Treffen 53 schreiende Frauen in einer Inszenierung von Einar Schleef auf Mitglieder einer Winzergenossenschaft …
„Ein Treppenlaufsteg steigt mitten durchs Publikum an. Mädchen … rennen truppweise heulend und kreischend, klagend und singend treppauf, treppab (…) Vor allem aber läßt Schleef Frauentruppen aufmarschieren – neben 14 Jungfrauen sieben klagende, tanzende, rangelnde Weiber; … dazu rund 30 Weiber im schwarzen Witwen-Gewand, die er aus Opernstatisterie und Laien rekrutiert hat, gut ein Drittel Ausländerinnen. Denen, sagt Schleef, falle rhythmisches Sprechen im Chor noch leicht, da sie die deutsche Fremdsprache ja `bewußt´ sprechen müßten. Dreieinhalb Stunden lang, ohne Pause, stürzen sich rasende Chorfrauen, brüllende Mannskinder über Rampe und Bühne …“
Der Spiegel 10/1986 zu Einar Schleefs Inzenierung von Die Mütter am Schauspiel Frankfurt
„… Elfriede Jelineks Sportstück in der Inszenierung von Einar Schleef. Hier führten die Akteure fünfundvierzig Minuten lang immer wieder die gleichen anstrengenden Übungen mit höchster Intensität bis zur körperlichen Erschöpfung durch, wobei sie mit ebensolcher Intensität im Chor stets dieselben Sätze in wechselnder Tonlage und Lautstärke wiederholten. Es war zu spüren, wie Energie freigesetzt wurde und zirkulierte. Einige Zuschauer empfanden dies offensichtlich bereits nach wenigen Minuten als Zumutung und verließen den Raum. Wer sich dagegen diesem Geschehen bis zuletzt aussetzte, spürte, wie sich ein energetisches Feld zwischen Akteuren und Zuschauern bildete, das sich mit zunehmender Dauer immer weiter intensivierte.“
Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen (2004)
„Gemeinsam sind wir stark!“ – diesem Ideal des Sozialreformers Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888) folgen in Deutschland etwa 8.000 Genossenschaften, davon sind nach Angaben des Deutschen Weininstituts 160 Winzergenossenschaften, die mit 28.000 Hektar Rebfläche fast ein Drittel der Gesamtrebfläche Deutschlands bearbeiten. Insofern entfallen auf die genossenschaftlichen Betriebe nahezu 30 Prozent der gesamten Weinerzeugung, womit sie jährlich etwa 800 Millionen Euro umsetzen. Schwerpunkt der genossenschaftlichen Produktion ist dabei Baden-Württemberg, allein dort befinden sich 115 Betriebe.
Die älteste Winzergenossenschaft Deutschlands, und wohl auch der Welt, wurde allerdings 1868 nicht im Badischen, sondern in Mayschoß im Ahrtal gegründet. Ihre Geschichte beginnt mit der Säkularisation der kirchlichen Besitztümer unter Napoleon Anfang des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit gehörten alle bedeutenden Weinberge zur christlichen Kirche, nachdem es insbesondere Benediktiner- und Zisterziensermönche waren, die ab dem 9. Jahrhundert Weinbau in Deutschland betrieben. Im Zuge der napoleonischen Säkularisation fallen diese Besitztümer nun über den Staat in die Hände der ortsansässigen Bauern. Nach Römern und Mönchen wurden jetzt sie zu Eigentümern jener Weinberge, die sie vorher in Erbpacht von den Klöstern zur Verfügung gestellt bekamen.
Das jedoch war mit erheblichen Konsequenzen verbunden, da sie von nun an nicht einfach nur den niedrigen Erbzins abführen konnten, der bisher noch dazu in natura erfolgte. Ausserdem fiel ihnen mit der Auflösung und Verstaatlichung der Klöster auch noch der Abnehmer ihrer Trauben weg. Der komplette Absatzmarkt mußte erst mühsam aufgebaut und Konsumenten gesucht werden. Und all der Aufwand auch noch im Nebenerwerb, denn mit der Auflösung der kirchlichen Besitztümer wurde das napoleonische Erbrecht eingeführt, die so genannte Realteilung, was dazu führte, daß das Erbe – also die Rebflächen des Winzers – nach dessen Tod unter allen Hinterbliebenen zu gleichen Teilen aufgeteilt wurden. (Die Realteilung wurde in Deutschland schon vorher in den evangelischen Ländern praktiziert. Ihr steht das katholische Anerbenrecht gegenüber, bei dem der Besitz nur an einen einzigen Erben übergeht.)
Durch die Realteilung ergab sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Zersplitterung der Weinberge in kleine und kleinste Parzellen, viele oft deutlich kleiner als ein Hektar. Und dann mußten sie auch noch ihren Wein selbst keltern. Der geringe Ertrag, insbesondere aber die schlechten Absatzmöglichkeiten – all das führte dazu, daß kaum der Arbeitsaufwand und die hohen Kosten für Gerät ausgeglichen werden konnten. Zu alledem kam auch noch eine überdurchschnittliche Zahl von Mißernten … „Der Weinanbau ernährte seinen Mann nicht mehr“, resümiert Paul Gieler in seinem Büchlein Wein und Weinbau an der Ahr aus dem Jahr 2013.
