Essay

rauschgift

„Suff ist heilig. Suff ist profan. Suff ist Kiez. … Suff ist Suff!“, mit diesem Spruch in ihrem Schaufenster wirbt die Kreuzberger Weinhandlung Suff. Angesprochen sind damit gleich mehrere Aspekte über den gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol und dem Rausch. Das verdeutlicht eine Lektüre von Leslie Jamisons Buch Die Klarheit

„Es ist der Wein auch eines von den allerherrlichsten Getränken; da er aber schon ziemlich spirituös ist, so ist es nicht möglich, daß der Mensch vom Weintrinken allein hinlängliche Feuchtigkeit erlangen oder vom Wein allein leben kann, sondern er muß neben Wein bloßes Wasser oder doch andere mit Wasser gemachte Getränke und Gerichte noch dabei zu sich nehmen: Tut er dieses nicht, so kann ihm dies herrliche Getränk, der Wein, zum Gift werden …“

Hofrat Caspar Neumann, preußischer Apotheker (1683-1737)

„Viele Wissenschaftler ziehen den Ausdruck `chemische Abhängigkeit´ Begriffen wie `Sucht´ oder `Drogenmissbrauch´vor (…) Was also macht einen anfällig für eine ganz bestimmte chemische Abhängigkeit? Man könnte sagen, dass man aus Bedürfnissen besteht. Man könnte sagen, dass es niemanden gibt, auf die oder den das nicht zutrifft (…) All diese Erklärungen wären nicht falsch, und doch wäre keine hinreichend. Der Wahrheit am nächsten scheint immer noch das Eingeständnis zu kommen, daß jede Erklärung unvollständig und vorläufig ist, eine mögliche Form, um den leeren Raum des Warum? zu füllen. (…) Das ist eine der Ursachen, warum ich Das verlorene Wochenende so mochte – weil dieser Roman die Vorstellung weit von sich weist, man könne das Trinken ganz einfach, ja quasi automatisch in Bedeutung überführen. Beharrlich bleibt das Buch dabei: Nicht immer lässt sich selbstzerstörerisches Verhalten zurückverfolgen bis zu einem sauber identifizierbaren psychologischen Ursprungsmythos. Warum er trank, war längst gleichgültig geworden. Du bist ein Trinker, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Du trinkst, Punkt. In Charles Jacksons Darstellung war das Trinken also deutlich rätselhafter, grundloser, vielleicht auch weniger edel – eine Zerrüttung, die nicht ausschließlich in einem Zusammenhang mit großer psychologischer Tiefe stand.“

Leslie Jamison, Die Klarheit – Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung, Berlin (Hanser) 2018, S. 147f

Die 6.000 Hektar Rebfläche des Weinanbaugebietes Franken liegen gänzlich in Bayern – am Nordrand mit hundert Kilometern entlang des Mains, mit den Bereichen Maindreieck und Mainviereck sowie dem Steigerwald, zu dem auch der fränkische Teil des Taubertals gehört. Damit liegt Franken nördlicher als der Rheingau und ist von einem kühlen, kontinentalen Klima geprägt mit Durchschnittstemperaturen nur etwa um 8,5 bis 9 Grad Celsius, weshalb mit Ausnahme des Mainvierecks mit seinem warmen Buntsandsteinboden um Bürgstadt und Klingenberg auch überwiegend Weißweinsorten gepflanzt sind, insgesamt zu achtzig Prozent (aber nicht Riesling hat hier Priorität, sondern flächenmäßig Müller-Thurgau und von der Qualität her Silvaner).

Die Weinberge im Maindreieck liegen auf Muschelkalkboden, einem nährstoffreichen und tiefgründigen Boden, der mineralische Weine ergibt mit einer feinen Säure und viel Extrakt, während im Steigerwald Gipskeuper vorherrscht. Hier in den beiden kühleren Regionen Maintal und Taubertal liegen auch die Weinberge von Christian Stahl, ursprünglich zwei Hektar, die er 2007 von seinen Eltern übernommen hatte, die er jedoch innerhalb von nur zehn Jahren auf inzwischen dreißig Hektar vergrößerte. Damit kann er jährlich etwa 300.000 Flaschen befüllen, überwiegend mit Weißwein wie Silvaner, für den er bekannt ist, da seine Lagen teilweise auf 400 Metern und höher liegen. Die kalkhaltigen Böden und das kühle Mikroklima der Region begünstigen die typischen Stahlweine – extrem mineralische, saftige Weine mit Kante, die im Edelstahlstank ausgebaut wurden.

