Essay

paradise lost

Der paradiesische Idealzustand ist verloren, Schönheit gibt es zwar noch vereinzelt in der Natur, aber nur „wer sie heraus kann reyssen“, sagt Albrecht Dürer, „der hat sie“. Das tut er zum Beispiel bei seiner Zeichnung „Das große Rasenstück“, wo Kunst ihre Zuständigkeit fürs Gotteslob verliert. Stattdessen wird Dürer hier gewissermaßen selbst zum Gärtner …

„Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.“

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1891)

„Der sogenannte Fortschritt, den die Menschen heutzutage vorantreiben und der sich etwa darin zeigt, dass Häuser errichtet, Wälder gerodet und alle großen Bäume gefällt werden, entstellt die Landschaft bloß und macht sie zahmer und schäbiger. Das wäre mir ein Volk, das mit dem Verbrennen der Zäune begänne und den Wald stehen ließe! Ich erinnere mich einer Szene: halb verfallene Zäune zogen sich weit durch die Felder und endeten verloren in der Prärie; da kam so ein weltlich gesinnter Geizkragen, begleitet von einem Landvermesser, und wollte den Verlauf der Grenzen seines Grundstücks prüfen, während rings der Himmel die Erde berührte; er aber bemerkte die Engel nicht, die dort hin- und herschwebten, sondern suchte den Boden ab nach einem alten Pfostenloch – mitten im Paradies. Ein zweiter Blick, und ich sah ihn inmitten eines morastigen, stygischen Sumpfes, umringt von Teufeln; seine Grenze immerhin hatte er zweifellos gefunden – drei kleine Steine markierten die Stelle, wo einst der Pfahl eingeschlagen stand –, und als ich näher hinschaute, bemerkte ich, dass sein Landvermesser der Fürst der Finsternis war.“

Henry David Thoreau, Vom Wandern (1862)

„Tugend! Abgeschmackt! In uns selber liegts, ob wir so sind oder anders. / Unser Körper ist ein Garten und unser Wille der Gärtner, / so daß, ob wir Nesseln drin pflanzen wollen oder Salat bauen, / Ysop aufziehn oder Thymian ausjäten, / ihn dürftig mit einerlei Kraut besetzen / oder mit mancherlei Gewächs aussaugen, / ihn müßig verwildern lassen oder fleißig in Zucht halten / – ei, das Vermögen dazu und die bessernde Macht / liegt durchaus in unserm freien Willen. / Hätte der Waagbalken unsres Lebens nicht eine Schale von Vernunft, / um eine andre von Sinnlichkeit aufzuwiegen, / so würde unser Blut und die Bösartigkeit unsrer Triebe / uns zu den ausschweifendsten Verkehrtheiten führen; …“

Jago gegen Ende des I. Aktes in William Shakespeares Othello (1604)

Dürers Vertreibung des Herrn aus dem Paradies

Die erst nachträglich so benannten „Betenden Hände“ gehören zweifelsohne zu den bekanntesten Zeichnungen von Albrecht Dürer (1471-1528), der vor wenigen Tagen, am 21. Mai, 550 Jahre alt geworden wäre. Entstanden sind sie als Vorstudie zu einem Altarbild im Jahr 1503, zu einer Zeit, in der Bilder noch in erster Linie für den Glauben geschaffen wurden. Die „Hände“ hingegen, so betitelte Dürer selbst die Zeichnung, wirken in ihrem naturalistischen Stil weniger als religiöses Motiv, sondern symbolisieren vielmehr eine „universelle Geste voller Unschuld“, wie Arno Widmann schreibt, „sie scheinen sich gerade zusammengefunden zu haben.“

Albrecht Dürer,“Betende Hände“ (1503)

Dürers zeichnerische Studien wie die „Betenden Hände“ überdauerten die Zeit, obwohl ihnen lange keine Bedeutung zugemessen wurde. Dabei sind sie in ihrem detailgetreuen Realismus und technischen Perfektionismus geradezu hypermodern – und wohl auch insofern, als ihnen, wie es an anderer Stelle heißt, „alles Priesterliche“ fehlt. Es geht hier nicht mehr um die anspielungsreiche Ikonographie eines vermeintlich religiösen Bildes, nicht mehr um Stilisierung des vermeintlich Göttlichen, sondern was Dürer zu ergründen versucht, sind die „Realien des Lebens“, ist das Sichtbare und das Wissbare: Bei Dürer sind, wie der Kunsthistoriker Hans-Joachim Müller sagt, „immer alle Wunder von dieser Welt“. Ihn interessiert – Dürer lebt schon in der Renaissance – was hinter dem „Schein der Welt“ verborgen liegt, und darin ist er womöglich moderner als die christlichen Kirchen bei der Aufarbeitung ihrer Skandale heutzutage, wenn es darum geht, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Die Begeistung der Kirche für Albrecht Dürer dürfte sich in Grenzen halten … und das nicht allein wegen dem christusgleichen „Selbstbildnis im Pelzrock“ (1500), sondern das gilt auch für seine Tuschzeichnung „Selbstbildnis als Akt“ (1499). Dürer protokolliert hier seinen ganzen Körper detailreich in seiner Nacktheit, kein Feigenblatt verdeckt sein Genital – und das noch dazu in einer Zeit, in der sich Dürer gar nicht in Lebensgröße im Spiegel betrachten konnte, wie der Kunstwissenschaftler Christof Metzger erklärt: „Es gab damals noch keine großen Spiegel, vor die Dürer sich hätte stellen und abzeichnen können. Dieser Ganzkörper-Akt wurde zusammengesetzt aus verschiedenen Teilansichten“, sagt er in einem Gespräch mit Arno Widmann und fährt fort: „Schauen Sie sich die Beine an. Sie sind zu lang.“ Und auch der Kopf führe „ein Eigenleben“, genauso wie die Hüfte.