In dieser wirtschaftlich miserablen Lage entschlossen sich einige Winzer 1868 dazu, eine Genossenschaft zu gründen, die sich zunächst um den Vertrieb des Weines kümmern sollte. Es ist damit der erste Winzerverein der Welt. Nach und nach übernahm die Genossenschaft neben dem Vertrieb auch noch alle anderen Abläufe. Es entstand eine Produktionsgenossenschaft und die Winzer konnten sich ganz auf die Arbeiten im Weinberg konzentrieren (noch heute wird, abgesehen von der Menge, insbesondere nach der Güte der von den Genossenschaftsmitgliedern abgelieferten Trauben bezahlt). Die Gründung der Genossenschaft hat sich für die Nebenerwerbswinzer gelohnt – auch was die Qualität ihrer produzierten Weine betrifft, schließlich gehören sie heute zu den Besten genossenschaftlich produzierten im deutschsprachigen Raum.
Mit einer Rebfläche von 150 Hektar gehört die Winzergenossenschaft Mayschoß zu den kleineren Genossenschaften. Sie zählt 444 Mitglieder, von denen aber nur etwa die Hälfte aktive Winzer sind. Die übrigen haben den Nebenerwerb aufgegeben, wollen aber offensichtlich weiter mit der Genossenschaft verbunden bleiben. Vielleicht ist ihnen wichtig, was Paul Gieler mit einem etwas nostalgischen Blick konstatiert: „Ganz wichtig: die sozialen und gesellschaftlichen Aspekte der Winzergenossenschaften. Auch Winzerverein oder Weinbauverein genannt, waren sie zentrale Mittelpunkte des Dorflebens. (…) Und jeden Sonntag, natürlich nach dem Besuch der Messe und deshalb mit reinem Gewissen, saßen die Winzer beim Frühschoppen und spielten `Sibbe Schröm´, ein Kartenspiel. Mit zunehmendem `Böngschesverbrauch´“, womit ein Wertplättchen aus Metall gemeint ist, das zum Bezug einer Flasche Wein vom Gastwirt berechtigte, „kam es zu verstärktem `Kloppen´, sprich Einsatzverdoppelung durch einen Faustschlag auf den Tisch. Hierfür war dann allerdings der Geist aus der Flasche verantwortlich.“
Wie auch diese gesellige Szene illustriert, werden Gemeinschaften durch den gemeinsamen Vollzug von Ritualen hervorgebracht. Und was in Mayschoß offenbar ganz selbstverständlich mit reinem Gewissen jeden Sonntag nach der Messe dazugehörte und vielleicht noch gehört, war auch in weniger profanen Zusammenhängen schon immer in allen Kulturen vorhanden: das Rauschmittel. Es war bei Ritualen und kultischen Handlungen fest verankert. Alkohol, der Geist aus der Flasche, ist, mehr noch als jedes andere, in unserer abendländischen Kultur das Rauschmittel schlechthin. Wein hatte insofern immer schon eine verbindende Funktion und war immer schon elementarer Bestandteil von Vergemeinschaftungsprozessen. Der gemeinsame Konsum des Rauschmittels bekräftigt die Gemeinschaft und erinnert an die Kommunion bei der christlichen Eucharistiefeier, bei der sich die Gläubigen symbolisch das Blut Christi einverleiben, wodurch die Gemeinde als Gemeinschaft erneut hervorgebracht und bestätigt wird. Das Letzte Abendmahl bildet insofern die Urszene oder das Modell von Vergemeinschaftung. Es ist, wie der Regisseur Einar Schleef bemerkt, die erste kollektiv vollzogene, „`chorische´ Drogeneinnahme unseres Kulturkreises: Das ist mein Leib. Das ist mein Blut“.
Vergemeinschaftung bei Einar Schleef
Bis zu seinem Tod im Jahr 2001 beobachtete Einar Schleef Vergemeinschaftungsprozesse im Theater unter Rückgriff auf den antiken Chor. Er erprobte ein völlig neues, chorisches Theater und versuchte als einer der ersten den Chor als Gemeinschaft wieder auf der Bühne zu „beheimaten“, wie er sagt, auch um so das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zu verhandeln. Aus diesem permanenten Dauerkonflikt heraus – festgemacht am antiken Chor – entstand für Nietzsche das tragische Theater. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einem apollinischen Prinzip, das auf Individuation setzt, und einem dionysischen, das heißt einer nach Einverleibung strebenden Gemeinschaft, woran sich auch Schleef orientierte. Hier wird zum Sündenbock, wer auf Individualität und Andersartigkeit beharrt und die Gemeinschaft bedroht; Diese „rekrutiert eine Jagdgesellschaft, um das eingenommene Herrschaftsgebiet zu kontrollieren“, der Sündenbock wird geopfert und bezahlt, wie Schleef des weiteren bemerkt, „mit Blutgeld“.
