Theater

„Complex of Tensions“ von Jasco Viefhues

Du kannst dich entscheiden die Wahrheit oder die Lüge zu leben. Aber du kannst dich nicht entscheiden, queer zu sein.“ – Zur Performance „Complex of Tensions“ von Jasco Viefhues im Ballhaus Naunynstraße

Der Begriff „gender“, für den es keine adäquate deutsche Übersetzung gibt, verweist darauf, dass es neben unserem biologischen Geschlecht – und nur das wird mit dem deutschen Begriff Geschlecht (dem englischen sex) bezeichnet – auch noch ein sozio-kulturelles Geschlecht gibt. Untersucht werden sollen damit kulturelle Interpretationen und auch Repressionen (Gesellschaft hat immer auch mit Machtverhältnissen zu tun) der Geschlechterrollen innerhalb einer Kultur. Denn in einem cis- oder heterosexuellen Verständnis wird immer eine Kohärenz zwischen biologischem und soziokulturellem Geschlecht (zwischen sex und gender) sowie Geschlechtsbegehren postuliert und in heteronormativen Diskursen festgeschrieben.

Die behauptete Geschlechteridentität aber ist nicht ontologisch vorgegeben, sondern die Wahrnehmung eines Geschlechts kann verändert werden. Geschlechtsidentität ist überhaupt erst sozio-kulturell konstruiert und es sind diese kulturellen Bewertungen, die quasi naturalisiert werden. Denn Geschlechterzugehörigkeit wird durch beständige, stilisierte Wiederholung erzeugt. Es sind performative Akte, an die man glaubt und die permanent gesellschaftlich bestätigt werden (durch ein Publikum quasi): Performativität erhält ihre Gültigkeit nur, wenn sie vorgeführt wird. Identität ist insofern nicht biologische Geschlechtsidentität, sondern das, was man tut – eine in der Wiederholung hergestellte, konstruierte Identität und der natürliche Körper wird im kulturellen Kontext definiert.

Unsere Vorstellungen und Ordnung von Geschlecht und Hautfarbe, von Gender und Race, sind Veränderungen unterworfen und insofern auch soziale, normative Konstrukte. Auch „Schwarze Männlichkeit* ist ein gesellschaftliches Produkt, ein `Extrem´, durch das die Gesellschaft ihre Hierarchie und Normen figuriert“, wie es in diesem Zusammenhang im Programmheft zur Performance „Complex of Tensions“ von Jasco Viefhues heißt.

Entsprechend beginnt die Performance mit einer Art Prolog ohne Darsteller. Der Raum ist mit einem durchsichtigen Plastik-Vorhang umspannt, hinter dem die weiße Wand zu sehen ist, und der gesamte Boden ist mit weißem Tanzboden ausgelegt. Die Scheinwerfer und Boxen sind an schwarzen Stangen befestigt, die kreuz und quer an der Decke befestigt sind und tief herunter ragen. Eingespielt werden elektronische Geräusche, die aus einem Science-Fiction-Film stammen könnten, das Licht flackert. Man fühlt sich wie in einem futuristischen Studio und der weisse Raum wirkt wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, auf dem die beängstigende Apparatur ihre Zu- und Festschreibungen vornimmt. Complex of Tensions ist „eine Reise in die Zukunft, um von da aus zurück zu blicken auf Schwarze Männlichkeiten*“, sagt Regisseur Jasco Viefhues.

Wenn die beiden Tänzer Aloysius Itoka und Ronni Maciel die Szene betreten, wird mit dem Scheinwerferlicht ein Rechteck im weißen Raum abgegrenzt oder definiert, innerhalb dessen die Schwarzen Körper zunächst agieren dürfen. Begleitet vom Cellisten Eurico Ferreira Mathias wird nach und nach – unter Rückgriff auf ein aus Interviews und Gesprächen mit in Berlin lebenden, queeren, Schwarzen Männern* aus der Afrikanischen Diaspora gespeistes Audioarchiv – freigelegt und performativ entwickelt, was queere Schwarze Männlichkeit* bedeutet. Auch Biografisches der beiden Tänzer fließt ein (Itoka ist in Liberia aufgewachsen und wurde in New York zum Tänzer ausgebildet, er erzählt von seiner Schulzeit und Erfahrungen in Manhatten, während Maciel aus Brasilien kommt und unter anderem traditionelle Heimatlieder singt). Es entwickelt sich eine assoziative Collage aus Sprache, Text und Tanz. Man erfährt von gesellschaftlicher Diskriminierung und Unterdrückung des Schwarzen Körpers, der Schwarzen Männlichkeit*, wie beispielsweise in einer Geschichte zur rassistischen Türpolitik im legendären „Studio 54“ in New York: Der Schwarze Protagonist kommt nur rein, weil er sich komplett in weiss kleidet, so eng, „dass man sogar seine Religion erkennt“, mit Cowboyhut – als „weisser, jungfräulicher Cowboy“ sozusagen. „Im durchsichtigen, weißen Shirt ging so einiges.“

