fakten sind, sondern immer und vor allem Möglichkeiten des Lebens, immer und vor allem potentielles Sein“, wie Agamben in einem Text mit dem Titel „Lebens-Form“ (1994) schreibt.
Das gute Leben
Wenn Agamben zwischen „formlosem Leben“ und „unbelebter Form“ differenziert, die er schließlich im Begriff der Lebensform zusammenzieht, bezieht er sich auf die bereits von Aristoteles getroffene Differenzierung des Lebens in bios und zoè: Gerade anders, als man es heutzutage vielleicht vermuten würde, meint im Griechischen „zoè“ das einfache Lebendigsein, das nackte Leben sozusagen, während „bios“ gerade umgekehrt eine Lebensform meint, die auch zum Objekt der Politik in Form des Gesetzes werden und in den Bereich der polis, des öffentlichen Gemeinwesens (Stadtstaat), fallen kann. Die zoè hingegen ist von diesem politischen Gemeinwesen ausgeschlossen und spielt sich in Form von Lebenserhaltung und Fortpflanzung ausschließlich in der privaten Sphäre des oikos ab.
Zur Zeit von Aristoteles (384-322 v.u.Z.) wird insofern zwar zwischen einer individuellen (privaten) und einer kollektiven (öffentlichen) Existenz differenziert, aber die polis ist ihm zufolge die einzige dem Menschen gemäße Lebensform, „da der Mensch von Natur ein politisches Wesen ist“, wie er erklärt (und wie man zum Beispiel an Sophokles sehen kann). Außerdem schreibt er: „(D)ie polis geht von Natur aus … jedem Individuum voraus“. Leben außerhalb der polis ist insofern gleichgültig beziehungsweise wird erst gar nicht reflektiert, weshalb auch bios und zoè noch nicht auseinander gedacht werden (sondern eben als Lebensform im Sinne Agambens). In der polis sind natürliches und politisches Leben insofern miteinander verschränkt, entsprechend auch Aristoteles` Definition der polis: „entstanden um des Lebens willen“, also der zoè entsprechend, „aber bestehend um des guten Lebens willen“, gemäß der politischen bios.
Unermüdlich wiederholt Aristoteles, dass sich die Menschen „nicht nur um des Lebens willen, sondern vielmehr um des guten Lebens willen“ in der polis zusammengeschlossen haben. Das Leben in der polis ist insofern erst ein zum guten Leben befähigendes Leben – zum glücklichen Leben jedoch bedarf es auch noch einer dem Menschen gemäße Tätigkeit, schreibt Aristoteles. Untätigkeit ist für ihn zwar nicht grundsätzlich negativ konnotiert, allerdings ist für ihn erst mit der energeia (wörtlich: „am Werk sein“) das Wesen des Menschen berührt: Wenn ihm ein eigenes ergon („Arbeit, Werk“) fehlt, so Aristoteles, so hat der Mensch auch keine energeia, keine Verwirklichung, die schließlich sein Wesen ausmacht (die Betonung liegt hier, wie Agamben bemerkt, nicht auf dem ergon, dem Werk, sondern auf der energeia, der Aktivität, die dem Menschen zu eigen ist). Er wäre ansonsten ein Wesen, das in keiner Identität aufgehen würde – letzlich wie Bartleby.
Aber schon im ersten Buch seiner „Nikomachischen Ethik“ geht Aristoteles sogar noch einen Schritt weiter und stellt die Definition der „Tätigkeit des Menschen“ in den Kontext seiner Bestimmung des „höchsten Gutes“ („summum bonum“), das für ihn das Glück ist. Nur über die Tätigkeit, die energeia, die wiederum der Lebensform entsprechen muß und ihr entspringt, habe der Mensch die Möglichkeit glücklich zu werden und sie, die Glückseligkeit („eudaimonia“), ist Aristoteles zufolge „das Allerbegehrenswerteste, ohne dass ihr etwas hinzugefügt werden müsste. (…) Die Glückseligkeit ist etwas Vollkommenes … da sie das Ziel allen Handelns ist.“
Insel der Seligen
Dass Temperaturen von bis zu 37 Grad Celsius und mehr in den Sommermonaten in Griechenland durchaus nicht außergewöhnlich sind, beweist auch wieder der diesjährige Sommer (wenngleich die Hitzewelle und die mit ihr verbundenen verheerenden Flächenbrände, die das Land und die Bewohner derzeit plagen, wohl von historischem Ausmaß sind). Wenn schon das kühle Nass von Oben fehlt, bringen, zumindest auf manchen griechischen Inseln, die Winde etwas Abkühlung von der Hitze. Die Vulkaninsel Santorini beispielsweise ist so windumtost, dass die alte weiße Rebsorte Assyrtiko dort zum Schutz traditionell in Korbform nahe am Boden erzogen wird. Wie kleine Nester verteilen sich die Weinstöcke dort über die Bimssteinhänge.
Ob auch schon Hesiod vor über 2700 Jahren Assyrtikoreben gepflanzt hat ist unbekannt, aber dass er neben Getreide auch Wein angebaut hat, davon berichtet er in seinem Epos „Werke und Tage“, wie überhaupt von der mühevollen Landwirtschaft seiner Zeit, in der Trockenheit und Hitze im Sommer noch ihr übriges taten. Von der Weinkultur auf der Insel Santorini allerdings erfährt man bei Hesiod nichts – überhaupt sind für die antiken Autoren die wirklich interessanten Inseln aufgrund der ausgeprägten Inseltopographie Griechenlands ohnehin weniger die unweit der Küste existierenden, sondern eher die unerreichbaren gewesen. So auch die „Insel der Seligen“ für Hesiod, wie bereits eingangs zitiert. Sehnsuchtsvoll blickt er auf sie, das elysion, wo die verstorbenen göttlichen Helden (das „vierte Geschlecht“, wie Hesiod sie nennt) ein sorgloses, ein im wahrsten Sinne des Wortes glückseliges Dasein führen.
Die Insel ist ein Sehnsuchtsort für Hesiod, dessen Vater einst „auf der Flucht vor bitterer Armut“ aus Kleinasien aufgebrochen war, um als Händler und Seeräuber „segelnd in dem Schiff nach edlen Gütern zu spähen“, bevor er sich auf der anderen Seite der Ägäis im böotischen Askra ein Stück Land kaufte. Hier, in diesem oikos (der hier die ländliche Wirtschaftsgemeinschaft meint), führte nun Hesiod ein bäuerliches Leben, das durch Fleiß und von harter Arbeit auf dem Feld und der Weide geprägt war, von Mühsal und Weh – und sich damit deutlich unterschied von dem der homerischen basileis, die sich vielleicht Ruhm und Ehre im Kampf verdienten, die meiste Zeit aber ihre Kräfte beim symposion schonten; es unterschied sich aber erst recht von dem der Glückseligen auf ihrer Insel, auf der kornspendender Acker dreimal im Jahr gereifte Früchte darbringt, süß wie Honig.
Seinen Bruder Perses, der nach dem Tod des Vaters aus der bäuerlichen Enge der Dorfgemeinschaft ausbrechen will, beschuldigt Hesiod, durch Bestechung an die „gabenfressenden“ basileis einen ungerechten Schiedsspruch bei der Realteilung des oikos herbeigeführt zu haben. Das Vermögen hierzu habe er sich nicht, wie er selbst, hart erarbeitet, sondern durch riskante Handelsgeschäfte verschafft. Hesiod verurteilt diese Geschäfte – geht aber doch auch selbst auf Fahrt, wenngleich er seine landwirtschaftlichen Erzeugnisse angeblich nur dann verschifft, wenn die Erträge seines oikos nicht ausreichten oder umgekehrt ein Überschuss erzeugt wurde. Zumindest gibt er zu, dass der Seehandel eine Möglichkeit bot, dem „Hunger zu entfliehen“. Seefahrerisches Wissen besaß er jedenfalls, und auch seine geographischen Kenntnisse überboten diejenigen Homers … aber hart ist das Landleben. Gehörte er doch nur auch zum dem göttlichen, heroischen Geschlecht, glückselig und sorglos, ohne sich täglich mit harter Arbeit mühen zu müssen auf einer Insel am Ende der Erde, und müsste nicht hier unter dem jetzigen aus Eisen leben, das immer tätig sein muß, niemals bei Tage wird ruhn, auch nicht in der größten Hitze, und dem die Götter dennoch quälende Sorgen verleihn …

Für Hesiod war das Bearbeiten des Bodens harte Arbeit. Seiner Scholle entfloh er nur zeitweise, indem er, um Handel zu treiben, zur See fuhr. Hätte er dort gefischt, wäre ihm vielleicht auch die „Scholle“ ins Netz gegangen: Der Plattfisch hat diesen Namen nachweislich bereits im 14. Jahrhundert als Entlehnung aus dem niederdeutschen Begriff „schulle“ – der dann wohl auch aufgrund der äußerlichen Ähnlichkeit auf ein flaches Stück Land übertragen wurde.
