Essay

vitis vinifera oder schöne aussichten

Vorhang auf! Friedrich Becker läßt seinen Blick über die Landschaft schweifen. Schöne Aussicht. Es mag ihm vielleicht ergehen wie Walter Benjamin an jenem Sommernachmittag …

Vitis vinifera ist die im eurasischen Raum meistverbreitete Rebenspezies und erbringt fast das ganze zu Wein verarbeitete Traubengut. Sie war ursprünglich eine in Symbiose mit Bäumen lebende Waldpflanze und kommt deshalb gut mit kargen Böden zurecht, da sie schon immer in genetischer Konkurrenz mit anderen Pflanzen stand. Bis zur Erntereife brauchen die Rebstöcke etwa drei Jahre, sieben bis acht Jahre bis zur Höchstleistung und sie werden mindestens zwanzig Jahre alt, mitunter aber auch viel älter.

Tausende von Rebsorten gehören zur Spezies Vitis vinifera. In Deutschland werden davon etwa 140 angebaut, wobei etwa 35 Sorten für die Rotweinbereitung geeignet sind (sie werden zusammen auf etwa 37.000 Hektar angebaut, was etwa 36 Prozent der Anbaufläche entspricht), über 100 Rebsorten werden für die Weissweinbereitung genutzt (auf einer Anbaufläche von etwa 66.000 Hektar beziehungsweise 64 Prozent). Große Bedeutung besitzen allerdings nur etwa zwei Dutzend Rebsorten, allen voran Riesling bei Weisswein mit etwa 22 Prozent und Spätburgunder bei Rotwein mit etwa 11 Prozent der Gesamtanbaufläche.

Riesling und Spätburgunder werden, wie alle anderen Rebsorten auch, vermehrt durch Stecklinge (ein Abschnitt eines Rebentriebes, der eingepflanzt wird) oder mittels Absenkern (hier wird ein Abschnitt des Rebentriebes gebogen und eingegraben) – bei beiden Möglichkeiten handelt es sich um eine sogenannte vegetative Vermehrung, bei der die neue Pflanze mit der ursprünglichen genetisch identisch ist. Neue Rebsorten entstehen durch Befruchtung einer anderen Rebe (mit Pollen), durch Kreuzung zweier Rebsorten derselben Art beziehungsweise Spezies, oder durch Hybride (eine Verbindung zweier verschiedener Spezies).

Veredelung wiederum nennt man eine Technik, mittels derer eine Sorte von Vitis vinifera auf eine Unterlagsrebe gepfropft wird. Verwendung fand die Technik der Veredelung insbesondere zur Zeit der Reblauskrise Ende des 19. Jahrhunderts, indem man die resistenten Wurzelstöcke von Amerikanerreben oder Hybriden als Unterlagsreben für sogenannte Edelreiser von Vitis vinifera nutzte, die man darauf pfropfte. Diesen Montagevorgang bezeichnet man auch als Um- oder Grünveredelung, bei dem vorhandene Reben zurückgeschnitten werden, auf die dann eine Knospe oder ein Steckling beziehungsweise Reisig der neuen Sorte gepfropft wird.

Einer, der mit dieser Praxis der Grünveredelung heute experimentiert, ist Friedrich Becker in der Pfalz. In einer kleinen, über einem Kalksteinsockel thronenden Parzelle oberhalb der Großen Lage Heydenreich hat er vor ein paar Jahren Spätburgunder auf über 60 Jahre alte Gewürztraminerstöcke gepropft, den er wie im Burgund mittels einer sogenannten „selection massale“ aus dem eigenen Weinberg wachsen lässt und unter dem Namen „La Belle Vue“ seit 2015 vermarktet.

Die schöne Aussicht – Friedrich Becker lässt seinen Blick über die Landschaft schweifen. Es mag ihm vielleicht ergehen wie Walter Benjamin an einem Sommernachmittag, wenn er ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgt, „der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen“, schreibt er. Dieser Anblick, dieses Bild, ist für Benjamin eine unvergleichliche Erfahrung, in der „Einmaligkeit und Dauer so eng verschränkt sind wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit“ im technisch reproduzierten, massenhaft kopierten Abbild.