Begreift man „Geschlecht“ als das, was man tut, ist hier die Maskerade identitätsstiftend, ein Effekt der Inszenierung. Vor diesem Hintergrund jedenfalls unternimmt Jasco Viefhues mit seiner Performance den Versuch, ein anderes, positives und selbstbestimmtes Bild Schwarzer Männlichkeit* zu entwerfen – ohne Verkleidung. Es geht um ein Bewußtsein für die eigene Identität – und der Begriff queer betont gerade die eigene, von der Heteronormativität abweichende, Geschlechterrolle beziehungsweise Geschlechtsidentität. Angesprochen ist damit ein Spannungsfeld, eben ein Complex of Tensions, zwischen stereotyper, heteronormativer Zu- und Festschreibung einerseits und persönlicher Identitätsfindung andererseits. Und das, obwohl – wie Itoka an einer Stelle sagt: „Ich bin doch schon Schwarz. Warum muß ich auch noch queer sein?“

Sich selbst in seiner queeren, Schwarzen Männlichkeit* zu erfahren, heißt in unserer Gesellschaft wohl immer noch dasselbe, wie vor Generationen: „Die Erfahrungen, die wir machen, wiederholen sich. Wie in einer Doppelhelix wachsen Geschichte und Generationen. Doppelt gewindet. Die Erfahrungen spiegeln sich. Männer* sind gemacht. Schwarze Männer*“, heißt es im Programm.

Geschichte ist immer auch Kolonialgeschichte – und „Kolonialgeschichte dreht sich langsam, entsetzlich langsam. Vorherrschende Bilder Schwarzer Männlichkeit* lassen keinen Raum für Zukunft.“ Als seien uns die vorherrschenden Bilder Schwarzer Männlichkeit* genetisch in die Doppelhelix eingeschrieben … Kolonialisierung ist immer auch mit Stereotypisierung verbunden und der Mythos des unzivilisierten, sexualisierten Schwarzen Mannes wird in kolonial-rassistischer Tradition fortgeschrieben. Die Haitianische Revolution, die in der Performance auch angesprochen wird, bildet gewissermaßen nur die Matrix für die Furcht vor Schwarzer Emanzipation. Ihr hat man schon vor langer Zeit den Krieg erklärt, und nach wie vor gilt es Standhaft zu bleiben und Aufrecht: „Haltung bewahren“ ist zu einer moralischen Verpflichtung geworden – und das Ballett, die vollkommene Streckung, zum Ideal.

Das Ballett ist sicherlich die Institution zur Körperdisziplinierung schlechthin. Im Ballett wird das Individuum entsubjektiviert, hier verliert es seine spezifische Eigenart. Erreicht werden soll im Gegenteil die Möglichkeit der stilisierten Wiederholung. Und die fünf Grundpositionen des Balletts werden auch in Complex of Tensions durchexerziert. „Schaut wie Professionell er dasteht“, sagt Itoka gegen Ende der Performance, Maciel meinend – der kerzengerade in der ersten Position (la première position) verharrte, Beine und Füsse en-dehors nach Außen gedreht und die beiden Arme im Halbkreis vor dem Körper –, als er von der Szene abgeht. Dann aber beginnt sich Maciel nach vorne zu bewegen, löst sich schließlich ganz aus der versteiften Ballettpose und gewinnt dadurch erst seinen ganz individuellen Gang. Als hätte er seine Freiheit gefunden …

In der abschließenden Tanzsequenz bringt Ronni Maciel seinen befreiten Körper zum Ausdruck. Er steht zunächst mit dem Rücken zum Publikum und trägt ein weisses Ballerina-Tutu sowie Federschmuck um den Hals. Dann beginnt er sich zu bewegen und sich von diesen Kleidungsstücken zu befreien. Er legt gewissermaßen seinen Körper frei, schält sich aus jeder normativen Stilisierung, subjektiviert sich sozusagen. Der Körper des Tänzers wird zum Medium individueller Freiheit jenseits von Geschlechterzugehörigkeit, einem Ort der Utopie.

Damit unterläuft die Performance die unter einer heteronormativen Perspektive behauptete Geschlechteridentität (sex und gender), die ansonsten ja über die Wiederholung performativer Akte selbst hergestellt wird. Denn die Zeichen verlieren hier ihre wiederholbare Erkennbarkeit (um identitätsstiftend zu wirken müssen Zeichen bisweilen auch als solche erkennbar sein). Ausdruck findet allein das einzigartige, nicht codierte Selbst, ohne einem bestimmten Stil zu folgen. „Wollen wir nicht tanzen …?“, wird an einer Stelle im Programmheft rhetorisch gefragt.

