Essay

maskenpflicht

Heute, am „Elften des Elften“, beginnt traditionell der Karneval mit seinem Maskenwesen – würde es die Coronakrise nicht verhindern. So ist der zwar abgesagt, dennoch besteht eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit. Das jedoch ist ein Gebot der menschlichen Vernunft, was die Fastnacht nie war …

Falstaff: „Blitz, es war Zeit eine Maske anzunehmen, sonst hätte mich der hitzige Brausekopf von Schotten gar zum Schatten gemacht. Eine Maske? Ich lüge, ich bin keine Maske; sterben heißt eine Maske sein, denn der ist nur die Maske eines Menschen, der nicht das Leben eines Menschen hat; aber die Maske des Todes annehmen, wenn man dadurch sein Leben erhält, heißt das wahre und vollkommne Bild des Lebens sein. Das bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht, und mittelst dieses besseren Teils habe ich mein Leben gerettet.“

Falstaff stellt sich während einer Schlacht Tod und überlebt in Shakespeares Heinrich IV., V. Akt, 4. Szene

„Es ist außer Zweifel, das die tollen Fastnachtslustbarkeiten ihren Ursprung von den Heiden haben, welche dem Bacchus zu Ehren gewisse Tage dem Fressen, Saufen, Unzüchten und allerley Ausschweifungen gewidmet haben …“

Enzyklopädie aus dem Jahr 1784

Traditionell beginnt am heutigen Martinstag die Karnevalssession mit ihrem Maskenwesen – wäre die gesellschaftliche Bedrohung durch den Coronavirus nicht. So ist der Karneval zwar abgesagt, dennoch besteht im öffentlichen Leben weitgehend eine Maskenpflicht. Diese ist einerseits staatlich verordnet, aber vernünftigerweise – durchaus im Sinne eines moralischen Imperativs – auch geboten, schließlich ist die Maske derzeit noch eine der wenigen effektiven Maßnahmen zur Abwehr oder Verringerung des Infektionsrisikos in der Öffentlichkeit. Deshalb wird sie als Schutzmaske zur gesellschaftlichen Risikominimierung auch durchweg empfohlen.

Unsere Expirationsluft besteht aus 17 Prozent Sauerstoff, vier Prozent Kohlendioxid und 78 Prozent Stickstoff. Sobald sie den Mund verlässt, wird sie von der eng anliegenden Maske gleich wieder in die Nase gezwungen und man muß diese „Luft“, nur unwesentlich aufgefrischt, gleich wieder einatmen, was durchaus auch Momente der Beklemmung verursacht. Dennoch ist das „Vermummungsgebot“ ein Gebot der menschlichen Vernunft, darüber hinaus der Mitmenschlichkeit, und in ihm kommt Risikobewußtsein zum Ausdruck – wie sich im karnevalistischen Maskenwesen, der Maske überhaupt, eine für unsere abendländische Kultur spezifische Entwicklung menschlichen Bewußtseins widerspiegelt, nun allerdings in einer Umkehrung. Dessen wesentliche Determinante ist, parallel zum technisch-rationalen Projekt der Moderne, der Einfluß des Christentums mit seinen Moralvorstellungen. Das gilt insbesondere für den christlich-katholischen Kontext mit seinem Dualismus von „Gott – Teufel“, den man auf die Zwei-Staaten-Lehre des Augustinus mit der Gegenüberstellung von „civitas Dei“ einerseits und „civitas Diaboli“ andererseits zurückführen kann. Hier wird die instinkthaft-triebbestimmte Seite menschlicher Identität als finstere „Nachtseite“ definiert – und fiel immer mehr der Verdrängung anheim, wurde als dämonisch, teuflisch, tabuisiert oder als sinnliches Laster und Sünde verurteilt.

Masken sind ursprünglich in religiöse Zusammenhänge eingebunden, wo sie heilig ist beziehungsweise Kultcharakter hat. Erst ihre Entbindung vom religiösen Gebrauchscharakter erschließt neue Funktionsmöglichkeiten. Bis dahin, im kultischen Zusammenhang, war mit dem Anlegen der Maske noch eine Beschwörung des Dämons verbunden, wie Vera de Blue in „Mensch und Maske“ erklärt: „Mit dem Anlegen der Maske ist der Dämon beschworen, der Dämon im Sinne der griechischen Bedeutung von `Gottheit´ oder unbegreiflicher Kraft, deren Macht nicht aus dem Bereich der Erfahrungen zu erklären ist.“ Der Geist der Gottheit geht, beim Dionysoskult mit Hilfe des Weines, unmittelbar in den Maskenträger über. (Obwohl der Karneval dem Dionysoskult in mancherlei Hinsicht ähnelt, ist inzwischen klar, dass er nicht davon abgeleitet ist – und auch nicht aus den römischen Bacchanalien und Saturnalien, die sich auf diesen Kult beziehen. In seiner heutigen Form ist er im 19. Jahrhundert entstanden mit Elementen aus unterschiedlichen Zusammenhängen und Epochen.)