Christian Stahl wurde von Stuart Pigott für die Frankfurter Allgemeine Zeitung zum „Winzer des Jahres 2018“ gekürt. Erstmals ins Rampenlicht gerückt ist er aber schon 2009 mit einem Müller-Thurgau aus der Spitzenlage Tauberzeller Hasennestle, mit dem er bewies, dass man mit dieser Rebsorte auch anspruchsvollen Wein machen kann. Noch immer gilt der Tauberzeller Hasennestle als einer der besten Müller-Thurgaus (Rivaner heißt die trockene, leichte und frische Variante) in Deutschland. Im selben Jahr hat er aber auch noch mit einem anderen Wein viel Aufsehen erregt, nämlich der 2009er Scheurebe Damaszener Stahl. Stahl, der seine Weine nach dem Trinkfluß beurteilt (sie sollen nicht satt machen) und sie der Qualität nach in Feder Stahl, Edel Stahl, Damszener Stahl, und Best of einteilt, hat dieser extrem süffigen und rasch ausgetrunkenen Scheurebe den markanten Beinamen Rauschgift gegeben.

Mit diesem Namen sorgte Christian Stahl für Aufsehen in einer breiteren Öffentlichkeit. Damit provozierte er aber auch Ärger mit den bayrischen Behörden, die ihn dazu aufforderten, den Wein nicht länger mit diesem negativ konnotierten Namen zu etikettieren. Dem entsprach Christian Stahl – und nannte seine Weine der nächsten Jahrgänge eben zum Beispiel Kalter Entzug oder Flashback … die Aufmerksamkeit ist dem umtriebigen Winzer seither jedenfalls sicher und dürfte sich bestimmt auch absatzfördernd ausgewirkt haben. Man ist geneigt zu sagen, der Erfolg gibt ihm recht, oder?

Am Umgang der Behörden mit Christian Stahls Wein Rauschgift wird die ambivalente gesellschaftliche Wahrnehmung von Alkohol beziehungsweise Rauschmitteln im Allgemeinen deutlich. Denn einerseits ist Alkohol als Rauschmittel in unserer Gesellschaft erlaubt und das gesellige Trinken sowie auch der betrunkene Zustand, der Rausch, innerhalb der Gemeinschaft zumindest toleriert; Andererseits endet diese Akzeptanz spätestens dann, wenn Alkohol zum Rauschgift wird. Den Umschlag vom Rauschmittel zum -gift markiert die Sucht, denn dann wird Alkohol als eine Bedrohung wahrgenommen, als ein schädliches Phänomen, nicht allein für das Individuum in seinem subjektiven Leiden, sondern insbesondere auch für die Gesellschaft: „Die Toleranzgrenze ist markiert durch Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, der Sicherheit und den volkswirtschaftlichen Kostenanfall“, bemerkt Martin Tauss in diesem Zusammenhang.

Der Süchtige bedroht die kapitalistische Gesellschaft – während der Rausch selbst, im Sinne Baudelaires, noch eine zutiefst kapitalistische beziehungsweise marktwirtschaftliche, bürgerliche Angelegenheit ist (weshalb Baudelaire selbst lieber zum Opium griff). Wilhelmine Rotfuchs beschreibt dieses Verhältnis von Rausch und Sucht in ihrer Geschichte Nach drei Nächten aus dem Jahr 1976: „Am Morgen danach stehe ich mir selbst hilflos gegenüber. (…) Nachts, als ich endlich allein mit mir selbst war, da war kein Entsetzen, keine Angst, keine Scham. Mein Schlaf war tief und ruhig. Erst das Erwachen, das Wiedereintauchen in die Welt der anderen trennt mich von mir. (…) Ich möchte sein wie sie … vom Bewußtsein, besser geworden zu sein, erfüllt. Und so lange ich nüchtern bin, funktioniert das auch alles … ich bewege mich ohne Alkohol noch im Rahmen meiner Umwelt. Dann, wenn ich nach zu vielen Bierchen noch eins und noch eins trinke, kommt die erste Phase, und die ist bereits widerlich genug: ich beginne, mich nach den geltenden Regeln der Marktwirtschaft zu verkaufen. Ich werde witzig, ein wenig frech und ziemlich keß. Dabei mache ich jene Hüftbewegung, an der der Blick von Männern kleben bleibt. Meine Augenlider klimpern kokett, sie senken sich langsam … Die ganze Schau kommt auch ziemlich gut an, mein Verkaufserfolg ist meistens recht groß. Um meine durch die ach so kecken Witzwörtchen beanspruchte Kehle feucht zu halten, kippe ich noch ein paar Bierchen, bis langsam das Ende kommt. Die ersten Risse in der Erinnerung – später – stellen sich ein, und ich fange an abzuheben. Wenn schon Terror, dann aber bitte von mir, ich schreie Menschen an oder ich knutsche mich mit ihnen ab, ich beginne zu weinen oder zu toben, bis sich alles auflöst, bis sich meine Wahrnehmungsfähigkeit nur noch auf Fetzen erstreckt und schließlich auf gar nichts mehr. Allein mit mir selbst, im Schlaf, vergesse ich alles. Und am Morgen danach … siehe oben …“