Die Scholle (Erd- oder Ackerscholle) ist eigentlich ein großes Erdstück, das durch den Pflug auf einem Acker aufgeworfen wird. Einen solchen hat Bernd Pflüger schon vor mehreren Jahrzehnten erfolgreich zu einer inzwischen biodynamisch bearbeiteten Rebfläche umgewandelt, noch heute muß allerdings zwischen den Rebzeilen ab und an der Boden umgepflügt werden. Immer öfter sieht man in der flachen Pfalz im biodynamischen Rebbau dabei auch Pferde im Einsatz, wie auch auf den Etiketten des Weingut Pflüger abgebildet.
Inzwischen hat Sohn Alexander das Weingut in der Mittelhardt mit seiner breiten Sortenpalette und Lagen um Bad Dürkheim übernommen. Der 2019 Riesling aus der Lage Fuchsmantel wächst auf alten Sandsteinterrassen, die vom Pfälzer Wald geschützt sind. Der überwiegend reduktiv im Stahltank ausgebaute Wein zeigt, wie schon in der Nase, dann auch am Gaumen helle Aromen gelber Früchte (Pfirsich, Marille), sehr dezent Akazienhonig sowie grüner Apfel, Zitrus und frische Limette, straffe Säure und ausgeprägte mineralische Noten, die lange anhalten. Ein schlanker Wein – voll mein Geschmack jedoch …
Hesiod, von der Muse geküsst
Hesiod verfasste nach Homer die ersten literarischen Schriften und insbesondere durch „Werke und Tage“ wird erstmals ein einzelnes Lebensschicksal, in dem Fall eine sorgenvolle, harte bäuerliche Existenz, in der Antike greifbar. Dass er dabei neben dem mühevollen Landbau auch noch Verse verfassen konnte, also, um im Bild zu bleiben, zugleich als Bauer das unbearbeitete Ackerland umpflügen und als Dichter das weiße Blatt Papier beschriften – davon berichtet Hesiod am Beginn seines vermutlich etwas früher verfassten Epos, der „Theogonie“: Schafe weidend traten die Musen zu ihm und weckten ihn offenbar zuerst einmal aus seinem Müßiggang, den er vielleicht wegen der Hitze im Schatten eines Baumes liegend beging: „Hirtenpack ihr, Draußenlieger und Schandkerle, nichts als Bäuche …“, sprachen sie. Dann aber, so Hesiod, brachen sie „den herrlichen Zweig eines üppig grünenden Lorbeers, schenkten ihn mir als Stab und hauchten mir göttlichen Sang ein, damit ich Künftiges und Vergangenes rühme.“
Selbstbewusst schreibt Hesiod also von seiner Erweckung zum Schriftsteller, zum Poeten – als der er mehr leiste als der nur die mündlich tradierten Heldengeschichten niederschreibende Rhapsode, wie Homer vor ihm einer war (geschweige denn wie der nur kopierende Schreiber, wie Bartleby dann einer sein wird). Denn wenn er von dem sich aus der kargen Landschaft ergebenden mühevollen Leben berichte, gleichsam dokumentarisch, und zur friedlichen Arbeit gemahne, schaffe er eine „wahrere“ Dichtung als das heroische Epos mit seiner trügerischen Verherrlichung der kriegerischen Schlachten. Gleichwohl war Hesiod wohl von einfachem Gemüt, einem Wort Alexanders des Großen folgend ein Dichter für Bauern (während Homer einer für Könige sei), der auf die Faulheit der Frauen schimpfte und sich ansonsten seinem Schicksal als Landmann ergab: Götterfurcht, Gerechtigkeit und eben harter Arbeit.
Diese harte Arbeit allerdings sei unausweichlich und notwendig, erklärt Hesiod in seiner „Theogonie“, einem 1022 Verse umfassendes Epos aus Hexametern, das die Entstehung und Ordnung der Welt, mithin das System der griechischen Mythologie beschreibt: Ursprünglich nämlich lebten die Menschen, noch allesamt Männer, so erfahren wir dort erstmals, sorgenfrei und ohne Arbeiten zu müssen auf Erden, das einzige was sie von den Göttern unterschied war deren Unsterblichkeit – und auch das nicht wirklich, denn da es keine Krankheiten gab und man nicht alterte, starben die Menschen nicht, sondern schliefen einfach ein, wenn ihre Zeit gekommen war. Hypnos nahm sie dann mit in die Unterwelt, zu den elysischen Feldern … bis Zeus diese Gleichheit irgendwann leid war und beschlossen hatte, eine Hierarchie einzuführen: Auf einem Bankett sollte ein Stier geschlachtet und zwischen den Menschen und den Göttern, die natürlich den schöneren Teil beanspruchten, aufgeteilt werden. Das allerdings gefiel Prometheus gar nicht, der vielleicht ein schlechtes Gewissen hatte, da er bei der Erschaffung der Welt gemeinsam mit seinem Bruder Epimetheus die Verantwortung für die Verteilung der Eigenschaften unter den Lebewesen erhielt und dabei den Menschen vergaß, der deshalb nackt blieb. Deshalb beschloss Prometheus, Zeus beim Opfer zu täuschen, indem er einen Haufen errichtete, der nicht das gute Fleisch enthielt, sondern nur die Innereien und Knochen, der aber schöner aussah, weil Prometheus darüber eine Fettschicht legte. Und tatsächlich entschied sich Zeus dafür – und war außer sich vor Zorn, als er die List bemerkte.
Die Strafe für die Menschen folgte prompt: Zeus versteckte den Weizen vor ihnen, der bisher immer und überall wuchs ohne gepflügt oder gesät werden zu müssen. Von nun sollten die Menschen arbeiten müssen, wenn sie überleben wollten. Außerdem nahm er ihnen das Feuer wieder, das er ihnen geschenkt hatte, nachdem Prometheus ihn darum gebeten hatte, damit die Menschen in ihrer Nacktheit zumindest vor den wilden Tieren geschützt seien. Ohne Feuer aber gibt es für sie nun kein gekochtes Essen mehr, kein Licht, keine Wärme und keinen Schutz.
Prometheus hat offenbar Mitleid mit den Menschen und geht zu Athene, offenbart ihr seine Schuld, und bittet sie um Hilfe: Er will den Menschen zumindest das Feuer wieder geben und bräuchte dazu Einlass in den Olymp, wo das ewige Feuer lodert, wozu sich Athene bereit erklärt. In einem Hohlstängel kann er es unbemerkt auf die Erde bringen – wo es das Leben der Menschen zumindest erleichtern soll.