Albrecht Dürer, „Selbstbildnis als Akt“ (1499)

„Je näher man hinschaut“, erklärt Widmann folglich (der bemerkt, dass „[k]ein Fitzelchen Körperbehaarung“ zu erkennen sei und zu dem Schluß kommt: „Es muss ein Schönheitsideal für nackte Männer gegen haben. Dürer erfüllt es. Das zeigt er uns“), „desto mehr zerfällt der schöne Männerkörper.“ Es ist ein bisschen wie bei Picasso, der versucht hat, die Wirklichkeit aus unterschiedlichen Perspektiven zu erfassen und diese verschiedenen Ansichten zu einem Bild zusammenfügt. Dürer hingegen hat sein Selbstbildnis nicht einfach aus verschiedenen Zeichnungen zusammengesetzt, sondern versucht die Einzelstudien in einer Zeichnung organisch zusammenzufügen.

Dürers Zeichnungen bestechen durch die Darstellung der Details. Im Selbstbildnis widmet er beispielsweise den vertrackten Knochen- und Muskelbildungen im Schulterbereich größte Aufmerksamkeit. „Die genaue Beobachtung, die Analyse“, schreibt Widmann, „da war Dürer unübertrefflich.“ Die vielen Einzelstudien für den Ganzkörper-Akt verschwinden dabei zum einen zwar im Bild respektive der Illusion eines ganzen Körpers, gleichzeitig will Dürer aber auch, wie Widmann meint, „den Schaffensprozess nicht im Produkt verschwinden lassen. Die Abbildung soll als Konstruktion deutlich bleiben. Die Illusion wird erzeugt, aber gleichzeitig wird gezeigt, wie sie zustande kommt.“ Darin liegt die Modernität Albrecht Dürers.

Albrecht Dürer, „Das große Rasenstück“ (1503)

Das gilt auch für „Das große Rasenstück“ (1503), einer Naturstudie Dürers. Mit einer bis dahin nicht gekannten botanischen Präzision ist hier ein schlichtes Stück Wiese abgebildet, ein sogenannter Trittrasen in der Zeit, kurz bevor der Löwenzahn seine Samen an ihren haarigen Flugschirmen in den Mai entlässt. Die Pflanzenstudie ist geradezu revolutionär: Niemals zuvor, bemerkt die Kunsthistorikerin Eva Schickler, wurde „solch ein banales Motiv aufgegriffen und so radikal umgesetzt“, Dürer habe hier „einen richtungsweisenden Quantensprung in die Neuzeit erreicht“. Die Darstellung ist so präzise, dass Botaniker problemlos die abgebildeten Pflanzenarten bestimmen konnten (darunter Rispen- und Knäuelgras, Breitwegerich, Ehrenpreis, Schafgarbe, Gänseblümchen und Löwenzahn).

Die Zeichnung wirkt so natürlich und lebendig, dass man fast übersieht, dass Dürer seine Studie hier aus einer ungewöhnliche Perspektive zu Papier bringt, die schwerlich in freier Natur entstanden sein kann: „Die rechts sichtbare Horizontlinie suggeriert einen extrem niedrigen Standpunkt des Künstlers“, bemerkt Christof Metzger. Kaum vorstellbar, dass Dürer die Zeichnung bäuchlings auf der Wiese angefertigt hat, es scheint eher so, dass sie im Atelier entstanden ist, das ausgegrabene Wiesenstück zur besseren Analyse in etwa dreißig Zentimeter Nähe auf einem Tisch platziert. Und es ist wohl auch so, dass die Zeichnung eine künstlerisch brilliante Komposition ist, und nicht ein getreues Abbild der Wirklichkeit: Es ist davon auszugehen, schreibt Metzger, „dass Dürer die unterschiedlichen Pflanzen zunächst einzeln studierte und in der abschließenden Fassung die selbstgestaltete Natur des Rasenstücks partiell neu arrangierte. So wachsen die Gräser zur Mitte hin höher, und im Zentrum der Komposition verdichtet sich … aller Bewuchs zu einer geheimnisvoll dunklen Zone.“

Deutlich wird so, dass es Dürer zwar auch um eine wirklichkeitsgetreue Abbildung geht, er darüber hinaus aber die Entstehung des Motivs mithematisieren will. Auch hier tritt er weniger als genauer Beobachter, sondern eher als Konstrukteur in Erscheinung, der die Welt hinter den Erscheinungen ans Licht bringen möchte: „Das Leben in der Natur gibt zu erkennen die Wahrheit der Ding“, schreibt Dürer selbst in diesem Zusammenhang.