Im Dienste eines Gottes, Dionysos, steht die Maske auch im Theater der klassischen Antike (man zählt 44 Varianten mit unterschiedlichem Ausdruck, aus dünnem Stoff und Echthaarlocken gefertigt und angeblich im 6. Jahrhundert vor Christus eingeführt von Thespis, dem Erfinder der Tragödie, wobei die Maske ermöglichte, dass mehrere Rollen von einem Schauspieler gespielt werden konnten). In der griechischen Tragödie ist ihr hohles Auge trotz der Starrheit des Blicks erfüllt von der dämonischen Macht eines Geistes, „der das Unfassbare unmittelbar erfasst: das über den Menschen waltende unerschütterliche Schicksal. Der gewölbte Mund ist zu einem stummen Schrei des Entsetzens vor dem unlösbaren Geheimnis der Existenz geöffnet“ und in den weit aufgerissenen Augen ist namenloser Schrecken ersichtlich. Mit Furcht und Entsetzen blickt die Maske auf das unausweichliche Schicksal.

Dämonisch hieß ursprünglich, im kultischen Kontext, „in seinem Wirken unheimlich und zerstörerisch zu sein“, erklärt Vera de Blue. „Erst später wird `dämonisch´ mit `böse´ gleichgesetzt. Mit der Maske kann aber auch der Dämon beschworen werden, der unzählige Verwandlungen möglich macht …“ Entsprechend auch werden in der mittelalterlichen Vorstellung der Teufel und die Maske untrennbar zum Zweck der Täuschung verbunden: Der Teufel bedient sich hier der Maskerade und Verstellung um sein Ziel, die Seele der Menschen zu verderben, zu erreichen.

In einem gottlosen Zustand befindet sich auch der Tor oder Narr – auf den auch der Begriff „Maske“ zurückgeht, der vom Arabischen „mas-hara“ stammt, was eben soviel wie „Narr, Posse oder Scherz“ bedeutet. Die Ausgestaltung des Narren-Begriffs, das heißt die Verbindung der Gestalt des Narren mit der Gottlosigkeit, geht jedoch wohl auf den Bibelpsalm 53,2 zurück. Dort heißt es: „Die Toren sagen in ihrem Herzen: `Es gibt keinen Gott.´ Sie handeln verwerflich und schnöde; da ist keiner, der Gutes tut.“ Die Narrheit war der christlichen Interpretation zufolge insofern zu verstehen als das Fehlen der Erleuchtung durch den heiligen Geist. Der Narr war also zunächst gar nicht spassig, sondern, wie auch in Sebastian Brandts „Narrenschiff“ aus dem Jahr 1494 deutlich wird, jemand, der mit dem Vorwurf konfrontiert war, „weit entfernt von jeder Gotteskenntnis in einem Zustand der Sündenverfallenheit zu leben“, wie der Kulturanthropologe Gunter Hirschfelder bemerkt.

Das Erscheinungsdatum von Brandts „Narrenschiff“ (übrigens ein Schiff ohne Segel oder Steuer und insofern nicht zu navigieren) fällt nicht zufällig „vff die Vasenaht“, wie er schreibt, denn auch der „Fastnachtsnarr“, und das will Brandt bewußt machen, lebt in Sünde und Unvernunft und gleicht insofern dem Menschen, der gegen die Gesetze Gottes, die göttliche Ordnung, verstößt. Spätestens hier setzt die Umstrukturierung des Bewußtseins und christliche Distanzierung von der Maskenkultur ein und wird die negative Konnotation der Maske und der Narrheit auf die komplette Fastnacht bezogen, die so zur „Narrenzeit“ wird: Das teuflische, ausschweifende Feiern gerät in Gegensatz zum gottgefälligen Fasten.