Es dauert allerdings nicht lange, bis Zeus den Diebstahl bemerkt. Wieder allerdings ist es nicht Prometheus, den die Strafe trifft, sondern die Menschen respektive die Männer: Denn Zeus beschließt, ihnen eine Frau zu schicken. Nicht irgendeine Frau, sondern „Pandora“ („die von allen Göttern beschenkte“). Sie erhält von Aphrodite die Anmut, von Athene schöne Kleider, die Horen schmücken sie mit Blumen, die Grazien mit Schmuck und Hermes – von dem bekommt sie auf Geheiß von Zeus die Lügenhaftigkeit, Durchtriebenheit und schließlich auch die Neugier mitgegeben. Den Atem hauchte ihr Zeus persönlich ein …
Pandora ist die erste Frau auf Erden, aber sie ist vor allem auch das Feuer, das Zeus, ohne dafür eine Flamme zu entzünden, unter die Männer bringen will: Pandora soll die Temperatur von deren Blut erhitzen, die Männer entflammen … als fatale Antwort auf das von Prometheus geraubte Feuer. Es genügt, dass sie sich zu einem Mann ins Bett legt, idealerweise zu einem, der sich erst im Nachhinein Gedanken macht: zu „Epimetheus“, „dem danach denkenden“. Sein Bruder „Prometheus“, „der Vorausdenkende“, warnt ihn zwar vor dem göttlichen Geschenk, jedoch umsonst, Epimetheus kann den Reizen der Frau nicht widerstehen …
Doch damit nicht genug, gibt Zeus Pandora doch auch noch eine Büchse mit auf den Weg, die sie „keinesfalls“ öffnen solle, doch genau damit entfacht er ihre Neugier. Noch in der ersten Nacht auf Erden öffnet sie die Büchse und alles Unheil, alles Leiden, das Zeus hinein gelegt hat, die schlimmsten Plagen, entweichen; alle bis auf elpis, die Hoffnung, die Hermes heimlich noch hinzugegeben hatte, sie war noch drinnen, als Pandora die Büchse schnell wieder zugeklappt hat, zu spät …
So erklärt es uns erstmals Hesiod, wenngleich noch nicht so ausgemalt. Dennoch ist er sich gewiss, dass Zeus die Frauen schuf „zum Übel der sterblichen Menschen“, also der Männer. Sei seien „ein großes Leid für die Menschen“ und er weiß, dass „sie sich einig sind in jeder Bosheit“. Als „Gefährtinnen“ wohnen sie zwar bei den Männer, jedoch „nicht in verderblicher Armut, sondern nur im Überfluß“ und „sich fremde Mühe in den Bauch stopfen[d]“ … Hesiod, von der Muse geküsst – ob er den Kuss seiner Frau wohl verschmäht? Zumindest bei dem, der „eine edle Gattin gewann, eine nach seinem Herzen … hält das Übel dem Guten die Waage“, schreibt er dann doch noch. An der Gerechtigkeit der Strafen der Götter hat Hesiod also grundsätzlich keinen Zweifel. Über das Glück und die Glückseligkeit, die „eudaimonia“, allerdings erfährt man bei ihm, gerade auch im Hinblick auf sein überaus tätiges Leben, angesichts all der Arbeit, wenig …
Der Garten des Epikur
Etwa 400 Jahre nach Hesiod – inzwischen hatten sich die griechischen poleis als politische Zentren herausgebildet – kam ein achtzehn Jahre alter Mann namens Epikur (341-271/270 v.u.Z.) von der Insel Samos über Umwege nach Athen. Die Umwege liegen in der chaotischen politischen Situation im Ägäisraum in der Folge der makedonischen Expansionspolitik unter Philipp II. begründet, der erst vor kurzem die poleis Theben und Athen eroberte (338 v.u.Z.) und mit dem restlichen Griechenland unter seiner makedonischen Herrschaft vereinte. Und auch sein Sohn Alexander der Große hatte eben erst Dareios besiegt (334 v.u.Z.) und rückte nun ins Innere des persischen Reiches vor. Als Alexander zehn Jahre später verstarb, Epikur ist zu diesem Zeitpunkt siebzehn Jahre alt, brachen in den griechischen poleis Aufstände gegen die makedonische Herrschaft aus, die blutig niedergeschlagen wurden. Diese Geschehnisse um das Jahr 321 v.u.Z. markieren allgemein das Ende der athenischen Demokratie.
Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis 306 v.u.Z, ehe Epikur in Athen ein Haus in dem vornehmeren Bezirk Melite erwarb sowie ein kleines Gartengrundstück (kepos) unmittelbar vor dem Dipylon-Tor, an der Straße, die auch zur Akademie des bereits 338 v.u.Z verstorbenen Platons führte.
Dass das Grundstück klein war, bestätigen verschiedene zeitgenössische Verweise, dennoch sollte die von Epikur hier eingerichtete „Gartenschule“ (kepidion) große Bedeutung erhalten, obwohl das Grundstück Privateigentum war und keine öffentliche Einrichtung wie die Akademie Platons und das Lykeion von Aristoteles (der ebenfalls wenige Jahre vorher, im Jahr 322 v.u.Z., also ein Jahr nach Alexander dem Großen, gestorben war und dessen Lykeion in Athen heute, im Gegensatz zur Akademie und „Epikurs Garten“, zwar noch zu besichtigen ist, dessen kaum mehr vorhandenen Reste aber nur noch eine schwache Vorstellung davon vermitteln, wie es dort damals aussah).
Dass die Zeit seit Hesiod fortgeschritten ist, erkennt man daran, dass in den berühmten Garten Epikurs auch Frauen und Sklaven eingeladen waren, die keinen gesellschaftlichen Einfluss und kein politisches Mitwirkungsrecht besaßen, sondern stattdessen die anstrengende Drecksarbeit in der Athener polis verrichten mussten. Man erkennt die Veränderung aber insbesondere auch daran, dass die Götter bei Epikur ihren einstigen Stellenwert verloren haben. Die Vorstellungen, dass es strafende Götter gäbe, solche, die die Macht haben das Schicksal des Menschen zu beeinflussen, ist Epikur zufolge gänzlich unbegründet, weil eine solche interventionistische Tätigkeit der Götter mit ihrer ungestörten Glückseligkeit, dem Zustand der Untätigkeit in dem sie leben, völlig unvereinbar wäre: „Die hauptsächlichste Ursache für die Beunruhigung der Menschenseele“, so Epikur, „kommt aus dem Glauben, die himmlischen Wesenheiten seien glücklich und unvergänglich und besäßen doch zugleich Wollen und die Möglichkeit, zu handeln und etwas zu verursachen. Das aber ist doch mit ihrer Seligkeit unvereinbar“, denn die könne doch „durch keine Mühwaltung gestört werden“.
Epikur leugnet das Dasein der Götter zwar nicht: „Es gibt Götter“, sagt er, sie sind jedoch „sich selbst genug“ – und erscheinen so gewissermaßen wie Verkörperungen seines eigenen, ins Ewige übertragenen Lebensideals. Denn letztlich war für Epikur das höchste zu erstrebende Gut ebenfalls die eudaimonia: Der Epikureismus hatte zum Ziel, wie Carl-Friedrich Geyer in „Epikur zur Einführung“ (2000) bemerkt, „den Menschen in Seelenruhe und dauernder innerer Freude sein Dasein als Glück empfinden zu lassen“. Insofern ist also auch für Epikur die Glückseligkeit, die eudaimonia, das höchste Gut, daneben jedoch verwendete er auch noch den zur eudaimonia in einer gewissen Spannung stehenden Begriff „hedone“, von „hedys“, „süß“, den man bisweilen vielleicht am treffensten mit „Lust“, ansonsten aber auch mit „Freude“ oder sinnlichem „Vergnügen“ übersetzt hat (dem Wortsinn nach bezeichnet „hedone“ den Wohlgeschmack einer Speise oder eines Getränks). Beide Begriffe bezeichnen Geyer zufolge die gleiche Gegebenheit, wobei eudaimonia eher idealistische und hedone eher materialistische Akzente setzt. Außerdem findet bei Epikur auch noch der Begriff „makarios“ Verwendung, den man mit „selig“ übersetzen kann und der im Griechischen ganz allgemein ein „Vergnügen“ bezeichnet, das nicht nur auf etwas sinnlich Wahrnehmbares verweist, wie ansonsten eben der der „hedone“.
Obwohl für Epikur also auch die eudaimonia das höchste Ziel allen menschlichen Strebens war, unterscheidet sich seine Vorstellung von derjenigen Aristoteles`: Für Epikur nämlich bietet die polis aufgrund der politischen Erschütterungen seiner Zeit keinen geordneten, das menschliche Glück befördernden Rahmen mehr: Bisher ging man davon aus, dass der Mann sein Potential nur als Mitglied der polis verwirklichen und glücklich werden kann. Nun jedoch ist das Gemeinschaftsgefühl, das bisher die Bürger zu verantwortlicher Mitarbeit am Staatsleben getrieben hat, weitgehend in Machtkämpfen versunken, nachdem die poleis ihre Selbstständigkeit verloren hatten und dem makedonischen Reich eingegliedert wurden. Zunehmend gewann stattdessen das individuelle Leben, unabhängig von den Interessen der polis, an Bedeutung und mit ihm die Erfordernis, persönliche Verantwortung für das eigene Glück und das „gute Leben“ zu übernehmen.