Wilhemine Rotfuchs erklärt nicht, warum sie nach zu vielen Bierchen noch eins und noch eins trinkt, der Umschlag vom akzeptierten Rausch zur Offenbarung der Sucht erfolgt ohne Erklärung. Aber offenbar ist sie innerhalb des Rahmens der geltenden marktwirtschaftlichen Regeln auch nur berauscht ein Verkaufserfolg … „Die meisten Abhängigen beschreiben den Alkohol- oder Drogenkonsum als etwas, was einen Mangel behebt“, schreibt Leslie Jamison. All die Fragen nach dem Warum? werfen nur immer dieselbe Frage auf: „Woher kommt denn eigentlich der Mangel?“ Die Antwort darauf könne stets nur unzureichend sein, „(d)er Zustand des Ungenügens gehört zum Menschsein dazu“, schreibt sie, und auf sich selbst bezogen, „(n)achdem ich angefangen hatte, Alkohol zu trinken, war er äußerst überzeugend darin, mir eine bestimmte körperliche Garantie zu geben und einzuhalten: Damit wirst du dich fühlen, als würdest du genügen. (…) Vielleicht aber ist der Mangel auch ein systemischer: Ich bin in den Spätkapitalismus hineingeboren worden, ein Wirtschaftssystem, das mich an die Vorstellung verkauft, ich sei unzulänglich, damit es mir im Gegenzug die Vorstellung verkaufen kann, Konsum sei die Antwort auf meine Unzulänglichkeit. Es stimmt, die Menschen haben sich auch lange vor dem Kapitalismus schon mit Freuden weggeschossen, aber ebenso richtig ist es, dass eines der zentralen Versprechen des Kapitalismus – Transformation durch Konsum – nur eine andere Version des Versprechens ist, das einem auch die Abhängigkeit gibt. Mach etwas aus dir. Das ist einer der säkularen Glaubensgrundsätze im amerikanischen Gospelsong der Produktivität.“

Die 1989 in Kreuzberg gegründete Weinhandlung Suff – Schöner trinken wirbt mit dem Spruch: „Suff ist heilig. Suff ist profan. Suff ist Kiez. … Suff ist Suff!“ Und tatsächlich sollten Rauschmittel wie Alkohol seit jeher in rituellen Zusammenhängen den Einstieg in andere Seinszustände bewirken. Wein ist hier begriffen als ein spirituelles Getränk, das in den berauschenden Trankopfern die Trunkenheit als Metapher religiöser Verzückung versteht – und „Ekstase und religiöse Ergriffenheit sind notwendig, um das Wunder der Ehrfurcht im Angesicht Gottes kennenzulernen und mit dem Gott eins zu werden“, weiß Brigitte Marschall. Suff ist heilig. Dieses ursprünglich heiligen, rituellen Gebrauchs allerdings erinnert man sich heutzutage, in unserer entzauberten Welt, kaum noch. Spätestens seit Leslie Jamisons Buch Die Klarheit wissen wir, dass der Alkoholkonsum profan geworden ist. Suff ist profan. Es geht überwiegend nicht mehr um Rausch und Erkenntnis, sondern Delirium und Zerstörung sind an seine Stelle getreten. Oder wie Jamison schreibt: „Das In vino veritas war eines der reizvollsten Versprechen des Trinkens: als wäre das Trinken keine Entwürdigung, sondern eine Erleuchtung, als enthüllte es die Wahrheit, statt sie zu verschleiern.“ Jacques Derrida spricht in diesem Zusammenhang von der „Lust an einer Erfahrung ohne Wahrheit“.