Insbesondere Dürers Zeichnungen erhalten so einen weltlichen Charakter, den Kunst bis dahin nicht hatte. Niemand vor ihm wäre auf die Idee gekommen, eine Stück Wiese zu zeichnen. Ausdruck findet so eine Weltsicht, die, wie Hans-Joachim Müller schreibt, „die Kunst einbezieht in die neuzeitliche Wissensproduktion“, die von einem naturwissenschaftlichen Interesse angetrieben wird.

Dürer hinterfragt gewissermaßen die Bedingungen des Sehens in der Epoche der Reformation – und zwar ohne jedes Glaubensbekenntnis. Insofern vertritt er die Gewissheit, dass das Schöne nur aus dem natürlich Gegebenen entwickelt werden kann, nicht aus dem Geistigen heraus. Eindringlich schreibt er: „Geh nicht (ab) von der Natur in deinem Gutdünken, daß du wolltest meinen, das Bessre aus dir selbst zu finden; denn du würdest verführt.“ Und außerdem: „Nimm dir nimmermehr vor, daß du etwas besser möchtest oder wolltest machen, denn es Gott seiner erschaffnen Natur zu wirken Kraft gegeben hat. Denn dein Vermögen ist kraftlos gegen Gottes Schöpfung.“

Die Schönheit ist Dürer zufolge nur in der Natur zerstreut zu finden, man muß sie dort suchen und, wie das Rasenstück, herausstechen beziehungsweise -reissen, wie Dürer sagt: „Wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reyssen, der hat sie.“ „Reyssen“ bezeichnet dabei nicht nur das herausstechen beziehungsweise -reissen eines Rasenstückes, sondern eher das „Zeichnen“, wobei damit auch das „Ritzen“ gemeint ist, denn sogenannte Radierungen oder Kupferstiche entstehen durch das Einritzen einer (seitenverkehrten) Zeichnung in eine Metallplatte.

Nordwestlich von Nürnberg, allerdings doch ein gutes Stück entfernt, liegt die fränkische Ortschaft Volkach, wo Rainer Müller gemeinsam mit seinen beiden Söhnen Toni und Christian seit 1991 das Familienweingut „Max Müller I“ führt. Unweit von Volkach, in Escherndorf, liegt der berühmte „Lump“, eine von Muschelkalk geprägte „Grand-Cru-Lage“ mit bis zu 70 Prozent Hangneigung, die sich wie ein Parabolspiegel um das Dorf schmiegt. Hier stehen seit 1964 Riesling-, Silvaner- und Traminerstöcke – und zwar so, wie es früher üblich war, heute aber in Deutschland nur noch äußerst selten praktiziert wird: im „Mischsatz“. Die ganze Schönheit der Natur ist hier gewissermaßen in einer Parzelle vereint: „Gemischter Satz“ ist ein Wein, desssen Traubenmaterial aus verschiedenen Rebsorten besteht, die aus einem Weingarten stammen und gemeinsam verarbeitet werden. Das hat man früher deshalb gemacht, weil durch den Anbau verschiedener Sorten unter gleichen Bedingungen die Chancen höher sind, bei ungünstigen Witterungsverhältnissen nicht die komplette Ernte zu verlieren.

Ein solcher Wein ist der „Lump 64“ – das heißt nur fast, denn hier wurde ähnlich verfahren wie Dürer es tut: Die Rebsorten wurden separat gelesen und vergoren und erst anschließend wieder vereint, es handelt sich deshalb um eine Cuvée. Die besteht hauptsächlich aus Riesling, der eine frische Säure in den Wein bringt, viel Silvaner für kräuterige Noten und etwas Traminer für florale Nuancen. Ein cremiger, aber dennoch strukturierter Wein mit floral-fruchtigen Aromen, angenehm saftig und unkomplizerter, als es seine Machart vielleicht vermuten läßt …

Das Schöne aus der Natur zu „reyssen“ ist bei Dürer also verbunden mit dem Gestalten, mit etwas Schöpferischem, zuvor jedoch gilt es, die Schönheit überhaupt erst zu entdecken, sie mit den Augen eines Naturwissenschaftlers zu erforschen. In dieser Haltung steckt eine „emanzipatorische Lässigkeit“, wie Müller sagt, die nicht nur auf Dürer selbst zutrifft, sondern bei ihm gewinnen ebenso „(d)ie Landschaft, aber auch einzelne Gesteine, Blumen und Tiere … einen jeweils eigenen Wert“. Nicht zuletzt im „Rasenstück“ tritt insofern Dürers Respekt vor dem Lebewesen zutage – und es erstaunt, wie Müller bemerkt, „wie weltlich es zugeht“ bei ihm.