Nur vor dem Hintergrund dieser Bemühungen um eine Entpolitisierung des Glücks ist Epikurs Devise „Lebe im Verborgenen!“ (lathe biosas) zu verstehen, die Perikles, der vielleicht bedeutendste Politiker der Athener Demokratie, worauf der Philosoph Robert Harrison in „Gärten“ (2010) aufmerksam macht, wenn er noch am Leben gewesen wäre ziemlich sicher als „Idiotie“ bezeichnet hätte, insofern er damit eine apolitische Haltung oder ein Leben Abseits der politischen Gemeinschaft gemeint hat. Obwohl Epikur seinen Garten zur polis hin abgrenzte, war das nicht mit einem Rückzug ins Private zu verwechseln, wie das dann beispielsweise bei Francesco Petrarca der Fall war, dem der Garten als Garten des Wortes zum kontemplativen Müßiggang diente. Schließlich waren im epikureischen Garten auch Andere zur gemeinschaftlichen Bewirtschaftung eingeladen. Überhaupt standen das Gespräch und die Freundschaft obenan bei den epikureischen Tugenden: „Von dem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des gesamten Lebens bereitstellt, ist das weitaus Größte der Erwerb der Freundschaft“, schreibt Epikur in einem Brief. (Gleichwohl findet sich hier, in der Zurückgezogenheit, auch eine Parallele zum Leben der Götter in den Intermundien.)
Es ist also dieser Zusammenhang zwischen Bedeutungsverlust der Politik und dem Rückzug aus dem öffentlichen Leben vor dem der Garten bei Epikur an Bedeutung gewinnt. Denn, wie Epikur weiß, „(e)ine neue Welt entsteht, wenn einige Samen von einer Welt … abfallen, allmählich kleine Teile ansetzen, sich eingliedern, sich an eine andere Stelle umsetzen, wenn es sich gerade so ergibt; sie erhalten von den Teilen, die Feuchtigkeit besitzen, in geeigneter Weise Bewässerung, bis Vollendung und Dauerhaftigkeit erreicht sind.“ Die Gärtnerei ist ein Auftun von Welten innerhalb von Welten und wie hier zeige lebende Materie überall, wie fruchtbar sie auf die aufmerksame Sorge und Aufsicht eines Gärtners reagiert, wobei die Sorge dann gewissermaßen zum weltbildenden Prinzip im Sinne Heideggers wird.
Was Epikur allgemein über den Garten formuliert, gilt für ihn insofern auch für das persönliche Glück – auch hier ist ihm zufolge eine Art Kultivierung erforderlich: Glück ist für Epikur, so weiß Harrison, „eine Art Geistesverfassung“, die insbesondere aus „ataraxia“, „Seelenfrieden“ oder „geistiger Ruhe“, besteht (wörtlich bedeutet der griechische Ausdruck „Unerschütterlichkeit“). Diese ataraxia allerdings ist kein natürlicher Zustand, sondern letztlich eine über das tätige Leben, die gärtnerische Tätigkeit kultivierte Geistesverfassung. Für Epikur verstärkt der Garten insofern, wie Harrison bemerkt, „die grundlegende Überzeugung, dass die menschliche Seele einer moralischen, spirituellen und intellektuellen Kultivierung ebenso zugänglich sei wie der Garten einer organischen Kultivierung“. Auch sie sei, wie der Erdboden, eine lebendige Substanz, in die man einen Samen säen und ihr Wachstum bis zur vollen Reife begleiten könne. Epikurs gärtnerische Tätigkeit ist insofern nur schwerlich zu verwechseln mit Hesiods kraftzehrender Arbeit.
Epikurs Garten war zwar auch ein richtiger Küchengarten in dem Lebensmittel und Kräuter angepflanzt wurden, die Nutzpflanzen allerdings dienten gewissermaßen nur zur Existenzsicherung, um wie auf einer Insel weitestgehend unabhängig und autark zu sein. Wichtiger war Epikur, dass die üblicherweise von Sorgen und der die Seele beunruhigenden Angst vor dem Tod geplagten Menschen, die den Garten pflegten, ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass das Leben von Natur aus ein Werden und Vergehen, also sterblich ist und der Mensch insofern nur das natürliche Schicksal teilt. Im Garten wird täglich die Verflechtung von Wachstum und Verfall augenscheinlich und insbesondere im Blühen der Pflanzen führe der Garten, wie der Tod, nicht nur die Beendigung des Lebens vor Augen, sondern auch dessen schönste Vollendung.
Die Angst vor dem Tod sei aber insbesondere auch deshalb unbegründet, weil mit dem Tod auch die menschliche Seele vergehe: Epikur zufolge besteht alles auf Erden aus unvergänglichen Atomen (von „a-tomos“, „unteilbar“), die aufgrund ihrer winzigen Größe zwar nicht mit unseren Sinnen wahrnehmbar, aber dennoch in unendlicher Zahl vorhanden seien. Da sie dauernd in Bewegung sind entstehen immer neue Atomverbindungen, die Atome können so unterschiedliche Formen und Gestalten annehmen – es gibt ein immerwährendes Werden und Vergehen. Dieser Naturgesetzlichkeit unterliege auch der Mensch – und zwar nicht nur mit seinem Körper, sondern auch seine Seele ist Epikur zufolge aus Atomen (von „etwas feinerer Art“) gebildet. Beim Tod des Menschen nun löst sich folglich nicht nur der Körper, sondern auch die Seele wieder in ihre Atome auf, um danach in neue Verbindungen und neues Leben überzugehen. Es gibt also für Epikur keinen Grund für die Angst vor dem Tod, umgekehrt mache es das Kultivieren dieser Gewissheit aber möglich, wie Harrison es formuliert, „dass die ataraxia im Laufe der Zeit in der Seele zur Blüte gelangt“.
Grundlage der Gewissheit und damit der Erkenntnis ist für Epikur dabei allerdings einzig und allein die sinnliche Wahrnehmung (aisthesis), nicht der Glaube. Zur sinnlichen Wahrnehmung – Epikur folgt hinsichtlich der Hierarchie der Sinne Platon – tritt zwar das Denken beziehungsweise die Vernunft hinzu, es muss aber immer wieder durch das, was die Sinne aufnehmen korrigiert werden: Für Epikur entstehen Trug und Irrtum erst aus dem, was das Denken aus dem Wahrgenommenen schließt, weshalb nur die Sinne vor irrigen Meinungen bewahren können und so gewissermaßen die Grundbedingung für die ataraxia, den Seelenfrieden, schaffen.
Die sinnlichen Wahrnehmungen sind es auch, die für Epikur die Empfindungen hervorrufen, von denen Lust (in anderen Übersetzungen: Freude) und Schmerz die Grundformen sind. Die Lust erscheint Epikur dabei als das wahre Gut, der Schmerz als das wahre Übel, weshalb der Mensch zum einen streben und das andere wird vermeiden wollen: Epikur „erhebt den Zustand dauernder Freude zum erstrebenswerten Ziel, ja er geht so weit, daß er schon das Freisein von Schmerz der Freude zuordnet“, schreibt der Übersetzer Paul M. Lasowsky in einem Nachwort zu Epikurs „Philosophie der Freude“ (2018). Sie, die Freude, sagt Harrison, „ist die kostbare Frucht des epikureischen Gartens“.
Beide körperlichen Empfindungen – sowohl Lust als auch Schmerz – werden Epikur zufolge nun allerdings von der Vernunft verwaltet: Die Vernunft ist dabei nicht nur das „Maß jeder Lust“, wie Geyer schreibt, sondern auch die „ausschließliche Instanz bei der Zuteilung der Lust“. Lust ist für Epikur, Geyer folgend, „jede Weise vernunftvermittelter und -gestützter Freiheit von Unlust. Höchstmaß der Lust ist die gänzliche Abwesenheit von Unlust“. Das ist für Epikur nicht steigerbar, denn, wie er selbst sagt, „bietet eine bescheidene Mahlzeit den gleichen Genuß wie eine prunkvolle Tafel, wenn nur erst das schmerzhafte Hungergefühl beseitigt ist“.
