Mit seinen Aktionen erinnert Hermann Nitsch an das christliche Ritual der Kommunion. Sie stiften Gemeinschaft über die Verarbeitung gemeinsam gemachter Erfahrungen archaischer Gewalt …
„die wände des hauptraumes sind mit weiß grundierter jute bespannt, welche mit farbe, blut, blutwasser beschüttet ist. an einem von der decke des raumes herabhängenden seil, an dessen ende ein fleischerhaken befestigt ist, hängt ein geschlachtetes, abgehäutetes, blutiges lamm (kopf nach unten). am boden der galerie, unterhalb des lammes, ist ein weißes tuch aufgebreitet, worauf blutigfeuchte eingeweide liegen. das lamm wird von einem akteur mit blut beschüttet (das blut tropft auf die eingeweide und das weiße tuch). das blutige lamm wird durch den raum geschaukelt. wände, boden und zuschauer werden mit blut bespritzt. blut wird mit kübeln auf die eingeweide und den boden der galerie geschüttet …“
Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Theater. Die Partituren … Bd. 1: 1.-32. Aktion. Neapel, München, Wien 1979, S. 50
Auf den fünfzehn Hektar Rebfläche des Weinguts Kühling-Gillot wächst überwiegend Riesling, nur etwa zu einem Viertel auch Spätburgunder. Einer dieser Rotweine aus Pinot-Noir-Klonen aus dem Burgund, die auf alte Rebstöcke aufgepfropft wurden, stammt aus einer etwa 30 Prozent steilen Parzelle im Oppenheimer Kreuz. Diese Lage ist geprägt von mächtigen Lössbänken, die immer wieder durchsetzt sind mit Grob- und Muschelkalk – perfektes Terrain für einen kräuterwürzigen und finessenreichen Spätburgunder, mit dem Kühling-Gillot in Rheinhessen immer wieder Maßstäbe setzt.
Das war und ist offenbar auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt – beispielsweise in Rom, wo Papst Johannes Paul II. den Jahrgang 1997 und Papst Benedikt XVI. den Spätburgunder aus dem Oppenheimer Kreuz aus dem Jahr 1999 als Messwein reichten. Messwein muß in der katholischen Kirche nach bestimmten Kriterien der Messweinverordnung der deutschen Bischofskonferenz von 2014 hergestellt sein (nach Lukas 22,18 muss der Wein vom Weinstock stammen, natürlich und von unverfälschter Reinheit sein). Mit der Einstufung als Grosses Gewächs durch den Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) erfüllt der Spätburgunder aus der Lage Oppenheimer Kreuz diese Bestimmungen jedoch mühelos. Und so wird der Spätburgunder von Kühling-Gillot in der vatikanischen Eucharistiefeier durch Tanssubstantiation zum Blut Christi. Wahrlich, „nehmet und trinket alle daraus: Dies ist mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden“!
Eucharistie und Kommunion beziehen sich auf das Letzte Abendmahl, das Oppenheimer Kreuz wird hier zur unblutigen Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers beziehungsweise zur Erinnerung an Jesu Tod getrunken. Da Jesus der christlichen Überlieferung zufolge bei diesem Mahl Brot und Wein als bleibende Zeichen seiner Gegenwart gestiftet hat, erhält das Trinken von Wein in der Kommunion seine Ritualfunktion im katholischen Christentum als Wiederholung des Abendmahles. Denn im Neuen Testament wird der Wein als Symbol für das Blut Christi zum Sakrament, durch das der Gläubige seinen Glauben bekräftigt und erneuert: Der Begriff Sakrament beschreibt einen christlichen Ritus, bei der eine sichtbare Handlung eine unsichtbare Wirklichkeit Gottes vergegenwärtigt. Der Begriff stammt vom lateinischen sacramentum, „Heilszeichen, Heilsmittel, Heilsweg, sichtbares Zeichen der verborgenen Heilswirklichkeit“ ab, es stammt von der Wurzel sacer, „heilig, unverletzlich“ und wird als eine Übersetzung des griechischen mystérion, Geheimnis, neben dem latinisierten mysterium verwendet. So wird der Wein in einem doppelten Sinne zu einem spirituellen Getränk beziehungsweise mit Geist versehen: zum einen durch den Prozess der alkoholischen Gärung, zum anderen durch die religiöse Tradition und das sakramentale Ritual im Gottesdienst.
Wie Euripides Bakchen, ist auch das christliche Abendmahl die Erzählung von einem Opferritual, bei dem Wein als Blut des gekreuzigten Jesus getrunken wird. Insofern besteht hier eine Verbindung zwischen dem antiken, archaischen Mythos um Dionysos und dem christlichen Jesus. Das hat auch, wie Brigitte Marschall schreibt, Johannes bemerkt. Der hat „wie kein zweiter neutestamentarischer Autor versucht, Dionysos und Christus einander anzunähern“, indem er Christus als den „wahren Weinstock“ (14,1) bezeichnet und auf die dionysische Qualität Christi verweist, wenn dieser im 6. Kapitel seines Evangeliums auffordert, sein Fleisch „zu zerreißen und sein Blut zu trinken“.