Neben der Chorgemeinschaft auf der Bühne figuriert Gemeinschaft im Theater aber grundsätzlich auch noch als Gemeinschaft von Akteuren und Zuschauern (eine Aufführung ist ein sozialer Prozess und entsteht immer nur als leibhaftige Interaktion aller Anwesenden). Vergemeinschaftung in diesem Zusammenhang bedeutet dann, die ästhetische Distanz zwischen Bühne und Publikum aufzuheben, denn dadurch erst wird ein autonomer Zeit-Raum in der Aufführung hergestellt, der gemeinsame Erfahrungen ermöglicht, wie sonst nur rituelle Handlungen. (Das Unbehagen bei den vielen digital übertragenen Phantomaufführungen während der Covid-19-Pandemie resultiert insbesondere auch aus dieser ästhetischen und leiblichen Distanz.) Anders als bei rituellen Handlungen entsteht eine Gemeinschaft innerhalb einer Aufführung jedoch, ohne dass sich jemand inkorporieren müßte, das heißt es ist eine Gemeinschaft, die die Individualität aller Beteiligten respektiert – und nur für die Dauer der Aufführung besteht.
Schleefs Inszenierungen ermöglichen den Beteiligten nicht, gemeinsame Handlungen zu vollziehen, sie können sich nicht direkt am Bühnengeschehen beteiligen. Dennoch werden sie auch bei ihm mit sinnlichen Eindrücken und körperlichen Erfahrungen konfrontiert. Diese entstehen nun jedoch nicht mehr aufgrund einer Erzählung wie im klassischen Theater, sondern bei Schleef agiert ein schreiender, brüllender, kreischender, rhythmisch stampfender – ein ekstatischer Chor bisweilen, der nicht mehr einem theatralen, repräsentativen Modell folgend agiert, sondern Vergemeinschaftung erfolgt hier gewissermaßen über einen körperlichen, leibhaftigen Energieaustausch: „Wechselseitige Wahrnehmungen, die Energien freisetzen und zirkulieren lassen, welche eine Gemeinschaft erfahrbar machen“, wie Erika Fischer-Lichte in diesem Zusammenhang bemerkt.
In Hinblick auf die Chorgemeinschaft selbst unterscheidet Schleef dabei nicht zwischen dem Chor als ästhetischem Phänomen beziehungsweise theatraler Gemeinschaft auf der Bühne und einer realen Gemeinschaft – beide realisieren oder bilden sich für ihn erst durch die Einnahme eines Rauschmittels, einer „Droge“, wie er selbst sagt – dem Chor-Geist aus der Flasche, wenn man so sagen möchte. Schleef selbst schreibt in diesem Zusammenhang: „Grob gesagt wird die Droge notwendig, um eine gesellschaftliche Utopie zu entwickeln (…) Droge und Utopie einer Gemeinschaft sind untrennbar miteinander verbunden.“ Gemeinschaftsbildung und Rauschmitteleinnahme bedingen sich – Chor-Geist und Chor-Bildung gehören zusammen sozusagen. (Man muß, vor dem Hintergrund des aktuellen Skandals in Nordrhein-Westfalen gesprochen, nicht Mitglied in einem Polizei-Korps werden, um das zu verstehen – auch nicht in einem Polizei-Chor übrigens.)
Insofern ist für Schleef mit dem Chor auch ein utopisches, und damit politisches, Potential verbunden, nämlich ewiggestrige, verkrustete, männerbündlerische Verhältnisse aufzusprengen. Denn aus seiner Perspektive kennt die Gesellschaft nur den Männerchor. Es ist noch die Gesellschaft alter weißer Männer – und es ist noch ein Theater, in dem die Frau aus dem tragischen Konflikt verschwunden ist. Mit Schleef rückt sie ins Zentrum zurück, bisweilen als Frauenchor wie beispielsweise in seiner Inszenierung von Die Mütter, gerade weil „53 schreiende Frauen für einen Mann unerträglich sind“, wie Schleef selbst einen Zuschauer zitiert.
Das Schicksal des Chores macht Schleef an der Geschichte des neuzeitlichen Dramas fest. Der Frauenchor soll bei ihm ein Gegengewicht zum männlichen Helden des bürgerlichen Theaters darstellen (dessen szenisches Ich sich ohne Frau gar nicht konstituieren würde), denn für Schleef hat das neuzeitliche Theater in der Folge von Shakespeare den antiken Chor verdrängt – und insbesondere eben den weiblichen Chor. Shakespeare gilt allgemein als derjenige, der den Chor in Individuen spaltete, deren bürgerliche Subjektivität im daran anschließenden Drama der Neuzeit dann Schleef zufolge ausgestaltet und in seiner ganzen Herrlichkeit errichtet wird.
Einar Schleef hat mit seinen Inszenierung von Frauenchören zweifelsohne, und nicht nur, den Formenkanon von Chor-Inszenierungen im deutschen Theater maßgeblich beeinflußt. Aber über das Ästhetische hinaus, sollte der Frauenchor auch die gesellschaftlichen Verhältnisse wieder zurecht rücken. Vielleicht ist er mit #MeToo erstmals wirklich laut zu hören …