Es geht also gerade nicht darum, wie man im Hinblick auf den vermeintlichen Hedonismus von Epikur vermuten würde, sich allen Möglichkeiten zu ergeben, um eine hemmungslose Lustmaximierung und -befriedigung – es handelt sich bei Epikurs Garten also nicht um das Schlaraffenland –, sondern darum, vernünftig zu entscheiden, welche Möglichkeiten man wählt, und welche man meidet. Denn Epikur zufolge ist es zwar so, dass „(n)iemand mit sehenden Augen das Übel (wählt), sondern er wird vom Übel eingefangen, angelockt, als ob ein größeres Gut zu gewinnen wäre“, aber auch „(w)enn wir also die Lust als Endziel hinstellen“, schreibt er, „so meinen wir damit nicht die Lüste der Schlemmer und solche, die in nichts als dem Genusse selbst bestehen. (…) Denn nicht Trinkgelage … machen das lustvolle Leben aus, sondern eine nüchterne Verständigkeit, die sorgfältig den Gründen für Wählen und Meiden in jedem Falle nachgeht und mit allen Wahnvorstellungen bricht.“
Hedonismus bei Epikur heißt insofern immer auch unterlassen können beziehungsweise Maß halten, denn, wie er weiß, „(n)ichts genügt dem, der nicht mit wenigem zufrieden ist“. Aber man sollte sich auch darüber bewußt sein, dass wir nur „ein einziges Mal geboren (sind); zweimal geboren zu werden, ist nicht möglich; eine ganze Ewigkeit hindurch werden wir nicht mehr sein dürfen. Und da schiebst du das, was Freude macht, auf, obwohl du nicht einmal Herr bist über das Morgen? Über dem Aufschieben schwindet das Leben dahin, und so mancher von uns stirbt, ohne sich jemals Muße gegönnt zu haben.“
Gerade auch deshalb hat der Epikureismus, worauf Harrison aufmerksam macht, nichts mit der aktivistischen Einstellung des carpe diem zu tun, insofern als es hier um ein „eifriges Haschen“ geht. Harrison schreibt in diesem Zusammenhang: „Wenn man für den Augenblick lebt, dann verurteilt einen das zu einer endlosen Besorgnis darüber, dass man die Gegenwart nicht anzuhalten vermag, dass sie beständig ins Nichts entgleitet. Für den Epikureer ist die richtige Einstellung, die man im Hinblick auf die Gegenwart kultivieren muss, vielmehr die Geduld, die dazu führt, dass man mit Heiterkeit das hinnimmt, was das Leben in der Gegenwart schenkt, wie auch das, was es versagt.“ Nichts könnte insofern in größerem Widerspruch zur epikureischen Ethik der Kultivierung stehen als der Konsumismus.
Trotz alledem waren die Epikureer keine Asketen, denn „Anfang und Wurzel alles Guten ist die Freude des Magens; selbst Weisheit und alles, was noch über sie hinaus geht, steht in Beziehung zu ihr“, sagt Epikur. Sie verherrlichten den Körper zwar nicht, verschmähten ihn aber auch nicht, da Glück für sie durchaus ein körperliches Ereignis war. Interessant in diesem Zusammenhang ist dennoch, dass bei Epikur die sexuellen Begierden (Lüste) nur wenig bedacht wurden beziehungsweise offenbar den selben Stellenwert hatten wie beispielsweise Hunger und Durst. In dem Brief eines Epikureers, der wohl die entsprechende Überzeugung Epikurs wiedergibt, heißt es dazu: „Ich habe gehört, daß dein Begehren besonders stark der Liebe zugeneigt ist. Wenn du dabei die Gesetze nicht verletzt, die Regeln des Anstands beachtest, deine Mitmenschen nicht kränkst, deinem Körper keinen Schaden zufügst und die Grundlagen deiner Existenz vergeudest, dann folge dieser Neigung nach deinem Gutdünken. Allerdings erscheint es mir schwierig, sich dabei nicht in den Netzen einer dieser Gefahren zu verfangen. Die Befriedigung der sexuellen Begierden hat niemals Nutzen gebracht und man muß zufrieden sein, wenn sie wenigstens keinen Schaden anrichtet.“
Bougainville auf Tahiti
Ein Vulkanberg auf einer Insel in der Ausdehnung etwa von Paris, weißer Strand umsäumt mit einer Palmenborte, umgeben von Korallen, erwachsen aus dem Meeresboden … Jahrmillionen hat es gedauert, bis um den Vulkan ein Saumriff entstanden ist. Während der Berg bei jeder tektonischen Veränderung erodierte und absank, ist der Korallenring gewachsen. Winzige Polypen und einzellige Algen, Zooxanthellen, erzeugten den harten Kalk der Steinkorallen. Als die Vulkanreste unter der Meeresoberfläche verschwanden, blieb ein Atoll mit einer Lagune und einem knapp über das Meer hinausragenden Ring aus Korallen. Auf ihm siedelten sich Pflanzen an und bildeten motus – idyllische Inseln von überschaubarer Größe, die bei Stürmen und Taifunen, wie sie hier in der Südsee vorkommen, vom Meer überschwemmt werden.
Etwa 13.000 solcher Atolle ragen im Pazifik oft nur wenige Zentimeter über den Meeresspiegel. Über die Erde verteilt haben Algen und Polypen etwa zwei Millionen Quadratkilometer mit solchen Unterwassergärten bedeckt. Und auch hier in diesem tropischen Meer finden sich für das Wachstum der Korallen ideale Bedingungen, wobei die Wassertemperatur 36 Grad Celsius auf keinen Fall überschreiten darf, das würden die empfindlichen Blumentiere nicht überleben …
Dann ertönt der Ruf „Land in Sicht!“, es war der 2. April 1768. Als der französische Entdecker Louis Antoine de Bougainville (1729-1811) an diesem Tag den Vulkanberg zum ersten Mal sah, er war nicht der Erste hier, gab er ihm den Namen „Le Boudoir“, nahm damit das Land genauso wie die umliegenden Inseln für Frankreich in Besitz und begründete damit Französisch-Polynesien.
Noch eine Zeit lang lavierte er entlang der Küste, dann entdeckte er eine Bai, auf die er mit vollen Segeln zusteuerte, als er eine Piroge bemerkte, die, wie Bougainville schreibt, „vom Meer kam und mit Segeln und Paddeln nach der Küste eilte. Sie überholte uns und vereinigte sich mit vielen anderen von allen Ecken der Insel, die uns entgegenkamen. (…) In kurzer Zeit versammelten sich über 100 Pirogen …“, besetzt mit Männern, mit denen sich zunächst ein reger Handel mit den Früchten des Landes – Wein wird in Tahiti erst neuerdings angebaut – im Tausch gegen allerlei Nichtigkeiten der Franzosen entwickelte. „Bei dieser ersten Zusammenkunft sah man auch keine Weiber …“, läßt uns Bougainville wissen, das sollte noch ein paar Tage dauern, bis sich das Schauspiel wiederholte. Dann aber fanden sich in den Pirogen „viele Weiber, die den Europäerinnen in Ansehung ihres schönen Wuchses den Vorzug streitig machen konnten und die auch sonst nicht häßlich waren. Die meisten dieser Nymphen waren nackend … sie machten allerlei freundliche Mienen gegen uns, beobachteten aber doch bei aller Naivität eine gewisse Art von Schamhaftigkeit; sei es, daß die Natur dem anderen Geschlecht allenthalben eine gewisse Scheu eingerägt hat, sei es, daß sogar in einem Land, wo noch die Freiheit des Goldenen Zeitalters herrschte, die Frauen das zu verhehlen wissen, was sie am meisten wünschen. Die Männer handelten freier und offener; sie suchten uns zu bewegen, eine Frau zu wählen, mit ihr an Land zu gehen, und sie gaben uns zu verstehen, auf welche Art wir uns mit ihr beschäftigen sollten. Man kann sich vorstellen, wie schwer es angesichts eines solchen Schauspiels hielt, 400 junge französische Seeleute, die 6 Monate lang keine Frauensperson mehr gesehen hatten, zu bändigen …“
Für die Franzosen musste Tahiti trotz der tropischen Hitze wie eine Paradiesinsel erscheinen und mit ihren sexuellen Reizen vermutlich attraktiver als die „Champs-Élysées“, die elysischen Felder, in ihren Träumen … Begeistert wurden die Männer von den Insulanerinnen mit Blumen und, ihre Hand auf die Brust der Matrosen gelegt, dem Ruf „Tayo“ begrüßt, was soviel wie „Freund“ bedeutet, dann wurde Bougainville in das Haus des „Haupts der Region“ geführt, wo er und seine Begleiter unter anderem einen, wie er schreibt, „ehrwürdigen Alten antrafen … Der Alte war der Vater unseres Gastgebers. (…) Dieser ehrwürdige Mann schien unsere Ankunft kaum zu bemerken, er zog sich zurück, ohne auf unsere Bewillkommnung zu achten, ohne weder Furcht noch Bewunderung, noch Neugierde zu bezeigen. Er nahm an dem Erstaunen der anderen über uns keinen Anteil; seine gedankenvolle und ernste Miene schien gleichsam eine Furcht anzudeuten, daß die glücklichen Tage, welche er so ruhig zugebracht, durch die Ankunft der Fremdlinge gestört werden möchten.“