Der „Narr“ blieb bis ins 17. Jahrhundert hinein eine wichtige Figur, auch für gegenreformatorische Kräfte wie die Jesuiten, obwohl insbesondere die Reformation die Fastnachtsbräuche bekämpfte. Nicht zuletzt deshalb wurde Karneval, wie die Fastnacht nun genannt wurde, von der katholischen Kirche ideologisch umgedeutet und entwickelte sich insbesondere im katholischen Rheinland zunehmend zu einem bedeutenden Ereignis im gesellschaftlichen Leben: Denn nur in dieser darf sich die andere, verteufelte oder verdrängte, sündhafte Seite zeigen, weshalb die Fastnacht in diesem Verständnis gewissermaßen eine zeitlich begrenzte Abkehr von Gott ist, das heißt die Fastnacht stellt zwar eine sinnlich-triebhafte, aber zumindest gesellschaftlich tolerierte Zeit der Enthemmung dar – die sogenannte „fünfte Jahreszeit“. Nur während dieses enttabuisierten Zeitraums, unerkannt im Schutz der Maske, kann die hemmungslose und exzessive Auflehnung gegen Zwang und Beschränkung straffrei stattfinden und sich das Verdrängte frei entfalten – bisweilen natürlich als ein durch Alkohol induzierter Rausch, der den Exzess erst initiiert.

Die „Abkehr von Gott“ wird durch die Maskierung noch erleichtert, die insofern eine Art „Ventil“ bietet für die durch christliche Moralität und gesellschaftliche Normen eingeengte Subjektivität: „Die Maske“, schreibt der Theaterwissenschaftler Matthias Warstat, „begünstigt eine Form der Enthemmung, die im theatralen wie im karnevalesken Handeln ethisch dadurch gerechtfertigt wird, daß die christlich-rationalistische Maxime des Maßhaltens außer Kraft gesetzt ist.“ Umgekehrt liegt die christlich-katholische Legitimierung oder Tolerierung der Tabubrüche (Alkoholkonsum, sexuelle Freizügigkeit, Masslosigkeit et cetera) im Anlass des Karnevals selbst begründet – auch wenn eine theologisch-didaktische Anleitung durch die Kirche fehlt –, ist damit doch das Fest vor der anschließenden Fastenzeit bezeichnet: „Karneval“ leitet sich etymologisch vermutlich vom mittellateinischen „caro“ (Genitiv: carnis) für „Fleisch“ und „levare“ für „wegnehmen“ ab, das über die Zwischenformen „carnislevamen“ beziehungweise „carnelevare“ („Fleischwegnahme“) zu „carne vale“ („Fleisch lebe wohl“) und schließlich „Karneval“ wurde.

Angesprochen werden sollte damit auf den Verzicht von Fleisch warmblütiger Tiere während der Fastenzeit sowie von Milchprodukten und Eiern, weshalb diese dann am Ende der Fastenzeit, zu Ostern, so zahlreich vorhanden waren. Denn im katholischen Christentum haben Gläubige die Pflicht zum Fasten. Daher mussten vor der Entwicklung der modernen Konservierungsmethoden auch alle verderblichen Lebensmittel bis dahin verbraucht werden, was die vielen fett- und eierreichen Speisen zu dem Anlass erklärt. Darüber hinaus markiert der Martinstag, mit dem Brauch der Martinsgans, auch das Ende des bäuerlichen Wirtschaftsjahres, was auch für den Weinbau gilt, wo die Lese und Verarbeitung des Traubenguts inzwischen weitestgehend abgeschlossen ist und der Wein im Keller ausgebaut wird.

Das Wort „Karneval“ ist erst seit 1699 in Deutschland belegt und die urkundliche Ersterwähnung (in Köln) datiert von 1779, als der Begriff als Synonym für Fas(t)nacht und Fasching verwendet wurde. „Vastnacht“ beziehungsweise „Fast- oder Fasnacht“ bezeichnet die letzte „Nacht vor der Fastenzeit“ und ist seit der Zeit um 1200 belegt – der Ausdruck leitet sich vom mittelhochdeutschen Begriff „vast-schanc“ für „Ausschank vor der Fastenzeit“ her, aus dem im süddeutschen und österreichischen Raum über die Bezeichnung „Faschang“ der „Fasching“ wurde. Zu dieser Zeit, zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert, vollzog sich im Rheinland auch die Genese der Städte und damit ein völlig neuer Lebensstil mit einer handwerklich-bürgerlichen Kultur, die auch die Veränderung des traditionellen Brauchtums zur Folge hatte, das nun säkularisiert und – mit der nun entstehenden Wirtshauskultur – auch kommerzialisiert wurde. Jetzt traten auch Verkleidungen stärker auf den Plan.