Schon lange vor der Profanisierung des Alkoholkonsums hat sich im von Norbert Elias beschriebenen Prozess der Zivilisation Rationalisierung als eine weitgehende Internalisierung bisher von außen bestimmter Verhaltensmaximen im Individuum durchgesetzt. Rationalisierung in diesem Zusammenhang bedeutet Affektkontrolle und Selbstbeherrschung – und damit eine Kontrolle des Alkoholkonsums beziehungsweise des Rausches. Entsprechend schreibt Jamison: „Trinken fühlte sich an wie das Gegenteil von Einschränkung. Es war Freiheit. Es bedeutete, dem Wollen nachzugeben und es nicht länger abzulehnen. Es war hemmungslose Selbstaufgabe. Eine Selbstaufgabe, bei der das draufgängerisch Rücksichtslose genauso mitschwang wie der plötzliche Abschied (…) Das Sichbetrinken war im Normalfall dazu da, einen Punkt der Selbstaufgabe zu erreichen.“

Aber ab wann wird Trinken pathologisch? „Als ich betrunken mein Tagebuch fragte: Bin ich Alkoholikerin?, versuchte ich eine Antwort zu finden … Heute denke ich: wenn es so tyrannisch wird, dass es Scham evoziert. Wenn es das Subjekt nicht mehr konstituiert, sondern als mangelhaft deutet. Wenn man aufhören will, aber nicht kann; wenn man noch mal versucht aufzuhören, es aber wieder nicht schafft; und es wieder versucht, aber wieder nicht schafft. (…) Als ich meinem Tagebuch betrunken die Frage Bin ich Alkoholikerin? stellte, sucht ich nach einer Kategorie, die mir verraten würde, ob mein Schmerz real war – als würde dieser Schmerz unanfechtbar, indem ich mehr und mehr trank. Natürlich war mein Schmerz real, so wie jedermanns Schmerz real ist. Natürlich nicht unmittelbar vergleichbar mit irgendjemandes im Speziellen – nur generell mit jedermanns.“ Da ist der Schmerz beim Ritzen, das sich Leslie Jamison früh angewohnt hatte, schon spezifischer: „(I)rgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich mich aus meinen ganz eigenen Beweggründen zum Ritzen hingezogen fühlte. Ich konnte mir damit die Unzulänglichkeit in die Haut schneiden, dieses Gefühl, für das ich nie die richtigen Worte fand; das Gefühl einer inneren Verletztheit, das so vage war und immer überschattet vom Glauben an seine Unbegründetheit, dass die konkrete Klarheit einer Blut zutage fördernden Klinge ihren ganz eigenen Reiz entfalten konnte. Auf diesen Schmerz durfte ich Anspruch erheben, denn er war körperlich und unbestreitbar, auch wenn ich mich immer dafür geschämt habe, daß ich ihn vorsätzlich herbeiführte. (…) Ich erschaudere, wenn ich auf die theatralische Inszenierung meiner existenziellen Ängste zurückblicke (…) Meine Art, mit dieser chronischen Schüchternheit umzugehen, die sich wie ein ständiges Versagen anfühlte, bestand also im Ritzen und im Schreiben.“ Und so schrieb Jamison ihr erstes Buch über Schmerz, über Alkoholismus.

Später, mit ihrem Buch Die Klarheit Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung, wollte Leslie Jamison kein Buch mehr über Alkoholismus, sondern über ihre Genesung bei den Anonymen Alkoholikern schreiben. Dieses Buch sollte funktionieren wie ein Meeting bei den Anonymen Alkoholikern selbst, das heißt erzählt wird eine Geschichte nach der anderen: „Was ist ein Meeting? Einfach nur ein Leben nach dem anderen: eine Anthologie, zusammengehalten von der Klammer der Ernsthaftigkeit. (…) Es nimmt dich mit von einem Leben in ein anderes – nichts einfacher als das, mit ausgestreckter Hand, ein fließender Übergang oder eine Entschuldigung ist nicht nötig.“ Eine Anthologie ist ohne dramatische Entwicklung, und dabei, so schreibt sie, glaubte „ein Teil von mir immer noch, dass echte Trinkergeschichten die ganz großen Tragödien brauchten“, denn „(w)enn Suchtgeschichten sich von der Dunkelheit nähren, von der hypnotisierenden Spirale einer fortgesetzten, sich ausweitenden Krise, dann erscheint die Genesung oft als narrative Flaute … als fader Nachklapp einer fesselnden Feuersbrunst“.