So weit der Bericht Bougainvilles. Und er sollte mit seiner Einschätzung recht behalten, tatsächlich machte sein „verzaubertes Schiffsvolk“ die Eingeborenen als Gegenleistung für die offenherzige und freizügige Begrüßung mit der Zivilisation bekannt: der Errungenschaft des Eigentums und der Syphilis zum Beispiel … Wie bei der Geschichte der Pandora, nur mit verkehrten Geschlechterrollen, sollten nun alle Übel dieser Welt über die unberührte Insel hereinbrechen. Der „ehrwürdige Alte“ wusste es wohl, Epikur ahnte es bereits, denn, wie er schon sagte, „(w)er des Guten, das er erfahren, nicht mehr gedenkt, ist am gleichen Tag ein Greis geworden“ …
Mit Tahiti und später der ganzen von James Cook bereisten „Terra australis incognita“ war eine Welt entdeckt, die mit ihrem nahezu ideal erscheinenden, der Natur zugewandten Leben in Freiheit die Fantasie der Menschen hierzulande herausforderte. Doch mit der Begeisterung wuchs auch die Skepsis – beispielsweise beim französischen Aufklärer und Autor der „Encyclopédie“ Denis Diderot (1713-1784). In seiner „Abschiedsrede des Greises“, die sich direkt auf Bougainvilles Reisebericht bezieht, gibt er dem „ehrwürdigen Alten“ Bougainvilles eine Stimme, als die InsulanerInnen zum Abschied mit Blumen an den Strand eilten und ihre Gefährten in die Arme schlossen und weinten: „Weint, unglückliche Tahitianer, weint ruhig“, sprach der Greis, „aber weint über die Ankunft und nicht über die Abfahrt dieser ehrgeizigen und bösen Menschen. (…) … so werden sie eines Tages wiederkommen um euch in Ketten zu legen, euch niederzumachen oder auch ihren Ausschweifungen und Lastern zu unterwerfen. Eines Tages werdet ihr unter ihnen dienen, ebenso verdorben, niedrig und unglücklich wie sie. (…) Dann wandte er sich an Bougainville und fügte hinzu: `(…) Wir sind unschuldig, wir sind glücklich, und du kannst unserem Glück nur schaden. (…) Wir sind frei; du aber hast nun in unserem Boden den Vorwand für unsere künftige Versklavung vergraben. (…) Alles, was wir brauchen und was gut ist, besitzen wir ja. Sind wir verachtenswert, weil wir es nicht fertiggebracht haben, überflüssige Bedürfnisse zu erfinden? (…) Wenn du uns überredest, die enge Grenze des Bedürfnisses zu überschreiten, wann werden wir dann aufhören zu arbeiten? Wann werden wir genießen? Wir haben die Summe unserer jährlichen und täglichen Mühen möglichst klein gehalten, weil unserer Meinung nach nichts der Ruhe vorzuziehen ist. Kehre in dein Land zurück, rege und plage dich dort, soviel du willst; aber laß uns in Ruhe. Rede uns weder deine künstlichen Bedürfnisse noch deine trügerischen Tugenden ein …´ Sobald er zu Ende gesprochen hatte, verschwand die Menge der Eingeborenen. Tiefes Schweigen herrschte auf der ganzen Insel. (…) Es war, als hätten die Luft und das Meer, beide empfänglich für die Stimme des Alten, sich angeschickt, ihm zu gehorchen.“ Die Blumen lagen vermutlich zertrampelt im sandigen Boden …
Das Sandmeer
Die Sahara ist etwa sieben Millionen Jahre alt und die größte Trockenwüste der Welt, doch nur 25 Prozent ihrer 9,4 Millionen Quadratkilometer (nach dem Stand von 2012) sind mit Sand bedeckt. Der größte Teil des restlichen Gebietes ist fast genauso trocken und heiß – die Durchschnittstemperatur im Sommer liegt bei über 30 Grad Celsius, Maximalwerte von über 37 Grad Celsius sind nicht selten –, besteht allerdings hauptsächlich aus Geröll, felsigen Ebenen und Plateaus sowie einigen wenigen grünen Inseln, Oasen, mit Palmen und ständigem Wasservorrat – dem einzigen Wasser, sieht man von den Bergen ab, deren Spalten manchmal auch genügend Feuchtigkeit speichern um etwas Vegetation zu ermöglichen. Fruchtbare Regionen liegen ansonsten nur am Rande der Wüste: die Küstenebene des Mittelmeers, das Niltal im Osten sowie die sudanesischen Savannen, grasige Steppen, im Süden. Im Westen hingegen reicht die Wüste direkt bis zum Atlantik.
Die Bedeutung von Quellen ist in dieser wasserarmen Region für die dort lebenden Menschen immens und für uns hierzulande kaum nachzuvollziehen. Es wundert daher nicht, dass für die Araber die Oase dann zum Sinnbild für das islamische Paradies wird und als „Garten Eden“ – der im Christentum nur das ursprüngliche Paradies, jenes von Adam und Eva, meint und am Ende der Zeit nur als Durchgangsstation in ein kaum bebildertes himmlisches Paradies, das Reich Gottes, fungiert – ganz und gar irdische Qualitäten zugeschrieben werden, die den Männern, denn für sie nur scheint das Paradies gemacht, nach einem geduldigen, entbehrungsreichen Leben in der kargen Wüste offenbar werden: Wie für Bougainvilles Matrosen nach Monaten auf See plötzlich Tahiti am Horizont auftaucht, erscheint mit dem islamischen Paradies der grüne Garten einer Oase aus der unendlichen Weite der staubigen Wüste – und es ist keine Fata Morgana, keine Sinnestäuschung, sondern in diesem Garten Eden bleiben gerade keine sinnlichen Vergnügen verwehrt: sprudelnde Quellen und huris, die hier in dieselbe Kategorie fallen wie die reichlichen Früchte des Gartens …
Bis dahin allerdings dauerte es noch eine Weile und man mußte sich um alles Lebensnotwendige selbst sorgen. Deshalb auch durchziehen uralte Handelsrouten die Wüste. Schon lange bevor die europäischen Sklavenhändler im 15. Jahrhundert an der Küste Guineas im südlichen Westafrika angekommen waren, fand der transsaharische Handel statt, zunächst, vor etwa 3000 Jahren durch das Volk der Garamanten, das in der südlibyschen Sahara-Region beheimatet war und „aithiopische Höhlenbewohner“ zur Arbeit versklavte, wie uns Herodot berichtet, und dann ab dem 8. Jahrhundert organisiert von arabischen Eroberern.
Die Araber durchquerten die „Sahara“, was auf Arabisch „Wüste“ bedeutet, in alle Richtungen und entwickelten dazu die Technik des Kameltransports, den Karawanenverkehr, entscheidend weiter. Die Araber waren es auch, die die Sahara mit einem Meer verglichen, das seine „Ufer“ („Sahel“) hat und entsprechend wird auch das Kamel gerne als „Wüstenschiff“ bezeichnet. Für eine Karawane schlossen sich mehrere Händler zusammen, die die Kamele dann von in der Wüste lebenden Nomaden samt verantwortlichem Kamelführer mieteten. So konnte das Risiko eines wirtschaftlichen Totalverlusts vermieden werden (anders als beispielsweise im Seehandel, wo die Händler zugleich Besitzer des Schiffes waren). Eine transsaharische Karawane bestand dabei normalerweise aus tausend bis fünftausend Kamelen samt Händlern, die gewöhnlich von einem erfahrenen Wüstenbeduinen als Karawanenführer in den kühleren Wintermonaten zum Ziel geleitet wurden. Da am Tag etwa dreißig Kilometer zurückgelegt werden konnten, benötigte man für die Durchquerung der Sahara von Süd nach Nord rund siebzig Tage, Transitorte wie Timbuktu konnten deshalb nur etwa ein bis zwei größere Karawanen jährlich erwarten.
Neben dem Handel mit Gold, das insbesondere auch aus der Region Bambuk im Tal des Senegal sowie Buré im heutigen Guinea stammte – man geht von etwas über einer Tonne pro Jahr aus –, dominierte insbesondere auch der Sklavenhandel den transsaharischen Karawanenverkehr. Der Menschenhandel etablierte den Transsahara-Handel sogar erst, wie Ralph A. Austen in „Sahara“ (2012) bemerkt. Anders als dann später beim atlantischen Sklavenhandel, wurden diese Menschen, überwiegend Frauen, noch nicht für schwere körperliche Arbeiten in der Landwirtschaft eingesetzt, sondern, wenn sie ein schlechtes Los erwischt hatten und nicht als Bedienstete eingesetzt wurden, für Tätigkeiten „tatsächlich im Innern der Wüste, sei es in Gärten und Bewässerungsanlagen von Oasen, in Salzminen oder als örtliche Karawanenbegleiter“.