Im „Rasenstück“ arrangiert Dürer die einzelnen Pflanzen neu an – als Vorbild mag ihm dabei die Vorstellung eines ursprünglichen Paradieses und das damit verbundene Ideal von natürlicher Schönheit gedient haben. Im Paradies ist noch ein Idealzustand konserviert, der für den Menschen nach dem Sündenfall und der Vertreibung nur noch als Nachhall, zerstreut in den Schönheiten der weltlichen Natur mit ihrem ewigen Werden und Vergehen zu finden ist. Die Schönheit im Bild in Szene zu setzen, „(i)ndem es der Künstler über die Grundsätze der Proportion sichtbar macht“, erklärt Ernst Rebel in seiner Biographie über „Albrecht Dürer“ (1996) – damit „wiederholt er den ersten Schöpfungsakt symbolisch und anschaulich. Hierin, immer wieder in dieser Gottesanalogie, hat das Kunstideal Dürers seinen Ausgangs- und Endpunkt“.

Albrecht Dürer, „Adam und Eva“ (1504)

Deutlicher noch als im „Rasenstück“ wird das im Kupferstich „Adam und Eva“ (1504), wo Dürer versucht hat, in der Bildschöpfung den Idealzustand des paradiesischen Menschen nachzuzeichnen: Beide sollen, wie Eva Schickler meint, die „ideale Schönheit“ personifizieren – sie sind in ihrer paradiesischen Erscheinung nach dem Ebenbild Gottes als eine Art Prototypen der Menschheit geschaffen worden –, und werden nun von Dürer in einem nach dem klassischen Schönheitsideal proportionierten Verhältnis, in den idealen Maßen eines Menschen, ins Bild gesetzt, in einem Augenblick paradiesischer, gleichberechtigter Unschuld. (Zu sehen ist der Moment unmittelbar vor dem Biss in die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis. Eva hält in ihrer linken Hand bereits eine Frucht, auf die hin auch Adams ausgestreckter Arm zu deuten scheint, sie nimmt aber gerade noch eine zweite Frucht aus dem Maul der Schlange entgegen. Deutet man die Szene so, dass es sich dabei ebenfalls um eine Frucht vom Baum der Erkenntnis handelt, hätten Adam und Eva zu gleichen Teilen Schuld am Sündenfall – wenngleich sich Eva genau dann entblößen würde, wenn sie Adam den Apfel hinter ihrem Rücken aushändigte.)

Bei „Adam und Eva“ handelt es sich vermutlich um die erste Aktdarstellung nördlich der Alpen und es scheint, als wäre der Herr aus dem Paradies vertrieben. Jedenfalls hat die Kunst bei Dürer, wie Müller sagt, „ihre angestammte Zuständigkeit für Gotteslob und Menschenschuld“ verloren – nicht zuletzt in diesem Stich.

Das ursprüngliche Paradies als Garten

Interessant ist, dass Dürer Adam und Eva vor dem dunklen Hintergrund eines Waldes zeichnet, zu dem die beiden in deutlichem Kontrast stehen. Der Wald stand schon immer für das Unzivilisierte, Ungebändigte, und so wohl auch hier. Demgegenüber erscheinen die ersten Menschen im Kupferstich als wohlgeformt und von Dürer gestaltet als vermeintliches Ebendbild Gottes. Vielleicht ist es auch genau dieser Kontrast, den Dürer betonen möchte – jedenfalls unterscheidet sich seine Darstellung des Paradieses damit deutlich von den biblischen Schilderungen, wo das ursprüngliche Paradies als Garten beschrieben ist – als Garten Eden.

Die Beschreibung des Paradieses in der Genesis (2,4) beginnt mit dem Hinweis, dass die Erde noch eine Wüste war und es „noch keinen Menschen (gab), der den Ackerboden bestellte“. Aus diesem wüstenartigen, unbestellten Ackerboden formte Gott den ersten Menschen und weiters: „Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte“ (Gen 2,8). Überraschenderweise, stellt Heinrich Krauss in seiner Kulturgeschichte über „Das Paradies“ (2004) fest, erhält der Mensch also „nicht den Auftrag, den Ackerboden zu bebauen, er beginnt vielmehr sein Dasein mit einer lustvollen Tätigkeit ohne Mühsal und Sorgen“.

Das Wort „Paradies“ kommt von parádeisos, womit die griechische Bibelübersetzung im 2. Jahrhundert vor Christus das hebräische Lehnwort pardes übersetzt hat, das wiederum vom persischen Ausdruck apiri-daeza oder pairidaeza für einen von einer Mauer umgebenen und für seine Schönheit berühmten Königsgarten stammt, wo selbstverständlich reichlich Obstbäume gepflanzt waren und Tiere zur Jagd lebten.

Von einem solchen umfriedeten Garten stammt auch das deutsche Wort „Garten“ ab, das wie das griechische chortos beziehungsweise das lateinische hortus auf das indogermanische ghordo für Flechtwerk oder Hürde zurückgeht, womit ein Flechtwerk gemeint ist, das zur Umzäunung des Gartens verwendet wurde. Denn nur durch diese Umfriedung oder Umzäunung war, wie Krauss bemerkt, „eine ungestörte Pflege der Natur möglich. Das lateinische colere, von dem der Ausdruck `Kultur´ abgeleitet ist, meint nicht nur einfach bebauen, sondern auch hegen und pflegen“.

In der Genesis (2,9) wird der Paradiesgarten zwar auch mit Hinweis auf die Schönheit der Bäume geschildert, von einem Wald jedoch ist keine Rede: „Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.“ Und da der Garten Eden außerdem „im Osten“ verortet ist, ist auch Bewässserung vonnöten: Insgesamt vier Hauptflüsse werden in der Genesis (2,10-14) aufgezählt.