Alle Bezeichnungen – Karneval, Fastnacht und Fasching – werden also synonym verwendet und beziehen sich auf die anschließende Fastenzeit, die in Erinnerung an das im Matthäusevangelium beschriebene 40-tägige Fasten Jesu` in der Wüste erfolgte. Sie sind insofern also auf den christlichen Jahresfestkreis bezogen, der aus einem Oster- und Weihnachtsfestkreis besteht: Auf dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 wurde die verbindliche Festlegung von Ostern auf den ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond beschlossen – und 40 Tage vorher sollte die Fastenzeit beginnen, also dem heutigen Aschermittwoch, seit das Konzil von Benevent im Jahr 1091 beschloss, alle Sonntage als Gedächtnistage der Auferstehung nicht einzurechnen (in Basel beispielsweise hält man sich noch heute an den alten Kalender, weshalb die Fasnacht dort eine Woche später stattfindet als im Rheinland).

Auch der heutige 11. November – der „Elfte im Elften“ (die Zahl Elf verkörpert die Gleichheit aller Narren, im Sinne von „Eins und Eins“ oder „Gleich und gleich gesellt sich gern“, übersteigt die Zehn Gebote und bleibt unterhalb der göttlichen Zahl Zwölf) – nimmt den Beginn einer alten vorweihnachtlichen Fastenzeit auf und ist insofern auf den christlichen Festkreis, den Weihnachstfestkreis, bezogen: Es ergibt sich aus dem 40-tägigen Fasten – die Wochenenden läßt man wiederum weg – der 12. November als Anfangsdatum. Der Weihnachtsfestkreis endet am 6. Januar mit Epiphanias, bevor am Dreikönigstag beziehungsweise mit der „Weiberfastnacht“ am Donnerstag (im österreichischen Fasching auch „gumpiger Donnerstag“ genannt) die sechs Tage des eigentlichen Karnevals bis Fastnachtsdienstag beginnen.

Der Beginn des Karnevals im November wurde erst um 1830 in den Karnevalshochburgen des Rheinlands (Mainz ausgenommen) eingeführt. Schon mit den Einmarsch der Franzosen 1794 und durch den Fall an Preußen 1815 ändern sich die vormodernen Formen und Strukturen des Karnevals im Rheinland grundlegend. Die Aufklärung sowie die kirchenfeindliche Position der Französischen Revolution erschüttern nicht nur die christliche Vorstellungswelt des Fastens; Besatzungszeit und protestantische preussische Vorherrschaft veränderten die rheinischen Formen des Karnevals und politisieren ihn: die sogenannten Festordnenden Komitees wurden eingeführt, der Karneval institutionalisiert (und verbürgerlicht), um Konfrontationen zu vermeiden. Davon zeugen beispielsweise die Narrenkappen, die seit 1829 (in Köln) Zeugnis ablegen indem sie nach dem Freiheitssymbol der französischen Jakobinermütze gestaltet sind. Überhaupt verschwanden jetzt die alten Masken fast vollständig – auch die schon lange vorher, in der Renaissance, von der höfischen Gesellschaft eingeführten „Halbmasken“, die, wie das Kostüm, keinerlei religiöse oder metaphysische Bedeutsamkeit mehr hatten, sondern einzig und allein dem Rollenspiel dienten. Der Karneval war fortan einer permanenten Transformation unterworfen – und ist es bis jetzt.

Heutzutage jedoch tritt der Anlass des Karnevals als Vorbereitung auf die Fastenzeit fast völlig aus dem Bewußtsein, das heißt der Grundgedanke des Festes vor dem Fasten ist bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abhanden gekommen (seit die Hungerkrisen überwunden sind). Mehr und mehr rückt stattdessen ein zweckfreies Erleben und Feiern in der Gemeinschaft in den Vordergrund, „ein planmäßig erzeugtes Ereignis, das von einer professionellen Reflektionselite mit Sinn und Bedeutung versehen wird“, wie Gunther Hirschfeld in seinem Artikel „Karneval auf dem Weg in die Event-Gesellschaft“ schreibt, wobei sich Events als „Vergemeinschaftsformen grenzenloser, sich zunehmend individualisierender und pluralisierender Gesellschaften“ bezeichnen lassen, als ein „Spiegelbild einer zunehmenden Verszenung spätmoderner Gesellschaften“. Aber ist damit zugleich eine Karnevalisierung unserer gesamten Kultur verbunden? Hat die „Blödmaschine“, um mit Markus Metz und Georg Seeßlen zu sprechen, schon übernommen?

Erst ihre Entbindung vom religiösen Gebrauchscharakter erschließt neue Funktionsmöglichkeiten für die Maske, habe ich oben geschrieben, bis dahin war mit dem Anlegen der Maske noch eine Beschwörung des Dämons verbunden. Ist es heute wirklich anders? Auch deshalb: Maske auf!

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