Man schätzt, dass zwischen 800 und 1900 etwa zehn Millionen Menschen im Sahara-Raum versklavt wurden, wobei etwa vier Millionen durch die Sahara getrieben wurden. Hinzu kommen dann, mit der Ankunft der Europäischen Sklavenhändler, noch etwa dreizehn Millionen Menschen aus der Sub-Sahara-Region, mindestens zwei Drittel davon Männer, die als Arbeitssklaven für die landwirtschaftlichen Plantagen in der Neuen Welt gewaltsam in Schiffe gepfercht wurden – noch dazu in einem wesentlich kürzeren Zeitraum: der europäische Sklavenhandel vollzog sich im wesentlichen zwischen 1650 und 1850 und hatte damit „eine intensivere Auswirkung auf Afrika“, wie Austen bemerkt.
Eines der Zentren des Sklavenhandels war Guinea, wo sich die Portugiesen nach 1400 an den dortigen Küsten einrichteten. Weiter ins Landesinnere, zu den Savannen des Sudan, konnten sie von dort aus nicht vorstoßen, da der westafrikanische Waldgürtel sich nicht auf dem Wasserweg durchqueren läßt. Deshalb erbeuteten sie ihre Opfer hauptsächlich hier, in diesem Waldgebiet, oder arrangierten sich mit afrikanischen Händlern vor Ort, wie Austen berichtet.
Robinson Crusoe
Nach Guinea zieht es auch einen englischen Abenteurer namens Robinson, der seinen Nachnamen Crusoe erhält, da sein Vater ein gewisser Kreutzner aus Bremen war und es „in England üblich ist, deutsche Namen zu verunstalten“, wie Daniel Defoe (1719) schreibt. Robinson war sein ganzen Leben lang, wie er sagt, „zu keiner ernsthaften Beschäftigung angehalten“, von Arbeit ist keine Rede, und hatte deshalb genügend Zeit, um sich „mit abenteuerlichen Plänen zu beschäftigen“. Deshalb Guinea, von wo er gerade zurück ist, nachdem er, kaum von seiner Heimatstadt York aus in London angekommen, einen Kapitän kennengelernt hatte, der ihn dorthin mitnahm, um Handel zu treiben. Nun also noch einmal, mit einem anderen Kapitän – und weniger erfolgreich, denn, wie Robinson berichtet: Als sich sein Schiff zwischen den Kanarischen Inseln und der afrikanischen Küste befand – da, wo die Sandwüste direkt ans Meer reicht übrigens –, machte ein türkisches Seeräuberschiff auf sie Jagd, und es gelang den Piraten, sie zu kapern. Als Gefangene wurden sie in den marokkanischen Seehafen Salé gebracht, wo ihn der Kapitän als Sklaven behielt – der ihm, weil sich Robinson „als geschickt erwies“, beim Fischen behilflich sein mußte. Von Arbeit keine Rede.
Erst zwei Jahre später gelingt Robinson die Flucht in einem kleinen Boot, mit dem er südwärts fahren wollte. Er berichtet: „Meine Absicht war, den Fluss Senegal und die Gegend um Kap Verde zu erreichen, wo ich ein europäisches Schiff anzutreffen hoffte, da mir bekannt war, dass die Handelsschiffe, die nach der Küste von Guinea fuhren, dieses Kap ansteuerten.“ Und tatsächlich hat Robinson Glück, denn er wird von einem portugiesischen Schiff aufgenommen, das nach drei Wochen endlich einen sicheren Hafen für Robinson anlief – in Brasilien.
Mit etwas Geld als Erlös vom Verkauf des Fluchtbootes an den portugiesischen Kapitän in der Tasche, beginnt Robinson eine neue Existenz: Er erwirbt etwas Land, und erstmals in seinem Leben „musste ich alles, wessen ich bedurfte, mit meiner Hände Arbeit beschaffen“, wie Robinson sagt. Allerdings nicht lange, denn mit dem ersten Gewinn kaufte er sich „einen Negersklaven“, wie er es rassistisch nannte, und schließlich immer mehr, bis das inzwischen zur Zuckerrohrplantage angewachsene Landgut „ansehnlichen Gewinn“ brachte.
Robinson hätte inzwischen, wie er sagt, “wohl mein Glück gemacht“. Aber stattdessen ergab er sich seiner „Neigung“ und beschloss, sich „noch mehr in der Welt umzusehen“. Er wollte erneut „ein Schiff nach Guinea ausrüsten“, um „Goldstaub, Korn, Elfenbein usw., vor allem aber auch Neger zur Sklavenarbeit einzuhandeln … um sich von dort Sklaven zu beschaffen.“ Das also war der Plan, über den Robinson aus Langeweile vier Jahren lang in der Hitze der brasilianischen Tropen gebrütet hat. Von Arbeit war keine Rede mehr … und dann stach er in See.
Es war der 30. September 1659 als der 31jährige mit seinem Schiff in einen Sturm geriet und wieder einmal von den Ereignissen überwältigt wurde. Sein Schiff strandete auf einer Sandbank. Da er fürchtete, dass es zerbrechen könnte, beschloss er, sein Glück im Beiboot zu versuchen, das aber von einer Welle umgekippt wurde. Mit Mühe überlebte er als einziger den Kampf im Wasser, bevor ihn eine Welle ans Ufer warf. Er war gestrandet auf einer Insel nördlich der Orinokomündung – etwa da, wo Kolumbus auf seiner dritten Reise außer Sichtweite des Landes Süßwasser aus dem Atlantik nahm und das Paradies in der Nähe vermutet hatte –, noch östlich der kleinen Karibischen Inseln: auf Tobago, auch die „Robinsoninsel“ genannt, oder wie er sie nennt: „Insel der Verzweiflung“.
Wie im Paradies also fühlte sich Robinson auf seiner Insel nicht. Da aber das Wrack nicht gänzlich zerstört auf der Sandbank liegen blieb, konnte er in den nächsten Tagen zumindest einige Utensilien daraus bergen, die ihm zunächst sein Überleben sicherten, unter anderem Leinwand, aus der er sich bald „wegen der starken Sonnenstrahlung“ und „der großen Hitze“ neue Kleidung nähte und einen Hut, „da die Sonne zu sehr brannte. (…) Viel Mühe verwandte ich auch auf einen Sonnenschirm, da ich ihn dringend benötigte …“
Was tun?