Über die Bepflanzung des Gartens erfährt man in der Genesis tatsächlich nicht viel – er erscheint hier eher als eine wasserreiche, palmenbestandene Oase in einer kargen Wüste –, erst in den frühen christlichen Darstellungen wird der Garten zu einem bukolischen Idyll. Später dann wird er auch als eine mit Bäumen bestandene und von Wasserläufen durchzogene Landschaft dargestellt (in dieser Zeit kommt auch die Idee eines „Jungbrunnens“ hinzu, veranschaulicht beispielsweise in einem Gemälde von Lucas Cranach aus dem Jahr 1546), einem Englischen Landschaftsgarten ähnlich, wie beispielsweise in John Miltons „Paradise Lost“ (1667), wo er den Garten Eden als den „glücklichen Bezirk der ländlich schönen Mannigfaltigkeit“ darstellt. In ihm befanden sich, wie er schreibt (IV 332-357), „weites Rasengrün und sanftgewellter Höhen ebene Flur mit Äsenden auf zarter Kräuterweide …“, und man sah „der Blumen bunte Zier, und Rosen ohne Dornen“.

Bei Milton kommen zu der Meinung, dass die Menschen in vollem Einklang mit der Natur lebten, auch die Vorstellungen von einem ursprünglich friedlichen Umgang zwischen Mensch und wilden Tieren – ähnlich dem Panther im bacchantinischen Gefolge von Dionysos – zur Sprache (IV 456-469): „Es spielte um sie her der Erdentiere munteres Gewimmel … der Löwe tollte da mit Lust und spielte / mit einem Böcklein lieb in seiner Pranke, / und Bären, Tiger, Unzen [Schneeleoparden], Pardel / tanzten vor ihnen her“, heißt es beispielsweise.

Der Mensch als Gärtner

In dieser friedlichen Idylle war der Mensch nicht dazu genötigt, mühsam eine Wüste zu beackern, ein Stück unwirtliche Landschaft zu kultivieren, es genügte leichte Gartenarbeit. Erst nach dem Sündenfall wurde diese mit der beschwerlichen Bestellung des Ackerbodens vertauscht – fortan war der Mensch zur Landwirtschaft genötigt, er wurde, wie es der Philosoph Robert Harrison in „Gärten“ (2010) und in Anlehnung an Hannah Arendt ausdrückt, in die „vita activa“ geworfen. Dazu bemerkt er: „Die vita activa besteht, wenn wir der Auffassung folgen, die Hannah Arendt von ihr hat, aus Arbeit, Herstellen und Handeln. Arbeit ist die endlose und ruhmlose Plackerei, mit der wir unser biologisches Überleben sicherstellen … Doch das biologische Überleben allein macht uns noch nicht menschlich. (…) (K)lar ist, dass es ein Leben des von Sorge durchdrungenen Handelns ist, welches das menschliche Leben von jeher sinnvoll gemacht hat.“

Für Robert Harrison fungiert der Garten als Sinnbild für eine Ethik der Sorge. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist die Betonung des Kultivierens. Die Natur mag unser Überleben garantieren, dafür jedoch müssen wir den wüstenartigen Ackerboden zuerst in einen Garten verwandeln – es bedarf des sich sorgenden, des kultivierenden Menschen, der insofern notgedrungen zu einem Gärtner werden muss: „In einem unsterblichen Eden bedarf es keines Kultivierens, denn dort ist alles von vornherein spontan gegeben“, bemerkt Harrison. Die Vertreibung aus dem Paradies jedoch war „nicht nur ein Fall in die Sterblichkeit, sondern auch in das, was Hannah Arendt als Natalität bezeichnet“, es meint die Notwendigkeit menschlichen Handelns. Und nun ist ja gerade der Gärtner, wie Harrison sagt, „ein Mensch, der das ganze Jahr hindurch etwas kultiviert“.

Leben existiere dort, wo das Geben das Nehmen überwiegt – darin erkennt Harrison ein Lebensprinzip. Er schreibt (leider liegt mir nur die etwas holprige Übersetzung vor): „Was das Leben von der unbeseelten Materie, in der es seinen Ursprung hat, unterscheidet, ist das fortgesetzte Über-sich-Hinausgehen, mit dem es aus dem Leblosen hervorbricht und sich ekstatisch aufrechterhält durch Verausgabungen, welche die Reserven der Vitalität eher erhöhen als erschöpfen. Das Leben ist ein Exzess, nennen wir es eine Selbst-Ekstase der Materie. Die Sorge wiederum ist eine weltformende, ethisch aufgeladene Erweiterung der erdformenden Kräfte, die durch eine Überlast von Vitalität das `volle Haus´ unserer wimmelnden Biosphäre … aufgebaut haben.“

Das Lebensprinzip gilt in gleicher Weise – und ganz im Sinne Shakespeares, wie an dem eingangs angeführten Zitat deutlich wird – für die menschliche Kultur, das heißt, „dass die Kultivierung des Erdbodens und die Kultivierung des Geistes wesensgleiche und nicht bloße ähnliche Aktivitäten sind“. Erst durch die Vertreibung aus dem Paradies wurde der Mensch zum Gestalter der Welt, zum aktiv handelnden Gärtner, der einerseits das Potential des Bodens entfaltet, und darüber hinaus auch zum Arbeiter an sich selbst wird, zum Verwirklicher seiner selbst. (Als Sinnbild dafür steht auch die Figur des Robinson Crusoe in Daniel Dafoes gleichnamigem Roman.)