Mit dem Begriff der Aura rückt Benjamin den Wahrnehmungsprozess (aisthesis) innerhalb der ästhetischen Erfahrung in den Fokus. Aura bezeichnet hier einen intensiven sinnlichen Eindruck, eine mit dem Bewusstsein nicht vollständig zu erfassenden Erlebnisqualität, die auch durch die Aufmerksamkeit des sinnlich Wahrnehmenden bedingt ist: Aura wird in der Kontemplation sinnlich wahrgenommen, leiblich geatmet, sagt Benjamin – und dabei in einem unwiederholbaren Jetzt-Sinne erlebt, der zugleich der Zeitpunkt des Wahrzunehmenden und des Wahrnehmenden ist. Wie bei einer Aufführung im Theater sind beide vereint im Hier und Jetzt (hic et nunc) eines flüchtigen Ereignisses: Wie ansonsten nur für die Dauer der Aufführung im Theater, wird hier während des Naturerlebnisses etwas auf einmalige, unwiederholbare Art und Weise zeitlich und räumlich gegenwärtig, das sich ansonsten der Aufmerksamkeit entzogen hätte; wie die Aufführung im Theater ist auch die Aura immer gebunden an eine zeitliche und räumliche Gegenwärtigkeit, an die gemeinsame Gegenwart von Wahrnehmendem und Wahrzunehmendem. Einmaligkeit und Gegenwärtigkeit sind so konstitutive Merkmale der ästhetischen Erfahrung von Aufführung und Aura.

Benjamin verbindet seine Beobachtungen zum Begriff der Aura mit gesellschaftlichen Veränderungen: Der Erfahrung oder Erschließung der Wirklichkeit unterliegt ihm zufolge Veränderungen, die insbesondere auch sinnlich einsetzen. Die Industrialisierung des Produktionsprozesses führt zu gravierenden sozialen und technischen Veränderungen ebenso, wie sie die menschliche Wahrnehmung verändern. Insbesondere das Massenmedium Film synchronisiert diese Veränderungen mit der Wahrnehmung der Masse – und zwar über die Technik der Montage, wie Benjamin ausführt, mit der die Masse, das Proletariat, durch die Arbeit im industriellen Produktionsprozess vertraut ist. Hier wird die Wahrnehmungshaltung der Kontemplation durch die der Zerstreuung ersetzt und durch „Chocks“, wie Benjamin sagt, permanent gereizt. So werde die Zerstreuung zur Signatur einer neuen, massenhaften Wahrnehmung in der Moderne, bei der das kontemplative Moment aufgehoben ist.

In seinem Essay „Über einige Motive bei Baudelaire“ (1939) verbindet Benjamin die Veränderung der Wahrnehmung mit der Frage danach, welche Konsequenzen sich daraus für die Erfahrung und die Erinnerung ergeben. Er verknüpft dabei seinen Begriff der Aura mit der von Marcel Proust in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913-1927) so bezeichneten „mémoire involontair“ (unwillkürlichen Erinnerung). Proust zufolge wird Erfahrung durch das Bewusstsein („mémoire volontaire“) „aushebelnde“ Vorgänge möglich. In Bezug auf Sigmund Freuds „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) versucht Benjamin nun die Wahrnehmungsform „Chock“ in Anlehnung an das „Trauma“ als massive Reizwirkung auf Bereiche des Nervensystems zu entwerfen, die im Moment des auslösenden Ereignisses schutzlos gewesen sind – die der Schock durchdringt: Freud stellt die Rindenschicht des Gehirns, in dem er die Funktion des Bewusstseins lokalisiert, als eine „Rinde“ dar, die „durch die Reizwirkung so durchgebrannt ist, dass sie der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse entgegenbringt“. Im Moment eines Schocks durchdringen die elektrischen Potentiale der Nervenreize das reizaufnehmende, schützende Bewusstsein also, um ihre Spuren in das Gedächtnis einzuschreiben. Denn Freud zufolge kann das, was bewusst erlebt wird, nicht zugleich als ein Moment der Erinnerung aufbewahrt werden. Benjamin bemerkt in diesem Zusammenhang: „Den fundamentalen Satz von Freud … formuliert die Annahme, `das Bewusstsein entstehe an der Stelle der Erinnerungsspur´. Es wäre also durch die Besonderheit ausgezeichnet, dass der Erregungsvorgang in ihm nicht wie in allen anderen psychischen Systemen eine dauernde Veränderung seiner Elemente hinterlässt, sondern gleichsam im Phänomen des Bewusstwerdens verpufft´“.