Einer der spektakulärsten Errungenschaften der Menschheit ist sicherlich die Zähmung des Feuers gewesen. Sie steht am Anfang der Entwicklung des modernen Menschen, und Brennholz, darauf macht der Soziologe Lars Clausen in „Produktive Arbeit, destruktive Arbeit“ (1988) aufmerksam, dürfte der erste menschliche Vorrat gewesen sein. Noch im lateinischen wird Holz als materia („Mutterstoff“) bezeichnet. Brennholz war insofern vielleicht das erste, um das sich der Mensch wirklich methodisch kümmerte: Um das Feuer am Leben zu erhalten, muss rechtzeitig Brennholz nachgelegt werden, weshalb es sich anbietet, es dicht genug am Feuer zu lagern, aber doch weit genug entfernt, damit es nicht vorzeitig wegbrennt. „Diese optimalen Distanzen“, bemerkt Clausen, „sind etwas, was man materiell vor Augen hat – da glüht die Feuerstätte, dort wartet der Brennstoffvorrat, zwischen beiden erscheint der Weg. Im alten Griechischen heißt metá inmitten, hodós der Weg, wir ziehen es zu Methode zusammen. Er macht einem die Zukunft betretbar, der Vorrat macht sie handgreiflich: Diesen Winter können wir dank dieses geronnenen Sammelfleißes hier wohnen bleiben. Ein ungeheurer theoretisierender Schub mit konkreten Praxisbezügen, materiell vor Augen gerückt, methodisch ideenfördernd (zielbetont, abstraktionsgünstig, überlegungsdienlich) – kein Wunder, daß in der griechischen Sage der Titanen Prometheus, älter als die regierenden Götter, zugleich Feuerbringer und Künstelehrer für die Menschen war …“
Gewissermaßen quer zur Menschheitsgeschichte steht Robinson. Seine einzige Fähigkeit ist, so Clausen, die „sprunghafte Unfähigkeit, irgendetwas kalten Blutes am Stück zu tun“. Er ist ein Getriebener – im Zweifelsfall vom Wind in den Segeln –, hat nie gelernt methodisch und zielorientiert zu arbeiten. Dann aber geschieht folgendes: „Als ich nämlich gerade meinen Plan für den Bau von Zelt und Keller entwarf, geschah es, daß aus einer dicken, dunklen Wolke ein Regenguß hervorbrach, dazu ein jäher Blitz, gefolgt von einem starken Donnerschlag … Ich erschrak nicht so sehr über den Blitz als über einen Gedanken, der mir seinerseits mit der jähen Gewalt des Blitzes in den Sinn kam: Ach, mein Pulver! Das Herz sank mit im Leib bei der Vorstellung, wie mit einem Schlag mein ganzes Pulver in die Luft gehen konnte … (…) So großen Eindruck machte dieser Vorfall auf mich, daß ich, nachdem der Sturm vorüber war, alle meine Arbeit, das sämtliche Bauen und Schanzen links liegen ließ und daran ging, Beutel und Schachteln zu verfertigen und dahinein das Pulver in kleinen Partien zu verteilen, in der Hoffnung, es möchte so wenn auch Unglück geschähe, doch nicht das ganze Pulver auf einmal Feuer fangen …“
Robinson beginnt sich zu organisieren und erstmals methodisch zu arbeiten – und entwickelt sich langsam: Anfangs ernährt er sich nur vom geborgenen Schiffsvorrat, dann beginnt er seine Umgebung zu erkunden und wird Jäger und Sammler, baut sich eine Unterkunft und richtet sich ein (wird gewissermaßen sesshaft), entwickelt neues Werkzeug, experimentiert mit der Zucht von Ziegen – und lernt so, mit seiner neuen Umgebung umzugehen, bevor er schließlich, eher zufällig zwar, die Möglichkeit des Getreideanbaus für sich entdeckt: „Eines Tages fiel mir der Beutel mit den Getreideresten in die Hand, den ich vom Schiff mitgebracht hatte. Als ich ihn untersuchte und nichts als Hülsen und Staub fand, schüttete ich ihn enttäuscht aus. Zu meinem Erstaunen fand ich an der Stelle nach etwa einem Monat Getreidehalme aus der Erde kommen, die später einige Gerstenähren trugen. Sorgfältig sammelte ich jedes Körnchen, um Saatgetreide zu haben. Doch es dauerte ganz vier Jahre, bis ich so viel erntete, dass ich etwas davon für meine Nahrung gebrauchen konnte.“
Etwas Entscheidendes war geschehen, wie Clausen bemerkt: „Indem der arme Robin mit seiner Welt umgeht, lernt er erstmals, mit sich selbst umzugehen. Er macht dabei grausame Fehler. Aber, indem er baut und sät, schenkt der augenblicks grad Handelnde dem morgen Bedürftigen etwas. Und das geht nur, wenn Robinson-heute und Robinson-morgen irgendetwas miteinander zu tun haben.“ Er handelt antizipatorisch auf eine Genugtuung – letztlich das Glück – in der Zukunft hin und baut so zwischen sich („ich heute“) und dieser Fiktion („ich morgen“) eine Interessenidentität auf, die, wie Clausen feststellt, „überlebensnotwendig ist und insoweit biologisch (anthropologisch) abgestützt“.
Arbeit schafft insofern Identität, wie Clausen weiters sagt, „aber nur auf Kosten dessen, daß sich die ich-identische Person selber ausbeutet, mit sich selber auch antagonistisch … tauscht. (…) Das `ich-selbst´ ist nämlich schwer zu finden, wenn es sich nicht im Spiegel eigner Arbeit (mit rituell gelenktem Blick) als gestern gearbeitet habend und morgen vielleicht genießend erkennt.“
Robinson hat auf der Insel begonnen an sich zu arbeiten, sein situationsgebundenes Verhalten in ein zielorientiertes Handeln zu verwandeln und so gewissermaßen eine Vorstellung von seinem zukünftigen Leben entwickelt, und darüber erst so etwas wie eine Identität – dann allerdings wird er krank, „ich bemerkte, dass ich Fieber hatte“, sagt Robinson. „Inbrünstig betete ich zu Gott, mich nicht allein elend umkommen zu lassen. (…) Langsam genas ich und genoss mein wieder geschenktes Leben freudig. (…) Ich vergaß nicht, Gott dafür zu danken, und ich las nun auch regelmäßig in der Bibel und fand Trost und Kraft im Gebet … So bemächtigte sich meiner eine immer größere Zufriedenheit und ich begann, mich mit meinem Schicksal abzufinden.“. Schließlich bemerkt Robinson außerdem, dass er „die ganze Zeit über keinen Sonntag gehalten (hatte) …“
Mit der Einführung des Sonntags beziehungsweise eines arbeitsfreien Ruhetages beginnt Robinson, den zeitlichen Ablauf seines Lebens auf der Insel neu zu organisieren, zu rhythmisieren. Diese Eigenrhythmisierung ist es, die Reflexion ermöglicht – durch eine Zeit der Untätigkeit, über die erst so etwas wie Abstand zum eigenen Handeln möglich wird – jenen Abstand, der es erlaubt, wie Clausen sagt, „von sich selbst beobachtenden, folgernden und urteilenden Abstand“ zu nehmen. Hinzu kommt dann ein Element, für das bisher noch gar keine Zeit war: die (Arbeitsabschluß-)Feier. „Arbeit und Arbeitsabschluß-Feier hängen dergestalt voneinander ab, daß sie beide die gleichen Elemente von Arbeitsfreude und -leid und von Reflexion aufweisen“, sagt Clausen. Arbeit und Feier treten so gewissermaßen in ein Wechselverhältnis in dem sie sich wechselseitig präsent halten – als „ein reflexiver („vergeistigter“) Wechsel-Verweis von stets zugleich realistischem und utopischem (furcht- und hoffnungsvollem) Charakter“. Nur so ermüdet und erschöpft Arbeit nicht nur, wie bei Hesiod, sondern kann auch Freude bereiten und, wie Robinson sagt, zur „Zufriedenheit“ führen. Die Untätigkeit, die das Fest definiert, ist deshalb nicht einfach nur Trägheit, sondern vielmehr eher eine Art Heiligung.
Allein deshalb kann Robinson am Ende des zweiten Jahres auf der Insel sagen: „Auch diesmal feierte ich den Jahrestag meiner Errettung und Landung auf dieser Insel … Vor allem war ich voll Dankbarkeit gegen Gott. Wie oft hatte ich in Verzweiflung mein Los verwünscht und mit Gott gehadert. Nun aber“, nach Einführung des arbeitsfreien Sonntags, „hatte mich das eifrige Lesen in der Bibel getröstet“, das zum regelmäßigen, sonntäglichen Ritual geworden war, „und ich war ruhig und fast glücklich geworden“, und worum sonst könnte es gehen. „Mit solchen Gedanken ging es in mein drittes Jahr auf dieser Insel, das sich kaum von den vorigen unterschied“, allein er hat inzwischen einen Rhythmus eingeführt: „Mein Leben war geregelt, es bewegte sich zwischen Nahrungsbeschaffung, Gebet und Arbeit, von der manche wegen des Fehlens von Werkzeugen recht mühsam war“, was aber nicht mehr zur Verzweiflung führte angesichts der reflexiv gewonnen Erkenntnis, dass „Geduld und fleißige Arbeit … auch das gelingen (ließen).“ Er hat auf der Insel gelernt geduldig zu sein …
Und so verwandelte sich Robinson im Verlauf der Jahre auf der Insel über die Arbeit von einem haltlosen Individuum, das sich nur jeweils auf den Augenblick bezogen verhalten – Heidegger hätte vielleicht gesagt „benehmen“ – kann, zu einer gefestigten Person mit eigener Identität, die ihr Leben reflektiert und fortan insofern zumindest die Voraussetzungen besitzt, intentional zu handeln. Entscheidend dafür jedoch war die Etablierung eines Ruhetages – einer Zeit der Untätigkeit, die der Muße dient, in der man die Langeweile gewissermaßen kultiviert, wie Epikur den Garten.
Und als er schließlich am 19. Dezember 1686 nach einem Aufenthalt von 28 Jahren, 2 Monaten und 19 Tagen gemeinsam mit seinem Papageien und „Freitag“, den er zwischenzeitlich vor Kannibalen gerettet hat, die Insel verlässt, fällt es ihm gewiss nicht schwer, sein altes Leben zurück zu lassen, wie überhaupt auch alles andere bis auf das Geld und das Edelmetall, das er damals an Bord des Schiffswracks fand – und seinen selbstgemachten Sonnenschirm ….