Hinter diesem Gedanken steckt der Mythos vom Rauschmittel als bestimmender Agens des Kulturschaffens beziehungsweise das Bekenntnis zum Rausch als „Schlüssel zum Mysterium“ (Alfred Springer), einer Sphäre des Heiligen gewissermaßen – oder einer Höllenfahrt zumindest. Mit diesem Mythos, dieser Vorstellung jedoch bricht Jamison, denn während ihrer Genesung bei den Anonymen Alkoholikern erlebte sie etwas Irritierendes: Hatte sie bisher immer geglaubt, Schreiben hätte etwas mit Einzigartig zu tun und damit, wie man diese Einzigartigkeit in Worte fasst, erlebte sie dort das genaue Gegenteil. Nämlich eine Gemeinschaft, „die sich genau gegen das wehrte, was mir immer über Geschichten erzählt worden war: dass sie einzigartig sein müssen“. Für die Anonymen Alkoholiker haben alle Menschen durch ihre Sucht etwas gemein – und wer unter uns ist nicht süchtig -, und diese Geschichten über Sucht und Genesung, insbesondere auch in der Literatur, haben insofern stets etwas Redundantes. (Und dadurch werden auch diese Geschichten, wird Sucht und Suff profan.) Ihre eigene Geschichte – das könnte jeder bei den Anonymen Alkoholikern, das könnte die Geschichte von jedem hier sein. „Das Paradoxon von Genesungsgeschichten, so lernte ich, bestand darin, dass man sein Ego aufgeben sollte, indem man eine Geschichte hervorbrachte, in der man selbst die Hauptrolle spielte. Es war ein Paradoxon, das nur durch das Eingeständnis von Allgemeingültigkeit ermöglicht wurde: Zufällig stehe ich im Zentrum dieser Geschichte, aber es könnte auch jeder und jede andere sein. Als Gilles Deleuze schrieb, dass `das Leben nichts Persönliches ist´, meinte er genau das: Dass eine indviduelle Geschichte gleichzeitig mehr und weniger ist als bloßer Selbstausdruck.“

All diese Geschichten über den Rausch, den Jamison bei den Anonymen Alkoholikern und anderen SchriftstellerInnen beobachtet, erzählen immer dasselbe: Sie fragen nach den Ursachen und Gründen des je eigenen Alkoholismus. Für Jamison jedoch gibt es hier nichts zu ergründen: „Als ich die Redewendung trinken, um betrunken zu sein zum ersten Mal hörte, fand ich sie auf lustige Weise tautologisch. Natürlich trank man, um betrunken zu sein. Genauso, wie man atmete, um Sauerstoff in den Körper zu bekommen.“ Suff ist Suff. Entsprechend rückt sie ab davon, nach Gründen und Bedeutungen zu fragen, stattdessen rücken die Möglichkeiten der Gesundung in ihren Fokus, genauer gesagt, die Suche nach den kreativen Möglichkeiten der Nüchternheit. Denn darüber ist noch keinem Alkoholiker eine Geschichte gelungen, daran sind alle vorher bisher gescheitert – oder gestorben.

Was bleibt zu Schreiben, wenn man nüchtern ist, ohne fesselnde Geschichten seiner Erlebnisse in der feuerlodernden Trinkerhölle? Leslie Jamison erklärt es mit dem, was ein gewisser Charles Jackson 1959 sagte: „`Ich wußte, ich konnte es besser als die anderen. Schließlich hatte ich wirklich eine Geschichte zu erzählen. Ich war eloquenter als die anderen. Ich konnte packend erzählen. Ich würde es allen zeigen.´ Fünfzehn Jahre zuvor hatte er in einer Phase der Nüchternheit einen Roman über Alkoholismus veröffentlicht, der zum Besteller wurde (…) Nachdem er fünf Minuten geredet hatte, kam Charlie auf die Idee vielleicht doch lieber so anzufangen wie die anderen auch. `Ich heiße Charles Jackson´, sagte er also, `und ich bin Alkoholiker.´ Er besann sich auf den gängigen Refrain und stellte fest, dass das Gemeinsame, das von allen Geteilte, seine ganz eigene heilsame Qualität haben kann. `Meine Geschichte unterscheidet sich nicht groß von der von anderen´, sagte er. `Es ist die Geschichte eines Menschen, den der Alkohol zum Idioten gemacht hat, immer wieder, jahrein, jahraus, bis schließlich der Tag kam, an dem er begriff, dass er allein nicht mehr klarkommt.´“ Ganz in diesem Sinn, mit der Erkenntnis, daß „ich alleine nicht mehr klar komme“, wollte Leslie Jamison nun ein Buch schreiben, „das ehrlich ist, das sagt, wie hart, anstrengend und glücklich machend es ist, wenn man lernt das Leben so zu führen – in der Gruppe, als Chor und ohne die betäubende Zurückgezogenheit im Rausch.“ Auf den letzten ihrer 638 Seiten schreibt sie von Ehrfurcht, Empathie, Motivation, Verantwortung und Hingabe …. wenn man sich selbst nur zurücknimmt. Unumgänglich, wenn es darum geht, sich in der Nüchternheit zu verankern … und wohl auch in der Gemeinschaft. Suff ist Kiez.

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