Der „Chock“ funktioniert insofern als „Hinterlassung einer Gedächtnisspur“ in einem durch die massiven Reizeinwirkungen, denen Mensch in der Moderne ausgesetzt ist, ungeschützten, sensiblen System. Und „dass Bewusstwerden und die Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind“, steht für Benjamin fest. Erinnerungsreste sind ihm zufolge „oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewusstsein gekommen ist“. Freud zufolge ist es für „den lebenden Organismus … der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe als die Reizaufnahme“. Er ist der Auffassung, dass eine „übergroße Energie“, die vom Bewusstsein als Reizschutz unbemerkt in den psychischen Organismus dringt, einen zerstörerischen Einfluss hat, das heißt eine solche Energie hinterlässt im Gedächtnis eine Spur, die er eben als „Trauma“ bezeichnet. Um den psychischen Organismus in diesem Sinne schadlos zu halten, bedarf es einer gesteigerten Aufmerksamkeit des Bewusstseins, damit der Wahrnehmungsreiz nicht in die Erinnerung dringt. Diese „Chockabwehr“ ist für Benjamin durch „Gewöhnung“ zu erreichen. Dadurch aber, dass in der Moderne der „Chock“ und das „Chockerlebnis“ zur Norm geworden ist – damit ist für Benjamin die Gefahr verbunden, dass durch die „Gewöhnung“ an die Wahrnehmungsreize, das heißt durch die gesteigerte „Geistesgegenwart“, im Gedächtnis keine Erinnerungsspuren mehr eingeschrieben werden. Was Benjamin hier anspricht, ist die Frage, ob in einer durch das Erlebnis in Form des „Chocks“ geprägten Kultur so etwas wie Erfahrung überhaupt noch möglich ist?

Ähnlich wie bei der Montage, wo Bilder unterschiedlicher Herkunft miteinander verbunden werden, werden auch bei der massalen Selektion Reisige von einzelnen, ausgewählten Rebstöcken geschnitten und auf eine passende Unterlagsrebe gepfropft. Gewöhnlich werden mit dieser aufwendigen Arbeit jedoch keine komplett neuen Weinberge angelegt, sondern eher einzelne malade Rebstöcke ersetzt. Friedrich Becker gelingt es so aber, sich einen individuellen Stil zu bewahren – im Gegensatz zu den Monokulturen bei der sonst üblichen vegetativen Vermehrung durch Klonen-Züchtung in Rebschulen, wo die Rebstöcke als Klone dann eben alle genetisch identisch sind.

Friedrich Becker senior wird allgemein das Verdienst zugesprochen, Spätburgunder in Deutschland etwas „französischer“ gemacht zu haben, mit etwas mehr Säure und Tannin. Das liegt weniger daran, dass Becker auch Einzellagen im Elsass bearbeitet (die grenzüberschreitende Arbeit ist in seiner heimatlichen Ortschaft Schweigen üblich), sondern auch daran, dass er seine Spätburgundertrauben gerne mit einem hohen Rappenanteil (bis zu 80 Prozent) vergärt, weshalb man seine Lagenweine durchaus karaffieren sollte.

Nicht nur die Großen Gewächse Heydenreich, Kammerberg und Sankt Paul oder eben der „La Belle Vue“: Friedrich Becker hat den Spätburgunder hierzulande auf ein bis dahin kaum erreichtes Niveaus gebracht. Nichts trübt insofern die schöne Aussicht, oder?

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