Obwohl das Wort „Kultur“, wie oben erläutert, seine Wurzeln im Erdboden hat, steht zunächst nicht das Beackern dieses Bodens im Vordergrund: Noch bevor unsere paläolithischen Vorfahren im Zuge der sogenannten Neolithischen Revolution der Landwirtschaft zum Aufstieg verhalfen, kultivierten sie Gärten, meint Harrison, der sich hier auf den italienischen Forscher Pietro Laureano bezieht. Laureano schreibt diesbezüglich: „Die ersten zaghaften Versuche, aus denen die Techniken der Züchtung und des Anbaus hervorgegangen sind“, schreibt er, „können (…) keine auf Nutzanwendung gerichteten Ziele gehabt haben“, und zwar aus folgendem Grund: „Die Domestizierung, das Sammeln und die Auslese von Pflanzenarten zum Gewinnen von Sorten mit nutzbaren Eigenschaften führen erst nach mehreren Generationen zu Ergebnissen und lassen sich nicht durch die Notwendigkeit erklären, sich kurzfristig Nahrungsmittel oder andere Vorteile zu verschaffen.“

Der Garten erfüllte demnach zunächst eine andere Funktion – und die liegt Harrison zufolge in der Schönheit: „Weil der `Mensch´ in gewissem Sinne in seiner vom Willen angetriebenen vita activa gefangen ist und weil er an dieser Gefangenschaft leidet, erfüllt ihn die Blume mit Sehnsucht und Nostalgie. (…) Die Blume konfrontiert uns mit einer Schönheit, die unabhängig vom menschlichen Willen existiert – mit einer Schönheit, die wir nicht erschaffen, sondern nur in unseren Gärten kultivieren können.“ Es ist Harrison zufolge also ähnlich wie bei Albrecht Dürer: Wie dieser die Schönheit der Schöpfung im Bild in Szene setzt, wiederholt der Mensch als Gärtner die erste Schöpfung symbolisch und anschaulich. Dabei ist es nicht so, dass wir mit der Gartenarbeit und unseren menschlichen Gärten Ordnung in die Natur hineintragen, sondern die Natur hat ihre eigene Ordnung, die letztlich in der Schönheit jeder einzelnen Blume offenbar wird. Der kultivierte Garten verleiht insofern, wie Harrison bemerkt, nur „unserer Beziehung zur Natur eine Ordnung“. Gleichwohl wird erst hier die Arbeit zu etwas Schönem.

Der Klostergarten

Der Garten Eden war ein Paradies für die kontemplative Versunkenheit – die Adam und Eva, in die vita activa geworfen, jedoch nicht mehr genießen konnten. Denn damit waren sie fortan auch in der polis verhaftet. Alle nichtimaginären Gärten werden durch menschliches Handeln hervorgebracht, sie befinden sich insofern immer in einer Sphäre menschlicher Gesellschaft, im Reich der Interaktionen, das heißt, wie Harrison sagt, „Gärten haben ihren angemessenen Ort in der polis, die für Arendt als die Bühne menschlichen Handelns dient (wie sie sagt, findet das Handeln immer in der `Welt, die sich zwischen Menschen abspielt´, statt)“. Diese Welt ist eine öffentliche, man könnte sagen: eine Sphäre des Diskurses, innerhalb derer der Gedanke in der Rede gewissermaßen erblühen kann. Die Vielfalt der Meinungen, das Ausformulieren von Gedanken, das ist ein Merkmal von Öffentlichkeit – und diese Offenheit unterscheidet, in der Renaissance, auch den bürgerlichen vom fürstlichen Garten, beispielsweise der Medici in der Toskana.

Zur polis hin abgeschlossen waren auch die mittelalterlichen Klostergärten, die der schweigenden Kontemplation dienten. Das mittelalterliche Kloster war in vielerlei Hinsicht nach dem Paradies hin orientiert und auch nach dessen imaginiertem Vorbild konzipiert. In erster Linie diente es als zivilisationsabgewandter, spiritueller Zufluchtsort: Im stillen Gebet und der schweigenden Klausur sollte sich der Geist nach innen wenden können, nicht abgelenkt von irdischen Leidenschaften.

So verkörperte das Kloster, wie Harrison anmerkt, „eher die Verheißung von Glück als das Glück selbst“. Das gilt auch für den Klostergarten, wo sich, wie Harrison weiters bemerkt, „der Geist nach innen wenden (konnte) und tief in seiner Einsamkeit über die transzendente, einheitliche Quelle der Schöpfung meditieren, die dort nur als erahnte anwesend war“.

