Zur Theaterproduktion „Neue Horizonte: Eternity für alle!“ von andcompany&Co. feat. Arbeiter*innentheater im HAU2, Uraufführung am 16. Oktober 2020 …
In den 1960er-Jahren beschließt die Deutsche Demokratische Republik, eine Grundstoffindustrie aufzubauen. Aus diesem Grund wird in Schwedt ein petrolchemisches Kombinat, die PCK Schwedt, errichtet und eine 5.000 Kilometer lange Pipeline von Aserbaidschan bis kurz vor Berlin geführt. Sie wird von Walter Ulbricht auf den Namen „Druschba“ (Freundschaft) getauft und 1964 eröffnet. Das Erdölverarbeitungswerk in Schwedt geht ans Netz und beginnt, verschiedenste Rohstoffe zu entwickeln, die in der Landwirtschaft genauso genutzt werden, wie in der Chemieindustrie, aber auch für Plastikartikel des täglichen Alltags der DDR.
Das PCK Schwedt entwickelt sich schnell zum „Silicon Valley“ der DDR und „1968 proben die Arbeiter*innen des Petrochemischen Kombinats die Revolution – die WTR (wissenschaftlich-technische Revolution). Hier werden zum ersten Mal Rechner miteinander vernetzt. Computer sollen in Echtzeit die Produktion steuern. `Genossen´ – lasst es uns optimieren!“ lautet das Motto, heißt es in diesem Zusammenhang im Programmzettel. Das PCK hat bald „Weltstand“ und ist auch gegenüber dem Westen technologisch konkurrenzfähig.
Das ist gewissermaßen auch das werkseigene Arbeiter*innentheater, das damals mit einem Stück von Gerhard Winterlich mit dem Titel „Horizonte“ Erfolge feiert. Auf diesen Erfolg wird auch Heiner Müller aufmerksam, der das Stück im Jahr 1969 zur Eröffnung der Intendanz von Benno Besson an die Berliner Volksbühne übernimmt und es mit Shakespeares „Sommernachtstraum“ verbindet.
Ein halbes Jahrhundert später übernimmt nun andcompany&Co. im Hebbel am Ufer dieses Material und „collagiert“ es neu. Zusammen mit echten Zeitzeugen aus dem PCK, ehemaligen Mitgliedern des Arbeiter*innentheaters aus Schwedt, widmen sie sich dem damaligen Aufbruch in die Zukunft und übersetzen ihn gewissermaßen in die Gegenwart: Was bedeutet Automatisierung, wie der technische Prozeß damals im PCK Schwedt hieß, oder heute eben Kybernetik, Algorithmisierung und Digitalisierung? Welche Auswirkungen hat die digitale Revolution für die Zukunft der Arbeit und was passiert mit den Menschen, wenn die Arbeit immer weniger wird? „Hat der Mensch dann noch eine relevante Aufgabe, an der er sich beweisen kann, wo er gefordert wird?“, fragt eine Mitwirkende aus dem Arbeiter*innentheater.
Schon das Stück „Horizonte“ von Winterlich und dessen Bearbeitung durch Heiner Müller hatten sich „mit der `Einführung der elektonischen Datenverarbeitung in menschlichen Beziehungen´ (Heiner Müller) beschäftigt. Fünfzig Jahre später erscheint die `Hochzeit von Mensch und Maschine´(Heiner Müller) nicht länger als Science Fiction, sondern als reale Möglichkeit. Und damit sowohl die Auslöschung als auch die Unsterblichkeit der Gattung“, heißt es im Programmzettel.
Die selbstregulierende und fortwährende „Optimierung“ des Systems hat den Menschen aus dem Produktionsprozeß ausradiert – die anfängliche Hoffnung und der Traum vom Fortschritt hat sich ins Gegenteil verkehrt. Sinnbildlich dafür fungiert ein aufblasbares Plastik-Einhorn auf der Bühne – ein Zitat aus der Originalinszenierung -, das einfach nicht stehen will, sondern umfällt, weil es Luft verliert – das sich der Optimierung verweigert, wenn man so möchte.