Echte Freiheit, wußte bereits Viktor Frankl, ist niemals nur Freiheit von, sondern immer auch Freiheit zu …

Epilog zum Bild der Doppelhelix: Wie unsere DNA windet sich die Doppelwendeltreppe, escalier à doubles, durch den Donjons, den höchsten Turm, des Prachtschlosses Chambord. Sie wurde vermutlich von Leonardo da Vinci konstruiert, der auf Wunsch von Franz I. ab dem Jahr 1516 hier an der Loire seine letzten Lebensjahre verbrachte. Die Treppe bildet gewissermaßen das Urbild der Doppelhelix und besteht eigentlich aus zwei ineinandergreifenden Wendeltreppen, die sich um eine zentrale Achse winden. Das besondere oder merkwürdige an ihr ist, dass sich diejenigen, die auf ihr hinauf- oder hinuntersteigen zwar spiegeln, aber nie begegnen, stets aneinander vorbei laufen …

Schloß Chambord wurde etwa hundert Jahre später vom Sonnenkönig Ludwig XIV. für opulente Feste genutzt, neben Versailles. Er liebte den Tanz (das ist zum Beispiel auch Thema des Films „Der König tanzt“) und war es auch, der 1661 die Académie Royale de danse in Paris gründete, wo das Ballett erst entscheidend (weiter-)entwickelt wurde. An seinem Hof agierte der Tanzlehrer Jean-Baptiste Lully, der gemeinsam mit Molière die Ballett-Komödie entwickelte. Eine dieser Ballett-Komödien, „Der Bürger als Edelmann“, wurde 1670 in Chambord uraufgeführt.

Jasco Viefhues ist Regisseur, Videokünstler und Dramaturg und seit 2001 im Bereich Neue Medien, Design und Film tätig. Von 2005 bis 2017 studierte er an der Deutschen Film- und Fernsehakadem Berlin (Dffb) Regie. Im Frühjahr 2019 fand die Premiere seines Dokumentarfilms über Jürgen Baldiga Rettet das Feuer beim Filmfest München statt. Über den Film hinaus erweitert er seit 2016 sein künstlerisches Repertoire um die Arbeit als Theater-Dramaturg, Workshop-Leiter und Videokünstler am Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Complex of Tensions ist sein Debüt als Theaterregisseur.

Aloysius Itoka wurde in Cavalla, Libera geboren. Er absolvierte eine Schauspiel- und Tanzausbildung an der University of Buffalo in New York. In dieser Zeit trat er u.a. am renommierten Dance Theaer of Harlem an der Metropolitan Opera auf. Seit 1989 lebt und arbeitet er in Berlin, u.a. als Solotänzer am Friedrichstadt Palast in der Revue City Lights. Er arbeitet seit langem hauptsächlich als freischaffender Schauspieler und Sprecher fürs Fernsehen, darunter zahlreiche Rollen in TV-Krimis (u.a. Tatort und Polizeiruf 110). Im James-Bond-Thriller Casino Royale synchronisierte er den Bösewicht. Für das Ballhaus Naunystraßee stand er bereits 2008 für die Inszenierung Schattenstimmen von Feridun Zaimoglu & Günter Senkel, in der Regie von Nurkan Erpulat, und 2017 in Walking Large von Toks Körner auf der Bühne.

Ronni Maciel wurde Carmo, Brasilien geboren. An der Escola Estadual de Danca Maria Olenewa und am Ballet Dalal Achcar in Rio de Janeiro studierte er unter anderem klassisches Ballett und Choreographie. Seit 2006 lebt und arbeitet er in Deutschland. 2013 choreographierte er die deutsche Erstaufführung von Chico Buarques Opera do Malandro (die „brasilianische Bettleroper“) an der Neuköllner Oper. Neben Autritten in Filmen, wie seiner Rolle als Josephine Baker in Julian Rosefeldts Deep Gold und der Entwicklung von Solo-Tanzstücken, arbeitet Ronni als Choreograf für Produktionen des Gefängnistheaters aufBruch. 2016 tanzte er für die Oper Orfeo Ed Euridice an der Staatsoper Berlin. Zudem choreographierte und spielte er in Der Indio für La Forza Del Destino von Giuseppe Verdi an der Deutschen Oper Berlin. Ronni Maciel gibt regelmäßig Tanzworkshops und arbeitet eng mit Produktionenen des Jungen Deutschen Theaters zusammen. In Complex of Tensions spielt er zum ersten Mal am Ballhaus Naunynstraße.

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