Häufig fand man in den Klöstern ein stilisiertes „Paradiesgärtlein“, in dessen Mitte sich ein Brunnen fand. Um ihn herum befand sich bisweilen der Kreuzgang, der die Mönche ebenfalls zur Kontemplation und Meditation anregen sollte. Auf der einen Seite des Kreuzgangs befand sich die Kirche, während auf der anderen Seite die Gemeinschaftsräume der Mönche lagen. „Paradiesgärtlein“ und Kreuzgang wurden als Symbol des Paradieses betrachtet, schließlich waren sie gewöhnlich auch ähnlich angelegt wir die Vorhöfe der altchristlichen Basiliken, denen man bereits den Namen „Paradies“ gegeben hatte. Der Name „Kreuzgang“ selbst, mit dem die eingrenzenden Bogengänge bezeichnet werden, kommt vermutlich von den Kreuzprozessionen, die hier stattfanden. Treffender sind jedoch, wie Krauss bemerkt, „die englischen und französischen Ausdrücke dafür: cloister und cloître (von lat. claudere = einschließen, woher auch claustrum für Kloster kommt). Denn es handelt sich eigentlich um einen von Säulengängen umschlossenen Garten. Dessen quadratische Form, durch sich überkreuzende Wege oder Wasserläufe in vier gleich große Rasenstücke mit Büschen und Blumenhecken aufgeteilt, verweist auf die Vollkommenheit einer paradiesischen Welt. Der Brunnen in der Mitte symbolisiert den Strom, der die vier Flüsse speist, die vom Garten Eden ausgehen und den Erdkeis bewässern.“

Links ein typischer Kreuzgang mit „Paradiesgarten“, rechts der Kräutergarten des Südtirol Klosters Neustift bei Brixen

© Burkhard Mücke – wikimedia.org

Auch die übrigen Gartenanlagen in den Klöstern wurden in Erinnerung an das ursprüngliche Paradies angelegt. Auffällig in diesem Zusammenhang ist oft die Zahlensymbolik bei der Anlage der Obst-, Gemüse- und Heil- beziehungsweise Kräutergärten: Der Gemüsegarten ist in achtzehn Beete aufgeteilt, der Heil- und Kräutergarten in sechzehn, was als Quersumme die heiligen Zahlen 9 und 7 ergibt, die an die neun Chöre der Engel beziehungsweise die in der Offenbarung erwähnte, vom Himmel kommende Segenskraft erinnert. Der Obstgarten diente zugleich als Friedhof für die Mönche, weshalb in der Mitte der Baum- und Gräberreihe als Abbild des paradiesischen Lebensbaumes ein Kreuz aufgestellt wurde. Die Gartenarbeit der Mönche, schreibt Krauss, „erhielt damit ein kontemplatives Element, das sowohl auf die von Gott im ursprünglichen Paradies intendierte Vollkommenheit der Schöpfung als auch auf die künftige Herrlichkeit im Himmel hinwies“.

Spirituelle Rastlosigkeit

Was in den mittelalterlichen Klöstern zelebriert wurde, Friede und Stille, war allerdings niemals das vorherrschende kulturelle Ideal der sie umgebenden polis. Diese war immer schon eher geprägt durch etwas, das Harrison als „spirituelle Rastlosigkeit“ bezeichnet, womit er mehr das Pathologische als die nach Freiheit strebende Energie der vita activa betont. Sie markiert für ihn eine der großen Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Philosophie – die für Harrison ansonsten auch durch eine Heiterkeit gekennzeichnet ist, die in der christlichen Welt kaum vorkommt. (Er bemerkt in diesem Zusammenhang: „Die Geschichte von Jesu Leben und Taten ist voller Aufschreie, voller Tränen und Sprunghaftigkeiten. Die Religionen, die daraus hervorgegangen sind, hüllen sich in eine dramatische Atmosphäre, in der Heiterkeit sich als Lauheit, als Gleichgültigkeit, wenn nicht gar als Stumpfheit darstellt. (…) Wer dächte daran, sich vor Christus am Kreuz photographieren zu lassen?“)

Als Sinnbild für diese spirituelle Rastlosigkeit macht Harrison eine literarische Figur ausfindig: Ludovico Ariostos „Rasender Roland“ (Der rasende Roland ist der Titel der deutschen Übersetzung des Versepos Orlando furioso aus dem Jahr 1516). Die Handlung des Epos ist ziemlich verworren – den Hintergrund bilden die Kriege Karls des Großen gegen die Sarazenen, wie sie insbesondere auch im Rolandslied beschrieben wurden. Einer von mehreren Erzählsträngen ist, wie sich die Hauptfigur, der Ritter Roland, genauso wie etliche andere, hoffnungslos in die Prinzessin Alciste verliebt und deswegen sogar zeitweilig den Verstand verliert. Alle sind sie im verzauberten Garten der Prinzessin gefangen. Hier wird Rolands Phantasie respektive sein Wahnsinn zum wahren Zentrum des Epos – sie erst erklärt die ziellose Getriebenheit der Protagonisten und die Irr-, Um- und Abwege der nicht zu fassenden Handlung, bei der man nicht zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden vermag.