Auch der österreichische Aktionskünstler Hermann Nitsch zieht mit seinem Orgien Mysterien Theater eine Verbindungslinie zwischen Dionysos und dem gekreuzigten Jesus. Mit Orgien Mysterien Theater ist eine Reihe von bisher 155 Aktionen an unterschiedlichen Aufführungsorten gemeint, eine der ersten davon hat im Jahr 1963 stattgefunden – eine Lammzerreissungsaktion. Mit dieser Aktion verweist Nitsch, wie mit allen folgenden, einerseits auf archaisch-mythische Dimensionen, diese sind aber andererseits für Katholiken in hohem Maße auch symbolisch aufgeladen. Denn Blut steht in seinen Aktionen, wie Nitsch selbst sagt, für „rotwein, eucharistie, christi blut, opfer …“, Begriffe also, die nicht zuletzt mit dem christlich-katholischen Ritual der Eucharistie beziehungsweise der Kommunion zusammenhängen. Und auch das zentrale Element seiner Zerreissungsaktion, das Lamm, symbolisiert als alttestamentarisches Opfertier das Lamm Gottes/Agnus Dei, also Jesus Christus selbst beziehungsweise im Rahmen der Zerreissungsaktion seine Opferung am Kreuz.
Im Unterschied zum Ritual der Eucharistiefeier aber vollzieht Nitsch die Opferung des Lammes nun nicht nur symbolisch, sondern er zerreisst es tatsächlich. Und darin liegt auch der Unterschied zum traditionellen Ritual: Nicht nur, daß in Nitschs Aktion der theatrale Charakter beziehungsweise die Zeichenhaftigkeit problematisch wird (was man wahrnimmt, bedeutet nichts, wie sonst auf einer Theaterbühne, wo alles immer ein Zeichen für etwas ist), sondern in seiner Performance treten, wie Erika Fischer-Lichte bemerkt, an die Stelle von göttlichen oder magischen Kräften körperliche Erfahrungen von Akteuren und Zuschauern (die zum Mitmachen eingeladen sind!), mitunter verstörende sinnliche Eindrücke beziehungsweise Affektreaktionen wie Angst, Ekel oder Schrecken – die unmittelbare Erfahrung von Blut, Schweiß und Tränen gewissermaßen; Möglicherweise sogar unbekannte oder verbotene körperliche Erfahrungen, die man „mit den symbolischen Bedeutungen, welche unsere Kultur den betreffenden Elementen zuschreibt, in Verbindung bringen wird“, wie Fischer-Lichte schreibt. Deren Bedeutung wird man dadurch womöglich gänzlich um- oder sogar neuschreiben.
Nitschs Performance als Ritual bewirkt aber möglicherweise nicht nur die Umschreibung bestimmter Bedeutungen, sie soll auch die Beteiligten umformen beziehungsweise verwandeln. Denn die „Ethik der Katharsis – zivilisatorisch verdrängte Aggressivität wird wieder in den Raum des Bewußtseins und der Erfahrbarkeit zurückgeholt“, bemerkt Hans-Thies Lehmann. Insofern ist mit dem Rückgriff auf christliche Rituale bei Nitsch auch immer die Frage nach den „Grenzen des zivilisatorisch kodierten Verhaltens“ und den „Möglichkeiten des Menschen am Rande seiner zivilisatorischen Bändigung“ betroffen. Es handelt sich um Prozesse, „in denen soziale Energie in besonderer Verdichtung unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft zirkuliert und ausgetauscht wird“. Transformation heißt hier insofern, einen Umgang mit den Erfahrungen archaischer Gewalt, die man jedoch im geschützten Rahmen eines von der Gemeinschaft legitmierten Rituals macht, zu finden, diese zu verarbeiten, also zu verinnerlichen oder zu verleiblichen gewissermaßen. Ein gemeinschaftliches Mahl am Ende der Aktion soll diesen Prozess, die Veränderung, besiegeln.
Auf dieses Gemeinschaftliche rekurriert Nitsch in seinen Aktionen nicht allein mit dem gemeinsam Mahl am Schluss der Aktion, sondern schon vorher mit dem Verweis auf eine symbolische Ordnung, die letztlich das Fundament unserer gemeinsamen, abendländischen Kultur bildet, nämlich antiker Mythos und Christentum. Bereits am Begriff der Kommunion wird das deutlich, bedeutet dieser aus dem lateinischen communio übersetzt doch soviel wie Gemeinschaft. Die Kommunion erinnert an das letzte Abendmahl, wo Christus eine solche Gemeinschaft mit seinen Jüngern herstellt – allerdings zum letzten Mal, denn der Verräter sitzt bereits mit am Tisch. Das weiß auch der Regisseur Einar Schleef, der im Letzten Abendmahl „die erste kollektiv vollzogene Drogeneinnahme unseres Kulturkreises“ sieht. Das aber könnte eine der nächsten Geschichten sein …