Ansonsten stehen auf der Bühne (und auf der Zuschauertribüne) drei „Produktionskapseln“, in Form von chemischen Formeln, aus denen die Arbeiterschauspieler*innen via Videoübertragung auf eine Leinwand zu sehen und zu hören sind, und von denen aus sie von ihren Erinnerungen an den Aufbruch in die Zukunft berichten, in glänzenden und blinkenden Science-Fiction-Kostümen. Auch die drei Musiker, die den Abend mit elektronischer (House-)Musik und Geräuschen begleiten, stehen permanent auf der Bühne und sind ganz in Silber gekleidet. Daneben finden sich noch Plastikrohre und ein Camping-Set auf der Szene.
Die Männer des Arbeiter*innentheaters werden per Videoscreen eingespielt, oder erscheinen als eine Art Hologramm, sind aber (mitunter aus gesundheitlichen Gründen) nicht persönlich anwesend.
Die Inszenierung folgt keiner dramaturgischen Kohärenz – es ist eher eine Collage aus Zitaten aus Wunderlichs „Horizonte“ in der Bearbeitung von Müller und persönlichen Erinnerungen der Arbeiterschauspieler*innen, zum Beispiel darüber, wie das mit den Schichtfahrrädern war – wer sie wann, entgegen der Vorschriften, doch auch benutzte, um damit Abends nach Feierabend nach Hause zu fahren („Du konntest dich ja darauf verlassen, dass sie am nächsten Tag wieder da waren.“)
Persönliche Geschichten wie diese werden mit der Abstraktheit eines maschinellen Systems konfrontiert, dass sich menschlicher Kontrolle scheinbar entzogen hat. Und hierin liegt auch die Kernfrage der Stücks, wie der Dramaturg Alexander Karschnia in einem RBB-Interview sagt: „Kern des Konflikts ist die Frage: Ist Technik steuerbar? Soll man die Technik sich selbst überlassen, damit sie sich möglichst rasch entwickeln kann, oder ist es wichtig, daß wir Menschen den Maschinen Ziele vorgeben? Das ist die aktuelle Frage – damals, aber heute vielleicht noch viel mehr.“
Diesem Anspruch allerdings wird die Inszenierung leider nicht gerecht. Zum einen verliert sie sich in nicht eingebundenen Passagen, wie jene „Ich bin hier, ich bin dort, warum bin ich nicht hier, wenn ich dort bin?“-Szene, die sich über eine längere Zeit fortspinnt (und man vielleicht von Rene Pollesch kennt). Und schließlich gelingt es ihr trotz des massiven Einsatzes von Technologie nicht, die Probleme der mit der Automatisierung respektive Digitalisierung verbundenen sozialen Veränderungen glaubhaft darzustellen. Anstatt das aktuelle Bedrohungsszenario zu vermitteln, bleibt sie eher im Nostalgischen – dem sentimental-persönlichen – verhaftet (sieht man von den Rückgriffen auf den „Horizonte“-Text von damals ab).
Das alles ist den Arbeiterschaupieler*innen nicht vorzuwerfen, sondern eine Schwäche der Konzeptionalisierung und Inszenierung. Noch dazu, da die Arbeiterschauspieler*innen an diesem Abend unter besonders schwierigen Umständen auf der Bühne standen, denn einer der Darsteller*innen, Edgar Walter, ist – wie man einem verteilten Handzettel entnehmen konnte – zurzeit auf der Intensivstation, sein Zustand ist kritisch.
So holt das Leben der Arbeiterschauspieler*innen die Fiktion auf der Bühne ein weiteres Mal ein und man möchte sich den Hoffnungen anschließen, „dass sein Zustand sich bald wieder stabilisiert“.