In der Welt des Rasenden Rolands ist das Begehren ein Bewegungsprinzip, erklärt Harrison, alle Akteure agieren im Grunde „ziel- und fruchtlos …, weil ihr Handeln eben kein Endziel hat, sondern von seinem Bedürfnis nach immer neuen Herausforderungen und Taten gespeist wird. In Bewegung zu bleiben (wo immer diese Bewegung hinführen mag) wird selbst zu einem Ziel. (…) Das Verlangen der Ritter nach Aktion ist im Grunde ein Verlangen nach Zerstreuung … Dieses Verlangen nach Ablenkung erwächst aus der Zwecklosigkeit ihrer Seinsweise – aus der Zwecklosigkeit einer Existenz als Ritter in einer nachritterlichen Welt, als Männer des Handelns in einem Zeitlater, in dem das Handeln seinen normativen oder tieferen Sinn verloren hat.“

Als die Ritter aus dem Zaubergarten der Prinzessin befreit werden, gelangen sie in das Reich Logistillas – ein anderer Garten, gewissermaßen der Gegenpart zum Zaubergarten: Beruhte der auf einer Illusion, die jedoch permanent die Phantasie anregte, dann ist der Garten hier „sozusagen `das Wahre´“, schreibt Harrison. Die wiedergewonnene Freiheit erweist sich allerdings schon nach wenigen Tagen als langweilig – und die Ritter verlassen den neuen Garten bereitwillig, „um sich wieder in einen Krieg zu stürzen, der Risiken, Gefahren, Intrigen und Belohnungen bietet“. Der neue Garten bietet keinerlei Reize oder Verlockungen – und gleiches ließe sich, meint Harrison, „von unserer im Endstadium befindlichen Moderne sagen. Wie sind heute so abgrundtief gelangweilt, dass die Heiterkeit Edens unsere Phantasie kaum irgendwie beschäftigt, während Alcinas Illusionsgarten immer surrealer wird und wir alle seine potentiell tödlichen Zauber aufsuchen, ohne auch nur unser Heim zu verlassen.“

Fatal ist die existentielle Langeweile Rolands deshalb, weil sie kombiniert ist mit einer raserischen Wut, das heißt Rolands Verstandesverlust manifestiert sich in der sinnlosen Zerstörung von Dingen, welche andere sorgfältig kultivert haben: Er verwüstet die Felder der Bauern, die wohlgepflegte ländliche Gegend, die stillen Wälder und Flüsse einer sonst heiteren Landschaft. „Ganz besonders gilt seine Wut Gärtnern …“, bemerkt Harrison und folgert, dass diese Wut „ein Sinnbild (ist) für die Zerstörungskräfte, die wir gegen die Erde entfesseln, wenn die Rastlosigkeit einen pathologischen Grad von Bewegung erreicht (…) Hierin liegt die essentielle und sogar zeitgenössische Modernität, denn genau dies ist der geistige Zustand des heutigen Zeitalters: getrieben und ziellos stehen wir unter dem Zwang eines unbeherrschten Willens, alles zu zerstören, was auf unserem Weg liegt, obgleich wir keine Ahnung haben, wohin der Weg führt oder was wohl sein Endpunkt ist. (…) Wenn wir sagen, die Raserei des modernen Zeitalters sei grundsätzlich ziellos, dann heißt das nicht, das wir uns keine Ziele setzen. Im Gegenteil, es gibt jede Menge Ziele, wenn es um unsere endlose Aktivität geht … Das Setzen von Zielen ist eines der Verfahren, mit denen wir unsere Ziellosigkeit kaschieren.“ Es gehe dann wieder, wie bereits beim Rasenden Roland, um Täuschung wie auch um Selbsttäuschung.

Was Harrison hier in einem Epos von Ariost aus dem 16. Jahrhundert beobachtet, beschreibt ihm zufolge also auch eine Pathologie unserer Zeit. Im Kapitalismus, als „die stärkste Kraft sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Destabilisierung … besonders in seinem jüngsten Drang, die internationale Wirtschaft zu globalisieren und dabei zu deregulieren“, wie er sagt, kommt eine Dynamik zutage, die ihren Anfang beim Rasenden Roland hat und die zwangsläufig, „(d)ie fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung“ befördere. Umgewälzt wird dabei anfangs vor allem das Erdreich. Wenn es zunächst um unsere natürlichen Ressourcen geht, die in der Erde verborgen liegen, dann geht der Trieb, wie Harrison sagt, „dahin, eher auszuziehen, zu entnehmen und zu erschöpfen, als zu kultivieren, zu verbessern und zu fördern. In dieser Hinsicht ist sie keine gute Hüterin der Zukunft.“

Hätte Gott Adam und Eva, die Menschheit, zu Hütern dieser Zukunft machen wollen, so kann man daraus schließen, so hätte er sie zu Verwaltern des Garten Edens machen sollen. Er schuf sie jedoch als Konsumenten, „als Nutznießer“, wie Harrison sagt, „die der Verpflichtung enthoben waren, die einen Gärtner dazu antreibt, seinen oder ihren Garten zu bestellen. (…) Und mit welcher Sorglosigkeit begingen Adam und Eva den folgenschweren Akt, der zu ihrer Vertreibung aus Eden führte“.

Wer sonst als ein Gärtner kümmert sich wirklich um die Zukunft?

Top
Standard